Das Schöne am Geocachen ist, dass man dabei an Orte gelangt, die man sonst nicht kennenlernen würde. Denn nicht selten haben irgendwelche einheimischen Owner irgendwelche einheimischen Sehenswürdigkeiten oder Sehenswürdigkeiten ihrer Heimat in einen Cache eingebaut. Hebt man einen solchen Cache, findet man diese auch als Nichteinheimischer. Diese Sehenswürdigkeiten können sehr unterschiedlich sein: ein Gedenkstein, der Stadtpark von Bad Gelenheim, okay, Dorfpark wäre wohl angemessener, Omas Garten oder aber sogenannte Lost Places.
Hierbei handelt es sich nicht um eine eigene Cacheart, sondern um einen Cache, der einen zu einem besonderen Ort (place) führt, der so gut wie vergessen (lost) ist. Solche Orte üben schon immer eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Es ist wie eine Zeitreise. Vor vielen Jahren haben sich in diesen alten Bunkeranlagen oder Fabriken einmal bedeutsame Dinge abgespielt. Aus irgendwelchen Gründen ist der Ort verlassen worden, meist weil er im Krieg völlig zerstört wurde.
Und jetzt komme ich und betrete dieses Areal. Ich stoße auf alte Mauern und Hügel, Gräben und Gebäude. Teilweise sind sie schon nicht mehr ganz zu erkennen, meist sind sogar nur noch ein paar Reste übrig. Aber der gesamte Ort beginnt wieder lebendig zu werden. Fast vermag ich die Arbeiter von damals durch die Türen und Hallen gehen zu sehen. Fast spüre ich die Detonationen beim Sturm auf die Anlage. Ein Hauch von Geschichte weht an mir vorbei.
So auch «Wernhers Memorial Cache», der bei mir besonderen Eindruck hinterlassen hat. Er liegt auf einem alten militärischen Waffentestgelände südöstlich von Berlin. 1873 vom damaligen Kaiser Wilhelm I. gegründet, wurden dort bis zum Jahr 1945 Kanonen und andere Großfeuerwaffen getestet. Dafür wurde eigens eine 14 Kilometer lange Schneise in den Wald geschlagen. An der einen Seite wurden die Geschütze abgefeuert, und auf der gesamten Strecke standen alle 50 Meter irgendwelche Mitarbeiter und gaben durch, wie weit die Dinger flogen. Wenn einer aufhörte mit Zurufen, wusste man auch, wie weit das Geschoss geflogen war. Da dieses Gelände während der DDR-Zeit nicht benutzt wurde, ist dort alles zugewuchert. Die alten Gräben sind zugefallen, und die Wege und Straßen sind nur noch rudimentär zu erkennen. Das Besondere an diesem Cache ist aber, dass einen die Suche zu einem alten Raketentestgebäude führt. Dort hat Wernher von Braun einst seine ersten Raketenversuche unternommen, bevor er nach Peenemünde gegangen ist.
Die Cachedose zu finden war für Tobi und mich nicht sonderlich schwer: Wir parkten mal wieder am Rand der Landstraße und wanderten auf einer alten Panzerstraße in den lichten Wald. Schon auf den ersten Metern merkten wir, dass hier irgendetwas anders war. Überall waren Gräben und Mauerreste. Wir folgten den Pfaden bis zur angegebenen Stelle. Von dort mussten wir nur noch peilen. 123 Meter Kurs 23° nach Nordost. Dort lag ein Rohr unter Steinen versteckt, und darin befand sich der Cache. Er war an dieser Stelle leicht zu entdecken. Dass es tatsächlich einfach war, ist unter anderem daran zu erkennen, dass Tobi ihn zuerst bemerkte.
Doch der Cache war gar nicht das eigentlich Besondere. Denn jetzt begann der interessante Teil dieses Lost Place. In der Cachebeschreibung waren noch einige andere Koordinaten angegeben, an denen es interessante Sachen zu entdecken gab. Obwohl wir schon fündig geworden waren und eigentlich längst zum nächsten Cache wollten, ließ uns der Ort nicht los, und wir sahen uns noch ein wenig um. An einer Stelle, an der sich einmal eine Testanlage für Raketentriebwerke befunden hatte, konnte man erkennen, wo der Triebstrahl durch die gebogene Bodenbauweise umgelenkt worden war. Etwas weiter weg befand sich ein gemauerter Unterstand mit kleinen, dicken Panzerglasfenstern. Das Glas war noch erhalten, und wir stellten uns dahinter und blickten auf die Testanlage. Genau an dieser Stelle hatte einst auch Wernher von Braun gestanden und sich die Experimente angesehen. Hier beobachtete er die Vorgänge und fragte sich: «Kann das klappen? Was muss man verbessern?»
