18. Kapitel
Am nächsten Morgen ist es Zeit, unsere Zelte abzubrechen. Nachdem wir alle zusammen gefrühstückt haben, teilt David uns mit, dass wir auf dem Heimweg eine allerletzte Übung machen werden: Er will uns auf den »Pfad der Wahrheit« führen, was auch immer das heißen soll. Klingt in jedem Fall sehr, sehr seltsam, aber ich wundere mich mittlerweile über gar nichts mehr.
Wir machen uns also daran, unsere Sachen zu packen, unsere Zimmer aufzuräumen (die Sache mit dem Putzen bleibt uns leider doch nicht erspart) und in den Gemeinschaftsräumen für Klarschiff zu sorgen. Meine Kollegen scheinen alle bester Dinge zu sein und scherzen miteinander herum. Mich ignorieren sie größtenteils, aber das ist okay. Meine Grundstimmung ist sowieso auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Der gestrige Abend hat mir irgendwie den Rest gegeben.
Ich rollere mit meinen beiden Koffern den langen Flur entlang, und als ich um die Ecke biege, laufe ich ausgerechnet direkt in Tim hinein, der mit einem Rucksack aus seinem Zimmer kommt.
»Tut mir leid«, sage ich und mache einen Schritt zurück.
»Ist ja nichts passiert«, antwortet er.
»Dann ist gut.« Wir stehen voreinander, keiner sagt einen Ton. Ich weiß, ich müsste ihn doof finden – aber ein einziger Blick in seine Schokoaugen sorgt dafür, dass ich es einfach nicht fertigbringe. »Und?«, versuche ich, heiter zu klingen. »Bereit für den ›Pfad der Wahrheit?‹«
Tim schüttelt den Kopf. »Nein, die Jungs und ich fahren jetzt direkt nach Hamburg zurück. Martin hat uns für morgen Abend einen Gig in der Markthalle besorgt, da ist bei einem Konzert die Vorgruppe ausgefallen. Und dafür müssen wir echt noch ein bisschen proben. Ist ein größeres Ding.«
»Ach so.«
»Ja, geht nicht anders.«
»Verstehe ich.«
»Wenn du«, setzt er an und räuspert sich, »also, falls du auch kommen willst, kann ich dich auf die Gästeliste setzen. Werden wohl einige von euch hingehen.«
»Hm, ja, danke. Aber ich glaube, ich bin am Wochenende nicht da.« Das ist zwar eine faustdicke Lüge, aber die Vorstellung, meinen Ex-Künstler bei einem Konzert spielen zu hören, das Martin organisiert hat, stimmt mich nur so mittelfroh. »Dann kommt mal gut nach Hause«, verabschiede ich mich von ihm.
»Du auch«, sagt er. »Wir werden uns ja wohl zwangsläufig noch das ein oder andere Mal sehen.«
»Ja«, ich zucke mit den Schultern. »Werden wir wohl.«
Wieder schweigen wir uns an. Es fühlt sich an wie Stunden, auch wenn vermutlich nur ein paar Sekunden vergehen.
»Dann geh ich mal zu den anderen.« Er wendet sich ab; ich bleibe stehen und sehe ihm nach.
»Tim?«, rufe ich, als er schon fast an der Treppe nach unten ist.
»Ja?« Er dreht sich zu mir um. »Was ist denn noch?« Er klingt nicht neugierig, er klingt nicht herausfordernd, er klingt nicht wütend. Er klingt … ein bisschen müde. Genau so, wie ich mich gerade fühle.
»Ach, gar nichts«, antworte ich zögernd. Obwohl da in Wahrheit natürlich eine ganze Menge wäre, was ich gern mit ihm klären würde. Aber ich kann es nicht. »Es ist gar nichts«, wiederhole ich stattdessen noch einmal.
»Ja«, beinahe scheint er zu lächeln, »das habe ich mir schon gedacht, dass nichts ist.« Einen Moment später hat er sich wieder in Bewegung gesetzt und verschwindet aus meinem Blickfeld. Nein, es ist nichts.
»Hey! Was siehst du denn aus wie sieben Tage Regenwetter?« Tobias rempelt mich an, in der einen Hand eine Reisetasche, an der anderen wie immer die kichernde Natascha. »Du bist doch wohl nicht etwa traurig, dass wir jetzt schon nach Hause fahren?«
»Nein, natürlich nicht. Wird echt höchste Zeit, dass wir zurück in die Zivilisation kommen.«
»Bin ja schon gespannt, wie unsere neuen Büros aussehen«, erklärt Tobias fröhlich. »Und wie das überhaupt alles wird.« Ich denke an Martin Stichler, mit dem ich in Zukunft zusammenarbeiten muss. Was für ein Alptraum!
»Ja, das bin ich auch.«
»Stimmt das eigentlich mit euch? Also das mit dir und Martin?«, fragt mein Kollege, als hätte er meine Gedanken erraten. Ich erstarre.
»Was meinst du?«
»Na ja«, Tobias grinst, »dass ihr beiden, du weißt schon … knickknack.« Natascha lacht auf; ich werde mal wieder rot. »Mannomann, du läufst ja sofort an, da brauchst du nicht mal was zu sagen!« Tobias schüttelt den Kopf. »Wahnsinn, dass ausgerechnet jemand wie der unsere Stella knackt, hätte ich nicht gedacht.«
»Hältst du bitte deine blöde Klappe?«, fahre ich ihn an. »Das hat dich nicht zu interessieren!« Tobias hebt abwehrend die Hände.
