WENN DAS SCHICKSAL STÄRKER IST

Grundsätzlich sollte man sich immer sagen, dass Versagen ein fester und völlig normaler Bestandteil des Lebens ist. Da wir Cacher ein ganz besonderes Leben führen, ist das Versagen folglich für uns ein ganz besonderer Bestandteil des Lebens. Und selbst wenn man mehrfach hintereinander mit diesem besonderen Bestandteil konfrontiert wird, empfiehlt es sich, nicht gleich den Kopf in den Sand zu stecken,75 sondern sich tapfer seinen Optimismus zu erhalten.

Tobi und ich, wir können das sehr gut, sonst hätten wir wohl kaum so lange überlebt. Einmal zum Beispiel wollten wir den Mittelpunkt Europas aufsuchen. Er lag an der A 61, mal wieder auf halber Strecke zu einem Auftrittsort, und wir hatten uns überlegt, ihn unterwegs schnell zu heben. Der Cache hatte nur zwei Stationen, es sollte also recht schnell gehen. Das Besondere an diesem Cache war, dass wir vorher ein paar Fragen zu Europa beantworten mussten. Allerdings wollten wir das erst im Auto erledigen, schließlich sind wir politisch interessierte Europäer mit einer anständigen Allgemeinbildung – das sollte also kein Problem sein. Wieso sollten wir uns schon vorab zu Hause damit beschäftigen?

Wir wollten die Startkoordinaten dieses Multicaches mit dem Navigationssystem unseres Autos anfahren. Dafür mussten wir natürlich erst mal eine Straße in der Nähe der Koordinaten finden.

Da ich keine Zahlen direkt eingeben kann, wollte Tobi das mit seinem GPS-Gerät erledigen. Er startete es, und während das Gerät erst einmal versuchte, seine aktuelle Position zu ermitteln, beschäftigte er sich schon mal mit den Fragen.

Es war lange still, dann hauchte er ein: «Die sind aber ganz schön schwer …»

Ich entgegnete: «Ach was, stell dich nicht so an!»

Daraufhin fragte er: «Okay, wie viele Forint bekommt man in Ungarn für 100 Filler?»

Ich konnte zwar mit der Hauptstadt von Ungarn kontern, aber ansonsten musste ich mich jetzt wirklich auf den Verkehr konzentrieren. Zudem ärgerte ich mich darüber, dass ich wieder mal alles alleine machen musste.

Zum Glück hatten wir das komplette Hightech-Equipment dabei: Laptop und UMTS-Karte, und schon war Tobi im Internet. Sehr viel später kam er wieder zurück, sah etwas zerzaust aus und war wohl irgendwie erfolglos gewesen. Dafür wusste er jetzt, dass die durchschnittliche Gesamtwasserentnahme pro Kopf in Ungarn bei etwa 550 Kubikmetern pro Jahr lag oder bei 1500 Litern pro Tag, was ungefähr dem doppelten der Werte von Polen, Rumänien oder Tschechien entsprach und leicht über dem Verbrauch in Deutschland mit 500 Kubikmetern pro Person und Jahr lag.

In der Zwischenzeit war sein GPS-Empfänger nicht untätig gewesen und hatte seine und damit bis auf eineinhalb Meter auch meine Position gefunden und die Entfernung zum Startpunkt angegeben: 1,5 Kilometer. Das war zu schön, um wahr zu sein, wären wir nicht just in diesem Augenblick an der Ausfahrt vorbeigerauscht. Die Zeit schien für einen Moment stehenzubleiben, und während dieser große blaue Pfeil mit den weißen Buchstaben fast schon Schlieren ziehend an unserer Seitenscheibe vorbeizog und wir die Köpfe langsam drehten, während ein langgezogenes «Ssssssccccccchhhhhhheeeeiiiiißßßeeeee» unseren Mündern entfuhr, stockte vor uns der Verkehr, und wir wären fast, ja FAST, in das Stauende hineingefahren. Aber kein Problem, die nächste Ausfahrt kam bestimmt, und genau so war es – nach 14 Kilometern 

Wir nutzten die Zeit so gut es ging und versuchten weitere Fragen zu lösen. «An welchem Fluss (deutsche Schreibweise) liegt die polnische Stadt Grudziadz? Gesucht ist die Anzahl der Buchstaben!», oder:«Aus wie vielen Inseln besteht die Republik Malta? (Bitte nur die großen ab drei Quadratkilometer zählen.)»

Wir hatten keine Ahnung und versuchten uns im Internet einen Überblick zu verschaffen. Leider gelang es uns nicht, weil wir uns genau auf den 14 Kilometern der Autobahn befanden, die zur netzfreien Zone gehören, was in der Werbung immer ganz unten hinter dem kleinen Sternchen steht. Irgendwann schafften wir es dann doch. Nicht dass wir die Fragen beantwortet oder dass wir ein Netz gefunden hätten. Wir waren von der Autobahn runter … Und wir waren frohen Mutes, denn allmählich näherten wir uns unserem Ziel, dem Mittelpunkt Europas. Zwar nicht mehr von oben, denn das lag ja schon lange hinter uns, sondern von unten.76 Obwohl mir klar war, dass wir letztendlich ebendiesen Mittelpunkt suchten, wunderte ich mich, warum Tobi auf einmal so böse guckte. Ich hatte doch gar nichts gemacht, außer stark gebremst. Dabei war er wohl mit dem Gesicht zwischen Windschutzscheibe, Laptop und Armaturenbrett gelangt und war zur Bewegungslosigkeit verdammt.

