7. Kapitel
Ich wache auf, weil ich mich irgendwie eingeengt fühle. Wie in einem Schraubstock, ich kriege kaum Luft. Irritiert schlage ich die Augen auf und will mich mühsam aufsetzen, aber irgendetwas hält mich zurück – und es ist nicht das Dröhnen und Pochen hinter meinen Schläfen. Mit einem unwilligen Laut drehe ich den Kopf zur Seite, um zu sehen, was eigentlich los ist – und erstarre.
Tim!
Direkt hinter mir im Bett!
Nur mit Boxershorts bekleidet!
Er hat einen Arm fest um meine Taille geschlungen, was meine Bewegungsunfähigkeit erklärt. Auweia! Ich greife nach seinem Arm und schiebe ihn mit aller Kraft von mir runter, woraufhin Tim sich wohlig schmatzend von mir wegdreht. Schnell setze ich mich auf, was sofort einen leichten Schwindel auslöst, und sehe angstvoll an mir hinunter. Ich werde doch nicht …
Entwarnung: Ich stecke immer noch in meinem Paillettenkleid, sogar meine Strumpfhose habe ich noch an. Okay, Stella, keine Panik, das Worst-Case-Szenario kannst du also ausschließen.
In diesem Moment geht mein Wecker los, so laut, dass er Tote zurück ins Leben bringen könnte. Mein Blick fällt aufs Display – es ist genau sieben Uhr morgens. Tim setzt sich neben mir stöhnend auf und reibt sich die Augen.
»Das ist ja ein furchtbarer Lärm«, beschwert er sich und gähnt noch einmal. Dann sieht er mich an, ein zärtlicher Ausdruck tritt auf sein Gesicht. »Guten Morgen, meine Süße.« Er beugt sich zu mir und will mich küssen. Erschrocken rücke ich ein Stück von ihm ab. »Was hast du denn?«, fragt er und sieht mich irritiert an.
»Noch keine Zähne geputzt«, behaupte ich schnell und will aufspringen, aber Tim schlingt seine Arme um mich und hält mich einfach fest.
»Macht doch nix«, findet er. Im nächsten Augenblick presst er schon seine Lippen auf meine. Nicht unangenehm, das muss ich zugeben – aber von diesem himmlischen Duft, den ich gestern Abend noch in der Nase hatte, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Morgens um sieben nach einer Partynacht ist auch Tim Lievers nur noch ein Normalsterblicher.
Ich schiebe ihn ein Stück von mir weg. Denn nicht nur, dass seine olfaktorischen Qualitäten momentan etwas zu wünschen übriglassen: Mir ist die ganze Situation mehr als unangenehm. Ja, wir haben Spaß miteinander gehabt, und ja, wir haben rumgeknutscht. Aber das war gestern, und die Umstände waren besondere und ich betrunken. Wie bin ich überhaupt hier gelandet? Beziehungsweise, wie sind wir hier gelandet?
»Ich glaube, ich habe einen kleinen Filmriss«, gebe ich zu.
»Glaube ich auch«, stimmt Tim mir zu und lächelt mich an. »Du bist direkt vorm Atlantic zusammengeklappt.«
»Das weiß ich noch. Aber was war dann?«
»Danach habe ich dich vollkommen wehrlos, wie du ja warst, noch durch diverse Kneipen geschleppt. Habe auch Fotos von dir gemacht und mit meinem iPhone auf Facebook eingestellt, kann ich dir nachher zeigen.«
»Du hast was?«, bringe ich entsetzt hervor. Er lacht laut auf und gibt mir ein Küsschen auf die Nase.
»Stella, natürlich nicht! Was denkst du denn? Ich habe dich mit einem Taxi nach Hause gebracht, den Schlüssel aus deiner Tasche genommen und dich aufs Bett gepackt.« Er deutet mit dem Kinn auf Möhrchen, der wie immer neben meinem Kopfkissen liegt. »Netter Hase, übrigens. So wie du.« Ich merke, wie ich rot anlaufe, und überlege, ob ich Möhrchen schnell unters Bett werfen soll. Aber das bringt ja nichts, er hat mein Kuscheltier eh schon gesehen. So wie vermutlich meinen Schmöker Leidenschaftliche Geliebte, der ohne Tarnumschlag auf meinem Nachttisch liegt. Wozu auch? Konnte ja nicht damit rechnen, dass ein fremder Kerl in meinem Schlafzimmer landet. Peinlich, peinlich!
