WIE ALLES BEGANN

Mein allerallerallerallererster Cache war gleich ein so genannter «Multicache», bei dem man über mehrere Stationen zum Ziel gelangt. Im Gegensatz dazu führen einen die Koordinaten bei einem «Traditional» direkt zum Versteck, ohne jede Zwischenstation und sonstige Umwege.

Ich bin durch meinen Freund Micha tiefer in die Materie eingedrungen. Micha ist der Mensch, der mir damals stolz sein GPS-Gerät gezeigt hat. Ich habe ihn, wie sich das für einen echten Techi gehört, natürlich begeidet und mich nicht weiter dafür interessiert. Ein paar Monate später waren wir dann zusammen am Niederrhein unterwegs, und im Vorfeld der Reise erzählte er mir ganz begeistert, dass er dieses tolle Gerät mitnehmen wolle und damit super navigieren könne und außerdem immer genau wisse, wo er sich gerade befinde. Ich war ein wenig überrascht, dass er dafür ein technisches Gerät braucht, denn ich weiß meistens, wo ich mich gerade befinde. Schließlich falle ich eher selten aus dem Himmel herab und lande irgendwo auf der Erde, da meine Reiseplanung dann doch einen Hauch mehr Vorbereitung beinhaltet.

Im Laufe seiner Ausführungen erinnerte ich ihn nochmal an dieses «Geodingsirgendwas», wovon ich schon mal gehört hatte, und machte ihm einen Vorschlag: «He, lass uns das doch mal ausprobieren.»

«Oh ja», kam es begeistert zurück.

«Wir sehen einfach im Internet nach. Bestimmt gibt es etwas in unserer Nähe, was wir suchen können.»

Wir wollten es also unbedingt wagen.

An dieser Stelle muss ich eines zugeben: Wenn ich mit anderen Leuten etwas «unbedingt» machen will, endet das schon mal gerne damit, dass die anderen es tun und ich später sage: «Ach ja, stimmt. Toll, dass du dich darum gekümmert hast.»

Genau so war es auch in diesem Fall. Wir saßen in der Nähe von Xanten auf einem Campingplatz vor unseren Zelten. Dass meines technisch ausgereifter war, muss ich wohl nicht eigens erwähnen. Da zückte Micha auf einmal ein paar Bogen Papier. Es waren die Cache-Beschreibungen, die er auf einer Webseite herausgesucht und dann ausgedruckt hatte.

Er fragte: «Na, hast du auch was mit?»

Mit einem lockeren «Ja, aber lass erst mal deine sehen» lenkte ich ihn ab, und er gab mir tatsächlich die Zettel. Ich verstand gar nichts. Was waren das für komische Zahlen? Irgendwelche Sterne, Smileys und Logos waren auch abgebildet, die mir ebenfalls nichts sagten.

«Ah, die sind viel besser als meine, viel klarer. Lass uns ruhig die nehmen», war alles, was ich herausbrachte. «Sag mir nur kurz, was sind das für Zahlen?»

«Das sind die Koordinaten, da sollen wir parken. Von dort aus geht es dann zu dieser Stelle hier», er zeigte wieder auf eine lange Reihe von Zahlen, «wo wir einen weiteren Hinweis finden sollten.»

«Warum geben die keine Adresse an?»

«Weil das nicht Sinn der Sache ist.»

«Aber das wäre doch viel einfacher …»

Er schaute mich an, ich schaute zurück. Er schaute noch etwas länger, ich hielt dem Blick stand. Schließlich schloss er die Augen, atmete tief durch und fing an zu erklären: «Hör zu, die Erde ist mit Linien überzogen.» Er malte mir ein schönes Bild auf den Zettel.

«Ähm …», setzte ich an.

«Theoretisch», unterbrach er mich. «Die Linien sind quasi nummeriert, und an den Schnittpunkten kann man dann anhand der beiden Nummern genau bestimmen, wo man sich befindet. Wir sind hier an Punkt (2/1) und sollen nach (3/3). Da die Erde ein kleines Stück größer ist als dieser Zettel, gibt es nicht bloß drei Linien von Nord nach Süd und Ost nach West, sondern bis zu 360, die dann nochmal unterteilt sind.

