9. Kapitel

 

Ich möchte euch die Geschichte des Kanadiers Kyle MacDonald erzählen«, erklärt David Dressler. »Er hatte den Traum, seiner Verlobten zur Hochzeit ein Haus zu schenken. Was ihm dafür allerdings fehlte, war das nötige Geld. Also beschloss er zu versuchen, eine Büroklammer im Internet gegen einen etwas höherwertigen Gegenstand einzutauschen, den er dann wiederum gegen etwas Wertvolleres tauschen würde und so weiter und so fort.« Ich erinnere mich dunkel daran, von dieser Sache einmal gehört zu haben.

»Die Büroklammer wäre vermutlich als Präsent auch nicht ganz so gut angekommen«, macht Oliver einen Witz, und alle lachen.

»Was ich euch damit erzählen will«, fährt David fort, »ist, dass man alles erreichen kann, wenn man es nur wirklich will. Kyle MacDonald hat es geschafft: Innerhalb eines Jahres wurde aus der Büroklammer erst ein Stift, dann ein Türgriff aus Porzellan, ein Campingkocher, ein Generator, ein Skiurlaub, ein Treffen mit Alice Cooper, eine Filmrolle und schließlich – das Haus.«

»Nicht schlecht«, stellt Martin Stichler anerkennend fest. »Auf so eine Idee muss man erst mal kommen!«

»Richtig«, meint David. »Mit einer guten Idee fängt immer alles an. Und deshalb werdet ihr heute in Zweierteams losgehen und versuchen, bis zum Abend eure Büroklammer gegen etwas wesentlich Wertvolleres einzutauschen.«

Ich muss plötzlich kichern.

»Was ist so lustig, Stella?«, fragt David mich freundlich.

»Ach, nichts«, ich mache eine wegwerfende Handbewegung. Aber in Wahrheit musste ich gerade daran denken, dass ich den Campingkocher doch hätte kaufen sollen. Dann wäre ich schon ein paar Schritte voraus!

»Gut«, sagt David, »der Bus wird uns jetzt nach Schneverdingen bringen, dort habt ihr bis halb sechs Zeit für die Aktion, danach fahren wir wieder zurück. Frau Becker hat für uns Lunchpakete vorbereitet, sie liegen vorn in der Eingangshalle auf dem Tisch.« Er zieht ein Blatt Papier aus seinem schwarzen Buch hervor. »Folgende Teams habe ich eingeteilt.« Er fängt an, unsere Namen vorzulesen. Und ich kann nicht einmal behaupten, dass ich sonderlich überrascht darüber bin, dass ich zusammen mit Martin ein Team bilde. Irgendwie habe ich mir das schon gedacht.

 

»Na, Partner?« Kaum sind wir alle in den Bus eingestiegen, setzt Martin sich direkt neben mich und grinst. »Dann wollen wir mal zur großen Tauschaktion starten.«

»Hmm«, gebe ich einsilbig zurück. Nur weil er vorhin ganz nett zu mir war und ich mit ihm ein Team bilde, müssen wir ja jetzt nicht auf ganz dicke Kumpels machen. Ich krame demonstrativ in meiner Handtasche. Zum einen, um mich nicht mit Martin unterhalten zu müssen, zum anderen, um nach meinem Telefon zu suchen, weil ich nachsehen will, wann ich wieder Empfang habe. Sobald ich ein paar Balken sehe, werde ich mich mal kurz nach hinten in den Bus verziehen, um Mama anzurufen. Muss ihr ja schließlich sagen, dass die Sache hier trotz einiger Anfangsschwierigkeiten so weit ganz gut läuft und sie sich keine Sorgen machen muss.

Allerdings stelle ich beim Kramen fest, dass ich das Telefon offenbar in meinem Zimmer vergessen habe, ich kann es nirgends entdecken. Dafür habe ich meinen Discman mit, was auch immer ich mir dabei gedacht habe. Ich schüttele die Tasche, um ganz sicherzugehen, dass ich das Handy nicht dabeihabe. In diesem Moment macht der Busfahrer eine Vollbremsung und brüllt ein lautes »Du Arschloch!«, was offenbar dem Wagen vor uns gilt, dessen Fahrer in die Eisen gestiegen ist. Mit Schwung rutscht meine Tasche auf den Boden, und der komplette Inhalt entleert sich in den Mittelgang: Taschentücher, Lippenstift, Haarbürste, Tampons – was so ein Massengrab mit Henkeln halt so hergibt. Aber, immerhin: Auch mein Handy ist mit herausgefallen, hatte sich wohl irgendwo unter meinem gesammelten Krempel versteckt.

