5. Kapitel

 

Am nächsten Morgen wache ich erstaunlich gut gelaunt auf. Dafür, dass ich gestern noch ununterbrochen darüber nachgedacht habe, dass ich vielleicht bald meinen Job los bin, geht’s mir prächtig. Was unter Umständen auch an dem netten Abend liegt, den ich mit Tim hatte: Bis weit nach Mitternacht waren wir noch auf der Reeperbahn unterwegs und haben uns dabei bestens unterhalten, Tim hat einen Witz nach dem nächsten gerissen, und ich habe regelrecht Muskelkater im Bauch.

Zwischendurch wurde es dann auch immer mal wieder ein bisschen ernster, als er mir erzählte, dass seine Eltern sich schon ziemlich große Sorgen machen, wie es um seine Zukunft bestellt ist. Und gerade deshalb ist es ihm umso wichtiger, allen zu zeigen, dass es die richtige Entscheidung war und er mit seiner Band Erfolg hat. An dieser Stelle seiner Erzählungen fühlte ich mich dann natürlich wieder ein bisschen schlecht, weil ich ihn ja darüber im Unklaren lassen muss, wie die Situation bei Elb Records und World Music beziehungsweise World Records momentan ist – aber dann schob ich den unangenehmen Gedanken beiseite, denn sobald sich alles sortiert hat, werde ich die Reeperbahnjungs unter Vertrag nehmen, das steht für mich außer Frage.

Wenn du dann noch Verträge abschließen darfst, flüstert mir ein kleines Teufelchen zu, während ich vorm Badezimmerspiegel stehe und mir die Zähne putze. »Ach was!«, teile ich mir selbst mit. Wie hat Miriam gesagt? Sorgen machst du dir dann, wenn es Grund dazu gibt! Da denke ich lieber daran, wie Tim mich um halb eins bis zu meiner Haustür gebracht und sich mit Küsschen links und rechts auf die Wange von mir verabschiedet hat … Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich schon, dass er mich richtig küssen wollte, als sein Gesicht meinem näher kam. Aber er blieb ganz Gentleman, was ich trotz allem Herzklopfen, das ich in diesem Augenblick verspürte, auch ganz gut so fand. Zum einen habe ich gerade genug andere Baustellen an der Hacke, zum anderen soll man Berufliches und Privates nie miteinander vermischen – und zum Dritten weiß ich ja, was passieren kann, wenn man sich auf einen Musiker einlässt. Da muss ich schließlich nur an meinen eigenen Vater denken. Nein, nein, ein bisschen Flirten ist okay – aber mehr nicht.

Nachdem ich mein übliches Samstagsprogramm absolviert habe – Einkaufen, Aufräumen, Wohnungputzen –, ist es auch schon Zeit, Miriam und Gunnar vom Flughafen abzuholen. Ich setze mich in meinen Fiat 500, werfe Tims CD ein, drehe den Lautstärkeregler nach ganz rechts (in diesem Fall bin ich mit Herbert Grönemeyer voll und ganz einer Meinung: Ich mag Musik nur, wenn sie laut ist!) und düse los. Unterwegs gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung nach: laut und zur Not auch schief mitgrölen, denn hier in meinem Auto kann – im Gegensatz zu gestern – schließlich niemand Zeuge meiner seit mehr als zwanzig Jahren brachliegenden Gesangsambitionen werden.

Beim Track Nichts zu bereuen drehe ich noch ein bisschen lauter, denn bei dem Song hat Tim eine Duettpartnerin, deren Part ich fröhlich mitträllere: »Ich bin das Schwarz in all deinen Farben. / Der Stolperstein in deinem Revier. / Ich bin die Nacht in all deinen Tagen. / Ich bin der Mut, den du verlierst.«

Nichts zu bereuen (00:30)

Audio: Nichts zu bereuen (00:30)

 

Huuuuu, traurig, aber schön!