Wir gingen weiter. An einer anderen Stelle blieben wir vor einem riesigen Raum stehen, der mit etwas Schwarzem angefüllt war. Wir fragten uns, was das sei, hatten aber keinen blassen Schimmer. Später bekamen wir vom Owner noch mehr Informationsmaterial. Darin stand, dass hier Geschosse getestet worden waren. Man hatte einfach in den Haufen Sand gezielt, die Projektile danach ausgegraben und untersucht, wie sie sich im Lauf von Kanonen verhielten und welchen Belastungen sie ausgesetzt waren.
Tobi und ich kletterten über unzählige verschiedenartige Hügel. Völlig ahnungslos, was das alles war, wofür man das brauchte und was darunter verborgen lag. Letztendlich handelte es sich um Nachbauten von verschiedenen Befestigungsanlagen und Bunkern. Hier wurde damals getestet, wie stabil sie waren oder wie ihnen am besten beizukommen war. Unter anderem hatte man mehrere Meter Westwall hier im Osten nachgebaut. Wenn wir zwischendurch anhielten und still diese alten Bauwerke betrachteten, schien es fast, als hörten wir noch leise die Stimmen der Menschen, die hier früher gearbeitet haben.51
Tobi sollte auf diesem Gelände noch eine ganz besondere Erfahrung machen. Wir waren auf dem Rückweg zum Auto, quer durch den Wald, als ich auf einmal ein Knacken hinter mir hörte. Ich drehte mich um und musste feststellen: Tobi war weg. Wahrscheinlich war er in einen der unterirdischen Bunker gestürzt und jetzt verschollen. Ich machte mir zuerst große Sorgen und dachte: Oh mein Gott, wo wird er sein? Wie werde ich ihn finden? Komme ich überhaupt an ihn heran? Dann fiel mir zum Glück ein, dass ich den Autoschlüssel hatte, und auf einmal war alles wieder gut.
Ich blieb ganz locker. Ich war ja schon erfahren, es war schließlich nicht mein erster Lost Place mit all seinen Unwägbarkeiten. Am Anfang ist natürlich alles viel komplizierter. Und man wird mit vielen Dingen konfrontiert, mit denen man vorher nie gerechnet hat:
Mein erster Lost Place war eigentlich mein allererster Cache, der am See, weil wir innerhalb kürzester Zeit den Mut verloren hatten (lost) und nicht wussten, wo die weiteren Koordinaten standen (place). Der erste richtige Lost Place war jedoch «Borgwards Erbe». Der liegt irgendwo hinter Bremen und führt über insgesamt drei Stationen zur gesuchten Tupperdose. Wir wussten nur, dass auf dem Gelände, wo er verborgen war, bis zum Zweiten Weltkrieg eine Motorenfabrik gestanden hatte. Was der Zweite Weltkrieg war, wussten wir nicht mehr so genau, aber von Motoren hatten wir schon mal gehört. Klang spannend. Tobi und ich also nichts wie hin.
Wir waren diesmal auf der A 1 unterwegs nach Norden. Kurz hinter Bremen befindet sich links der Autobahn ein kleiner Wald, und in dem ist der Cache versteckt. Da wir früh dran waren, beschlossen wir, uns mal ein wenig umzusehen. Der erste Teil, also von der Autobahn runter auf die Landstraße, war noch einfach, den richtigen Einstieg zu finden war dagegen schon etwas schwieriger. Wie üblich näherten wir uns dem Cache mit Hilfe der Koordinaten, meiner Topo-Karten und der Zieleingabekarte des Navigationssystems. Die Vorgabe lautete: «Von der B-irgendwas rechts ab.» Am Ende des Weges könne man parken.