»So ein Mist!« Fluchend stehe ich auf und mache mich daran, meine Sachen wieder aufzusammeln.

»Warte, ich helfe dir!« Mit einem Satz ist Martin neben mir. Und hält eine Sekunde später meinen Discman in der Hand, der aufgesprungen ist. »Was hörst du da?«, will er wissen und wirft einen interessierten Blick auf die CD.

»Nichts!« Ich schnappe ihm den Discman weg, bevor Martin die Eddingaufschrift Reeperbahnjungs lesen kann.

»Wohl wieder die geheimnisvolle Musik, die du im Auto gehört hast und über die du nicht reden willst?«, mutmaßt er.

»Exakt«, gebe ich ihm recht. Hoffentlich werde ich Martin in Schneverdingen wenigstens für ein paar Minuten los, damit ich nicht nur Mama, sondern auch Tim noch einmal anrufen kann. Bei unserer Verabschiedung heute früh wirkte er doch recht angefressen, es kann vermutlich nicht schaden, wenn ich ihn wieder ein bisschen bepuschele. Für einen kurzen Moment denke ich an unseren gestrigen Abend im Atlantic und die gemeinsame Nacht. An die ich mich ja allerdings nicht mehr so richtig erinnern kann. War schon ganz schön, mit ihm zu knutschen …

Seufzend packe ich meine Sachen zurück in die Tasche und setze mich wieder neben Martin. Für solche Gedanken habe ich jetzt einfach keine Zeit!

 

»Also, viel Glück und Erfolg!«, wünscht uns David, als unser Trüppchen eine halbe Stunde später auf dem Marktplatz von Schneverdingen steht. »Merkt euch diese Stelle, hier treffen wir uns um halb sechs. Wenn ihr euch verlauft, fragt nach der bronzenen Heidekönigin.« Er zeigt auf die Statue einer jungen Frau, die auf einer Bank sitzt und auf dem Kopf eine Blütenkrone trägt. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen und den linken Arm ausgestreckt, als würde sie jemanden dazu einladen, sich neben sie zu setzen. Wird bestimmt ständig zusammen mit Touristen fotografiert. »Die könnt ihr nicht verfehlen.«

»Als würde man sich hier verlaufen können«, raunt Martin mir zu. Da hat er recht. Und außerdem habe ich ja mein Smartphone, in dem ich bereits unsere Ausgangsposition gespeichert habe. Glücklicherweise ist Schneverdingen zwar ein Kaff, aber immerhin habe ich hier Empfang: Kaum hatten wir die Ortsgrenze passiert, piepte es gut und gern zehn Mal, um mir ein paar Anrufe in Abwesenheit zu melden.

»Da hat wohl jemand einen neuen Verehrer«, kommentierte Hilde hinter mir lachend.

»Hmm, genau«, wiegelte ich ab und studierte das Display. Mein Hauptverehrer mit insgesamt acht oder neun Anrufen: Mama. Klar! Aber immerhin entdeckte ich auch Miriams Nummer und die von Tim! Das freute mich mehr, als es vermutlich sollte, und ich würde ihn jetzt gerne zurückrufen, um zu erfahren, was er wollte. Aber zuerst muss ich wohl zusammen mit Martin die Mission Büroklammer erfüllen.

Wir machen uns paarweise auf den Weg, jeweils ein Mitarbeiter von Elb Records mit einem von World Music. Im Bus hatte Tobias noch versucht, seinen Teampartner Robert gegen Natascha einzutauschen, was David aber nicht erlaubte. Irgendwie süß, diese jungen Leute, bei der Verabschiedung auf dem Marktplatz sehen die Volontärin und mein Junior A&R sich so sehnsüchtig an, als müsse er in den Krieg ziehen. Mindestens. Jaja, die Liebe! Bis man dann einige Jahre später und reifer feststellt, dass sich Schmetterlinge im Bauch irgendwann zu handfesten Magenschmerzen entwickeln können …

»Lass uns mal ein bisschen von den anderen absetzen«, unterbricht Martin meine Gedanken. »Wobei das in diesem Örtchen hier wohl nicht ganz einfach wird.«

Vom Markt aus spazieren wir die Schulstraße entlang und schlagen uns einige hundert Meter weiter in eine kleinere Seitenstraße. Martin dreht sich hin und wieder um, weil er sichergehen will, dass uns keiner unserer Kollegen folgt. Ich persönlich finde das ein bisschen paranoid, denn was soll schon passieren, wenn wir in derselben Straße unterwegs sind wie ein anderes Team?