 

Zwanzig Minuten später erreiche ich beschwingt und mit quietschenden Reifen die Ankunftsebene des Flughafens. In der Kurzparkerzone finde ich eine kleine Lücke, in die ich gerade so passe, ziehe ein Parkticket (drei Euro für eine halbe Stunde – die haben sie ja wohl nicht mehr alle, was für eine Frechheit, Raub auf offener Straße!) und gehe in die Ankunftshalle. Mein Blick fällt auf die Infotafel. Na super! Der Flug ist zwanzig Minuten verspätet, hoffentlich kommt das noch mit der Parkzeit hin!

Seufzend lasse ich mich auf einen der schwarzen Stühle im Wartebereich sinken, krame in meiner Tasche und hole meinen aktuellen Schmöker hervor, der mit dem Schutzumschlag eines Sachbuchs über die Musikbranche gut getarnt ist. Und schon Minuten später bin ich wieder in die leidenschaftliche Geschichte von Sébastian und Angelique vertieft, die ihre Liebe nicht leben können, weil es da dieses kleine Freibeutereiproblem gibt und ihre Familien miteinander verfeindet sind und …

»Na, Frau Kollegin? Auch am Wochenende noch fleißig?«

Erschrocken fahre ich hoch – und blicke direkt in das lächelnde Gesicht von Martin Stichler. »Was machst du denn hier?«

»Oh, Verzeihung.« Er grinst ironisch. »Mir war nicht bewusst, dass der Flughafen gesperrtes Privatgelände ist.« Mit größter Selbstverständlichkeit lässt Martin sich auf den Sitz neben mir plumpsen, mit einer Wucht, dass die gesamte Stuhlreihe wackelt. »Du bist ja echt ’ne ganz Ehrgeizige«, stellt er fest und deutet dabei auf mein Buch.

»Was?«, will ich einigermaßen begriffsstutzig wissen. Was haben denn Sébastian und Angelique …? Erst dann fällt mir ein, dass ich den Liebesschmöker ja als Fachbuch getarnt habe. »Man lernt schließlich nie aus«, stelle ich schnippisch fest und lasse meine Lektüre schnell zuschnappen, ehe Martin Stichler erkennen kann, dass es sich so gar nicht um Fachaufsätze zum Thema Musikmarketing und -promotion handelt.

»Ansichtssache«, erwidert er, lehnt sich zurück und verschränkt die Hände im Nacken. Dabei nimmt er so viel Raum ein, dass ich beinahe seinen Ellbogen an den Kopf bekomme. Genervt rücke ich ein Stück von ihm ab. »Ich persönlich glaube ja an das hier«, er nimmt eine Hand runter und schlägt sich damit auf sein durch das enganliegende Hemd erkennbare Sixpack. »Bauchgefühl, Intuition. Darum geht’s doch. Musik hat was mit Gefühl zu tun, nichts mit dem Kopf. Das siehst du doch auch so … oder?«

»Hmm, ja.« Ich mache Anstalten, aufzustehen. »Vielen Dank für diese interessante Belehrung, aber ich muss jetzt leider los.«

»He!«, ruft er und hält mich am Ärmel fest. Wenn ich nicht riskieren will, dass er mein Vive-Marie-Longshirt zerfetzt, muss ich wohl oder übel sitzen bleiben. Frechheit!

Energisch mache ich mich von ihm los. »Sag mal, spinnst du?«

»Jetzt sei doch nicht so«, bittet Martin und wirkt dabei nahezu zerknirscht. Wenn das echt ist, sollte es mich wundern – aber wenn nicht, wäre es verdammt gut gespielt. »War nicht böse gemeint. Komm, bleib doch sitzen. Du scheinst ja hier zu warten, ich habe gerade jemanden weggebracht. Wenn du magst, können wir ein bisschen plaudern und die Zeit für dich verkürzen.«

»Wozu?«, entgegne ich giftig. »Damit ich mir noch ein paar mehr deiner Weisheiten anhören muss? Oder damit du noch ein paar Witzchen über Reservebänke loswerden kannst?«

»O Mann!« Er hebt abwehrend die Hände. »Das war doch nur ein Spaß!«

»Ja, ich lache gerne später darüber.« Dann werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. »Außerdem muss ich jetzt leider weg, mein Parkticket ist abgelaufen.« Mit diesen Worten stehe ich endgültig auf.