Ich verstand. Nachdem wir uns durch den großen Aktenstapel Papier gewühlt hatten, entschieden wir uns für den Cache «NORDSEEKÜSTE». Wie gesagt, ein Multicache.

Auf meine Frage, ob wir uns bei unserem allerersten Cache vielleicht nicht gleich einen Mehrstationenschatz vornehmen sollten, sondern eher einen, der ganz traditionell genau da liegt, wo uns die Koordinaten hinführen, ging Micha gar nicht ein, sondern verschwand nur mit einem «Ts, ts, ts» im Zelt.

Na gut, dachte ich, der Mutige wird belohnt. Wir gaben die Werte in sein GPS-Gerät ein.

«Mit Hilfe von Satelliten, deren Signale dieses Gerät empfangen kann, wissen wir immer relativ genau, wo wir uns befinden und wie weit es bis zum nächsten Punkt der Schnitzeljagd ist», fuhr Micha auf einmal ungefragt fort.

Was muss der Kerl so oberlehrerhaft mit mir reden?, fragte ich mich. Ich weiß genau, wovon der spricht. Na ja – heute.

Wir fuhren los und fanden den Parkplatz, besser gesagt ich fuhr, und ER fand den Parkplatz. In der Zwischenzeit hatte ich gelernt, dass dieses Gerät auf dem Display drei für uns relevante Seiten anzeigen konnte. Erstens eine Karte, auf der auch Straßennamen und Ortschaften angegeben waren. Hatte ich schon mal gehört. Dann eine Übersicht über die Anzahl der empfangenen Satelliten und deren Sendestärke. Je mehr Satelliten und je stärker der Empfang, desto besser. Hatte ich auch schon mal gehört – zwar bei einem Handy und es ging um irgendwelche Balken, aber das Prinzip war dasselbe: Mehr ist besser. Und schließlich noch ein Kompass, der allerdings kein richtiger Kompass war … also eigentlich schon, aber nur, wenn man sich bewegte.

«Was?»

«Also …»

Sofort bekam Micha wieder diesen väterlichen Blick, den ich so hasse, weil er mir unmissverständlich klarmacht, dass er gerade seine gesamte Zufriedenheit aus der Tatsache zieht, mehr zu wissen als ich. Eine Rolle, die ich selbst nur zu gut kenne.

«Hier siehst du die vier Himmelsrichtungen und einen Pfeil. Ich habe das Gerät so eingestellt, dass der Pfeil immer in Richtung unseres nächsten Zieles zeigt. Das Gerät weiß, wie wir uns bewegen, weil es regelmäßig unseren aktuellen Standort mit dem von vor ein paar Sekunden vergleicht. Wenn man diese beiden Punkte miteinander verbindet, ergeben sie eine Linie, die … AUA!»

Ich musste ihm versehentlich den Autoschlüssel in die Hand bohren, denn er wollte gerade wieder anfangen, ein Bild zu malen.

Kurz darauf stiegen wir aus und liefen von dem Parkplatz aus munter am Ufer eines kleinen Sees entlang. Da wir mitten in der Woche unterwegs waren, war es recht leer, es herrschten also ideale Bedingungen. Wir waren unbeobachtet und konnten uns daher eigentlich nicht blamieren. Der asphaltierte Weg, gesäumt von einzelnen Bäumen, führte an einem Spielplatz und einer Bootsanlegestelle vorbei. Wenig später ließen wir einen Kiosk rechts liegen und gingen weiter. Wir waren schon mindestens 200 Meter gegangen, und ich fing an innerlich zu fluchen. Noch war ich Anfänger, noch wusste ich nicht, was ich sehr viel später auf ganz anderen Touren zu erleiden hatte. Heute fange ich schon wesentlich früher an zu fluchen.

Auf einmal sagte Micha: «Wir sind da!»

«Woher weißt du das?», fragte ich.

«Weil das hier steht.»

«Wo?»

«Auf dem Display. Entfernung zum Ziel: 0 Meter.»

Die Technik überzeugte mich. Wir waren also an dem Ort angekommen, wo meine allererste Suche beginnen sollte. Ich sah auf den Boden und sagte: «Hier ist nichts.»

«Ja, wir müssen den Cache auch suchen», erklärte Micha mir.