»So, dann wollen wir mal«, meint Martin irgendwann, als wir an einer Reihe von Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten stehen bleiben.

»Hast du die Büroklammer?«, will ich wissen, denn er hat sie vorhin eingesteckt.

»Ja«, antwortet er. »Aber die brauchen wir nicht.«

»Wir sollen sie doch tauschen.«

Statt etwas zu erwidern, holt Martin aus der hinteren Hosentasche seiner Jeans sein Portemonnaie hervor und zieht einen Fünfzig-Euro-Schein raus.

»Lass uns lieber den hier nehmen«, schlägt er vor.

»Fünfzig Euro? Versteh ich nicht.«

Martin lacht fröhlich, und schon wieder bildet sich dabei das niedliche Grübchen in seiner Wange. »Stella, wie naiv bist du denn? Meinst du, ich fange jetzt allen Ernstes an, eine Büroklammer zu tauschen?«

»Aber genau das sollen …«

»Quatsch!«, unterbricht er mich. »Wir wollen bei dieser Aufgabe doch erfolgreich sein, oder?«

»Ja, klar.« Ich nicke. »Aber die Regeln sind doch eindeutig festgelegt.«

»Bis wir mit dieser blöden Büroklammer irgendetwas Wertvolleres ertauscht haben, laufen wir uns hier die Füße platt. Also vereinfachen wir die Sache ein bisschen und bieten jemandem fünfzig Euro an, damit er uns dafür irgendetwas gibt, das vorzeigbar ist.«

»Hmm«, mache ich, »ich weiß nicht …«

»Spielst du jetzt die Bedenkenträgerin oder was?«

»Na ja, die Aufgabe ist ja schon anders gedacht. Was du vorhast, ist nicht ganz korrekt.«

Er lacht wieder. »Himmel, Stella! Was soll das heißen, das ist nicht ganz korrekt? Muss immer alles korrekt sein?«

»Ja«, antworte ich entschlossen – und fühle mich gleichzeitig wie eine furchtbare Spießerin.

Martin verdreht die Augen. »Glaubst du, die anderen machen das nicht auch so?«, will er wissen.

»Keine Ahnung. Ich persönlich wäre noch nicht einmal auf so eine Idee gekommen.« Und das ist nicht mal gelogen – stattdessen bin ich im Kopf schon mal durchgegangen, was ich sagen kann, um jemanden zu einem Tausch zu bewegen, statt uns einfach für Verrückte zu halten.

Er klopft mir fast väterlich auf die Schulter. »Dann ist es ja gut, dass du mich zum Teampartner hast.« Mit diesen Worten will er auf ein Haus zumarschieren, in dessen Vorgarten eine Niedersachsen-Fahne flattert, aber ich halte ihn zurück.

»Warte mal, Martin!« Er bleibt stehen. »Sorry, aber ich finde das wirklich nicht richtig und habe dabei kein gutes Gefühl.« Vor allem, füge ich in Gedanken hinzu, wenn das irgendwie auffliegt. Das würde David mit Sicherheit nicht gut finden. Und auch wenn das hier gerade die fünf Minuten sind, in denen ich mich mit Martin ganz gut verstehe, so ganz traue ich ihm einfach nicht über den Weg. Was, wenn ich das jetzt mitmache – und er haut mich irgendwann damit in die Pfanne? Gut, damit würde er sich selbst gleich auch in die Pfanne hauen, aber ich weiß nicht … Vertrau keinem außer dir selbst, klingelt Mamas Stimme schrill in meinem Ohr. Und pass vor allem bei diesem Martin Stichler auf!