»Jetzt flipp nicht gleich so aus! Ist doch nicht weiter schlimm.« Dann senkt er vertraulich die Stimme. »War halt wirklich ’ne Klassenfahrt«, erklärt er, »was meinst du, was bei den anderen so abgegangen ist?«
»Bei den anderen?«
»Ja, klar«, antwortet er. »Das war ein nächtliches Hin und Her über die Flure, das kann ich dir sagen! Nicht nur bei Natascha und mir, David Dressler und Mareike, da ging so einiges ab! Nicht bei allen, aber sicher bei der Hälfte. Davon hast du offensichtlich mal wieder nichts mitgekriegt, was? Also mach dich mal locker!« Mit diesen Worten ziehen die beiden lachend von dannen. Ich gucke ihnen überrascht nach. Im nächsten Moment muss ich grinsen. Wenn Tobias wüsste, was ich alles so mitbekommen habe, würde er sich schwer wundern … Immerhin habe ich bei David Dressler unterm Bett gelegen, während er mit Mareike geknutscht hat, das soll mir erst mal einer nachmachen! Okay, unser Boss hat die Sache mit Mareike schon zugegeben – aber ich war immerhin Zeugin!
»Der ›Pfad der Wahrheit‹«, erklärt David, als wir eine Stunde später irgendwo mitten im Wald stehen, »ist kein leichter. Aber wir werden ihn alle miteinander gehen.«
»Klingt gefährlich«, wirft Robert ein und schaut sich unwohl um. »Kommt jetzt doch noch die Nummer mit den glühenden Kohlen?«
»Ja«, erwidert unser Chef lächelnd. »Allerdings ein bisschen anders, als ihr jetzt vielleicht denkt. Die glühenden Kohlen seid nämlich ihr.«
»Wir?«, frage ich nach. Ich ahnte ja schon, dass dieser Wahrheitspfad irgendetwas Seltsames werden würde.
»Exakt«, sagt er und erklärt dann weiter: »Ihr habt euch jetzt alle ein paar Tage kennengelernt. Habt viel miteinander erlebt, und den ein oder anderen Konflikt«, sein Blick wandert zu Martin, »gab es wohl auch.« Meine Kollegen und ich nicken. »Und deshalb machen wir jetzt Folgendes: Wir bilden alle miteinander wieder einen Kreis, und einer nach dem anderen stellt sich in die Mitte. Und dort wird er sich in Ruhe anhören, was die anderen für ein Bild von ihm haben.«
Wie bitte?
Ich habe mich wohl verhört! Öffentliches An-den-Pranger-Stellen für alle?
»Äh«, meldet Natascha sich zu Wort, »ist das nicht ein kleines bisschen, nun ja … brutal?«
»Ja, das ist es«, gibt David Dressler ihr recht. »Aber manchmal muss es erst ein bisschen weh tun, damit man weiterkommt. Und damit ihr seht, wie sehr ich an die Wirksamkeit dieser Methode glaube, fange ich sogar freiwillig an. Also, stellt euch in einem Kreis auf.« Wir tun es, David begibt sich in unsere Mitte. »Gut«, fordert er uns auf, »dann lasst mal hören, was ihr von mir denkt.«
Keiner von uns sagt ein Wort, hier und da tauschen meine Kollegen ratlose Blicke.
»Traut euch!«, ermuntert David uns ein weiteres Mal. »Keine Sorge, alles ist erlaubt!«
»Am Anfang fand ich dich ziemlich seltsam«, bricht Hilde zuerst das Schweigen. »Aber mittlerweile bin ich der Meinung, dass du als Chef echt in Ordnung bist.« Zustimmendes Gemurmel erklingt.
»Und sonst noch?«, fragt David. »Gibt’s nichts, was euch an mir stört?«
»Ein bisschen seltsam fand ich das Seminar schon«, gibt nun Oliver zu. »Aber es hat irgendwie auch Spaß gemacht.«
»Jetzt kommt schon!«, erwidert unser Chef. »Das war doch jetzt nichts wirklich Negatives!«
Ich fand deine Entscheidung mit den Reeperbahnjungs echt total ungerecht, liegt es mir auf der Zunge, und ich kann nicht verstehen, weshalb du Martin die ganze Sache hast durchgehen lassen. Aber das sage ich nicht, mit Kritik an David halte ich mich lieber zurück. Meine Kollegen scheinen auch keine Lust zu haben, die Chance zu nutzen, hier mal richtig auszuteilen, es kommen noch ein paar Nettigkeiten, vor allem und verständlicherweise von Mareike, dann ist David fertig.
Nach David betritt Martin den Kreis, und zu meiner großen Genugtuung kriegt er sofort ordentlich sein Fett weg. »Arrogant«, kommt es von Natascha, Hilde bescheinigt ihm ein »Vorlaut«, und ich lasse es mir nicht nehmen, »skrupellos und verlogen« in die Runde zu werfen. Allerdings werden auch Stimmen laut, die Martin bescheinigen, er sei »talentiert« und hätte »einen guten Riecher«. Damit kommt mein lieber Kollege meiner Meinung nach mehr als gut weg, denn wer von uns hier den guten Riecher hatte, ist in Sachen Reeperbahnjungs ja wohl mehr als klar.
Schließlich bin ich an der Reihe, mich in die Mitte zu stellen. Meine Hände sind schweißnass, und ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass es jetzt nicht allzu schlimm für mich wird.