»Du bist ja echt so verspannt und spießig, wie man immer hört«, kommt von ihm prompt die nächste Unverschämtheit. »Mein Parkticket ist abgelaufen«, äfft er mich mit Kleinmädchenstimme nach. »Das ist natürlich ein absolutes Drama, dafür kommst du bestimmt in den Knast.«

Ohne dem Idioten weitere Beachtung zu schenken, marschiere ich davon. Was für ein Penner! Mit dem soll ich übernächste Woche sieben Tage in der Lüneburger Heide verbringen? Das kann ja was werden!

 

Als ich fünf Minuten später zurück in die Ankunftshalle komme, ist Martin Stichler glücklicherweise verschwunden. Hatte schon befürchtet, der würde auf mich warten, um mir noch mehr Frechheiten um die Ohren zu hauen. Stattdessen tauchen just in diesem Moment Miriam und Gunnar in der gläsernen Schiebetür zum Baggage Claim auf.

»Stella!«, brüllt Miriam, kommt auf mich zugerannt und reißt mich in ihre Arme.

»Hoppla!«, rufe ich überrascht aus. »Nicht so stürmisch, du wirfst mich ja fast um!«

»Ich bin einfach nur so froh, wieder hier zu sein!«

»Ihr wart doch nur zwei Wochen weg«, sage ich – und setze innerlich die Frage hinterher: Auweia, was ist denn hier los? Streit im Liebesurlaub, oder was? Ich nicke Gunnar zu, der mit zwei Koffern angerollt kommt. Er grinst mich breit an. Okay, Entwarnung, dann kann es wohl nicht so schlimm sein. »Hast du mich so sehr vermisst?«, frage ich und schlage dann einen bewusst neckenden Ton an: »Oder hast du dich mit Gunnar etwa unsterblich gelangweilt?«

Miriam lacht. »Das eine ja, das andere … nicht unbedingt.«

Gunnar droht ihr spielerisch mit dem Finger. »Vorsicht, Fräulein, sonst kaufe ich sofort ein Ticket, und es geht schnurstracks dorthin zurück, wo wir gerade herkommen.«

»Ich sehne mich einfach so sehr nach ordentlichem Essen!« erklärt Miriam und zieht ihre Nase kraus. »Ich kann dir sagen: Nach vierzehn Tagen französischer Küche halluziniert man von einem schönen dicken Jägerschnitzel mit fetter und klumpiger Soße!«

»Und das sagt die Frau, die mir immer predigt, dass ich auf meine Gesundheit achten soll«, frotzelt Gunnar, stellt die Koffer ab und breitet die Arme aus. »Jetzt aber erst mal hallo!«

»Hi!« Ich nehme ihn in den Arm. »Das Essen war also schrecklich?«, will ich von ihm wissen. Er lacht mich an.

»Kann man so nicht sagen. Aber im Gegensatz zu meiner Liebsten bin ich ja auch ein Gourmet und kein Gourmand.«

»He!«, beschwert Miriam sich. »Was soll das heißen, ich bin ein Vielfraß?« Gunnar gibt ihr einen zärtlichen Klaps auf den Hintern.

»Ach, meine Süße, natürlich nicht. Und außerdem: Ich liebe jedes Kilo an dir.«

»Wie bitte?« Miriam stemmt gespielt erbost die Hände in die Hüften. Tatsächlich ist sie eine eher kurvige Blondine. Nicht dick, sondern genau so, wie es sich jede Frau wünscht: Marilyn Monroe lässt grüßen.