Aber ich hatte das tun müssen, denn wir waren genau dort vorbeigefahren, wo wir hinwollten. Ein großer Metallbogen mit Sternen und einem stilisierten «EU» zeigte den Ort, den es eigentlich erst noch zu suchen galt. Tobi würgte sich ein «Respekt» heraus, und ich befreite ihn dafür aus seiner misslichen Lage. Wir waren uns sicher, dass der Cache hier irgendwo liegen musste. Also stiegen wir aus und durchkämmten das Gelände. Wir liefen um das Denkmal herum, durchsuchten die schön angelegten kleinen Blumenbeete, schauten unter den Bänken nach und hoben die Steine beiseite, die die Straße begrenzten. Währenddessen wunderten wir uns noch über den Cache-Owner.

«Warum hat er eine so offensichtliche Stelle gewählt?», fragte Tobi.

«Wie?»

«Ich meine, wenn er uns zum Mittelpunkt Europas führen will und das Ganze auch noch, huihuihui, spannend sein soll, warum ist das dann so ein großes Denkmal?»

«Keine Ahnung!»

«Wir kommen auch noch direkt daran vorbei, wenn wir auf dem Weg zum Startpunkt sind.»

«Na ja, vielleicht, also, nun ja, denk mal nach, es kann doch sein, also wirklich, manchmal …», versuchte ich ihn zu überzeugen.

Wir sprachen weiter darüber, und so verging die Zeit, und wir suchten noch immer. Langsam wurden wir leiser, bis wir schließlich ganz verstummten. Wir beschlossen, noch einmal die Cachebeschreibung zu lesen. Wir gingen zum Auto, und ich las vor: «Das Denkmal zu diesem Punkt liegt übrigens an einem ganz anderen Ort, wo es verkehrsgünstig besser zu erreichen ist.»

Tja, gut. Lesen. Warum auch! Ist ja ein Hobby, da darf man auch Spaß haben, und das Denkmal sah wirklich toll aus, auch wenn der eigentliche Punkt, an den man denken sollte, ganz woanders lag. Wir setzten uns ins Auto und beschlossen, die Fragen, die noch immer unbeantwortet waren, jetzt endlich mal ernsthaft zu lösen. Vielleicht waren sie ja doch nötig. Zu jeder Frage bekam man einen Wert, dem man einen Buchstaben zuordnen sollte. Schließlich sollten wir zu N 50° 31.cde; O 07° 35.hik. Außerdem hatten wir hier endlich ein Netz und somit eine Internetverbindung, und eine Pause nach der anstrengenden Sucherei war auch nicht zu verachten.

Während wir suchten und sich die Seiten Pixel für Pixel aufbauten, weil wir zwar ein Netz hatten, aber von dem Wort «Balken» hier nicht wirklich die Rede sein kann, warf ich noch einen Blick auf die ausgedruckte Cachebeschreibung. Plötzlich sprang mir ein Satz ins Auge, den wir bisher wohl übersehen hatten: «Wer den Artikel gelesen hat, kann sich vielleicht noch an die Koordinaten erinnern, dann spart ihr euch die Fragen …» Artikel, Zeitung 

Ich las Tobi den Satz vor. Wir blickten uns an, nickten, beugten die Köpfe über den Laptop, hämmerten die Suchanfrage über den Artikel zum Nabel der EU in die Suchmaschine ein, und schwups, fünf Minuten später hatten wir das Ergebnis. Klare, in Zahlen formulierte Koordinaten. Das war er, der Mittelpunkt der Erde, über den die Zeitung berichtet hatte. Sofort gaben wir sie ins GPS-Gerät ein und waren auch schon unterwegs. Von einem Wanderparkplatz etwa drei Kilometer weiter ging es dann los. Über die Hauptstraße gelangten wir direkt in den Wald, wo wir einen Forstweg einschlugen. Während wir so durch den lichten Wald spazierten und die frische Luft genossen, wunderten wir uns erneut über den Cacheleger: Warum hatte er die Fragen gestellt, wenn man die Koordinaten auch direkt finden konnte? Wieso verriet er das auch noch? Warum stand da: «Die Fragen e, f und h sollten auf jeden Fall beantwortet werden.» Wir ahnten es beide, wollten uns aber keine Blöße vor dem anderen geben und beschallten den Wald mit einem lauten, künstlichen Lachen. Allmählich näherten wir uns dem Ziel. Genau genommen näherten wir uns zwei verschiedenen Zielen, da Tobis und mein Gerät zwei 100 Meter voneinander entfernt liegende Punkte als Ziel angaben.

Wie immer war ich es wieder, der die Station finden musste.

Ich rief laut in den Wald hinein: «HIER!»

Er antwortete: «JA, ich bin HIER!»

«NEIN!», rief ich. «HIER!»

«WIESO?», kam es zurück. «ICH BIN HIER!»

«NEIN!»

«DOCH!»

«ICH HAB IHN!»

Stille.

 

Es hörte sich an wie ein aus dem Nebel aas? Motorboot, als er mit einem lauten ««Waaaaaas?» aus weiter Entfernung durch das Unterholz auf mich zustürmte. Die Ungläubigkeit in seiner Miene kann wohl nur ein Cacher verstehen, der wie er auch jetzt noch daran zweifelte, dass ich wieder mal fündig geworden war. Ich lächelte nur und schwieg. Er hatte eben nur ein Garmin und ich ein Magellan … Aber als guter Cacher hat man ja eine soziale Ader, deshalb informierte ich ihn auch über den Fund.

Diese Station war sehr schön gemacht: Irgendwie hatte der Owner es geschafft, mitten im Wald ein Loch in einen Baumstumpf zu bohren, gleichzeitig aber den oberen Teil als Deckel zu erhalten. Ich habe das in der Zwischenzeit mehrfach nachzumachen versucht, es aber nie geschafft. Allerdings musste ich meine Experimente einstellen, als das Umweltamt der Stadt Bonn damit drohte, mich zu verhaften, falls ich auch noch die andere Rheinseite entwaldete.

