Wir Cacher sind eine ganz besondere Spezies. In der Regel leben wir alleine in wettergeschützten Behausungen oder unter Artgenossen, die jedoch irgendwie andersartig sind. Ab und an treibt es uns allerdings doch zu unseresgleichen. Dann verlassen wir unsere Familien, treten hinaus in die Welt und nehmen die Unbill des Abenteuers in Angriff. Wir verhalten uns beim Cachen eigentlich genau so wie andere Menschen bei der Paarung: Meistens trifft man sich zu zweit. Mal ein Mann und eine Frau, mal zwei Frauen oder zwei Männer. Ab und zu geht es auch mal zu dritt. Der eine greift lieber alleine nach dem Cache, andere brauchen die große Gruppe, um sich gehenlassen zu können.
War man mal längere Zeit nicht cachen, wird der Drang danach immer stärker. Probiert man etwas Neues aus, so ist man am Anfang aufgeregt und unerfahren, aber andere führen einen in die Materie ein, und wenn es einem erst mal gefällt, kommt man nicht mehr davon los. Die einen lieben es, danach zerkratzt und geschunden zu sein, andere wollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viel erreichen. Die einen führen, andere lassen sich führen. Manche verbringen viel Zeit am Computer, mögen die virtuelle Welt und sehen sich dabei Bilder an. Die einen nehmen den Cache mal eben zwischendurch mit, andere brauchen ein Vorspiel, viel Abwechslung und das Gespräch im Anschluss. Und Tobi, wie ich schon oft beobachten durfte, raucht danach auch gerne mal eine Zigarette. Zum Glück fragt er jedoch nie: «Na, war es für dich auch so schön?»
Gut, einmal hat er schon gefragt, aber da haben wir auch einen außergewöhnlichen Cache mit einer kleinen «Besonderheit» gesucht. Und das kam so:
Relativ bald, nachdem ich mit dem Cachen angefangen hatte, dachte ich mir auch immer mal wieder selbst den einen oder anderen Cache aus. Seien es jetzt welche an besonderen Orten oder mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten oder was auch immer. Die beste Idee von allen, und ich bin geneigt zu sagen, dass sie meine Genialität am deutlichsten zum Ausdruck bringt, war die folgende: Man muss zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein. Dort wird dann, Achtung, jetzt kommt es, ein Wecker klingeln. Den gilt es nun zu finden, denn dort ist der nächste Hinweis versteckt – oder auch schon der Cache. Unglaublich, oder? Als ich das erste Mal über diese Idee nachdachte, war ich von mir selbst total begeistert. Ich wusste, das ist einmalig, auf so etwas komme nur ich.
Aber das war nur die Vorgeschichte, quasi das Fundament zu dem Ereignis, dass dann später folgen sollte. Es war im Frühjahr 2005 und Tobi und ich mal wieder wegen einer Reihe von Auftritten quer durch den schönen Osten Deutschlands unterwegs. Wir fuhren gerade in Richtung Berlin und planten die Caches für die nächsten Tage, an denen wir uns in Berlin und Leipzig aufhalten sollten. Tobi saß neben mir im Wagen, den Laptop auf dem Schoß, und suchte im Internet nach schönen Abenteuern in der Umgebung von Leipzig. Wir kamen gerade an der alten Grenzanlage vorbei, der jetzigen Gedenkstätte Marienborn bei Helmstedt, als er auf den Laptop zeigte und sagte: «Sieh mal hier, das wäre doch was. ‹Geisterstunde im Tannenwald›. Da muss man um Mitternacht an einer bestimmten Stelle sein. Dort ist dann ein Wecker versteckt, den man finden muss, indem man dem Klingeln folgt.»