Ich straffe die Schultern und teile ihm mit: »Nein, ich möchte, dass wir das so machen, wie David es uns aufgetragen hat. Außerdem hat er ja gesagt, dass es uns sogar Spaß machen wird, wir sollten uns der Herausforderung also in jedem Fall stellen.« Martin seufzt, holt sein Portemonnaie hervor, steckt den Fünfziger wieder weg und holt stattdessen die Büroklammer raus.

»Da.« Er drückt sie mir in die Hand. »Dann versuch mal dein Glück, ich bin sehr gespannt.«

Mit unserem Tauschgegenstand in der Hand gehe ich zum Hauseingang, Martin folgt mir auf dem Fuße. Ich klingele, zwei Minuten später wird die Tür geöffnet, und vor mir steht eine ältere, kleine Dame im Kostümchen und mit lilafarbener Dauerwelle.

»Guten Tag«, beginne ich mit unserem Anliegen. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

»Ja?«, fragt sie, und ich bemerke selbst bei diesem einzigen kurzen Wort das deutliche Misstrauen, das in ihrer Stimme mitschwingt. Ich gebe mir Mühe, mein charmantestes Lächeln aufzusetzen.

»Mein Name ist Stella Wundermann, und das hier«, ich deute auf Martin, der schräg hinter mir steht, »ist mein Kollege Martin Stichler. Wir würden Sie gern um etwas bitten.«

»Sind Sie von den Zeugen Jehovas?«, will das Ömchen wissen.

»Zeugen Jehovas?« Ich lache. »Nein, ganz sicher nicht.«

»Mormonen?« Ich schüttele den Kopf.

»Nein, auch nicht, wir wollen nur …«

»Ich kaufe nichts und habe auch kein Bargeld im Haus«, bellt mich die Alte an, und eine Sekunde später ist – rumms! – die Tür wieder zu. Etwas ratlos starre ich auf den geflochtenen Weidenkranz, der daran hängt und durch die Erschütterung nun sachte hin- und herbaumelt.

»Na?«, erklingt Martins spöttische Stimme hinter mir. Ich drehe mich zu ihm um. Seine Miene zeigt unverhohlene Schadenfreude. »Das hat jetzt aber echt richtig Spaß gemacht, oder?«

»War ja nur der erste Versuch«, zische ich ihn an.

»Ich bin auf die weiteren gespannt!«

Wir gehen zum nächsten Haus, und ich klingele. Sofort ertönt ohrenbetäubendes Hundegebell. Vor Schreck mache ich einen Schritt zurück. Diesmal ist es ein Mann Mitte fünfzig, der uns öffnet. In leicht gebückter Haltung, mit einer Hand hält er zwei kläffende und ziemlich große Köter zurück, die er mit den Worten »Sammy! Alwy! Platz!« anschnauzt. Er steckt in Jeans und einem fleckigen T-Shirt, unter dem sich ein ziemlich mächtiger Bierbauch wölbt.

»Guten Tag«, sage ich und schiebe sofort hinterher: »Wir sind nicht von den Zeugen Jehovas oder den Mormonen, und wir wollen Ihnen auch nichts verkaufen.« Der Mann zieht verwundert die Augenbrauen hoch.

»Sondern?«, will er wissen. Immerhin, er fragt nach.

»Wir sind gerade auf einem Firmenseminar und machen eine Art Rallye«, erkläre ich ihm. Mittlerweile haben sich die Hunde wieder einigermaßen beruhigt, sitzen ihrem Herrchen zu Füßen und hecheln mit raushängender Zunge. »Dafür müssen wir verschiedene Aufgaben erledigen, und die heutige ist, das hier«, ich halte ihm die Büroklammer hin, »gegen etwas einzutauschen, das ein kleines bisschen wertvoller ist.«

»Wertvoller als eine Büroklammer?« Der Mann kratzt sich ratlos am Kopf, ein paar dicke Schuppen rieseln auf den Kragen seines T-Shirts. Igitt!

»Ja, vielleicht ein Kugelschreiber oder so«, meine ich und erzähle ihm in kurzen Sätzen die Geschichte von dem Kanadier, der sich ein Haus ertauscht hat.