An diesem Holzdeckel war eine Filmdose befestigt, und darin eingerollt lag der Zettel mit den Koordinaten des Finals. Irgendwo bei 57° 32. deg. Ui, da waren sie. Diese Buchstaben deg. Wir erinnerten uns dunkel daran, dass sie etwas mit der Cachebeschreibung zu tun hatten. Die Erinnerung frischte langsam auf, und uns fiel ein, dass sie durch Werte ersetzt werden sollten, die sich aus den Fragen ergaben. Sofort war uns wieder präsent, dass wir diese Fragen nie beantwortet hatten, und es war sonnenklar, dass wir auf jeden Fall dem anderen die Schuld geben mussten.

«Du …», setzten wir beide an, schwiegen jedoch gleich wieder. Wir hatten ein gemeinsames Ziel und würden die Sache gemeinsam durchstehen. Ernst blickten wir uns an. Tobi zog mit unglaublicher Gelassenheit die Cachebeschreibung aus der Hosentasche. Ich war emotional völlig überfordert ob dieses wahnsinnigen Einfalls, die Beschreibung mit in den Wald zu nehmen, das machten wir sonst eigentlich nur dann, wenn wir sie letztendlich nicht brauchten. Mir entfleuchte ein «Toll!», mehr Komplimente wollte ich ihm dann doch nicht machen.

Jetzt hatten wir sie vor uns. Die Fragen. Sie waren für uns böhmische Dörfer. Mehr noch, denn wir wussten nicht einmal, was der Ausdruck «böhmische Dörfer» bedeutet.77 Wir blickten auf den Zettel. Wie sollten wir jetzt um alles in der Welt ohne Internet die Lösungen herausfinden? Wer weiß schon, welches Gebirge eine natürliche Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei bildet? Ich rief Chrissi an, die Freundin, die damals schon das GPS-Gerät falsch herum gehalten hatte, sodass wir die Suche bei Einbruch der Dunkelheit abbrechen mussten. Vielleicht war es auch bei Einbruch des Winters … keine Ahnung. Doch sie war nicht da oder hielt auch das Telefon falsch herum. Wer weiß das schon.

Der Mittelpunkt Europas, ich hocke knapp daneben, am Telefon Chrissi, die nicht weiterhelfen kann

Wir wurden nervös. Jetzt blieb nur noch jemand übrig, der Literatur und vergleichende Sprachwissenschaften studiert hatte und deshalb zwangsweise beim Fernsehen gelandet war. Wir riefen Renate an, und die hatte eine wirklich abgefahrene Idee: Sie benutzte ein Lexikon. Das sind diese dicken, schweren Dinger, die man zum Staubsammeln in Regale stellt. Den Staub entfernt man eigentlich nur dann, wenn Gäste kommen, damit es so aussieht, als hätte man in den Wälzern auch ab und an mal geblättert. Dabei ist zu beachten, dass man nicht alle Bücher gleichzeitig reinigt, damit möglichst ein unregelmäßiges Schmutzmuster entsteht. Alles andere würde sofort auffallen. Dass so etwas wie dieses Lexikon überhaupt funktioniert, noch dazu in Zeiten von Wikipedia, in denen Informationen in Bruchteilen von Nanosekunden veralten, überraschte mich völlig. In der Zeit, in der mein Rechner normalerweise das Bios startet, Windows hochfährt, die Firewall installiert, den Virusscanner aktiviert, die neuesten Updates herunterlädt, hatte sie herausgefunden, wie viele Länder eine gemeinsame Grenze mit der Slowakei haben.

Wir hatten also endlich unsere Lösungswörter und mussten jetzt nur noch Buchstaben zählen, voneinander abziehen, etwas addieren und all die kleinen Neckereien anstellen, mit denen Cacheleger so versuchen, die Sucher aufzuhalten, aber letztendlich nur Zeit schinden können. Dann wussten wir: 118 Meter in 54°. Wir stapften los. Quer durch den Wald, ohne einen Weg, der unseren Schritten Sicherheit verheißen hätte. 100 Meter, 60 Meter, 40 Meter, 20 Meter, zehn Me … Uahh, ein Abgrund! Direkt vor uns ein Steinbruch. Der sah aus, als wäre da noch der eine oder andere Stein gebrochen worden, NACHDEM der Cache gelegt worden war. Tobi zog die Cachebeschreibung aus seiner Hosentasche. Ein schneller Blick in die Logs, um zu sehen, ob ein anderer Cacher irgendwelche Hinweise hinterlassen hatte. Doch da stand überall so was wie: «Gut gefunden», «leicht» oder «kein Problem». Der letzte Fund war allerdings von Mitte Februar, und jetzt war es Ende April.78

Damals lag hier Schnee, jetzt war alles voller Schiefertafeln. Da die berechneten Koordinaten nicht genau in der Luft liegen konnten und sich auch nicht sonst wo mitten in dem in Betrieb befindlichen Steinbruch befinden sollten, gingen wir um den Steilhang herum. Wir fingen an zu suchen, vielleicht hatten wir ja nur ein Problem mit der Ungenauigkeit, aber es dauerte nicht lange, höchstens zehn oder 20 Sekunden, da fiel alle Hoffnung von uns ab. Sie prallte auf den Boden, rollte seitlich weg und stürzte, zur völligen Hoffnungslosigkeit mutiert, die Steilwand hinunter.