Der Schreck fuhr mir wie ein Blitz durch den ganzen Körper, ich trat mit voller Wucht auf die Bremse, und der Wagen kam binnen Sekunden zum Stehen. Der Fahrer hinter mir konnte gerade noch rechtzeitig anhalten, doch davon bekam ich nichts mit. Das konnte einfach nicht sein! Meine Wahnsinnsidee! Ein zweiter Wecker? Wer sollte sich das ausgedacht haben? Vielleicht gab es mich nochmal auf dieser Welt. Vielleicht war ich ein Wiedergeborener, und mein erster Körper war dummerweise noch gar nicht gestorben. Das gesamte Karma-Chakra-Nirvana des Universums war offenbar durcheinandergeraten.
Mit der Zeit blieben immer mehr Autos hinter uns stehen, bis nahezu der gesamte Verkehr auf der A2 zum Erliegen kam. Die ersten Menschen stiegen aus und riefen: «Wir kommen hier nicht weiter, die Grenze, die Grenze ist wieder da!»
Auch Tobi wurde aufmerksam, allerdings nicht, weil er den Tumult bemerkte, sondern weil ihm irgendetwas komisch vorkam.
Er stutzte, betrachtete den Computer auf seinem Schoß, schüttelte ihn. Das konnte nicht sein. Er hatte auf einmal eine gute Netzverbindung. Völlig ungewöhnlich während der Fahrt. Wir mussten also … stehen. Er blickte auf und fragte: «Ist was? Sollen wir den Cache jetzt machen?»
Ich beruhigte mich langsam und sagte möglichst unbeteiligt: «Meinetwegen. Ist zwar eine simple Idee, das mit dem Wecker, wirklich nichts Besonderes. Für so was ist mir mein Gehirn eigentlich zu schade, da hat es wirklich anderes zu tun. Aber wenn es dich reizt, können wir den Cache gerne heben.» Als mein Atem wieder einigermaßen normal ging, fuhren wir weiter, und nur vier Stunden später war ich wieder ganz der Alte. Die Idee war schon sehr reizvoll – irgendwie.
Ich trat wie geplant einen Tag in Berlin und den nächsten Abend in Leipzig auf. Direkt nach dem zweiten Auftritt war es endlich so weit. Es war Sonntagnacht, 23.10 Uhr, und wir saßen im Auto auf dem Weg in diesen legendären Tannenwald. Wir verließen Leipzig Richtung Westen und folgten wenig später einer Straße nach Süden. Jetzt nur noch durch ein oder zwei kleine Dörfer, dann eine lange Landstraße entlang, immer Richtung Einsamkeit, und wir wären da.
Auf halber Strecke fiel uns auf, dass heute die Uhren auf Sommerzeit umgestellt wurden. Schlagartig bekam der Cache eine Dramaturgie, die selbst der Owner wohl kaum vorhergesehen haben mag. Was, wenn wir zwar schon im Sommer angekommen waren, der Wecker aber noch nicht? Was, wenn wir gleich mitten im Wald standen und lauschten, der Wecker das Signal jedoch schon gegeben hatte? Wir waren total verwirrt, zumal wir mal wieder nicht so genau wussten, ob die Uhren nun eine Stunde vor- oder zurückgestellt wurden. Daher beschlossen wir, es einfach zu riskieren.
Kurz darauf erreichten wir die Stelle, an der wir parken wollten. Sie war etwa 500 Meter von den in der Cachebeschreibung angegebenen Koordinaten entfernt. Wir stellten den Wagen auf einem zwar nicht realen, für unser Ego aber voll ausreichenden Off-Road-Gelände ab. Der vordere rechte Reifen stand locker einen halben Zentimeter in einer übrig gebliebenen Pfütze des ansonsten eher trockenen Asphalts. Wow, das war vielleicht ein Gefühl, echte Outdoor Wilderness – nur wir beide, das Fahrzeug und die unberechenbare Natur.