»Was für ein Spinnkram«, kommentiert der Mann und schüttelt ungläubig den Kopf. »Wir haben hier in der Heide ja ständig irgendwelche Firmen, die für Tagungen kommen und dann so ein beklopptes Zeug machen müssen.« Er grinst. »Neulich habe ich ein paar Leute in Zweiergruppen gesehen, die kreuz und quer durch den Ort marschiert sind. Dabei hatte der, der vorweg ging, die Augen geschlossen und musste sich nach den Anweisungen seines Partners bewegen. So mit ›Achtung, jetzt kommt eine Stufe!‹ oder ›Stehen bleiben, die Ampel ist rot!‹.« Er prustet und spuckt dabei ein paar Tröpfchen aus. Ich mache noch schnell einen Schritt zurück, damit ich nicht getroffen werde. Die Erinnerung daran scheint den Mann offenbar sehr zu amüsieren. »Einer ist dabei volle Lotte vor einen Laternenpfahl gedonnert. Mann, das hat richtig laut geknallt!«

»Ja, äh, schön«, quittiere ich seine Ausführungen leicht ungeduldig und halte ihm wieder die Büroklammer unter die Nase. »Also, tauschen Sie die hier gegen irgendetwas?« Er nimmt mir den Draht aus der Hand.

»Ich guck mal.« Mit diesen Worten schließt er die Haustür, ich wende mich triumphierend an Martin.

»Siehste!«, teile ich ihm mit. »Klappt doch!«

»Abwarten«, antwortet er, »noch wissen wir ja nicht, was wir für die Büroklammer bekommen.«

Eine Minute später wird die Haustür wieder geöffnet, und der Mann drückt mir eine Dose in die Hand. Ich werfe einen Blick darauf.

»Hundefutter?«, frage ich verwundert nach.

Mein Tauschpartner zuckt mit den Schultern. »Was anderes hab ich nicht gefunden.«

Ich beäuge die Dose in meiner Hand. »Die ist ja sogar schon abgelaufen.«

»Aber erst seit zwei Wochen, macht also nichts. Und ihr hattet ja auch nur ’ne Büroklammer, was anderes könnt ihr dafür nicht erwarten.« Im nächsten Moment hat er schon wieder die Tür geschlossen.

»Doch, doch«, meint Martin und pfeift anerkennend durch die Zähne, »die Sache läuft echt super an! Eine olle Konserve mit Chappi Deluxe, die wird uns der Nächste mit Sicherheit aus der Hand reißen!«

Na warte! Hocherhobenen Hauptes marschiere ich an ihm vorbei aufs nächste Haus zu. Ich werde mich von meinem Kollegen nicht provozieren lassen, das kommt überhaupt nicht in Frage! Und ich werde auch nicht auf seine Idee mit den fünfzig Euro zurückkommen, jetzt erst recht nicht!

 

Um kurz vor fünf steuern wir das gefühlt zweihundertste Wohnhaus an. Mittlerweile schmerzen meine Füße, und ich habe das Gefühl, bereits jede Straße von Schneverdingen mindestens einmal abgelaufen zu sein. Unterwegs sind uns immer wieder Kollegen begegnet, und es war teilweise erstaunlich, was die sich schon alles ertauscht hatten: Tobias und Robert zogen einen Bollerwagen hinter sich her, auf dem ein alter Fernseher stand, Natascha und Oliver schleppten eine ziemlich große Topfpflanze. Den Vogel schossen allerdings Hilde und Susanne von World Music ab, denn die beiden trugen ein Brautkleid durch die Gegend. »Fragt lieber nicht«, sagte Hilde und sah ein bisschen betreten aus, »das ist keine schöne Geschichte.«

Von einer schönen Geschichte sind Martin und ich mit unserer halben Schachtel Zigaretten, die wir von unserem letzten Tauschpartner gegen ein altes Set mit Skatkarten erhalten haben, auch noch weit entfernt. Ich war eigentlich ziemlich stolz auf mich, wie ich im Lauf der Zeit immer ein bisschen höher in der Preiskategorie geklettert bin, aber das hat Martin mit seinem ersten ernsthaften Einsatz zunichtegemacht. Nicht nur, dass die Schachtel angebrochen ist, der mürrische Teenager, der sie uns gegeben hat, gab unumwunden zu, sie im Dreck gefunden zu haben, bevor er auf seinem BMX-Rad davonpeste.