»Äh, ja«, bringe ich, einigermaßen nach Fassung ringend, vor. »Und dann?«
»Dann wollte ich dir noch aus deinem Kleid helfen, aber der blöde Reißverschluss ging nicht auf. Also wollte ich dich so zudecken und dann nach Hause fahren – aber du hast mich einfach nicht gelassen.«
»Ich habe dich nicht gelassen?«
Tim nickt. »Ja, du hast mich so fest an dich rangezogen, dass es sich fast wie im Schwitzkasten angefühlt hat, und mich gebeten, bei dir zu bleiben, weil du nicht allein sein wolltest.«
»Das habe ich gemacht?« Donnerwetter, ich muss ja wirklich megablau gewesen sein! »Aber warum bist du dann halbnackt?«, will ich wissen – und schicke ein schnelles Stoßgebet zum Himmel: Lieber Gott, ich glaube zwar nur sporadisch an dich, aber bitte, bitte lass mich nicht gesagt haben, dass er sich ausziehen soll!
»Irgendwann hast du gefordert, dass ich meine Sachen ausziehe. Hast was von himmlisch oder so genuschelt, hab ich nicht ganz verstanden.«
Okay, Gott, der Besuch zu Weihnachten ist definitiv gestrichen!
»Aber süß war’s!«, schmunzelt Tim. »Und für mich zum Schlafen auch wesentlich bequemer als mit Klamotten.« Wieder streckt er einen seiner Arme nach mir aus. »Jetzt komm wieder her, ich will knuddeln! Vielleicht kriege ich jetzt ja auch deinen Reißverschluss auf, ich war gestern selbst nicht mehr ganz nüchtern und hatte ein paar feinmotorische Schwierigkeiten.« Er zwinkert mir zu.
Ich rücke noch etwas weiter von ihm weg.
»Was ist denn los?«, fragt er erstaunt.
»Ach, es ist nichts, gar nichts.«
»Das glaube ich dir nicht«, widerspricht er. »Das war doch gestern nicht nichts!«
»Nein, äh, doch«, stammele ich. »Hör zu, ich muss jetzt echt los …« Ich merke, wie meine Stimme zittert und mir fast versagt. Ich senke den Blick, wenn ich ihn weiter ansehe, kriege ich das nicht hin. »Was da gestern passiert ist … also, versteh mich nicht falsch, ich mag dich sehr gern, aber …«
»Du hast einen Freund«, unterbricht er mich.
Ich sehe wieder zu ihm auf und bemerke, dass seine Miene sich nun merklich verdüstert hat. »Dieser Typ von gestern im Atlantic, du wolltest ihm nur eins auswischen und ihn mit mir eifersüchtig machen, richtig?«
»Was, wer … Martin?« Ich schüttele energisch den Kopf. Aua, keine gute Idee bei meinen Kopfschmerzen! »Um Himmels willen, auf gar keinen Fall! Ich hab keinen Freund.«
Tim sieht deutlich erleichtert aus.
»Die Sache ist die«, versuche ich zu erklären, »gestern hatte ich einfach zu viel getrunken, und das tut mir leid. Aber du und ich, wir wollen doch bald miteinander arbeiten, da geht das einfach nicht.«
Er guckt mich verständnislos an. »Die meisten Paare lernen sich bei der Arbeit kennen.«
Guter Konter.
»Richtig«, gebe ich ihm recht. »Aber in unserem Fall ist das doch peinlich! Ich meine, wenn ich dich unter Vertrag nehme und dann gleichzeitig was mit dir habe, dann sieht das doch so aus, als ob … als ob …« Ich weiß nicht weiter.
»Als ob was?«
»Na ja, du bist ja dann so etwas wie ein Schutzbefohlener von mir«, erkläre ich.
Tim guckt mich groß an – und bricht dann in schallendes Gelächter aus. »Schutzbefohlener?«, bringt er prustend hervor. »Stella, wir sind doch nicht in der Schule! Ich bin erwachsen, du bist erwachsen, wo ist das Problem?«
»Die Leute könnten denken, ich nehme dich nur unter Vertrag, weil ich was mit dir habe.«
»Na und? Lass die Leute denken, was sie wollen, das ist doch egal.«
»Mir ist es nicht egal«, sage ich ziemlich spitz.
Er runzelt die Stirn. »Himmel, das klingt aber ganz schön verspannt und überkorrekt!«, sagt er, und ich fühle mich schlagartig an Martins Worte erinnert. »Schau dich doch mal in der Medienbranche um, da gibt es jede Menge Pärchen, die zusammen Projekte machen.«
»Ja«, gebe ich zu. »Und über fast alle wird gemunkelt, dass der oder die nur mit jemandem zusammen ist, weil er oder sie sich einen Vorteil erhofft.« Ich habe den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, da tut er mir schon leid. Mit Recht, wie ich sofort bemerke, denn mit einem Mal tritt ein verletzter Ausdruck auf Tims Gesicht.