Das versuchten wir dann auch. Wir bogen rechts ab, fanden den Weg und sogar das Ende und fuhren allerdings erst mal weiter. Okay, der Weg war nicht mehr geteert, sondern mit Schotter belegt, aber schließlich hatte es nicht geheißen, man müsse, sondern man könne dort parken. Außerdem entdeckten wir kein Schild, das die Durchfahrt explizit verbot, und nirgends war eine Schranke zu sehen, die darauf schließen ließ, dass die Durchfahrt nur zu bestimmten Zeiten gestattet war. Vor allem fuhren wir aber deshalb weiter, weil es anfing zu regnen, und vor allem vor allem deshalb, weil ich mal Lust hatte, ein bisschen offroad unterwegs zu sein. Ob und wann man so etwas tun darf, wurde im Anschluss an dieses Vergnügen eine für mich sehr interessante Frage, und später musste ich mich damit sogar noch intensiver beschäftigen.52
Zurück zu «Borgwards Erbe»: Wir waren also mitten im Wald, rechts und links standen riesige Bäume und dazwischen wir. An der ersten Station wartete eine recht einfache Aufgabe auf uns. Tobi las vor:
«Welche Form hat das hier noch stehende Gebäude? Rund = 4, viereckig = 6, noch mehr eckig = 1»
«Klar, dass solche Gebäude viereckig sind», antwortete ich.
«Stimmt eigentlich», erwiderte Tobi.
«Wir brauchen also nicht extra in den Wald hineinzulaufen. Lass uns einfach den Wert für ‹viereckig› übernehmen und direkt zur nächsten Station weiterfahren.»
Gesagt, getan. Damit rechneten wir nun die Koordinaten der nächsten Station aus und fuhren weiter durch den Wald. Hätte uns jemand darauf angesprochen, wären wir um eine Ausrede nicht verlegen gewesen und hätten einfach behauptet: «Wir haben uns verfahren und wussten nicht, wo wir wenden können.» Zum Glück erwischte uns keiner, denn geglaubt hätte uns das bei den strahlenden Gesichtern wegen der rechts und links aufspritzenden Schlammmengen53 sowieso niemand. Der Regen war in der Zwischenzeit stärker geworden.
Wir waren also auf dem Weg zu unserer errechneten nächsten Station. Während wir weiter geradeaus fuhren und munter durch den Wald schaukelten, fiel uns auf, dass diese irgendwie viel zu weit weg lag. Viel zu tief im Wald und viel zu komisch in einem anderen Land in Europa. Sollten wir uns etwa mit der Gebäudeform vertan haben? Es half nichts. Wir mussten noch einmal zurück und nachsehen, also fuhren wir wieder die ganze Strecke retour. Das Wendemanöver war eine wahre Freude, schließlich stand das Wasser ziemlich tief in den Reifenspuren. Und genau da mussten wir durch.
Wieder an den Koordinaten der ersten Station angekommen, hielten wir an, blickten durch die beschlagenen Scheiben und suchten das Gebäude. Da war es, 16 Meter vom Weg entfernt und mitten im Wald, doch bei dem diesigen Wetter nur vage als Schatten durch die Bäume zu erkennen. Getrennt von uns nur durch eine dichte Regenwand. Es blieb die Frage «Wer geht?»
Völlig klar: Ich bin gefahren, also kann Tobi jetzt draußen rumlaufen – dachte ich.
Völlig klar: Er ist gefahren, also kann er jetzt auch draußen rumlaufen – dachte Tobi.
Wie das bei Männern nun mal so üblich ist, beschlossen wir, über das Problem nicht zu reden, sondern es auszusitzen – dachte Tobi.
Ich dagegen ließ beiläufig die Bemerkung fallen: «Na, Schiss? Ist dein Garmin etwa nicht wasserdicht, oder was?» Damit kriegt man sie immer, die Garminianer.
Zack, Tobi die Tür auf, rüber zum Gebäude, nachgesehen, welche Form es hatte, und wieder zum Auto zurück. Netterweise hatte ich bereits mit dem Wendemanöver begonnen. Damit es nachher schneller ging und wir nicht ewig bei diesem Sauwetter im Matsch herumkurven mussten, stellte ich mich schon mal auf eine nahe gelegene Kreuzung, sodass wir optimal in alle Richtungen weiterfahren konnten. Tobi kam mir die 450 Meter nachgelaufen. So klatschnass wollte ich ihn allerdings nicht ins Auto lassen, schließlich können die Fußmatten davon ganz schön dreckig werden. Außerdem ist es immer sinnvoll, dass jemand vor dem Wagen herläuft, wenn man in unwegsamem Gelände unterwegs ist. Und bei dem Wetter wurde der Boden in zunehmendem Maße eine Herausforderung – für Mensch und Maschine.