»Die ist schon ganz schön angeschrammelt«, sage ich jetzt naserümpfend. Tatsächlich ist eine Ecke wohl schon etwas durchgeweicht und wieder getrocknet, und irgendwer hat auch darauf herumgekritzelt.

»Das ist … wie heißt das noch … Vintage-Chic!«, behauptet Martin.

Ich muss lachen. »Aha! Na, dann sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir hier«, ich deute auf das Haus vor uns, »nicht jemanden finden, der bereit ist, uns dafür etwas ganz Tolles zu geben.«

»Wahrscheinlich bekommen wir einen Arschtritt, weil uns bestimmt gleich ein Nichtraucher öffnet.«

»Pessimist«, gebe ich zurück. Aber irgendwie meine ich es gar nicht mehr böse, denn wir haben schon Spaß miteinander, auf unsere ganz eigene Art und Weise.

»Spießerin«, kommt es frotzelnd zurück. Dann müssen wir beide lachen. »Na los«, fordert Martin schließlich. »Viel Zeit haben wir ja nicht mehr.« Ich betätige den Klingelknopf, kurz darauf öffnet eine Frau, die etwa in meinem Alter sein muss. Sie mustert Martin und mich neugierig.

»Ja bitte?« Ich sage wieder mein Sprüchlein auf und halte ihr schließlich die halbe Schachtel Kippen unter die Nase, sie nimmt sie entgegen und betrachtet sie kurz.

Und dann passiert etwas Eigenartiges.

Die Frau schreit!

»Das gibt’s ja gar nicht!«, brüllt sie und fällt mir um den Hals. Ich kiekse vor Schreck auf, was ist denn jetzt passiert? »Äh …« Ich mache mich von ihr los.

»Tut mir leid!« Sie sieht mich verlegen an. »Sie müssen ja denken, ich hab sie nicht mehr alle.«

»Nein, ich, äh …«

»Lassen Sie es mich erklären. Gucken Sie mal hier«, sie zeigt uns noch einmal die Schachtel und deutet auf die Kritzelei. Martin und ich tun wie geheißen. Und tatsächlich bemerke ich erst jetzt, dass auf der Schachtel eine Handynummer steht. Die Frau kichert fröhlich. »Das ist so ein unglaublich durchgeknallter Zufall, dass es eigentlich gar nicht wahr sein kann!«, plappert sie aufgeregt weiter. »Hat schon eher was mit Schicksal zu tun, das hier sind nämlich meine Zigaretten.«

»Ihre Zigaretten?«, frage ich nach. Sie nickt.

»Ja, ich weiß, das klingt komplett unwahrscheinlich. Aber so ist es. Ich hatte die Schachtel schon überall gesucht«, erzählt sie weiter. »Als ich am letzten Wochenende abends in Hamburg unterwegs war, habe ich einen netten Typen kennengelernt. Ich Schaf wollte ihm meine Nummer nicht geben, also hat er mir seine aufgeschrieben.« So langsam dämmert mir, was für ein ungeheurer Zufall das ist, den sie uns hier gerade erzählt. »Ich dachte: Lieber habe ich seine Nummer und kann ihn anrufen, wann ich will, statt dass ich doof darauf warte, dass er sich meldet.« Sie zuckt mit den Schultern. »Dämlicherweise habe ich die Schachtel dann Anfang der Woche in einem Café liegenlassen. Ich hab da sofort angerufen, aber sie haben nichts gefunden.« Mittlerweile ist ihr Lächeln nahezu glückselig zu nennen. »Ich habe mich echt zu Tode geärgert! Ich meine, Hamburg ist nicht Schneverdingen, da wird es ein bisschen schwierig, jemanden zu finden, von dem man nur weiß, dass er Kai heißt und im Controlling einer Firma arbeitet, deren Namen man nicht kennt.«

»Stimmt«, gebe ich ihr recht. »Das wäre schon eine ziemliche Herausforderung.«

»Jetzt verstehen Sie vielleicht, weshalb ich eben so ausgeflippt bin.« Wir nicken. Und sind, wenn ich Martin so betrachte, gleichermaßen gerührt. Denn so, wie die Frau sich gerade freut, scheint ihr das wirklich sehr am Herzen zu liegen. »Ich schau mal eben nach, ob ich was Hübsches zum Tauschen finde«, sagt sie und hüpft beschwingt zurück ins Haus.