»Genau so, wie ich es sage«, erklärt Gunnar und plaziert ein Küsschen auf ihrer Stupsnase.

»Dann wird’s Zeit, dass wir mich wieder aufpäppeln«, erwidert meine beste Freundin. »Ich hab bestimmt 473 Gramm abgenommen, also auf zum nächsten Burger King!« Kichernd und plappernd marschieren wir zu meinem Auto. Gott, bin ich froh, dass Miriam wieder hier ist!

Als wir durch die Drehtür nach draußen kommen, muss ich feststellen, dass es in der Zwischenzeit angefangen hat, zu regnen. Und mein Schirm liegt im Auto, blöd! Aber wenigstens ist das Verdeck geschlossen.

»Kommt, schnell«, rufe ich Miriam und Gunnar zu und sprinte los.

»Ach, was habe ich Hamburg vermisst«, kichert Miriam hinter mir, »und was bekomme ich zur Begrüßung? Hanseatisches Schmuddelwetter!«

»Du musst dich schon entscheiden, was du willst«, sagt Gunnar, während er seiner Freundin galant die Beifahrertür öffnet. »Französischen Sonnenschein oder handfestes Essen.« Nachdem wir das Gepäck verstaut haben und eingestiegen sind, starte ich den Motor. Eine Millisekunde später dröhnen die Reeperbahnjungs in ohrenbetäubender Lautstärke durchs Auto.

»Ups, sorry«, entschuldige ich mich und drehe die Anlage aus.

»Nee, lass mal«, fordert Miriam, »das war doch deine Neuentdeckung, dieser Tim, oder? Den will ich hören!«

»Aber bitte nicht für Taube«, fleht Gunnar vom Rücksitz aus. »Ich glaube, ich hab gerade einen Hörsturz erlitten.«

»Okay.« Ich stelle die Musik auf normale Lautstärke. »Hat er mir gestern erst gegeben«, erkläre ich Miriam, während ich ausparke. »Und die Sachen sind richtig gut.«

Miriam nickt. »Ja, das höre ich schon«, urteilt sie fachmännisch und summt sofort bei Gegen die Zeit mit.

Gegen die Zeit (00:27)

Audio: Gegen die Zeit (00:27)

 

»Tja, und jetzt muss ich ihn leider weiter hinhalten, bevor ich ihn unter Vertrag nehmen kann. Aber darüber können wir nachher ja noch in Ruhe quatschen.«

»Richtig«, meint meine beste Freundin. »Zuerst einmal brauche ich etwas Anständiges zu essen.«

Ich lege den Vorwärtsgang ein und tuckere los. Der nächste Burger King ist zum Glück nur einen Kilometer vom Flughafen entfernt.

So weit komme ich allerdings nicht, denn am Ende der Parkbucht, da, wo es raus auf die Schnellstraße geht, entdecke ich – Martin Stichler! Und er bietet einen so schönen Anblick: Mit hocherhobenen, wedelnden Armen und laut »Halt! Halt!« brüllend, läuft er durch den immer stärker werdenden Regen einem Abschleppwagen hinterher, der gerade einen BMW am Haken hat. Ich würde einen namhaften Geldbetrag darauf wetten, dass das seiner ist. Also der BMW, nicht der Abschleppwagen.

»Arme Sau«, sagt Gunnar vom Rücksitz, der natürlich keine Ahnung hat, wen wir da beobachten.

»Ja, da hast du absolut recht. Und der Spaß geht erst richtig los!«, versichere ich ihm, schalte die Musik aus und kurble die Fensterscheibe runter. »Na?«, frage ich, als ich auf Höhe von Martin anhalte. »Parkticket nicht verlängert? Oder im Gegensatz zu mir verspannter Spießerin etwa erst gar keins gezogen?«

»Äh …« Mit hängenden Schultern, tropfend und regelrecht betripst steht er vor mir. »Sag mal, könntest du …«

»… jetzt Gas geben? Aber natürlich!« Ich fahre tatsächlich kurz an. Im Rückspiegel sehe ich, wie Martins Unterkiefer regelrecht zu Boden fällt.