Wieder fängt Hilde an. »Stella, mein Bild von dir hat sich in den letzten Tagen wirklich verändert, und zwar zum Guten. Ich habe dich immer schon für zuverlässig und gerechtigkeitsliebend gehalten, aber jetzt weiß ich, dass du auch ganz schön mutig bist. Und ein paar andere Sachen, aber die gehören hier nicht hierher.« Sie zwinkert mir zu, ich lächele sie dankbar an. Das geht doch mal nett los.
Leider geht es so nicht weiter, denn als Nächstes trompetet Tobias ein »ja, wirklich nett, aber verklemmt und total verspannt« in die Runde: »Du könntest echt klasse sein, Stella, aber du willst es wohl nicht.« Und als wäre damit ein unsichtbarer Damm gebrochen, hagelt es auf einmal von allen Seiten verbale Schläge. »Eigenbrötlerisch«, bekomme ich von Oliver attestiert. »Kontrollsüchtig«, »besserwisserisch«, »misstrauisch«, »engstirnig«, die Worte prasseln nur so auf mich nieder, und ich weiß gar nicht, wo mir mit einem Mal der Kopf steht.
Möglich, dass hin und wieder auch mal jemand etwas Nettes sagt, von Jenny meine ich so etwas wie »erstaunlich geradlinig und diszipliniert« zu hören, aber danach wird mir sofort ein »Blasiert« entgegengeschmettert. Und obwohl mir schon der Kopf schwirrt, höre ich eine Meinung über mich laut und deutlich aus dem Stimmengeschnatter heraus. Die kommt ausgerechnet von David, und seine Worte fühlen sich an wie ein Todesstoß: »Stella, du stehst dir selbst im Weg. Du kannst einfach nicht loslassen, und darum bist du auch nicht teamfähig.«
Loslassen. Loslassen. Du musst dich entspannen. Du musst locker sein.
Das war’s. Ich kann nicht mehr. Von jetzt auf gleich breche ich in Tränen aus – und dann laufe ich einfach davon.
Heute habe ich den Kopf nicht oben.
Heute bin ich einfach nur auf der Flucht.
Über eine Stunde lang laufe ich ziellos durch den Wald, ehe ich mich wieder einigermaßen abgeregt habe. Wieder und wieder gehen mir die Kommentare meiner Kollegen durch den Kopf, und ich frage mich, ob ich wirklich so bin, wie sie mich sehen. Ich wollte doch immer nur alles richtig machen – und hab es scheinbar genau falsch gemacht. Und wenn David Dressler mich nicht für teamfähig hält, kann ich nächste Woche vermutlich gleich meine Sachen zusammenpacken. Immerhin hat er mehr als einmal betont, wie wichtig ihm diese Eigenschaft bei seinen Mitarbeitern ist.
Ratlos wandere ich umher. Was mache ich denn jetzt? Komplett verlaufen habe ich mich auch noch, den Bus werde ich unter Garantie nicht wiederfinden, wenn die anderen denn überhaupt auf mich gewartet haben. Warum sollten sie überhaupt? Scheinen mich ja alle für eine unentspannte Zicke zu halten.
Sollen sie doch!
Seufzend, aber auch mit grimmiger Überzeugung mache ich mich auf den Weg. Wenn’s sein muss, werde ich eben zu Fuß nach Hause gehen. Wun-der-bar!
Zwei Stunden später erreiche ich meine Wohnung. Eine nette ältere Dame hat mich an der Landstraße eingesammelt und mich in ihrem Auto mitgenommen – das hätte sie fast das Leben gekostet, denn kaum waren wir aus dem Funkloch heraus, schien mein Handy geradezu zu explodieren vor lauter Gepiepe, das entgangene Anrufe und SMS anzeigte, und meine Retterin fuhr vor Schreck fast in die Leitplanke.
»Was war denn das?«, wollte sie erschrocken wissen. »Ist der dritte Weltkrieg ausgebrochen?«
»Das war«, sagte ich mit einem Blick auf das Display, »meine Mutter.«
So ganz stimmte das nicht, auch Miriam und Hilde hatten versucht, mich zu erreichen, aber man entdeckte ihre Nummern kaum zwischen der immer wiederkehrenden von Mama.
Zu Hause wartet eine Überraschung auf mich: Irgendwer hat mir mein Gepäck vor die Tür gestellt. Wenigstens etwas. Oben auf dem einen der zwei Koffer liegt außerdem ein dicker Umschlag. Bereits meine Personalakte? Das wäre dann ja fix gegangen!
Ich schleppe mich durch die Tür, lasse mein Gepäck im Flur stehen und verziehe mich mit dem Umschlag aufs Sofa. Als ich ihn öffne, staune ich nicht schlecht: Darin befindet sich David Dresslers schwarzes Buch! Eilig klappe ich es auf und nestele den Schutzumschlag ab – dann begreife ich gar nichts mehr. David Dresslers Bibel, also das Buch, in dem angeblich die großen Geheimnisse des Teambuildings verraten werden, trägt einen etwas eigenartigen Titel: Kindergeburtstage richtig schön feiern heißt es, und darunter steht noch etwas kleiner: Tolle Spiele für drinnen und draußen.
Verständnislos starre ich auf das Buch – damit hat unser Chef die ganze Zeit gearbeitet? Mir kommt ein Zettel entgegengeflattert, der vorn in dem Ratgeber gesteckt hat. Es ist ein handschriftlicher Brief.