»Wenn nicht, behalten wir die Nummer!«, ruft Martin ihr vergnügt hinterher.

»Kommt nicht in Frage«, brüllt sie zurück.

Während wir warten, schlägt Martin auf einmal einen überraschend sanften Tonfall an. »Du, Stella«, meint er.

»Ja?«

»Ich wollte dir nur sagen … Also, ich wollte dir sagen, dass du recht hattest.«

»Womit?« Er wirkt etwas verlegen. »Na damit, dieses Spiel richtig zu spielen und es sich nicht mit fünfzig Euro leichtzumachen.« Er bedenkt mich mit einem langen Blick – Himmel, seine blauen Augen sind tatsächlich waffenscheinpflichtig –, und ich merke, wie mir in der Magengegend leicht flau wird. »Denn sonst hätten wir uns mit Sicherheit um dieses Erlebnis gebracht.« Er macht eine Pause. »Und ich bin froh, dass ich es mit dir erlebt habe.«

Nun ist es an mir, verlegen zu sein. Flirtet der etwa mit mir?

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt die junge Frau zurück. »Hier, bitte!« Sie streckt uns eine Flasche Champagner entgegen. Eine Pulle Dom Pérignon, die kostet mit Sicherheit über hundert Euro!

»Das können wir doch nicht annehmen«, will ich abwehren, aber Martin geht dazwischen und schnappt sich eilig die Flasche.

»Aber natürlich können wir das!« Er zwinkert erst mir, dann der Frau zu. »Für die Liebe ist schließlich kein Preis zu hoch.«

»Das sehe ich genauso«, bestätigt die edle Spenderin und drückt mit einem glücklichen Lächeln die Schachtel mit den Zigaretten an ihre Brust. »Der Typ war wirklich unglaublich nett, und ich war richtig traurig, dass ich es vermasselt habe. Ich meine, unter uns«, sie senkt die Stimme, »in diesem Kaff hier ist die Dichte an gutaussehenden und charmanten Kerlen jetzt nicht unbedingt riesig.«

»Kann ich mir vorstellen«, erkläre ich mich mit ihr solidarisch. Und frage mich gleichzeitig, warum die nicht nach Hamburg zieht. Aber das geht mich schließlich nichts an.

Wir verabschieden uns von ihr und machen uns auf den Weg zurück zum Marktplatz. Schon Viertel nach fünf, wir müssen uns beeilen, damit wir unseren Bus nicht verpassen. Martin trägt unsere Flasche Champagner triumphierend vor sich her, als wäre sie der Pokal der Fußballweltmeisterschaft. Aber ich muss zugeben: Ein kleines bisschen fühlt es sich tatsächlich so an, als hätten wir eine wertvolle Trophäe ergattert.

 

»Jetzt wollen wir mal sehen, was ihr am heutigen Tag erbeutet habt«, meint David Dressler, als wir nach dem Abendessen (belegte Brote und Hagebuttentee, Downshifting vom Feinsten nenne ich das) alle im Aufenthaltsraum sitzen. Ein Team nach dem nächsten fängt stolz an, seine Tauschergebnisse zu präsentieren. Bei Hilde und Susanne ist es beim Brautkleid geblieben, Tobias und Robert haben Bollerwagen und Fernseher gegen einen defekten Rasenmäher getauscht (wobei der Fernseher, wie sie erzählen, auch kaputt war), Natascha und Oliver haben einen Fußball vom HSV, den sämtliche Spieler der Mannschaft signiert haben. Sie erzählen lachend, wie ein junger Mann ihn gegen ihre Pflanze mit den Worten »Von dieser bescheuerten Gurkentruppe will ich nichts mehr wissen« überreicht hat.