Vor sehr kurzer Zeit hatten hier, direkt neben dem Steilhang, im lichten Tannenwald Menschen, ich neige sogar dazu, zu sagen: Jugendliche, gelagert. Falls hier ein Cache gelegen hätte, sie hätten ihn garantiert gefunden und vernichtet. Bäume waren abgeschlagen und daraus ein zwei Etagen hohes Doppelbett gebaut worden. Die Kohle auf der Feuerstelle war noch frisch, die übrig gebliebenen Würstchen haben Tobi gut geschmeckt.

Wir waren völlig niedergeschlagen. Da hatten wir uns mal wieder einen Weg durch unwegsames Gelände gebahnt, und dann kamen wir an einen Ort, der für Waldverhältnisse zu den dichtbesiedeltsten Gegenden Deutschlands gehört. Der Petersplatz in Rom bei der Papstwahl war dagegen sicher eine wüste, einsame Öde. Wir setzten uns an das erkaltete Lagerfeuer. Schweigend. Plötzlich hatte Tobi eine Eingebung: Es könnte doch sein, dass der eine Wert, den wir errechnet hatten, falsch war. Um es kurz zu machen:79 Statt 100 wären es 200 Meter in die entsprechende Richtung gewesen.

Wir packten unsere Sachen. Tobi kaute zu Ende, und es ging wieder los, weitere 100 Meter durch den Wald. Den Steinbruch hatten wir hinter uns, einen Weg gekreuzt, jetzt nur noch 14 Meter querfeldein, und schon würden wir fündig werden. Wir gingen zu einem kleinen Bach, über den wir springen mussten. Die zwei oder drei Meter waren sicher kein Problem, und auf der anderen Seite wartete weicher Waldboden. Ein kleiner, in den Bach ragender Ast würde als Sprungbrett genügen, um die nötigen Zentimeter zu gewinnen, die uns vielleicht fehlten. Ich nahm Anlauf, peilte den kleinen Ast an, sprang ab und landete auf der anderen Seite. Noch während ich voller Stolz dachte: «Yeah! Das war cool, ich hab’s echt drauf», begann mein rechter Fuß im Morast zu versinken. Rasch verlagerte ich das Gewicht, um den Schuh wieder herauszubekommen, aber mehr, als dass die andere Seite meines Körpers ebenfalls durch undurchdringliches feuchtes Erdreich dem Erdmittelpunkt entgegenstrebte, passierte nicht.

Ich wollte mich gerade umdrehen, um Tobi ein warnendes «NEIN!» entgegenzurufen, da war er auch schon in der Luft. Er würde mich voll umrennen, ich würde mit dem ganzen Körper auf dem Boden liegen, und wenn ich das Bewusstsein verlor, würde es mir wie ein Segen erscheinen. Aber damit hatte ich nicht gerechnet: Während mir die paar Zentimeter einen praktischen, wenn auch unnötigen Streckengewinn erbracht hatten, war das für ihn völlig egal. Er ist zwar größer als ich, war vielleicht auch mal gejoggt, als das Ganze noch Dauerlauf hieß, hat aber einfach viel mehr Angst vor Wasser. Während der Flugphase muss er allerdings bemerkt haben, dass er außerdem Höhenangst hat. Entsetzt stellte er fest, dass er sich ganze 35 Zentimeter über der Erdoberfläche befand, brach mitten im Flug seine parabelförmige Bewegung ab, stürzte der Erde entgegen, konnte sich gerade noch mit beiden Füßen, den Händen und dem Kopf und allem anderen, was man so hat, auf dem Bachgrund abstützen, stolperte an mir vorbei, verschwand kurzzeitig bis zu den Knien, dann etwas länger komplett vom Erdboden, um zehn Meter weiter mit einem lauten «Uahhhhh!» aus dem Morast aufzutauchen und auf festem Boden zum Stehen zu kommen. Hechelnd feierte er seinen zweiten Geburtstag, fiel weinend vor Freude auf die Knie und fing an, die umstehenden Pflanzen anzubeten.

Ich versank derweil Stück für Stück weiter im Boden. Als die Bilder meines Lebens wie in einem Film vor meinem geistigen Auge vorüberzogen, bemerkte er meine missliche Lage und rettete mich heldenhaft. Er rief: «Dort isses trocken, hier, meine Hand.» Ohne ihn hätte ich das nie geschafft. Dank seines leicht verzögerten Eingreifens konnte ich wenigstens noch den Vorspann zum Film meines Lebens sehen und erkennen, wer dort eine wichtige Rolle spielte. Tobi war übrigens nicht dabei.

Wir ließen uns von solch simplen Problemen nicht abhalten, sondern suchten eifrig weiter, wenngleich, wie nicht anders zu erwarten, ohne Erfolg. Sofort war klar: In einer solchen Umgebung KONNTE der Cache gar nicht liegen, ohne nach spätestens fünf Minuten abzusinken, um kurz darauf zu einem Stück Braunkohle zu werden.

Wir nahmen einen Umweg in Kauf, um wieder zurück zum Auto zu gelangen. Gedemütigt, das Gesicht dem Boden entgegengewandt, schlichen wir wie zwei geprügelte Hunde dahin. Noch einmal vorbei am Steinbruch und an der Lagerstätte der Jugendlichen. Wir waren total fertig. Jeder murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin: «Das kann nicht sein!» – «Wir waren soo nah dran!» – «Mist!» und «Verdammt!» waren die Worte, die jeweils in anderen Kombinationen in unseren Sätzen vorkamen. Schweigend stiegen wir dann in den Wagen, ich startete den Motor, und wir fuhren weiter meinem Auftritt entgegen. Die Sonne strahlte uns durch die fliegenverschmierte Windschutzscheibe an. Und während sich das gesamte Lichtspektrum dieses feurigen Himmelskörpers in den bereits angetrockneten Innereien und Chitinresten der Insekten brach, keimte Hoffnung in uns auf. Heute Nacht wartete ein weiterer Schatz auf uns, und der, ja, der würde uns zum Sieg verhelfen, was uns über die ganze Cacherwelt triumphieren ließe!