Liebe Stella,
ich habe den anderen schon im Bus auf der Heimreise verraten, was es mit dem schwarzen Buch auf sich hat. Du warst ja leider verschwunden, und es tut mir leid, dass die Sache für dich so aus dem Ruder gelaufen ist.
Wieso also Spiele für Kindergeburtstage? Ganz einfach: weil sie Spaß machen, egal, wie alt man ist. Weil wir uns auch als Erwachsene hin und wieder daran erinnern sollten, mit welcher Freude, Leichtigkeit und Zuversicht wir als Kinder durchs Leben gegangen sind. Das vergessen wir oft im Alltagsstress, und dieses Gefühl wollte ich wieder in euch erwecken. Bei dir ist es mir scheinbar nicht gelungen, was ich sehr schade finde.
Und ja, es war schon einigermaßen hart, was du dir von deinen Kollegen anhören musstest. Ich teile ihre Meinung nicht – und doch weiß ich noch nicht, welcher der beste Weg für dich ist, das musst du selbst herausfinden. Aber vielleicht fängst du einfach mal damit an, das kleine Mädchen in dir zu suchen?
Liebe Grüße,
David
PS: Ich weiß, dass du es warst, die unter meinem Bett gelegen hat, ich habe dich erkannt. Wäre schön gewesen, wenn du es zugegeben hättest. Aber ich find’s auch gar nicht schlimm, sondern eher lustig!
Ich muss den Brief mehrmals hintereinander lesen, um ihn ganz zu begreifen. Dabei bin ich hin- und hergerissen zwischen Rührung und Wut – Rührung, weil mich Davids Worte im Herzen ziemlich bewegen, Wut, weil ich mich von ihm so unglaublich verschaukelt fühle. Kindergeburtstagsspiele? So was macht man doch nicht mit Erwachsenen! Und dass er wusste, dass ich in seinem Zimmer war? Na gut, dass er mich beim Flaschendrehen nicht bloßgestellt hat, war schon irgendwie nett, das muss ich zugeben.
Ich blättere durch das Buch, tatsächlich finden sich darin alle »Übungen«, die wir gemacht haben: den Büroklammertausch, den Filmdreh, ein Gesangswettbewerb – das wird der Karaoke-Abend gewesen sein –, das paarweise blind durch die Gegend führen – nur über den ›Pfad der Wahrheit‹ ist nichts zu lesen, das muss eine Spezialidee von David gewesen sein. Wundert mich allerdings nicht sonderlich, denn sich wechselseitig unangenehme Wahrheiten um die Ohren zu hauen, scheint mir für einen Kindergeburtstag jetzt nur bedingt ein passendes Spiel zu sein …
Unentschlossen wandere ich durch meine Wohnung. Was mache ich denn jetzt? Ich schnappe mir das Telefon, im Zweifel erst mal Miriam anrufen, denn gerade jetzt habe ich ihr wirklich eine ganze Menge zu erzählen und kann eine Aufheiterung dringend gebrauchen. Ich wähle ihre Nummer und warte auf das Freizeichen. Doch stattdessen klackert es nur kurz in der Leitung, dann erklingt eine Stimme: »Stella? Bist du dran?«
Mama.
»Ja, ich bin’s«, antworte ich, »wollte gerade Miriam anrufen, da bist du wohl dazwischengeraten.«
»Aha«, erwidert meine Mutter schon wieder leicht sauertöpfisch, »ich scheine ja meistens dazwischenzugeraten.«
»Mama«, gebe ich genervt zurück, »ich bin gerade erst nach Hause gekommen.«
»Und ich bin in der Zwischenzeit fast umgekommen vor lauter Sorgen! Ich warte doch auf einen Anruf von dir und habe ständig versucht, dich zu erreichen!«
»Das tut mir leid, aber mein Handyempfang hat auf deine Befindlichkeiten keine Rücksicht genommen, und ich hatte zu viel um die Ohren, um mir andauernd das Telefon meiner Kollegin zu leihen.«
»Befindlichkeiten?«, plärrt sie prompt beleidigt. »Das nennst du Befindlichkeiten, wenn ich nachts nicht mehr in den Schlaf komme, weil ich mir Sorgen mache?«
»Stell dir vor«, werde ich jetzt richtig patzig, »du bist nicht die Einzige, die sich Sorgen macht! Hier ist die Kacke gerade richtig am Dampfen, das kann ich dir sagen.«
»Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«
»Och, eigentlich nichts, bis auf die Tatsache, dass meine Kollegen mich alle scheiße finden, mein Chef mich nicht für teamfähig hält und … und der Mann, den ich gernhabe, nichts mehr von mir wissen will.« Während mir das rausrutscht, wird mir erst die Bedeutung meiner eigenen Worte klar. Aber es stimmt: Ich habe Tim verdammt gern. Hatte ich schon immer, vom ersten Moment an. Und eigentlich sogar mehr als einfach nur gern. Aber ich hab’s nicht zugelassen, habe ihn permanent abgeblockt und ihn mit dieser blöden Martin-Geschichte wohl nun auch endgültig vertrieben.
Warum nur? Warum habe ich das getan? Auf der anderen Seite: Tim ging es wohl wirklich nicht um mich, der wollte nur einen Vertrag von mir. Oder doch nicht? Warum hat er das dann aber zu Martin gesagt? Weil es wahr ist – oder aus einem anderen Grund?
»Stella«, schimpft meine Mutter, »jetzt erzähl mir sofort, was los ist, damit wir uns etwas überlegen können! Ich helfe dir, das weißt du, aber ich muss wissen, was Sache ist.« Ich atme zweimal tief ein und aus – und dann sage ich laut und deutlich: »Nein.« Klick.