«Wieso suchen? Wir sind doch laut modernster Technik genau an der Stelle, an der wir sein müssen. Okay, ich bin durchaus bereit, einen Schritt nach links oder rechts zu gehen, falls ich direkt auf dem Hinweis stehen sollte.»

«Pass auf …»

Noch so ein Satz, und mein ganzes Gefühlszentrum würde anfangen zu schreien: «Nein, nein, nein, nein!», stattdessen sagte ich: «Ja?»

«Die Signale können ein bisschen ungenau sein, Empfangsstörungen und so, deshalb gibt es eine gewisse Ungenauigkeit bei der Berechnung der aktuellen Position. Hier, sieh mal», er drückte mir das Gerät mitten ins Gesicht, «da steht 15 Meter. Das heißt, wir müssen in einem Umkreis von 15 Metern suchen.»

Ich konnte ihm mühelos folgen. So langsam setzte sich ein kleines Samenkorn Verständnis für die Schwierigkeit dieses Noch-nicht-Hobbys in mir fest.

Aufmerksam blickte ich mich um: Hinter uns war der Weg, rechts und links waren Wiesen, vorne beschrieb der Weg eine Rechtskurve. Etwas weiter entfernt war ein schmaler Gebüschstreifen mit einem Maschendrahtzaun, auf der anderen Seite Richtung See kam erst ein vollgeschmierter Container, dann ging es zwei Meter leicht bergab Richtung Wasser.

Wir fingen an zu suchen. Nach etwa zehn Minuten erfolglosem Hin-und-her-Streifen rief ich: «Wonach eigentlich?»

«Wonach was?», fragte Micha verwirrt.

«Wonach suchen wir?», wiederholte ich, schon leicht genervt.

«Nach irgendeinem Hinweis.»

Für einen kurzen Moment ging ich jede Form von Folter durch, die mir in den letzten Jahren bei der intensiven Lektüre von Mittelalterromanen untergekommen war. Schließlich entspannte ich mich und sagte frohlockend: «Nach WAS für einem Hinweis?»

«Keine Ahnung, Zahlen oder so.»

Micha lugte hinter dem Container hervor, lächelte wissend und fing wieder an zu dozieren: «Vielleicht eine dreistellige Zahl. Vielleicht stehen auch noch zwei Buchstaben dabei. Ein ‹N› für Norden und ein ‹O› für Osten oder ein ‹E› für East. Das dürfte von Vorteil sein.» Damit zog er den Kopf zurück. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Ast seine Stirn getroffen hätte, der mir versehentlich aus der Hand gefallen war. Dass die Sturzbahn des Astes erst nach oben und anschließend nach unten ging, musste eine spontane Laune der Natur gewesen sein.

Wir suchten weiter nach dem ersten Hinweis. Streiften durchs Gebüsch, beugten uns über den See, verbogen den Maschendrahtzaun. Ich hatte in der Zwischenzeit so ziemlich jedes Zeichen auf dem Container entdeckt, in mehrere Sprachen übersetzt und interpretiert. Ohne Erfolg. Es waren wohl alles Telefonnummern und Geburtsdaten. Ziemlich viele Menschen hatten sich in ziemlich vielen Farbvariationen verewigt, sodass mir bald klar wurde: Ja, «they were here». Bald hatte ich die Finger in so ziemlich jede Baumöffnung gesteckt, die ich aufstöbern konnte, und fand darin so manches Mal mehr, als ich finden wollte.

Irgendwann fragte ich Micha: «Wie verstecken diese komischen Cacher denn ihre Hinweise?»

«Ich hab gelesen, sie schreiben sie mit Filzstift auf irgendwas drauf», sagte er.

«Ach ja? Du kannst lesen?», erwiderte ich. Man merkt, die Stimmung war allmählich leicht angespannt.

Nach längerem Suchen, die Sonne war inzwischen ein paar Mal auf- und untergegangen, hörte ich von der Seite ein langgezogenes «Aaahhhhhh».

Sofort reagierte ich mit einem «Nee, ne?».

«Doch!», lautete die Antwort.

«Wo?»

«Hier.»