Leider hatte die unberechenbare Natur noch ein paar wirklich schwierige Rechenaufgaben für uns vorbereitet. Doch davon ahnten wir noch nichts, als wir ausgelassen und erwartungsfroh ausstiegen. Jetzt nur noch schnell das GPS-Gerät um den Hals gehängt, die Wanderstiefel angezogen, die Jacke erst an- und dann wieder ausgezogen, weil es doch recht warm war, und dann noch die Taschenlampe um den Kopf geschnallt. Ja, in der Zwischenzeit hatten wir aufgerüstet. Während wir bei unserer ersten Nachtaktion noch die Lampe mit den Händen umklammert hielten, besaßen wir inzwischen echte Profi-Stirnlampen. Sehr praktisch, denn man hat beide Hände frei, um zu suchen, um zu schreiben oder um sie einfach nur in die Jackentasche zu stecken, weil es dort wärmer ist. Natürlich hatten wir auch noch eine Handlampe dabei. Die war viel stärker und kam zum Einsatz, um auf längere Distanzen ebenfalls Reflektoren sehen zu können. Die Stirnlampe war dagegen eher für den Nahbereich beim Laufen oder Rasten oder Durchwühlen der Cachedose.
Es hätte alles so schön sein können, aber: Wir hatten eine Frau dabei.45 Hallo? Eine ganz normale Frau!
Keine Cacherin!
Keine von diesen netten, sympathischen Menschen, die ein elektronisches Gerät als adäquaten Ausrüstungsgegenstand für jedwede Form der Freizeitgestaltung ansehen.
Keine, die den Akt des Suchens schon als Teil des Findens empfindet.
Keine, die Spaß am Unbekannten hat und deshalb in der Lage ist, eine Ehe als Cache ihres Lebens zu betrachten.
Keine, die weiß, dass ein vom Himmel gefallener Regentropfen nicht völlig spurlos verschwindet, sondern das Haftungsverhalten kleinerer Erdpartikel erhöht und durch Lichtbrechung dafür sorgt, dass ein nasser Gegenstand dunkler wirkt.46
Es war Tobis Freundin. Die beiden wollten zusammen ein paar Tage in Leipzig verbringen, da er meinetwegen sowieso schon mal da war. Dass es aber auch Nächte gibt, hatte Tobi ganz vergessen. Und dass er die lieber mit mir verbrachte, konnte er ihr jetzt auch nicht so einfach sagen. Im Grunde war sie eine sympathische Mittzwanzigerin, die einfach nur mal sehen wollte, mit wem Tobi sich so herumtreibt und was Tobi da so macht, wenn er cachen geht. «Eure Geschichten klingen immer so süß», fügte sie erklärend hinzu.
Nur waren wir hier nicht in Leipzig, einer Stadt mit Infrastruktur, bewährtem Notfallrettungssystem, Cafés, Kaufhäusern und befestigten Bürgersteigen. Nein, wir waren gut zehn Kilometer von der Zivilisation entfernt, genauer: mitten im Tannenwald. Vor uns ein Forstweg, hinter uns eine Pfütze. Was, wenn Tobis Freundin etwas passierte? Was, wenn die geballte Kraft der ungebändigten Naturgewalten über sie hereinbrechen würde? Wir hätten sie natürlich gerettet, das versteht sich von selbst, allerdings könnten wir dann nur noch 98,5 Prozent unserer Aufmerksamkeit der eigentlichen Aufgabe widmen. Wir wagten es dennoch. Schließlich heißt es immer, Menschen wachsen mit ihren Herausforderungen, und wir hofften, sie würde ebenfalls wachsen und wachsen und wachsen und …
Doch am Ende waren wir diejenigen, die wuchsen und wuchsen und wuchsen, denn nach drei Metern ging es auch schon los. Der Weg war unbefestigt und ungeteert und im Laufe der Jahre zu einem Waldweg mit tiefen Fahrrinnen geworden. Außerdem musste er irgendwie den Wechsel vom Regen zum Sonnenschein verpasst haben. Überall stand Wasser, der Boden war völlig aufgeweicht, und unter dem hohen, wild wachsenden Gras war nicht jede Pfütze sofort zu erkennen. Wenig später schallte es durch die Dunkelheit: «Uah, meine Schuhe, ich habe die hohen Stiefel ja gar nicht dabei.» – «Oje, jetzt läuft mir das Wasser in die Turnschuhe.» – «Kann mir bitte mal jemand helfen?»