Da stand er also. Ich ließ die Scheibe knappe zwei Zentimeter herunter, um das Ergebnis zu erfahren und um ihm die neuen Koordinaten entgegenzurufen. Während das Gerät rechnete, machte ich die Scheibe natürlich wieder zu, es regnete einfach zu sehr in den Wagen.
Dann hielt ich mein GPS-Gerät von innen an die Scheibe, damit Tobi die neuen Koordinaten ablesen konnte. Er übertrug sie auf sein Gerät und machte sich auf den Weg. Den Blick auf sein Display geheftet, stapfte er die nächsten 400 Meter vor mir her bis zur zweiten Station. Ich konnte ihn durch die Windschutzscheibe kaum erkennen, denn es regnete inzwischen so stark, dass die Scheibenwischer gegen die Wassermassen kaum noch ankamen. Trotzdem fiel mir auf, dass Tobi leicht nach vorn gebeugt ging und irgendwie unwillig aussah. Er musste irgendein gewichtiges Problem haben, irgendetwas wühlte seine Seele auf … Doch was gibt es da Besseres als einen ruhigen, meditativen Spaziergang durch die erfrischende Natur?
Zurück zu «Borgwards Erbe»: Endlich kamen wir an der nächsten Station an, einem alten Trafohäuschen. Hier mussten wir Steinreihen zählen. Was heißt eigentlich «wir», diesmal war klar, wer die Aufgabe löste: Tobi! Er war sowieso schon nass.
Da ich mich weigerte, die Scheibe herunterzulassen, es hatte nämlich auch noch ein kalter Wind eingesetzt, musste er mich anrufen, um mir das Ergebnis durchzugeben. Leider zitterten seine Hände vor Kälte und Nässe so sehr, dass er nicht in der Lage war, die Tasten vernünftig zu bedienen – das elende Weichei. Zum Glück hatte ich ein Bluetooth-Autotelefon mit Lenkradsteuerung dabei. So weit kam es noch, dass ich bei dem miesen Wetter mein beheizbares Lenkrad losließ. Den Anruf musste er mir selbstverständlich später bezahlen.
Zurück zu «Borgwards Erbe»: Wir hatten also endlich die finalen Koordinaten und machten uns auf den Weg. Diesmal fuhr ich vorneweg, Tobi war inzwischen einfach zu langsam. Er schleppte sich durch den Morast, teilweise zog ich ihn auch durch den Schlamm, während er sich an der Stoßstange festhielt. Weil er dabei jedoch den Sensoren zu nahe kam, aktivierte das die Einparkhilfe – total nervig. Ständig musste ich Gas geben, um wieder ein wenig Abstand zwischen ihn und die Sensoren zu bringen. Natürlich war das zum Schutz von uns beiden, ich wäre nämlich sonst fast wahnsinnig geworden, und da hätte keiner was von gehabt, das hätte bloß alle Beteiligten unnötig gefährdet. Die Reifen drehten durch, und bald war Tobi von oben bis unten einge … na ja, eingefärbt beschreibt es wohl am nettesten.
Folglich war ich als Erster am Ziel.
Ich stürzte sofort aus dem Wagen, ließ allerdings den Motor laufen, damit die Sitzheizung nicht ausging, rannte in den Wald, hob den Cache, loggte und hastete zurück zum Auto. Dann kam der Schock: Es war weg … Ich sah nur noch den roten Schein der Rücklichter im Dunst verschwinden. Die Sau!, dachte ich, wie kann man nur so unkollegial sein! Schließlich habe ich alles, wirklich ALLES für ihn getan. Ich habe sogar, aus Solidarität zu seinem geschundenen Körper, seinen Namen ins Logbuch eingetragen. Tja, ich weiß eben, was Freundschaft ist. Doch er lässt mich hier im einsetzenden Schneesturm allein. Aber Undank ist nun mal der Welten Lohn. Ich ging also zurück zum Cache, strich seinen Namen wieder durch, löschte ihn, tilgte ihn aus dem Logbuch und nahm mir vor: Sobald das Tauwetter meinen gemarterten Körper freigibt und mich das Schmelzwasser wieder in die Zivilisation zurückspült, werde ich aller Welt erzählen, wie es wirklich war:
«Super Strecke, leicht gefunden, tolles Wetter, danke für den schönen Cache.»