Ich lief hin, und vor lauter Freude, dass wir endlich fündig geworden waren, konnte ich mich gar nicht richtig darüber ärgern. Der Hinweis war allen Ernstes mit wasserfestem Filzstift auf den Spannverschluss eines Maschendrahtzaunes geschrieben. Jetzt mal Spaß beiseite: Wie soll man denn bitte darauf kommen? Das ist viel zu schwer, da gehört gefälligst ein dicker Pfeil auf den Boden, der darauf zeigt. Abgesehen davon sollten mit Absperrseilen alle Wege unpassierbar gemacht werden, die einen in die falsche Richtung lenken, mehrere Fackeln die Strecke beleuchten und am Ende ein großes Feuerwerk direkt über dem Hinweis die Suche zu einem einzigartigen Erfolgserlebnis machen. Aber nein, der Owner, also derjenige, der den Cache gelegt hat, hatte all das offenbar nicht nötig.

Wenn die neu sind, können sie ruhig ein bisschen suchen, hat er sich wohl gedacht, so sieht es nämlich aus. Die Suche soll schließlich Spaß machen, da verstecken wir den ersten Hinweis ein bisschen besser, und auch wenn die armen Schweine vor Verzweiflung weinen, ist mir das völlig egal.

Grrrrrrrrrrrrrr. Im Nachhinein betrachtet war es übrigens eine der leichtesten Stationen 

Wir gaben also die neuen Koordinaten in Michas GPS-Gerät ein. Genau genommen hat er das natürlich getan, denn die Regel Nummer eins bei technischen Geräten lautet: niemals aus der Hand geben. Der andere kann das Ding nachher besser bedienen als man selbst. Und wo sollen wir dann unser Selbstbewusstsein hernehmen?

Wir machten uns also auf zur zweiten Station. Es ging weiterhin den See entlang, immer schön auf dem asphaltierten Weg, verlaufen war unmöglich. So hatte ich mir das vorgestellt! Dann waren wir da. Diesmal standen wir an einer Kreuzung, rechts ein Trampelpfad zum See, links ging es Richtung Zivilisation. Dazu ein Durchfahrtverbotsschild, ein Zaun und sehr viel Gebüsch. Das war alles, was uns zur Verfügung stand.

Wieder fingen wir an zu suchen. Wonach, wissen wir bis heute nicht. Wenn ich die Aktion nun als erfolglos bezeichne, so beschreibt das nicht annähernd das, als was wir sie letztendlich empfanden. Wir waren enttäuscht, ja gedemütigt. Wir suchten überall: auf dem Weg, an dem Schild. Ich schlug mich sogar in die Büsche, woraufhin die Büsche ihre Stacheln15 in meinen Körper schlugen. Alles erfolglos. Jedes Mal, wenn irgendwelche vereinzelten Spaziergänger oder Jogger vorbeikamen, taten wir natürlich so, als würden wir nur kurz warten, uns die Schuhe zubinden oder etwas in den Taschen suchen.

Irgendwann liefen wir frustriert zurück zum Auto und waren uns hundertprozentig sicher, dass die Sache nicht mit rechten Dingen zuging. Da fehlte irgendwas, es konnte unmöglich an uns liegen. Wir hatten so viel Erfahrung, denn auch wenn das unser erster Cache war, oder besser NICHT war, hatten wir doch immerhin die erste Station gemeistert.

Nichtsdestotrotz – wir ließen uns nicht unterkriegen. Der Reiz, zu suchen und irgendwann doch einmal zu finden, war einfach zu groß. Es hatte uns gepackt. Wie die Strömung, die einen langsam vom Land ins Meer zieht, wie der Treibsand, der einen unaufhaltsam in die Tiefe zerrt16, so hatte uns das Cacherfieber ergriffen. Außerdem wollten wir nicht ohne jeden Erfolg zu unseren Zelten zurückkehren.

Wieder im Auto, kramten wir sofort die anderen Cachebeschreibungen heraus. Irgendwas musste sich doch finden lassen. Hier, der klang gut. Angeblich auch für Kinder geeignet, das war genau das Richtige für uns. Wir machten uns also direkt auf zum nächsten Cache. «Moylands letztes Schlossgespenst» lag in einem Wald, der direkt an einen größeren Schlosspark angrenzte. Auf befestigten Wegen sollte auch dieser Cache leicht zu Fuß erreichbar sein. Es waren gerade mal zwei Stationen, das war eindeutig zu schaffen. Allerdings bestand die erste gleich aus einer ganz besonderen Aufgabe: Peilung.