Den Zahn zogen wir ihr allerdings gleich. Wir stellten uns einfach vor sie hin, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagten: «Mädel, damit eines klar ist: Das hier ist eine echt harte Nummer. Es ist dunkel, es ist Nacht, und der Feind liegt irgendwo da draußen im Dickicht. Er ist in ein oder zwei eklig nassen Plastiktüten vergraben und unter einer Baumwurzel mit Stöcken, Steinen und Laub so versteckt, dass es unsere gesamte Aufmerksamkeit und volle Konzentration erfordert, ihn zu finden. So wartet er darauf, sich mit oder besser AN uns zu messen. Und du? Dir ist der Boden wohl zu schlammig, was? – Okay, wir helfen dir.» Mit diesen Worten warf ich mich auf den Boden, damit sie ihre von Wasser und Schlamm gepeinigten Schuhe schonen konnte. Tobi hielt ihr die Hand, damit sie auf meinem muskelgestählten und perfekt definierten Rücken nicht stolperte.
Dann gingen wir weiter.
Wie jedes Mal, wenn Tobi und ich gemeinsam unterwegs sind, hatten wir die ganze Zeit unsere Taschenlampen an, damit ein eventueller Jäger nicht auf die Idee kam, einfach mal blind auf ein sich bewegendes Ziel zu schießen. Gut, es mag durchaus den einen oder anderen Jäger geben, der denkt: Super, mein Ziel leuchtet, das wird einfach. Aber von denen hat mir noch nie jemand erzählt. Wie auch?
Der Feldweg machte erst einen Bogen nach links, dann einen nach rechts. Während auf der einen Seite ein offenes Feld einen weiten Blick durch die Nacht ermöglichte und in der Ferne ein paar vereinzelte Lichter die dort liegenden Häuser erahnen ließen, sahen wir zu unserer Rechten in ein großes, dunkles Nichts. Das war der Tannenwald. Zum Glück hatten wir künstliches Licht dabei. Mit den Stirnlampen erhellten wir also den Weg und die weitere Strecke, und zwischendurch richtete ich meine Shure-Lampe, die ansonsten dazu benutzt wird, um Bundesligastadien auszuleuchten, immer mal wieder auf den Wald. Auf einmal sah ich sie: zwei Reflektoren. Direkt nebeneinander.
Ich rief Tobi zu mir und sagte: «Dieser Idiot. Man soll den Cache hören, dabei kann man ihn jetzt schon sehen.» Auf einmal verschwanden die beiden Punkte und tauchten etwas weiter links wieder auf. Dann waren sie plötzlich erneut weg und kurz darauf an einer anderen Stelle wieder da. Wir schauten uns an. Ich dachte spontan: ein Wildschwein, doch Tobi wusste es besser.
«Ein Wildschwein», sagte er, während seine Freundin sagte: «Schon wieder in eine Pfütze getreten.»
Wir ignorierten die Bemerkung und wurden uns über eines klar: Das, was da im Wald herumlief, war echt. Es lebte, und es wusste, dass es lebte.
Während Tobi so sehr mit den Knien schlotterte, dass er langsam im Morast versank, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Da ich jedoch meinen Schnellbräter ausnahmsweise mal nicht dabeihatte, verwarf ich den Gedanken, an Ort und Stelle zu kochen, gleich wieder.
Unsere Begleiterin dagegen schien keinerlei Angst zu haben. «Ach, so ein Wildschwein …», sagte sie völlig entspannt. «Die sind doch süß … Vielleicht ist es auch ein Reh … Ihr stellt euch vielleicht an, Jungs.» Wie schön es ist, naiv zu sein, wurde uns nie wieder so bewusst wie in jenem Moment. Aber es war klar, wir Männer waren jedenfalls auf den Tod im Allgemeinen und das Sterben für unsere hehren Ziele im Besonderen vorbereitet.47
Langsam setzten wir unseren Weg fort und leuchteten dabei die ganze Zeit über mit einer Lampe in den Wald. Wir wussten, wir sollten uns am besten einfach normal bewegen, schließlich sind die meisten großen Tiere Fluchttiere und haben mehr Angst als der Mensch. Nur ob die Tiere in dem Tannenwald das auch wussten, konnte uns keiner sagen.
