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An diesem Wochenende sollten nur die beiden Großen bei Oma Agnes bleiben. Es war ganz schön hart gewesen zu sehen, wie Kalli heulte, als er von Vigdís getrennt wurde. Meist durften auch die Jüngeren oder wenigstens einer von ihnen dableiben, doch diesmal wollten die Cousinen das Wochenende ganz für sich haben. Denn Vigdís würde schon am Mittwoch nach Kopenhagen aufbrechen, obwohl die Osterferien eigentlich erst am Freitag begannen. Dort würde ihre Mutter auf sie warten und dann wollten sie nach Barcelona weiterreisen und sich dort ein paar schöne Tage machen. Die Mutter hatte vorgeschlagen, Vigdís’ Geburtstag in demselben Café zu feiern, in dem sie ihrem Papa gesagt hatte, dass sie schwanger sei, vor genau fünfzehn Jahren.

Ursprünglich hatten sie Oma gefragt, ob sie und Jóhanna nicht auch mitkommen wollten, doch die wollte davon nichts hören. Sie meinte, Mutter und Tochter sollten zu zweit fahren und die Gelegenheit nutzen, mal ganz in Ruhe zu reden, in einer neuen Umgebung, wo sie von niemandem gestört würden.

Da hatte die Mutter ein komisches Gesicht gemacht und verlegen in Vigdís’ Richtung geschielt. Vigdís fand die Begründung ihrer Oma lustig – sie und ihre Mutter waren schließlich so oft allein.

Geknickt sah Vigdís zu, wie Svenni und Edda die Kinder in ihre Jacken packten und ihnen Mützen aufsetzten.

»Ach komm, jetzt guck nicht so. Wir machen etwas Lustiges mit den beiden, wenn ihr zurück seid. Laden sie ins Kino ein oder so!« Jóhanna ließ das Gezeter ihrer Geschwister offenbar unbeeindruckt.

»Jaja, schon gut. Ich habe die beiden einfach so gern. Kein Wunder, dass es dich kaltlässt – du hast sie schließlich jeden Tag um dich, die ganze Woche.«

»Ja genau, da bin ich froh über ein paar Tage Ruhe.« Sie drückten und knuddelten die Kinder und halfen Edda, sie ins Auto zu verfrachten.

Svenni band sich gerade die Schuhe zu, als die Cousinen zurück ins Haus kamen. Im selben Moment kam Oma Agnes mit den Resten des Abendessens aus der Küche, die sie für ihren Sohn eingepackt hatte.

»Das musst du mitnehmen, Svenni, in meinen Kühlschrank passt nichts mehr rein.«

Svenni wusste aus Erfahrung, dass jeglicher Protest zwecklos war, und grinste, als die Mädchen ihm einen mitleidigen Blick zuwarfen. Sie drückten Svenni einen Kuss auf die Wange und verzogen sich lachend in Vigdís’ Zimmer.

»Ach Mensch, wir wollten doch eine Kerze anzünden. Jetzt habe ich die Streichholzschachtel vergessen«, sagte Vigdís, als sie gerade oben angekommenwaren.»Ich laufe schnell noch mal runter.«

Von der Treppe aus hörte sie, dass ihre Oma und Svenni noch in der Diele standen und sich unterhielten. Unwillkürlich wurde Vigdís langsamer und versuchte herauszuhören, worüber die beiden redeten.

»Sie ist so doll gewachsen, meine Maus, ist inzwischen fast einen Kopf größer als Jóhanna. Sie wirkt auch total erwachsen, finde ich. Ich hoffe sehr, dass Jódís Ostern endlich reinen Tisch macht.«

»Das wird sie tun, sie hat es mir versprochen, bevor sie nach Kopenhagen geflogen ist.«

»Wäre es nach mir gegangen, hätte sie erst gar nicht so in Vergessenheit geraten dürfen. In einer Familie, die so gut zusammenhält wie unsere, ist es überhaupt kein Problem, die Erinnerung lebendig zu halten. Was zu lange unbeachtet im Dunkeln warten muss, verdirbt. Das kann sogar richtig böse werden! Gute und liebe Menschen, die …«

»Jaja, schon gut, Svenni, du klingst schon wie dein Vater!«

»Ja, Papa und ich haben das genau gleich gesehen. Aber ich bin richtig froh, dass du Jódís im Zusammenhang mit dieser Reise darauf angesprochen hast. Ich habe einen Artikel gelesen, in dem stand, dass man schwierige Dinge am besten an einem neutralen Ort bespricht. Vor allem solche, die man viel zu lange aufgeschoben hat.«

»Ja, so ist die Sache immer größer geworden, das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Ich finde es nur erstaunlich, dass das Mädchen nie etwas geahnt hat oder hier auf etwas gestoßen ist, das Fragen bei ihr aufgeworfen hat. So viel Zeit, wie sie in diesem Haus voller Erinnerungen verbringt … Hier ist nichts verbrannt.«

»Nein, das stimmt. Aber Jódís hat ja auch immer alles versteckt, obwohl Karl dagegen war und …« Draußen hupte es leise.

»Tja, ich sollte wohl mal. Wir müssen uns bei Gelegenheit mal treffen und unter vier oder sechs Augen sprechen, ohne die Kinder. Danke für das leckere Essen, liebste Mama.«

Er drückte Agnes einen Kuss auf die Wange, nahm ihr das Paket ab und öffnete die Haustür.

Vigdís stand noch immer auf dem Treppenabsatz.

Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Haus voller Erinnerungen? Woran? Was verdarb oder wurde böse, weil es zu lange warten musste?

Als sie einen Blick in den großen Spiegel warf, hatte sie das Gefühl, darin zwei rote Augen glimmen zu sehen, ganz weit weg. Doch sie kamen näher.

Sie riss sich vom Spiegel los und ging zurück zu ihrem Zimmer. Sie hatte längst vergessen, weshalb sie noch einmal nach unten gehen wollte.

Es gab also Geheimnisse in dieser Familie. Darüber musste sie mit Jóhanna sprechen!