 

Genau so war es. Also fast. Zumindest war es Nacht, als wir den Cache anpeilten. Wie immer beginnt die allgemeine Anfangsbeschreibung dieses Erlebnisses mit den Worten «Eigentlich war es ein einfacher Cache …»

Okay, los geht’s: Eigentlich war es ein einfacher Cache mit sechs Stationen. Für alle waren die Koordinaten angegeben, wir konnten uns die Reihenfolge also selbst aussuchen. Überall waren Reflektoren zu finden, an denen Buchstaben angebracht waren, denen man Zahlen zuordnen sollte. Zum Beispiel G = 7. Später ging es dann zu 50° 33.FGE, dort sollte der Final liegen. In den Logs lasen wir die verschiedenen Hinweise, dass die erste Station und damit F wohl recht schwer, aber doch irgendwie zu knacken sei. Da wir natürlich ganz besondere Cacher waren, sollte das für uns kein Problem sein. Wir hatten uns den Cache bereits vorher ausgesucht. Auch er lag ganz in der Nähe der Autobahn. In einem Areal von 300 mal 300 Metern waren die Stages zu finden.

Nachdem die Arbeit beendet war und wir sämtliche Auftritts- und Technikutensilien wieder in den Wagen gepackt hatten, waren wir bereit. Auf dem direkten Weg fuhren wir zum angegebenen Parkplatz. Der war tatsächlich leicht zu finden, und wir stellten uns direkt neben der Straße halb ins Gebüsch, gleich bei einem Forstweg, der von der beleuchteten Straße in den Wald hineinführte. Jetzt nur noch kurz die Taschenlampen gecheckt, den Klappspaten80 geschultert und auf in den Wald. Wir hatten höchstens 200 Meter bis zur ersten Station zu gehen, doch der Wald lag fernab jeder Siedlung, und es war alles ziemlich einsam. Nach etwa fünf Metern blieben wir stehen. Nicht bewusst. Es passierte vielmehr einfach so. Erst verlangsamte der eine seinen Schritt, danach nahm der andere etwas Tempo aus der Bewegung, wir gingen hier etwas ruhiger, hielten da inne. Und plötzlich standen wir. Mitten im Wald, ganz alleine, nur WIR und DIE ANGST.

Es war genau wie jedes Mal. Und jedes Mal wollten wir uns von neuem genau dieser Angst aussetzen. Vielleicht würden wir uns ja irgendwann an sie gewöhnen. Aber jedes Mal verfluchten wir uns genau dafür, dass wir uns dieser Angst aussetzen wollten. Und wie immer war es wieder einmal zu spät zum Umkehren.

«Hast du auch Angst?», kam es mit einem leisen Flüstern von links.

«NNNNNja», kam es noch etwas leiser von mir.

Plötzlich ein Knacken auf der linken Seite, und wir schraken hoch. Die innere Anspannung war gelöst, die Angst zwar geblieben, aber wir gingen weiter. Schritt für Schritt sangen wir laute Lieder. «Wir haben keine Angst, LALALALA, wovor auch LALALA? Vielleicht vor Rehen, LALALA. Aber die haben mehr Angst vor uns, LALALA. Hoffen wir nur, dass die das wissen, LALALA.»

Wieder und wieder überlegten wir, welche abgefahrenen, eiskalten Menschen das sein müssen, die diesen Nachtcache alleine heben. Wer sterben will, hat bestimmt andere Möglichkeiten. Und wer den Kick sucht, kann doch auch U-Bahn-surfen, das ist bei weitem nicht so gefährlich. Außerdem muss der Körper dabei nur ein Zehntel so viel Adrenalin produzieren.

Endlich waren wir an der ersten Station angekommen, einer Wegkreuzung. Noch nicht ganz, aber für uns ausreichend mitten im Wald. Wir mussten stehen bleiben, um den ersten Reflektor zu suchen, aber das führte nur dazu, dass wir wieder Angst bekamen. Singen ging auch nicht mehr, denn wir mussten uns ja auf die Koordinaten und die Suche konzentrieren, zumal auch die Genauigkeit mit 20 Metern Abweichung erschreckend schlecht war. Während wir uns so ängstigten und nebenbei suchten, wurden wir plötzlich eines Holzstoßes gewahr, eines dieser Dinger, auf denen Väter ihre Kinder balancieren lassen, um anschließend selbst nochmal hinaufzudürfen, ohne dass die Ehefrau sagt: «Jetzt hör doch endlich mit diesen Spielereien auf!» Wir hatten keine Kinder dabei, auch keine Ehefrauen, aber tierisch Schiss, und deshalb waren wir sofort oben. Die Angst war mit einem Schlag verschwunden, sie streifte am Boden um die toten Stämme herum und griff hin und wieder mit ihren kalten Tatzen nach uns, um doch irgendwie in unsere Körper zu gelangen.

Dort oben saßen wir dann erst mal und leuchteten ein bisschen in den Wald hinein, einerseits hoffend, dass wir den Reflektor fanden, um endlich weitergehen zu können, andererseits hoffend, dass wir den Reflektor nicht fanden, um nicht weitergehen zu müssen. Um jedweden Hohn und jedwede Spannung aus der Geschichte zu nehmen, sei hier schon mal gesagt: Wir hatten auch dieses Mal die Cachebeschreibung mit. Deshalb hatten wir gerade hier, bei Station 1, die geringste Hoffnung, fündig zu werden. Zumal wir auch feststellten, dass der Haufen Holzstämme 30 Meter von den eigentlichen Stationskoordinaten entfernt lag. Wir saßen also ein bisschen herum und lauschten, und das, was wir hörten, trug nicht wirklich dazu bei, dass wir uns wohler fühlten. Rascheln, Knacken, abbrechende Äste, ein Rauschen hier, ein Rasseln da. Aber irgendwann siegte natürlich der Cacher in uns über den rational denkenden, verschiedene Situationen analytisch betrachtenden und dann objektive Urteile fällenden Menschen. Kurz: den Schisser.