Schon habe ich das Gespräch beendet. Für ein paar Sekunden schaue ich das Gerät verblüfft an. Habe ich das jetzt wirklich getan?
Als Nächstes wähle ich noch einmal Miriams Nummer. Als sie abhebt, mache ich mir gar nicht erst die Mühe, sie zu fragen, ob sie Zeit hat, sondern rufe nur ein »Bin in zwanzig Minuten bei dir!« in den Hörer. Dann schnappe ich mir das Buch von David Dressler, meine Handtasche und die Autoschlüssel, stürme aus der Tür und durchs Treppenhaus. Ich muss jetzt dringend mit einer Freundin reden!
Kaum habe ich im Auto den Motor gestartet, drehe ich die Anlage bis zum Anschlag auf. Wenn meine Gedanken Karussell fahren, ist laute Musik das sicherste Gegenmittel dafür, und momentan befindet sich mein Kopf in ungefähr der zehnten Looping-Schleife. An einer roten Ampel öffne ich das Handschuhfach und krame mit fahrigen Händen nach einer Schachtel Zigaretten. Ist aber keine da, was möglicherweise daran liegt, dass ich seit sechs Jahren Nichtraucherin bin und das Auto erst seit fünf Jahren habe. Dann eben nicht, gereizt klappe ich das Fach wieder zu.
Im Radio dudelt irgendein scheußlicher Neue-Deutsche-Welle-Song, entnervt drücke ich den Knopf für den Sendersuchlauf. Sekunden später scheint das Radio mit mir zu sprechen.
I will not make the same mistakes that you did
I will not let myself cause my heart so much misery
I will not break the way you did,
You fell so hard
I’ve learned the hard way
To never let it get that far
Because of you
I never stray too far from the sidewalk
Because of you
I learned to play on the safe side so I don’t get hurt
Because of you
I find it hard to trust not only me, but everyone around me
Because of you
I am afraid
Ich habe Because of you von Kelly Clarkson nie sonderlich gemocht, war mir immer viel zu kitschig. Aber in diesem Moment, als mir der Text in voller Lautstärke um die Ohren ballert, wird mir etwas klar: Ich muss nicht zu Miriam. Ich muss woandershin.
Eilig drehe ich die Musik aus, rufe Miri übers Handy an, um ihr mitzuteilen, dass ich jetzt doch nicht komme – und dann gebe ich Gas.
Eine knappe Stunde später erreiche ich die Wohnung meiner Mutter in Bremen. Auf dem Weg dahin habe ich vermutlich fünfundzwanzig Punkte in Flensburg kassiert, denn ich bin durch die Baustellen nur so hindurchgeflogen. Mir egal. Wenn jetzt vielleicht sowieso alles in den Dutt geht, habe ich vermutlich bald gar kein Auto mehr, dann brauche ich auch keinen Führerschein.
Eilig laufe ich die Treppe zu ihrer Wohnungstür hoch und klingele Sturm. Zwei Minuten später öffnet Mama erstaunt.
»Stella?«, fragt sie. »Was machst du denn hier?«
»Ich will«, bringe ich atemlos hervor, »mit dir eine Büroklammer tauschen!«
Wir machen die Übungen miteinander. Und zwar alle, bis auf das Karaoke-Singen, denn dagegen hat Mama sich entschieden verweigert. Aber sonst gehen wir Punkt für Punkt die Spiele durch, die wir in der Lüneburger Heide veranstaltet haben.
»Kind, was soll denn das?«, versuchte meine Mutter, das alles erst abzuwiegeln. »Das ist doch Unsinn!«
»Da hast du vermutlich sogar recht«, erkläre ich ihr eisern, »aber wir machen es trotzdem.«
»Aber …«
»Nein, Mama. Kein Aber.«
Den gesamten Freitagabend verbringen wir damit, eine Büroklammer in der Nachbarschaft einzutauschen. Mama steht am Anfang mit fest zusammengedrückten Lippen neben mir, so dass man fast den Eindruck bekommen könnte, sie habe gar keinen Mund. Als sie ihn schließlich öffnet, beklagt sie sich über die ungeheure Zeitverschwendung und wie peinlich es ist, bei Frau Oberkötter um kurz nach acht noch zu klingeln. Aber schließlich fängt sie doch an, sich an den Tauschaktionen zu beteiligen, bis wir immerhin einen Dampfkochtopf ergattert haben. Den braucht zwar keine von uns, aber ist ja egal, es geht um die Sache.
Samstagvormittag drehen wir mit Muttis Digitalkamera eine Szene aus ihrem Lieblingsfilm Sissi (»Franzl! G’schneit hat’s!«), und als wir sie später zusammen anschauen, lachen wir beide lauthals. Danach führe ich Mama mit verbundenen Augen kreuz und quer durch die Innenstadt und kontrolliere in regelmäßigen Abständen, ob sie auch wirklich nicht blinzeln kann. Obwohl meine Mutter mir am Anfang pausenlos beteuert, dass sie großes Vertrauen zu mir hat, ist sie steif wie ein Brett und bewegt sich mit der Geschmeidigkeit eines verrosteten Roboters. Aber langsam, ganz langsam wird es besser, auch wenn uns beiden der Schweiß auf der Stirn steht. Danach wiederholen wir die Übung mit mir, und ich komme nicht umhin, festzustellen, dass auch ich am Anfang alles andere als entspannt bin und sekündlich damit rechne, einen Bürgersteig runterzufallen. Doch es wird besser.