Falls dem so war, würden sie uns zumindest nicht angreifen, denn wir versuchten, während wir voranschritten, möglichst viel Lärm zu machen. Das mögen Wildschweine bestimmt nicht, dachten wir uns, und fliehen. Zumindest wird das immer behauptet. Ich glaube vielmehr, die armen Viecher denken dann einfach nur: Wenn jemand so blöd ist und mitten in der Nacht lärmend durch den Wald rennt, muss er derart grenzdebil sein, dass er kaum in der Lage sein wird, sich so zu ernähren, dass sein Körper eine echte kulinarische Alternative zu Eicheln und Kastanien darstellt.
Nach einer uns unendlich lang vorkommenden Zeitspanne von letztendlich zehn Minuten erreichten wir die Stelle, an der es zu lauschen galt. Es war eine Weggabelung, und wir warteten geduldig. Tobi und ich waren in Gedanken noch immer bei den Wildschweinen. Kamen die Tiere jetzt, um uns zu holen? Sicherheitshalber suchten wir uns schon einmal Bäume aus, auf die wir hinaufklettern konnten, falls sie tatsächlich angreifen sollten.
Aber wir waren nicht allein, und so erscholl es nach einer Weile, genauer gesagt nach 30 Sekunden: «Wo ist denn nun der Wecker?»
«Der muss erst klingeln …»
«Warum sind wir denn dann schon hier?»
«Weil wir vorher da sein müssen.»
«Und wo ist das Wildschwein?»
«Hinter dir.»
«Ah … ihr seid so gemein!»
Wir hatten endlich wieder Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken, ob der Wecker nun schon auf Sommerzeit umgestellt worden war oder nicht. Es gab nur drei Möglichkeiten:
Erstens: Wir hatten Pech, der Wecker war noch nicht umgestellt und wir würden uns eine Stunde lang die Füße in den Bauch stehen.
Zweitens: Der Owner hatte ihn schon umgestellt (das war unsere größte Hoffnung).
Drittens: Es war ein Funkwecker, der sich automatisch anpasste.
Allerdings waren wir nicht ganz sicher, ob der Wecker überhaupt ein Signal empfangen konnte. Wir griffen nach unseren Handys und stellten fest, dass wir so gut wie gar kein Netz hatten. Genau genommen war es auch eigentlich nur ein Handy. Meines hatte ich im Auto vergessen, und Tobis Freundin hatte ihres nicht mitnehmen wollen, das gute Stück könnte ja frieren – trotz Flokatihülle …
Aber Handy und Funkwecker unterscheiden sich wesentlich voneinander:
So verstrich die Zeit, und wir standen an dieser kleinen Weggabelung. Vor uns dichtes Gestrüpp, hinter uns lichter Wald. Über Wildschweine machten wir uns längst keine Gedanken mehr. Jeder starrte gebannt auf sein GPS-Gerät und korrigierte beständig seine Position. Schließlich war der Satellitenempfang im Wald nicht gerade berauschend. Nach einer Weile befanden wir uns etwa 15 Meter auseinander, da wir immer mit Geräten von zwei verschiedenen Herstellern unterwegs waren. Ihr wisst schon: ein Magellan und ein Garmin, und jedes Gerät will es mal wieder besser wissen als das andere. Währenddessen wanderte unsere Gefährtin zwischen uns hin und her und verstand überhaupt nichts.
So warteten wir also auf 00.00 Uhr MEZ. Es fehlten noch genau fünf Minuten. Die Silvesternacht im Jahr 1999 war garantiert nicht spannender: Holten uns nun die Außerirdischen, oder bewiesen sie guten Geschmack und entführten die Bewohner eines anderen Planeten?