Wir machten uns auf den Weg, fest entschlossen, alle anderen Stationen zu finden, um dann noch einmal zurückzukehren und mit der hinzugewonnenen Erfahrung endlich erfolgreich zu sein. Kaum waren wir wieder auf ebener Erde, kroch uns dieses kalte Kribbeln den Rücken hinauf. Während wir hin und her geworfen waren zwischen lautem Reden, um die wildesten aller Wildtiere zu vertreiben, und leisem Schleichen, um auch jede herannahende Gefahr früh genug hören zu können, strebten wir der nächsten Station zu. Auch hier hatten wir wieder mit einer Ungenauigkeit von 50 oder mehr Metern zu kämpfen. Dank einer topografischen Karte auf dem Display meines GPS-Gerätes kamen wir dennoch relativ zielsicher voran.

Nach ein paar Schritten wurde ich hoffnungsvoller. «Weißt du, wie wir die Angst besiegen können?», wandte ich mich an Tobi.

«Ja, ein anderes Hobby suchen», sagte er.

«Nein, ich meine: Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen zu müssen?»

«Ja, tagsüber cachen gehen!»

«Nein, ich meine: Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen zu müssen?»

«Ja, wir werfen Brotkrumen81 in den Wald, um die Wildschweine milde zu stimmen!»

«Nein, ich meine: Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine milde zu stimmen?»

«Ja, wir nehmen einen Frischling als Geisel und verlangen freies Geleit durch den Wald!»

«Nein, ich meine: Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine milde zu stimmen, und auch ohne einen Frischling als Geisel nehmen zu müssen, um freies Geleit durch den Wald zu erpressen?»

«Nein, aber wir sind angekommen!»

Das war gut. Wir hatten die nächste Station erreicht. Wieder eine Wegkreuzung. Wie die ganze Zeit schon, hatten wir auch hier ungenauen Empfang, aber zumindest waren die Forstwege auf unseren GPS-Geräten angezeigt, und wir wussten daher, dass wir genau richtig waren. Wir blickten uns um und entdeckten zuerst einmal wieder einen Stapel Holzstämme ganz in der Nähe. Den merkten wir uns, nur für den Fall, dass wir fliehen mussten. Nun leuchteten wir durch den Wald. Wie Suchscheinwerfer durchschnitten unsere Taschenlampen das Dunkel, und plötzlich wurde der Lichtstrahl reflektiert. Weit, weit, weit, weit, weit im Wald. Etwa zehn Meter. Viel zu weit weg vom sicheren Weg. Das bedeutete zehn Meter durch vermintes Gelände, überall konnten Frischlinge lauern und eine sie schützende Bache uns als Gegner wahrnehmen und angreifen. Doch bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt. Wir stellten uns an den Rand des Weges, blickten Richtung Reflektor und versuchten jede Bewegung wahrzunehmen, die auf der Strecke Weg – Reflektor zu erkennen war.

Nichts passierte. Wir holten tief Luft und sagten: «Buh!»

Nichts passierte. Wir schauten uns an.

Als eingespieltes Team wussten wir, was zu tun war. Wir nickten uns noch einmal kurz zu. Dann holten wir erneut tief Luft und – rannten los. Äste schlugen uns ins Gesicht, Wurzeln zerbrachen unter unseren Schritten, Laub stieb durch die Gegend, doch wir schafften es. Buchstabe gesehen, Zahl gemerkt und wieder auf den Weg, quer über die Kreuzung und rauf auf den Holzstapel. Jetzt wurde erst mal kollektiv ausgeatmet. Wir tauschten uns über die gesammelten Erfahrungen aus und wollten dann den Wert aufschreiben, den wir gefunden hatten. Wir waren sprachlos, denn wir hatten uns überraschenderweise die gleiche Zahl gemerkt und fühlten uns großartig. Dann ging es weiter.

Nach 60 oder 70 Metern erinnerte ich mich unseres abgebrochenen Gespräches und sagte: «Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine milde zu stimmen, und auch ohne einen Frischling als Geisel nehmen zu müssen, um freies Geleit durch den Wald zu erpressen …»

«Sag es einfach!»

«Was?»

«Sag einfach, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine milde zu stimmen, und auch ohne einen Frischling als Geisel nehmen zu müssen, um freies Geleit durch den Wald zu erpressen.»

«Ach so: Stöcke!»

Diese Idee ist mir irgendwann mal am Nordseestrand gekommen, als ich, ganz, ganz, ganz weit weg von irgendwelchen Wildschweinen, auf einer Wiese gesehen habe, wie ein Vogel auf dem Boden herumgetrommelt hat. Er imitierte den Regen, und die im Boden lebenden Würmer dachten: Gleich gibt’s nasse Gänge. Um nicht zu ertrinken, krochen sie nach oben und wurden gefressen. Quasi wie wenn man vor einem argentinischem Rinderbullen steht, «Muh!» ruft und einem ein gut durchgebratenes Stück Hüfte direkt in den Mund springt.