«Bist du sicher, dass wir das tun sollten?», fragte ich Micha.

«Warum denn nicht?»

«Wir haben schon die einfachen Aufgaben nicht geschafft und jetzt eine schwere?»

«Die Aufgabe ist nicht schwer, sondern kinderleicht. Das geht so: Stell dich als Erstes an einen bestimmten Punkt. Entweder an die angegebenen Koordinaten oder, was viel netter von den Cachelegern ist, an eine beschriebene oder gar fotografierte Stelle, und gehe von dort aus 100 Meter in Richtung 127 Grad. Das klingt zwar sehr kompliziert, aber ich kann dir dabei helfen. Hat man ein Gerät mit Karte, geht es relativ einfach. Man muss das Fadenkreuz mit Hilfe eines Joysticks17 (hat man nasse Hände oder Handschuhe an, verwandelt sich das Wort «joy» allerdings sofort in «fuck») über das Display bewegen. Dann muss man bloß die Gradabweichung und die Entfernung beobachten und so lange weitermachen, bis alle Zahlen genau so aussehen wie die auf der Cachebeschreibung. Fehlt einem die Karte, dann, ja dann … habe ich auch keine Ahnung, wie das klappen soll», erklärte Micha.

«Was hast du gesagt?», erwiderte ich.

Stille kam von Micha.

Stille kam von mir.

Er griff wieder zu Zettel und Stift und fing an zu zeichnen.

«Also, wir befinden uns hier auf dem Kreuz, Norden ist oben. 127 Grad gibt die Richtung an, das ist in etwa nach schräg unten. Wenn wir jetzt das Gerät so drehen, dass der Pfeil genau auf 127 Grad zeigt, und wir der Linie 100 Meter folgen, müssten wir genau da ankommen, wo wir hinwollen.»

Jetzt verstand ich. Behauptete ich zumindest.

Ob ich da hinwollte, war mir noch nicht ganz klar, und auch nicht, wie wir auf gerader Linie an diese Stelle gelangen sollten, wenn da ein umzäuntes Gelände und ein stehendes Gewässer im Weg waren. Schließlich war da ein Schloss, und das war eingesperrt, von einem Wassergraben, einer Mauer und einem Zaun, über den ich definitiv NICHT klettern wollte. Sonnenklar war mir dagegen, dass ich es für eine Unverschämtheit von Micha hielt, mir hier kleine Kinderzeichnungen vorzulegen, als ob ich total bescheuert wäre. Das hätte er mir auch so erklären können. Und dann dieser alberne Baum, wirklich! Gut, das Gespenst war süß. Das hängt jetzt vergrößert bei mir an der Wand.

Diesmal lief es jedoch schon besser als beim letzten Cache. Nachdem wir geparkt hatten, betraten wir die kleine, frei zugängliche Parkanlage, die das Schloss «Moyland» umgibt. Die erste Station war relativ leicht zu finden. Zur Cachebeschreibung gehörte das Bild einer «Saugstelle», und genau da mussten wir hin. Von dort führten wir (oder besser Micha) die Peilung durch und machten uns wieder auf den Weg.

Wir hatten uns fest vorgenommen, diesmal erfolgreich zu sein und engagierter an die Sache heranzugehen. Aber das war nicht einfach, und wir mussten wirklich all unsere Kräfte einsetzen, damit wir letztendlich erfolgreich waren. Eine Familie mit einem siebenjährigen Kind war ebenfalls auf der Suche nach dem Cache unterwegs und spazierte nur zehn Meter vor uns um das Schloss herum. Und ich muss sagen: Respekt, Micha. Als er die drei sah, ließ er den Rucksack mit unseren Regensachen einfach fallen und rannte mit Blick auf sein GPS-Gerät los. Er stellte den Eltern ein Bein und beförderte das Kind mit einem gezielten Bodycheck ins Gebüsch. So waren wir die Ersten am angepeilten Punkt.