»Ups«, flüstert Martin mir zu, »da hat wohl einer das Ausscheiden aus der Europa League persönlich genommen.«

»Pech für ihn«, flüstere ich zurück. »Fußball interessiert mich nicht die Bohne. Der HSV könnte in der Kreisliga spielen, ich würde es nicht bemerken.«

»Wenn ich dir erst mal die Abseitsregel erkläre«, bietet Martin an, »wird sich das schlagartig ändern. Da kaufst du dir glatt ’ne Dauerkarte.«

»Nein danke«, grinse ich ihn an, »bei dem Thema falle ich sofort ins Koma, und das möchte ich deinem fragilen männlichen Ego dann doch nicht zumuten.«

Auch die anderen präsentieren ihre Errungenschaften: ein lustiges Sammelsurium aus Trödel und Raritäten. Von einem alten Paar Schuhe über eine Suppenterrine mit Sprung bis hin zum abgeschrammten Keyboard ist alles vertreten, was man auch auf einem gut sortierten Flohmarkt finden würde.

Schließlich ist es an uns, unsere Beute zu zeigen. Nicht ohne ein kleines Triumphgefühl halte ich die Flasche Dom Pérignon hoch, woraufhin es sogar Beifall gibt. Und natürlich fordert Tobias energisch: »Kalt stellen! Aufmachen! Austrinken!«

»Tut mir leid«, sagt Martin, »der ist ganz für die Königin der Tauschaktion reserviert, und das ist Stella.« Zu meiner eigenen Überraschung gibt es ein bisschen Applaus. »Na ja, und ich selbst will natürlich auch einen Schluck abhaben«, fügt er hinzu.

»Dann trinkt den halt allein, das macht mir gar nichts«, gibt Tobias sich lässig geschlagen, »ich denke mal, es gibt hier noch anderes, was richtig prickelt.« Natascha lacht ihn fröhlich an. Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die zwei bis über beide Ohren ineinander verschossen sind. Verrückt! Dabei kennen die sich doch kaum!

»Aber das Beste«, erklärt Martin und blickt ein kleines bisschen wichtig in die Runde, »ist die Geschichte zu unserem Tausch.« Und dann erzählt er, wie es dazu kam und wie unglaublich glücklich die junge Frau war, als wir ihr ihre Zigarettenschachtel mit der Telefonnummer gegeben haben. Während ich seinen Ausführungen lausche, wird mir tatsächlich ein bisschen warm ums Herz. So souverän, so witzig erzählt er und gibt sogar zu, dass er ursprünglich schummeln wollte, wovon ich ihn aber abgehalten habe. Und dass er darüber froh ist, weil wir dadurch zum einen so eine nette Geschichte erlebt und zum anderen einen Menschen glücklich gemacht haben.

»Wie romantisch!«, ruft Hilde und seufzt. »Das klingt ja wie in einem Film!« Ich nicke zustimmend. Ja, so was kommt normalerweise echt nur im Film vor.

»Sehr gut.« David Dressler nickt zufrieden. »Dann ist genau das eingetreten, was ich gehofft hatte: Ihr habt gelernt, dass es sich lohnt, ungewohnte Wege zu beschreiten. Und ihr hattet sogar Spaß daran.« Er klopft auf das schwarze Buch, das auf seinem Schoß liegt. »Ich bin gespannt, wie euch die Aufgabe für morgen gefällt.«

Nur zu gern würde ich mal einen Blick in das Büchlein werfen und gucken, was da so drinsteht. Ich möchte einfach wissen, was uns noch erwartet.

»Können wir uns das Buch mal ansehen?«, will ich ganz direkt wissen. Mein Chef schüttelt grinsend den Kopf.

»Selbstverständlich nicht!«, teilt er mir mit. »Sonst ist ja die ganze Überraschung dahin.«

»Och, menno«, spiele ich die Schmollende.

»Tja, ich bin eben hier der Boss. So, und jetzt lasst uns zum gemütlichen Teil des Abends kommen, für heute habt ihr eure Aufgaben erledigt, und ich bin mehr als zufrieden mit den Ergebnissen.«

»Aber wer hat denn jetzt gewonnen?«, frage ich überrascht nach. »Du musst doch noch den Sieger benennen!« Insgeheim hoffe ich natürlich, dass Martin und ich es sein werden.

David wirft mir einen langen Blick zu, legt die Stirn in Falten und stößt einen Seufzer aus. »Keiner, Stella«, klärt er mich auf. »Denn darum ging es gar nicht. Das war ein Experiment, an dem ihr Spaß haben solltet. Es muss nicht immer alles ein Wettkampf sein, weißt du?«

»Ach so«, sage ich und komme mir mit einem Mal schrecklich dumm vor.