Da Regenwürmer quasi das Gegenteil von Wildschweinen sind, weil sie sozusagen das Komplementärtier darstellen, nahm ich an, beim Stockschlagen könnten die Tiere wegrennen, weil sie alleine sein wollten und eher der Flucht zugetan seien. Tobi verstand es leider nicht sofort, daher musste ich es ihm wohl nochmal erklären. Ich nahm einen Stock und schlug damit auf einen am Boden liegenden Baumstamm. Es gab einen durchdringenden Schlag – durch den Stock, durch meine Hand, durch meinen Arm, durch meinen ganzen Körper. Ich ließ den Stock fallen und vibrierte bestimmt noch 150 Meter lang inner- und äußerlich weiter. Als sich mein Körper wieder beruhigt hatte (wir hatten inzwischen die nächste Station gefunden und den Wert notiert), fragte ich: «Und?»

Tobi sagte: «Toll!»

Klar konnte er sich in so einer angespannten Situation emotional nicht völlig öffnen. Es hätte wahrscheinlich sein gesamtes chemisches Gleichgewicht im Gefühlszentrum einschließlich des Hypothalamus durcheinandergebracht. Aber ein wenig mehr hatte ich schon erwartet. Hatte er es vielleicht immer noch nicht verstanden?

«Also, wir schlagen gegen die Bäume, die Tiere hören uns und hauen ab, weil sie Fluchttiere sind und alleine sein wollen», setzte ich zu einer Erklärung an.

«Wenndemeins.»

Gewohnt, Verantwortung auch schon mal gegen den Willen der Betroffenen zu übernehmen, interpretierte ich das als eine zustimmende Äußerung und machte munter weiter. Nach einer Weile lernte ich die guten von den bösen Baumstämmen zu unterscheiden, also die festen von den losen, die den Schlag als Vibration an den Stock zurückgaben. Dann wurde es zwar laut, aber für mich nicht ganz so unangenehm. So kamen wir zu Station 4 – wieder eine Kreuzung. Wieder ein Reflektor tief im Wald. Dank meines Ich-schlage-gegen-Bäume-und-vertreibe-alle-wilden-Tiere-Tricks war es natürlich kein Problem, den Weg frei zu machen. Ich trat an den Wegesrand und schlug erneut gegen irgendwas. Der Lärm von fliehenden Tieren ließ uns das Blut in den Adern gefrieren. Wir duckten uns ob der Gefahr, in der wir uns befanden, und ich riss Tobi zu Boden. Die Verletzungen, die er sich dabei zuzog, halten dem Vergleich mit jedem Kriegsversehrten stand, und er wird sie sicher auch seinen Kindern und Kindeskindern zeigen, die sie wiederum ihren Kindern und Kindeskindern auf den selbstverständlich sofort angefertigten Beweisaufnahmen präsentieren können.

Nachdem sich die Lebensgefahr verzogen hatte, also die Taube weggeflogen war, konnten wir sicher zum Reflektor hinübergehen. Wir zitterten so sehr, dass der Boden die ganze Zeit raschelte und mit Sicherheit kein Tier unsere Nähe suchte. Die Erdbebenwarte des Taunus-Observatoriums rund 30 Kilometer entfernt verzeichnete garantiert einen messbaren Ausschlag auf ihren Seismografen. Langsam beruhigten wir uns. Der Wert war notiert, die Schnitzeljagd konnte weitergehen.

Noch während wir uns nicht ganz im Klaren darüber waren, wie lange unsere Körper diese Belastung noch durchhalten würden, näherten wir uns einer Kreuzung. Hier trafen wir auf einen breiten Weg, an den sich eine große Wiese anschloss, sodass ein ausreichend großer Trennstreifen zwischen uns und der Gefahr vorhanden war. Das Ganze wirkte sehr beruhigend. Wir entspannten uns, der Blutdruck rutschte wieder unter den gewohnten systolischen Wert von 210, und auch in den Herzschlag kehrte Ruhe ein. Wir fingen an, die Tour richtig zu genießen. Wir bemerkten, der Mond war aufgegangen, die goldnen Sternlein prangten am Himmel hell und klar. Wir blickten uns um, und der Wald stand schwarz und schwieg, und aus den Wiesen stieg der weiße Nebel wunderbar.

Die Stationen 5 und 6 fanden wir problemlos. Wie auf Drogen schwebten wir erleichtert und angstfrei über den Kies und wissen im Nachhinein auch nicht mehr ganz genau, wie und wo wir sie entdeckt haben. Ja, sogar der Empfang wurde besser, wir hatten wieder unsere gewohnten sechs bis zwölf Meter Abweichung. Dann der Schock: Wenn wir zu Station 1 zurückgehen wollten, um den noch fehlenden Wert F zu ermitteln, blieb uns keine Wahl. Ab vom Weg des Glücks, hinein in den Wald des Grauens. Noch von guter Restlaune benebelt, bogen wir den nächsten Weg ab, zurück in den Wald. Die Bäume ragten rechts und links von uns wie dunkle Schattenmonster auf. Das Grauen wurde sichtbar. Erneut verlangsamten wir aus Angst unsere Schritte, um sie gleich darauf, ebenfalls aus Angst, wieder zu beschleunigen. Wenn nicht der Empfang weiterhin so gut gewesen wäre, hätten wir geglaubt, eben nur einen Traum erlebt zu haben.

Ich leuchtete in den Wald – und da sah ich sie. Direkt vor mir, keine zehn Meter entfernt: zwei leuchtende Punkte. Sie waren direkt über der Erde, sie waren direkt nebeneinander, und sie bewegten sich. Wir erstarrten. Ich konnte nur noch ein «Dsntir» («Da ist ein Tier», mit zusammengebissenen Zähnen und vor Schreck starrer Zunge) herausquetschen. Tobi konnte nur: «Dsntir» («Da ist ein Tier», mit zusammengebissener Ohrmuschel und vor Schreck starrem Trommelfell) verstehen.