Ich halte an und kann mir ein gönnerhaftes Grinsen nicht verkneifen, als ich aussteige und den Fahrersitz nach vorne schnappen lasse. »Na komm schon, hüpf rein!« Er tut es – und bietet gleich den nächsten erfreulichen, weil relativ unwürdigen Anblick, wie er da mit seinen ein Meter neunzig zusammengeklappt auf der Rückbank hockt. Jaja, plötzlich nichts mehr mit großer Klappe, sondern so klein mit Hut! Das Leben ist manchmal eben doch gerecht.

 

»Das ist echt total nett von dir«, stellt Martin fest, nachdem wir Miriam und Gunnar – zum Leidwesen meiner Freundin ohne Abstecher zum Fastfoodtempel – zu Hause abgesetzt haben und Richtung Rothenburgsort steuern, zum sogenannten Autoknast, wohin sie in Hamburg Falschparker abschleppen. Schön am Arsch der Heide, damit’s auch richtig weh tut und ein Riesenaufwand ist. Von den knapp dreihundert Euro, die so eine Aktion kostet, mal ganz abgesehen. Und was soll ich sagen? Inzwischen tut mir der Wichtigtuer fast ein bisschen leid.

»Vor allem, nachdem ich so … äh …«

»Blöd?«, sekundiere ich hilfsbereit.

Er guckt zerknirscht. »Ja, nachdem ich so blöd zu dir war.«

»Das hast du jetzt gesagt«, erwidere ich. Großmut, dein Name ist Stella Wundermann!

»Nee, war ja so«, gibt er in beschämtem Tonfall zurück. »Weiß auch nicht, was mich da geritten hat.«

»Das ließe ja darauf schließen, dass dich was geritten hat und du sonst nicht so bist?«, frage ich mit gespieltem Erstaunen nach.

Er zuckt mit den Schultern. »Ja, das heißt … nein. Für mich ist die Situation natürlich auch doof«, gibt er zu. »Wir sind doch alle ziemlich nervös und fragen uns, wie es jetzt weitergeht.«

»Ja«, seufze ich. »Vor allem diese Woche in der Lüneburger Heide. Was uns da wohl erwartet?«

»Och«, sagt Martin, »ich glaube, das könnte ganz lustig werden. David hat manchmal schon verrückte Ideen, aber er ist echt ein Netter.«

»Tja, warten wir’s ab.« Eine Zeitlang schweigen wir beide, zumal ich auch wirklich nicht weiß, was ich sagen soll. Fürs Erste bin ich schon zufrieden damit, dass Martin Stichler sich offenbar wie ein normaler Mensch benehmen kann, das reicht mir schon. Plötzlich habe ich wieder das Bild vor Augen, wie er brüllend und mit wedelnden Armen dem Abschleppwagen nachrennt, und muss prusten.

»Was ist?«, will er wissen.

»Ach, gar nichts.« Wieder schweigen wir und lauschen dem Regen, der auf die Windschutzscheibe pladdert.

»Ich mach mal Musik«, entscheidet Martin unvermittelt, und ehe ich es verhindern kann, hat er schon meine Anlage eingeschaltet. Sofort erklingt Tims Stimme.

»He, lass das!«, pampe ich ihn an und schalte wieder aus.

»Wieso denn?«, fragt Martin erstaunt. »War doch ganz nett! Wer ist das denn?«

»Kennste nicht«, gebe ich knapp zurück.

»Eine Neuentdeckung von dir?«

»Geht dich nichts an.« Das kommt fast gefaucht.