Statt der Schnitzeljagd marschieren wir einmal quer durch den Stadtwald und absolvieren alle Stationen des Trimm-Dich-Pfads. Am Samstagabend gehen wir tanzen, feiern also quasi ein kleines Fest. Und wir haben Spaß miteinander. Jede Menge sogar. So viel wie schon lange nicht mehr.
»Und?«, fragt Mama, als wir am Sonntagmorgen entspannt am Frühstückstisch in ihrer kleinen Küche sitzen. »Wohin willst du mich heute scheuchen?«
»Heute«, ich senke geheimnisvoll die Stimme, »machen wir etwas ganz Besonderes. Wir gehen auf den ›Pfad der Wahrheit‹.«
»Pfad der Wahrheit?«, wiederholt meine Mutter irritiert und sieht dabei vermutlich ähnlich ratlos aus wie ich noch vorgestern. Ich nicke.
»Ja, das ist unsere letzte Aufgabe.«
»Und die funktioniert wie?«
»Ganz einfach«, erkläre ich, »du sagst mir ganz offen und ehrlich, wie du mich siehst. Und umgekehrt.«
»Aber Stella, das weißt du doch alles!« Mama lacht. Und klingt dabei irgendwie ein kleines bisschen nervös.
»Wir machen es trotzdem«, fordere ich energisch. »Ganz ehrlich, Mama: Was ich mir von meinen Kollegen so anhören musste, war alles andere als schön. Aber es hat auch etwas in mir angestoßen.«
»Nämlich?«
»Das erfährst du gleich. Erst einmal will ich von dir wissen, wie du mich siehst.« Sie seufzt.
»In Ordnung, Stella.« Einen Moment lang scheint sie noch darüber nachzudenken, was sie jetzt sagen soll, dann fängt sie an: »Zuerst einmal bist du meine Tochter.«
»Na, das ist doch wohl klar!«
»Unterbrich mich nicht!«, sagt sie streng. Nein, nicht streng, eher entschieden. Und nicht halb so angriffslustig, wie ich es sonst von ihr kenne. »Wenn ich das schon mitmache, dann so, wie ich es möchte.«
»Okay, ich halte die Klappe.« Ich ziehe mir mit einer Hand einen imaginären Reißverschluss über dem Mund zu.
»Also«, fängt sie wieder an, »du bist meine Tochter. Meine einzige Tochter, die ich über alles liebe. Und auf die ich unglaublich stolz bin, denn sie ist ein ganz wunderbarer Mensch. Wir haben immer zusammengehalten, du und ich. Obwohl es weder für dich noch für mich immer leicht war, sind wir durch dick und dünn gegangen. Und auch wenn du manchmal etwas kratzbürstig bist, bist du zu einer tollen jungen Frau herangewachsen.« Sie macht eine Pause. Ich muss schlucken, weil mir gerade vor Rührung die Tränen in die Augen schießen. Das hört sich doch mal ganz anders an als das, was mir vor zwei Tagen von meinen Kollegen um die Ohren gehauen wurde.
»Stella«, über den Küchentisch hinweg greift sie nach meiner Hand und drückt sie, »du bist mein Augenstern, und es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als dass du glücklich wirst.«
Ich springe auf und falle meiner Mutter um den Hals. Jetzt kullern mir wirklich ein paar Tränen über die Wangen.
»Mama«, schluchze ich, »das ist so unglaublich süß von dir!« Ich gebe ihr einen dicken Schmatzer. »Und ich hab dich doch auch lieb!«
Sie lacht. »Das hoffe ich doch!« Wir drücken uns noch einmal ganz fest, dann fordert meine Mutter: »So, mein Schatz, jetzt will ich wissen, was du mir zu sagen hast.« Ich setze mich wieder auf meinen Stuhl und räuspere mich.
»Wie schon gesagt«, fange ich an, »ich hab dich auch sehr, sehr lieb. Und ich weiß auch, dass du dir wünschst, dass ich glücklich bin.«
»Das ist ja wohl klar!«, werde ich unterbrochen.
»Jetzt halt du den Mund«, gespielt drohe ich ihr mit einem Zeigefinger, sie macht grinsend ebenfalls die Geste mit dem Reißverschluss. »Das Problem ist nur: Ich bin es nicht. Also, glücklich, meine ich. Und das hat nichts damit zu tun, dass dieses Seminar so ein Chaos war und ich gerade ein bisschen in der Patsche sitze. Es hat etwas mit mir zu tun … und mit dir.« Mama guckt mich fragend an, sagt aber nichts. »Weißt du«, rede ich weiter und suche nach den richtigen Worten, um ihr zu erklären, was ich meine, ohne sie dabei zu verletzen, »mir ist klar, dass du immer nur das Beste für mich wolltest und willst. Aber dabei hast du es manchmal vielleicht ein kleines bisschen zu gut gemeint.«
»Zu gut?«, gibt meine Mutter nun doch von sich, schlägt sich aber sofort mit einer Hand vor den Mund und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.
»Weißt du, als Papa damals einfach abgehauen ist, war das für dich wahrscheinlich noch viel schlimmer als für mich. Ich war ja noch so klein.«
»Du warst so unendlich tapfer«, setzt Mama an, unterbricht sich dann allerdings sofort wieder.