Uns war klar, dass jetzt alles aus war. Wildschweine haben für ihre Jungtiere eine Art Nest oder Bau. Da liegen dann die Frischlinge drin, von den Eltern beschützt. Das Muttertier bleibt bei den Kleinen, bereit für den Frontalangriff, der Eber versteckt sich irgendwo im Wald und ist für den Hinterhalt zuständig. Tobi und ich gaben uns geschlagen. Wir blieben starr auf dem Weg stehen, hielten uns an den Händen und sagten uns, wie lieb wir uns doch eigentlich hätten und dass das alles nicht so gemeint gewesen sei. Wir weinten, ohne Tränen zu vergießen. So harrten wir des Angriffs.

Der kam dann auch, und zwar genauso überraschend, wie wir ihn erwartet hatten, nur doch wieder irgendwie anders. Das Tier sprang auf, wir schlossen die Augen, hörten Schritte … die sich entfernten. Wir öffnete die Lider und sahen es – das Reh. Davor hatten wir Angst gehabt? Pah! Wir lachten laut, waren vor Erleichterung wie beschwingt, gingen scherzend weiter. Eines war klar: Das mit dem Liebhaben war totaler Quatsch gewesen, zumindest von meiner Seite, und ich sagte Tobi, er möchte doch jetzt bitte meine Hand loslassen.

An unserer Ausgangskoordinate angekommen, mussten wir noch eine ganze Weile suchen, was ziemlich frustrierend war. Wir liefen aus wirklich jeder Richtung auf die Koordinaten zu, um auch ja keine Ausrichtung des Reflektors zu übersehen. Wir leuchteten jedes Blatt von beiden Seiten an, wir liefen querfeldein und querfeldaus, wir überlegten sogar, aus einem Flugzeug abzuspringen, um die Suche von oben anzugehen, damit sie erfolgverheißender war. Aber wir blieben erfolglos. Enttäuscht setzten wir uns auf unseren schon lieb gewonnenen Holzstapel. Ein wenig war es wie nach Hause kommen. Tobi kramte noch einmal die Cachebeschreibung hervor, und wir lasen die Logbucheinträge der anderen Cacher. Da, einer schrieb, dass er diese Station auch nicht gefunden habe, aber durch einen logischen Schluss weitergekommen sei. Einen logischen Schuss? Logisch, hier war Schluss, aber das konnte er nicht gemeint haben. Wir machten uns an die Analyse der Gesamtsituation: Eigentlich fehlte uns nur die letzte Ziffer des Ostwertes. Bei festem Nordwert musste sich die richtige Koordinate irgendwo zwischen 0 yy° yy.yy0 und 0 yy° yy.yy9 befinden. Das war eine gerade Linie von ungefähr 100 Metern. Die müssten wir im Grunde nur abschreiten und dabei mit den Taschenlampen herumleuchten. Genau das machten wir auch.

Die Begeisterung und Vorfreude hatten unsere Ängste vollständig verdrängt, zumal wir in der Zwischenzeit jede Ecke kannten, schließlich hatten wir jede Baumwurzel schon mal gesehen und konnten jedes Geräusch mit Frequenzmuster einordnen. Außerdem hatten wir Glück. Wir waren keine fünf Minuten auf der Linie entlanggelaufen, da strahlte es uns aus dem Wald entgegen. Wir waren hellauf begeistert, rannten hin, berührten den Reflektor wie eine Götzenstatue. JA, es war wirklich möglich, ohne F hierherzugelangen. Schon fingen wir an zu suchen, wir gruben den Boden um, entwurzelten Bäume, versetzten Berge. Bei einer dieser Aktionen fiel mein Blick mehr zufällig als absichtlich von unten auf den Reflektor. Da war doch was. Ein Deckel. Der Reflektor war eine Filmdose. Angstvoll öffnete ich die Dose, und ein Zettel mit neuen Koordinaten fiel heraus.

Offenbar waren wir noch immer nicht am Ziel. Dabei stand das gar nicht in der Beschreibung, und auch keiner der anderen Cacher hatte davon berichtet: Wir hatten ein weiteres Problem vor uns. Nur war es diesmal größer. Denn bei den Koordinaten waren bestimmte Stellen nur mit Buchstaben versehen. Bloß stand F diesmal nicht an letzter, sondern an DRITTletzter Stelle. Sollten wir nach dem gleichen Verfahren vorgehen wie eben, ergäbe das eine Strecke von fast 1,5 Kilometern. Von unserer jetzigen Position auf F zu schließen war aufgrund des erneut schlechten Empfanges unmöglich. Wir brachen zusammen, erst mental, und als die Gefühle endlich unsere Beine erreichten, auch noch körperlich. Zweimal durch den Wald gerannt, und jedes Mal erfolglos – so etwas hinterlässt an jedem Körper Spuren.

Das konnte, nein das durfte nicht wahr sein. Das zweite Erlebnis dieser Art an einem Tag.

Wie viel erträgt eigentlich der menschliche Geist, bevor er sich dem Wahnsinn hingibt? Da startet man mit so viel Hoffnung und so viel Zuversicht in dieses Abenteuer, und am Ende bleibt einem nichts als ein zersplittertes Gemüt, eine zerborstene Seele. Die Einzelstücke liegen auf dem ganzen Weg verteilt, denn von Station 1 bis 6 verliert man überall ein bisschen was. Nur leider merkt man es erst, wenn man am Ende danach sucht, weil man es letztlich doch dringend braucht.

Wir schleppten uns mal wieder zum Auto. Doch schon als wir im sicheren Wagen saßen, den dunklen Wald hinter uns, und das Schnurren der sechs Zylinder uns ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, wussten wir: JA, WIR KOMMEN WIEDER. Dann ist Station 1 reif, und wir werden den Cache zur Strecke bringen. Wir waren uns einig, fuhren los und fassten uns dabei an den Händen.