Plötzlich ein Geräusch. Direkt aus dem Dickicht. Und da sahen wir sie auch schon wieder: die Augen. Diesmal zwei Paare nebeneinander. Machte insgesamt vier. Während wir Männer, vollgepumpt mit Adrenalin bis unter die Haarspitzen, so böse zurückstarrten, dass das Tier vor Angst zitterte und beinahe auseinandergefallen wäre, rief unsere Begleiterin, nun da sie das Leuchten mit eigenen Augen sah: «Hilfä, Hilfäääää!»
Nun war es mit unserer Beherrschung vorbei, wir rannten zu ihr hin und halfen! Wir redeten auf sie ein, stützten ihren schwankenden Körper, sangen ihr Lieder vor, zitierten Voltaire.
Da ertönte auf einmal ein leises «Piep, piep» … Pause. Dann wieder: «Piep, piep.» Es war der Wecker. Wir ließen Tobis Freundin einfach fallen und folgten dem Ton. Indem wir uns die Hände hinter die Ohren hielten, verstärkten wir unsere auditive Wahrnehmung. Wie die Empfangsstation eines Echolots drehten wir uns um die eigene Achse, um den lautesten Ton zu erhaschen und ein paar Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Das Piepen führte uns vom Weg ab, mitten hinein in den undurchdringlichen Dschungel voller kleiner Bäume. Wir blieben wieder stehen, dann orten, dann gehen, orten, gehen, orten, gehen. Derweil machte es:
Ich war mit dem Kopf gegen ein Gerüst geknallt. Hier steckte in einer daran befestigten Kiste der Wecker. Es klang wie Musik in meinen Ohren, nur leider nicht der Wecker, sondern die Kopfschmerzen.
Als die Schmerzen und das Piepen nachgelassen hatten, sah ich mich ein wenig um. Ja, das war mal eine Cachesuche, wie ich sie mir immer ausgemalt hatte. Nachts im Wald die Natur erleben. Dazu einen digitalen Wecker mit seinem absolut natürlichen digitalen Piepen hören. Ich setzte mich erst mal hin – und stand sofort wieder auf. Der Boden war nass.
Der Owner war wirklich sehr geschickt gewesen. Mitten im Wald stand ein alter, verlassener Turm in der Größe eines Jägersitzes, an dem ein Metallkasten angebracht war. Die alte Verteilerdose, die den Turm wohl mal mit Strom versorgt hatte, war das ideale Versteck für den Wecker – und wasserdicht dazu.
«Wir haben ihn!», rief ich laut durch den Wald.
«Ja, wir haben ihn!», fielen die anderen in mein Rufen ein, und wir lachten uns freudestrahlend an.
«Wie geht es jetzt weiter? Lies vor!», sagte Tobi aufgeregt.
«Hab den Zettel im Auto gelassen», erwiderte ich kleinlaut. «Ist aber ganz einfach, wir müssen in vier bis fünf Metern Entfernung nach einem Hinweis suchen, der uns dann zum endgültigen Versteck führt.»
Unsere Gefährtin stutzte. «Ihr geht ohne Beschreibung auf eine Schnitzeljagd?», fragte sie ungläubig.
«Na klar, wenn die Aufgaben einfach zu meistern sind, rennen wir dafür nicht nochmal zum Wagen zurück. Also, auf geht’s. Irgendwo muss ein Hinweis sein, vielleicht in einer Dose vergraben oder so.»
Voller Elan fingen wir an, uns durch das Gelände zu schlagen. Zum Glück war der dichte Bewuchs mit kleinen, jungen Bäumen nicht bis zu dem Turm vorgedrungen. Die Bäume standen etwas weiter auseinander und ließen viel Raum für Versteckmöglichkeiten. Ich suchte zuerst einen vermoderten Baumstumpf nach dem nächsten ab, schaute zwischen den Wurzeln nach und blickte in ein tiefes Loch aus verfaultem Holz. Dann drehte ich mich um und nahm mir das Gras vor. Tobi untersuchte derweil einen Baum nach dem anderen. War etwas in das Holz geritzt oder zwischen der Rinde versteckt? Hatte der Owner vielleicht ein Astloch genutzt? Als er damit fertig war, kamen die Baumstümpfe dran.