Diesmal war die Suche nach dem Cache insgesamt etwas einfacher, weil wir nicht wieder all die verschiedenen Versteckmöglichkeiten durchgehen mussten. Da rechts und links Bäume waren, mussten wir bloß die 12 332 Wurzeln und Stämme um uns herum näher in Augenschein nehmen. Wir hoben und verbogen Holz an allen möglichen Stellen, nur gestört durch eine Familie, die irgendwann ihr weinendes Kind an uns vorbeitrug. Nach ein paar Minuten war ich endlich erfolgreich: Ein kleines Zeichen, ein «G», ließ mich stutzig werden. Es war auf einen Aststumpf gemalt. Irgendwo hier am Baum musste demnach der Cache versteckt sein.

Wir wussten aus der Cachebeschreibung lediglich, dass es sich um einen so genannten «Micro» handelte, also etwa in der Größe einer Filmdose. Bald hatten wir fast den ganzen Baum geschält und das Wurzelwerk komplett von Erde befreit, da stieß Micha mich an. Ich sah ihm ins Gesicht und erschrak. Eine Träne lief ihm die Wange herunter und hinterließ einen sauberen Streifen in seinem ansonsten recht verdreckten Antlitz. Ich folgte seinem Blick, folgte der Richtung, die sein ausgestreckter Zeigefinger vorgab. Und dann sah ich ihn. Den Cache. Ein kleines weißes Etwas lugte zwischen der Borke des Stammes hervor. Es war ein winziges Gespenst.

Ganz vorsichtig lösten wir es heraus und legten es sanft auf den mit Nadeln bedeckten Waldboden. Wir öffneten die darin eingelassene Filmdose und fanden tatsächlich Notizzettel und Stift. Mit zitternden Fingern falteten wir den Zettel auseinander und trugen uns ein. Wie schön, zu sehen, wenn die Farbe des Stifts Linien auf dem Papier hinterlässt und man seinen eigenen Namen erkennen kann. Wir waren so stolz.

Es war scheu und ließ sich nur unter großen Mühen fotografieren.

Ich muss schon sagen, den ersten Cache zu heben18 ist wirklich ein unglaubliches Gefühl. Das ist so, wie wenn ein gigantischer Sonnenauf- und ein Sonnenuntergang gleichzeitig den morgend- und abendlichen Himmel in flammendes Rot tauchen. Man blickt auf dieses kleine Etwas und sagt zum ersten Mal: «Wie bescheuert muss jemand sein, eine Geisterfigur an einem Baum zu verstecken?» Und gleich darauf: «Wie bescheuert sind erst diejenigen, die wegen so etwas durch die Gegend rennen?» Diese Sätze sage ich auch heute eigentlich jedes Mal und vor allem mehrmals, wenn ich wieder mal auf der Suche nach einem Cache unterwegs bin.

Wie sich das gehört, haben wir, nachdem wir zu Hause angekommen waren, unsere Erlebnisse auch geloggt und auf den Webseiten, auf denen wir die Cachebeschreibung gefunden hatten, einen Eintrag hinterlassen. Natürlich haben wir zuerst unseren Fund voller Stolz kundgetan.

«So, das war mein erster Erfolg als Cacher […] Mann, war ich stolz, nennt mich OSKAR. Und morgen wird ein GPS-Gerät gekauft.»

Trotz aller Freude haben wir uns verantwortungsvoll verhalten und auch unseren Misserfolg nicht für uns behalten, sondern dem Owner einen Hinweis hinterlassen:

«Das war unser erster Cache, leider haben wir die zweite Station nicht gefunden. Wahrscheinlich ist sie kaputt, oder jemand hat den Hinweis vernichtet. Schade. Aber schöne Gegend, wir kommen gerne wieder!»

Die Antwort folgte prompt:

«Habe nachgesehen, alles da. Danke, dass ihr mich umsonst zur Kontrolle rausgeschickt habt.»

Ich bin mir nicht sicher, aber das Wort «danke» hatte einen Hauch von subtilem Unterton. Er meinte es wohl nicht so, wie er es geschrieben hatte. War mir aber egal, ich meinte die Wörter «leider», «schade», «schön» und «gerne» ja auch nicht so, wie ich sie geschrieben hatte.