»Glaubst du das wirklich, Mama? Natürlich habe ich geweint«, gebe ich zu, »daran kann ich mich bis heute noch gut erinnern. Genauso gut erinnere ich mich aber daran, wie unglücklich und verzweifelt du warst. Und dass ich mir geschworen habe, dir niemals einen Grund zum Weinen zu geben.«
»Das hast du ja auch nicht«, wirft sie lächelnd ein, woraufhin ich wieder nach ihrer Hand greife und sie zärtlich drücke.
»Aber genau das ist der Punkt. Ich habe immer versucht, alles zu kontrollieren, alles im Griff zu haben, damit nie wieder etwas Schlimmes passiert. Und du hast seitdem immer versucht, mich vor allem zu beschützen.«
»Das muss ich als deine Mutter doch auch.«
»Einerseits ja. Andererseits muss ich auch meine eigenen Erfahrungen machen.« Ich überlege. »Mal ein blödes Beispiel: Wenn du mir stundenlang erklärst, wie ich am besten zu dir fahre und wo ich parken kann – dann ist das natürlich sehr süß und lieb von dir«, und extrem nervig, füge ich im Geiste hinzu, »aber ich bin schon erwachsen. Wenn ich also mal in eine Sackgasse gerate, ist das eben so, dann muss ich auch selbst wieder hinausfinden.« Ich schlucke schwer. »Und auch was Männer angeht, kann ich nicht immer mit irgendwelchen Katastrophen rechnen oder allen und jedem gegenüber misstrauisch sein. Besser gesagt: Ich will es auch nicht. Ich möchte in jedem erst einmal das Gute sehen. Auch wenn das heißt, dass ich manchmal – wie zum Beispiel im Fall von Martin Stichler – damit auf die Nase falle. Weißt du, überleben werde ich das immer – aber nur wenn ich hinfalle, kann ich auch lernen, mich wieder aufzurappeln.« Ich werfe ihr einen prüfenden Blick zu und bemerke, dass auch ihr langsam Tränen in die Augen steigen.
»Stella«, sagt sie, und ich bemerke ein Zittern in ihrer Stimme, »ich wollte immer nur verhindern, dass dir jemals so etwas passiert wie mir. Dass du in deinem Leben irgendwann auch einmal so großen Kummer ertragen musst.«
»Ich weiß«, lächelnd drücke ich noch einmal ihre Hand, obwohl sich mein Hals gerade zuschnürt. Die eigene Mutter weinen zu sehen, das tut sehr, sehr weh. Aber manchmal muss man es wohl zulassen und aushalten. »Dafür bin ich dir auch dankbar. Aber Traurigkeit gehört zum Leben eben auch dazu, man kann nicht jedes Risiko ausschließen. Das habe ich in den vergangenen Tagen begriffen.«
Sie sieht mich groß an. »Und was heißt das jetzt?«
»Gute Frage.« Ich seufze. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach noch nicht. Aber es wird mir schon einfallen.«
»Und du hast zusammen mit deiner Mutter alle diese komischen Übungen nachgemacht?«, will Miriam erstaunt wissen, als sie am Sonntagabend bei einem guten Glas Wein mit mir auf dem Sofa sitzt.
»Ja«, erwidere ich, »hab ich.«
»Das stelle ich mir strange vor.«
»War es nicht. Im Gegenteil, hat echt viel Spaß gemacht! Mama und ich haben uns so gut wie schon lange nicht mehr verstanden und mal ein paar Dinge zwischen uns geklärt.«
»Klingt interessant«, meint Miriam und nimmt einen Schluck von ihrem Wein. »Vielleicht sollte ich das mit Gunnar auch mal machen?«
»Wieso mit Gunnar? Gibt’s da Probleme?«
Miriam zuckt mit den Schultern und wirkt etwas ratlos. »Probleme würde ich nicht direkt sagen. Aber ich bin genervt davon, dass er pausenlos arbeitet, und ihn stört es, dass ich immer so viel unternehmen und ausgehen will.«
»Tja, sieht fast so aus, als müsstet ihr einen Kompromiss finden. Vielleicht ist der ›Pfad der Wahrheit‹ wirklich keine schlechte Idee?«
»Ja, das kann durchaus sein«, gibt sie mir recht. »Aber jetzt mal wieder zu dir: Tim war also total sauer, dass du was mit Martin Stichler hattest?« Ich nicke.
»Sauer und verletzt, würde ich sagen.«
»Dieser Stichler ist aber auch ein Arschloch!« Miriam guckt finster drein.
»Ja … und nein«, meine ich.
»Ja und nein?«, wiederholt meine beste Freundin und sieht mich verständnislos an. »Viel mehr Arsch kann man ja wohl nicht sein!«
»Na ja«, ich nehme auch noch einen Schluck Wein, »er hat seine Chance genutzt, weil ich zu blöd war, es selbst zu tun. Hab einfach zu lange gezögert und wollte mal wieder auf Nummer sicher gehen.«
»Aber trotzdem!«, empört Miriam sich. »Erst schnappt er dir die Reeperbahnjungs weg, und dann schleift er dich noch durch die Kiste!«
»Die Idee mit dem ›Spaßhaben‹ kam von mir, erinnerst du dich? Kann man es ihm vorwerfen, dass er das mitgenommen hat?«
Miriam schüttelt ungläubig den Kopf. »Was ist nur los mit dir?«, will sie wissen. »So weichgespült kenne ich dich ja gar nicht! Du hast dich in den wenigen Tagen echt verändert.«
»Ein bisschen schon«, stimme ich ihr zu.