An dieser Stelle muss ich der uns begleitenden Erstcacherin meinen Respekt aussprechen. Sie durchkämmte nämlich das Gras, wendete Steine und drehte fast jedes Blatt auf dem Boden um und sah nach, ob nicht doch vielleicht irgendwas versteckt war. Anschließend wandte sie sich auch noch den Bäumen zu.
Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Wir bemühten uns nach Kräften, wir hatten inzwischen alles mehrmals durch-, ge-, unter- und besucht, außerdem den gesamten Waldboden umgegraben und nebenbei das Bernsteinzimmer gefunden, aber keinen einzigen Hinweis auf den Cache. Gebeugt, gedemütigt und mit einem Anflug von Depression auf der Seele schlichen wir wenig später zurück zum Wagen. Wir waren vor lauter Trauer und Enttäuschung nicht in der Lage, auf unsere Angst zu hören, und während wir den Weg entlanggingen, besprachen wir das Erlebte.
«Das kann nicht sein», sagte ich mit schwacher Stimme.
«Der Hinweis muss da irgendwo liegen», fügte Tobi ermattet hinzu.
«Es waren höchstens vier oder fünf Meter», erklärte ich.
«Habt ihr auch wirklich ÜBERALL gesucht?», fragte unsere Begleiterin.
«Ja, der Cache muss geräubert worden sein.»
Am Auto angekommen, stiegen wir wortlos ein. Ich setzte mich auf den Rücksitz und hob die dort liegengebliebene Beschreibung vom Fußboden auf. Missmutig las ich sie noch einmal durch. Und da standen sie, die «». Ja, sie sahen komisch aus, diese «», aber sie waren enorm wichtig. Denn das Wort Entfernung stand in Anführungszeichen, also «Entfernung». Mir war sofort klar, wo der Cache lag: im Turm. Es ging nicht um einen Umkreis von vier oder fünf Metern, sondern um die entsprechende Höhe … Ich hatte versagt. Ich hatte die Cachebeschreibung erst nicht genau gelesen, sie dann vergessen und zu allem Übel auch noch falsch in Erinnerung gehabt.
«Oh!», entfuhr es mir.
«Was?», kam es einstimmig von den beiden vorderen Sitzen zurück.
«Ähm … nichts», presste ich hervor, während ich versuchte, mich hinter dem halb gefalteten DIN-A4-Blatt zu verstecken.
«Okay», sagten sie unisono.
Aber Tobi muss dieses kleine Zögern in meinem «Ähm» gehört haben. Er hat einen untrüglichen Instinkt, bei Menschen das Unangenehme zu erspüren. Mit einem «Zeig mal!» riss er mir die Beschreibung aus der Hand und las sie durch. Er las sie gleich nochmal. Im Rückspiegel konnte ich erkennen, wie er die Augen schloss, dann ein paarmal tief ein- und ausatmete und die Zeilen schließlich ein drittes Mal las. Dann öffnete er die Fahrertür, stieg ohne ein Wort aus und schlug sie zu. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Er würde mich sicher gleich aus dem Auto zerren, über den Boden bis zurück zum Wecker schleifen, mich dort an den Turm binden und mir – für alle Wildschweine deutlich sichtbar – «Ich bin eine Kastanie» auf die Stirn schreiben.
Nichts davon geschah. Wir sahen ihn, hörten ihn jedoch nicht. Er sprang herum, trat gegen Bäume, riss die Arme zum Himmel empor. Irgendwann wurde er ruhiger. Er kam zum Auto zurück, setzte sich hinters Lenkrad und fuhr los mit den Worten: «Ist doch egal, da steh ich drüber.»
Ich schwor mir, nie wieder eine Cachebeschreibung zu vergessen, nie wieder auch nur eine Cachebeschreibung im Auto liegenzulassen und nie wieder Tobi meine Fehler zu gestehen, wenn seine Freundin NICHT dabei war.