Wenn er seine rechte Augenbraue noch weiter hochzieht, kann ich ihm mit meinem Kajal Volltrottel darunterschreiben, ohne in die Nähe des Auges zu kommen. »Du weißt schon, dass wir derzeit keine Verträge abschließen dürfen, oder?«

Ich steige so energisch in die Eisen, dass Martin im Sitz nach vorn fliegt und einen erschrockenen Laut von sich gibt, als der Sicherheitsgurt ihn unsanft festhält.

»Pass auf«, schnauze ich ihn an, »ich fahre dich jetzt zu deinem Auto. Das mache ich, weil sich das so gehört. Aber Finger weg von meinem CD-Player, okay?«

»Okay!« Wie vorhin im Flughafen hebt er beschwichtigend die Hände. »Ist ja schon gut, beruhig dich mal wieder!«

»Das war jetzt auch nicht so gemeint«, gebe ich mich schließlich so versöhnlich, wie es mir möglich ist, und werfe ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Ja, das ist eine Neuentdeckung von mir. Und ich bin da halt ein bisschen eigen.«

»Wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen, dass du eigen bist«, antwortet Martin, aber da ist keine Ironie in seiner Stimme und kein versteckter Angriff, sondern eher so etwas wie … Verständnis? Dazu lächelt er mich so freundlich an, wie ich es ihm überhaupt nicht zugetraut hätte. Unglaublich! Der hat auch ein Grübchen wie Tim, allerdings in der rechten Wange.

»Nicht wieder frech werden!«, ermahne ich ihn spaßhaft.

»Aye, aye«, meint er und salutiert mit gespielt ernsthaftem Gesichtsausdruck. »Werde mich ab sofort benehmen, Sir! Äh, Ma’am!«

 

Zehn Minuten später erreichen wir den Autoknast. Es ist ein riesiges Areal, hinter hohen Stacheldrahtzäunen stehen Hunderte von Fahrzeugen, die darauf warten, von ihren Besitzern ausgelöst zu werden. Einige davon sehen allerdings schon so schrottreif aus, dass ich mich frage, ob sie überhaupt so viel wert sind, wie der Aufenthalt in diesem beschaulichen Etablissement ihren Halter kostet. Würde wetten, das ein oder andere Gefährt wird hier seine letzte Ruhe finden.

Ich folge Martin in den bungalowähnlichen Bau, in dem sich die Mitarbeiter vom Autoknast hinter Panzerglas verschanzen, um sich vor wild gewordenen Cholerikern zu schützen. Wie ein armer Sünder im Büßergewand tritt Martin an das Fenster mit der Sprechanlage heran, äußert sein Anliegen und legt seinen Fahrzeugschein vor.

»Jau«, teilt ihm ein Mittvierziger in gedehntem Norddeutsch mit, »der iss gerade ers’ reingekommen, steht noch vorn inne ersten Reihe. Da kommt denn zusätzlich zu die Abschleppkosten abba noch das Bußgeld mit drauf, nech? Das kriegen Sie denn midder Post zugestellt.«

Martin nickt ergeben und legt seine EC-Karte in die Metallschublade, die der Mitarbeiter zu sich heran auf seine Seite zieht. Zwei Minuten später schiebt der Mittvierziger die Schublade mit bedauerndem Gesichtsausdruck wieder zurück. »Funktioniert leider nich, Ihre Karte.«

»Wieso das denn nicht?«, will Martin erregt wissen. Der Vollzugsbeamte vom Autoknast zuckt mit den Schultern.

»Weiß ich doch nich. Nimmt das Gerrrät halt nich an, nech? Haben Sie Bargeld mit dobai?«

»Klar«, schnauzt Martin ihn an, »ich trage ständig dreihundert Euro mit mir herum! Man weiß ja nie, ob man nicht spontan einen Fernseher oder sonst was kaufen will!«

»Do kann ich denn jetz auch nix machen, denn muss Ihr Wagen hierbleiben.«

»Nee, warten Sie mal.« Seufzend werfe ich meine EC-Karte in die Schublade. »Buchen Sie’s davon ab.«

»Nein, Stella. Das kann ich doch nie wiedergutmachen!«, meint Martin.