»Gefällt mir aber gar nicht so schlecht.« Sie lächelt mich an.
»Wir werden sehen, wie gut das ist«, erwidere ich.
»Und willst du Tim nicht doch noch einmal anrufen? Vielleicht in ein paar Tagen, wenn ein bisschen mehr Gras über die Sache gewachsen ist?«
»Weiß nicht. Ich glaube, das habe ich ziemlich verbockt.«
Miriam seufzt. »Und ich gebe dir auch noch den blöden Rat mit dem Spaßhaben!« Sie haut sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich könnte mir in den Hintern beißen, ich Hornochse!«
»Och«, sage ich und muss dabei fast kichern, »ich meine, Spaß habe ich durchaus gehabt, das muss ich schon sagen.« Wir grinsen uns an.
»Wie geht’s denn jetzt weiter?«, will meine Freundin wissen. »Trittst du morgen bei World Records an oder nicht?«
»Muss ich ja wohl. Aber vielleicht schmeißt David Dressler mich ja auch sofort raus.«
»Das glaube ich nicht«, erwidert Miriam. »So dramatisch war die Sache ja nun auch nicht. Außerdem hat er versprochen, dass erst einmal keine Personalentscheidungen anstehen.«
Ich nehme noch einen Schluck aus meinem Glas und starre nachdenklich vor mich hin.
»Was denkst du gerade?«, will Miriam wissen.
»Es klingt eigenartig. Aber momentan geht es in meinem Kopf irgendwie drunter und drüber. Und ich glaube, ich fände es nicht einmal besonders tragisch, wenn ich tatsächlich gefeuert werde.«
»Was?«, ruft Miriam. »Das war doch bis vor kurzem noch dein absolutes Horrorszenario!«
»Ich weiß. Das ist es immer noch. Aber vielleicht habe ich mich tatsächlich in den letzten Tagen ein bisschen verändert.«
Nachdem Miriam gegangen ist, mache ich mich fürs Schlafen fertig, ziehe wie immer meinen Pyjama an und will danach den Wetterbericht checken, um mir Sachen für morgen rauszulegen. Ich nehme mein Handy von der Ladestation und will gerade nachsehen, da halte ich in der Bewegung inne.
Nein, ich mache das nicht. Ich werde bis morgen früh warten und dann entscheiden, was ich anziehe. Und dafür werde ich einfach nur aus dem Fenster gucken, wie die meisten anderen Menschen das auch jeden Tag tun.
Gutgelaunt marschiere ich ins Badezimmer und fange an, mir die Zähne zu putzen. Diesmal lasse ich auch die Finger von der Sanduhr, sondern putze einfach so lange, wie ich es für nötig halte. Es fühlt sich ungewohnt an, aber mehr auch nicht. Ein kleiner Schritt, Stella, freue ich mich. Aber ein erster Richtung neues Leben.
Statt mir wie immer die Spätnachrichten anzusehen, lümmele ich mich anschließend auf meinem Sofa und trinke noch ein Glas Wein. Damit war die Sache mit dem Zähneputzen zwar sinnlos, aber meine Beißerchen werden es schon überleben.
Nachdenklich lasse ich noch einmal die letzten Tage Revue passieren. Fast muss ich kichern: War schon alles ziemlich verrückt. Mein neuer Boss, das Seminar, Martin, Tim … Er und die Reeperbahnjungs werden ihr Album nun also ohne mich produzieren. Ein seltsamer Gedanke. Und er tut auch ein kleines bisschen weh.
In einem Anflug von Nostalgie schnappe ich mir meine Handtasche und krame ihre Demo-CD heraus. Ich lege sie ein und lausche ihren Songs, während ich etwas wehmütig aus dem Fenster gucke. Doch, wirklich gut, die Musik, ich hätte echt früher zuschlagen und nicht so ein Angsthase sein sollen! Gedankenverloren summe ich mit, lasse mich von Lied zu Lied treiben und genieße es, Tims schöner Stimme und seinen Texten zu lauschen.
Sosehr man sich auch anstrengt
man kommt nicht an dich ran
Wer immer deinen Kopf lenkt
hält dich in seinem Bann
Beim Song Verlierer bekomme ich mal wieder spontan eine Gänsehaut, diese Ballade geht mir durch und durch. Ich gehe rüber zum CD-Player und drehe den Ton lauter.
Wie kann ich dir bloß beistehen?
du lässt dich nicht berühren
Jetzt musst du einfach einsehen:
So wird es zu nichts führen
Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken – und dann, ganz, ganz laut, singe ich aus voller Kehle den Refrain mit:
Lass dich nicht fallen
du hast keinen Grund dafür
Nur du kannst dich halten
Drum finde den Weg zurück zu dir
Wieder und wieder spiele ich das Lied ab, singe es laut mit und tanze dazu durch mein Wohnzimmer. Finde den Weg zurück zu dir – habe ich nicht genau das heute morgen zu meiner Mutter gesagt? Dass ich meinen Weg finden muss? Das tun, was mich glücklich macht? Anders leben? Noch einmal spiele ich den Song. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. So lange, bis meine Nachbarin energisch gegen die Wand klopft. Ich muss lachen und schalte den CD-Player aus, halb eins ist vielleicht tatsächlich nicht die richtige Zeit für ohrenbetäubende Beschallung.
Während ich ein letztes Mal nach draußen auf die im Dunklen liegende Straße und das fahle Licht der Laternen blicke, fällt es mir mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.