»Nö«, stelle ich fest. »Kannst du auch nicht. Aber wenn du’s mir einfach nur zurückzahlst, bin ich schon zufrieden.«

»Danke.«

Und ehe ich weiß, wie mir geschieht, drückt Martin mir einen schnellen und festen Kuss auf die Wange.

 

Kurz darauf rollt mein neuer Kollege in seinem BMW vom Hof. Draußen auf der Straße steigt er aus und kommt rüber zu mir; ich habe so lange bei meinem Auto gewartet, bis klar war, dass auch wirklich alles glattgeht. Inzwischen haben sich die Regenwolken verzogen, und ich halte mein Gesicht der warmen Sonne entgegen.

»Also«, sagt er, als er vor mir steht, »noch einmal tausend Dank, ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen gewesen.«

»Da nich füar«, antworte ich in meinem breitesten Dialekt. »Aber vielleicht ziehst du demnächst einfach auch mal ein Parkticket. Erspart einem eine Menge Ärger. Und den Knast.«

»Hm, ja, ich weiß«, gibt er zerknirscht zu. »Und es tut mir auch leid, dass ich das vorhin gesagt habe. Du weißt schon, das mit dem verspannt und spießig und so.«

»Schon vergessen«, gebe ich mich großmütig. »Und jetzt komm mal gut nach Hause.« Mit diesen Worten will ich mich schon abwenden und einsteigen, als Martin mich zurückhält.

»Du, Stella?«

»Ja?«

»Sag mal … Also, ich meine, es wäre doch echt ganz nett, wenn wir uns gut verstehen. Und nach diesem total verkorksten Start habe ich mich gefragt … Also, da habe ich mich gerade gefragt … Ob du als Wiedergutmachung vielleicht nächsten Donnerstag mit mir zusammen zu Kino trifft Pop ins Hotel Atlantic gehen willst? Das könnte doch ganz nett sein, oder?«

»Zu Kino trifft Pop?«, frage ich nach. Diese Veranstaltung findet zweimal im Jahr statt, da trifft sich das Who’s who der Hamburger Medienszene. Und so ungern ich es zugebe: Ich war noch nie dabei, für eine Einladung hat’s bisher bei mir noch nicht gereicht. Was genau genommen eine Frechheit ist, aber so ist es eben.

»Ja, genau.« Martin zuckt etwas unbeholfen mit den Schultern. »Wir könnten uns doch vielleicht einen netten Abend machen oder so …« Er schaut so treuherzig wie ein Hundewelpe. »Vielleicht bin ich ja gar nicht so scheiße, wie du denkst?«

»Vielleicht nicht«, antworte ich. Und obwohl ich zeit meines Lebens immer weit, weit, weit davon entfernt war, mich kaufen zu lassen, höre ich mich selbst sagen: »Und ich gehe am Donnerstag gern zusammen mit dir hin.« Nicht wegen Martin natürlich. Sondern wegen der Chance, einmal auf diese Veranstaltung zu kommen, wer weiß, wann das noch einmal passiert?

»Okay, super!« Er lächelt mich an. »Dann treffen wir uns am Donnerstag um neunzehn Uhr vorm Hoteleingang. Ich freu mich!«

»Ich mich auch!« Wir verabschieden uns, ich steige ins Auto und fahre los.

Was für ein interessanter Tag, denke ich, während ich Richtung Heimat düse. Und Martin Stichler ist vielleicht doch nicht so ein Vollidiot, wie ich dachte. Eben war er richtig nett. Wenn er mal auf seine arrogante Masche verzichtet, ist er fast erträglich. Und immerhin: Er hat auch ein nettes Grübchen in der Wange … Bei dem Gedanken daran schalte ich die Musik ein und lausche den neuen Songs der Reeperbahnjungs.