»Verstehe«, bringt er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. »So ist das also: Du glaubst, ich baggere dich nur an, weil ich beruflich was von dir will.«
»Nein, natürlich nicht!«, sage ich schnell, obwohl ich diesen Gedanken ja ehrlich gesagt schon einmal leise in Erwägung gezogen habe. »Das habe ich zu keinem Zeitpunkt vermutet.« Im Geiste kreuze ich Zeige- und Mittelfinger an beiden Händen.
Tim bedenkt mich mit einem prüfenden Blick, so, als würde er in mich hineinsehen wollen, ob ich auch die Wahrheit sage. Dann seufzt er und sieht wieder etwas entspannter aus. »Das wäre auch schlimm, wenn du so etwas denken würdest, Stella. Und zwar aus zwei Gründen.«
»Zwei?«, frage ich nach. Er nickt.
»Ja, weil du mich dann einerseits für ein Charakterschwein halten würdest. Und weil du andererseits offenbar nicht glauben kannst, dass dich jemand gernhat, so wie du bist. Nicht als A&R-Managerin, sondern einfach nur als Stella Wundermann.«
Wieder muss ich verlegen den Blick senken. »Du kennst mich doch kaum«, flüstere ich.
»Das stimmt.« Er legt eine Hand unter mein Kinn, hebt meinen Kopf und sieht mich an. »Aber genau deshalb möchte ich dich ja ein bisschen besser kennenlernen. Weil du mich faszinierst und ich gerne genauer wüsste, wer Stella Wundermann wirklich ist. Und außerdem«, fügt er hinzu, »habe ich ja jetzt nicht gesagt, dass wir sofort das Aufgebot bestellen sollen. Einfach ein bisschen Zeit miteinander verbringen, was ist so schlimm daran?«
»Gar nichts«, muss ich zugeben, während es in meinem Kopf gleichzeitig drunter und drüber geht. Das ist nicht gut, nein, das ist nicht gut, das führt am Ende nur zu einem schrecklichen Kuddelmuddel, das keiner will! Ein riesiges Durcheinander, und in der jetzigen Situation kann ich wahrlich keine weitere Baustelle gebrauchen! Erst einmal muss sich meine Jobsituation geklärt haben.
»Weißt du, Tim«, setze ich an, »ich bin im Moment … Ich kann …« Mist, es ist echt schwierig, die richtigen Worte zu finden. »Also, ich habe im Moment einfach nicht den Kopf für so etwas frei und will mich einfach auf nichts einlassen.«
Einen Augenblick lang betrachtet er mich nachdenklich und zögernd. Dann lässt er mein Kinn wieder los, zuckt mit den Schultern, steht auf und fängt an, sich anzuziehen.
»Sei bitte nicht sauer auf mich«, sage ich.
»Ich bin nicht sauer«, gibt er zurück. »Ich wundere mich nur. Gestern, als du einen im Tee hattest, habe ich ganz deutlich gespürt, wie gern du mich hast.« Er zieht sich sein Shirt über den Kopf und fixiert mich dann regelrecht mit seinen großen braunen Augen. »Und du weißt ja, wie das ist, die Sache mit den Kindern und den Betrunkenen, die immer die Wahrheit sagen. Aber wenn du das heute anders als gestern siehst, respektiere ich das natürlich, und wir haben ab sofort wieder ein rein berufliches Verhältnis miteinander.«
Ich seufze, teils aus Erleichterung, teils, weil mir die Situation so wahnsinnig unangenehm ist.
»Ich denke, das wird in jedem Fall das Beste sein.«
»Tja, dann«, Tim schlägt sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, »werde ich mal gehen und an dem Text für meinen neuen Song arbeiten.«
»Okay«, sage ich und fühle mich regelrecht zerknirscht. »Ende nächster Woche bin ich wieder in Hamburg, dann hören wir voneinander, und ich bin schon gespannt auf die neue Version.«
Tim nickt mir noch einmal zu, dann marschiert er aus dem Schlafzimmer.
»Äh, Tim!«, rufe ich ihm hinterher, als er schon fast draußen ist.
»Ja?« Er dreht sich zu mir um.
»Könntest du mir … Würdest du mir bitte noch den Reißverschluss meines Kleids öffnen?« Ja, es ist mir ganz schön peinlich, dass ich ihn darum bitten muss. Deswegen versuche ich, einen kleinen Scherz hinterherzuschieben: »Rein beruflich, meine ich.«
Er sieht nicht so aus, als würde er sich in absehbarer Zeit vor Lachen schütteln wollen. Aber immerhin, er kommt zurück, zieht mit einem Ratsch den Zipper runter, und einen Augenblick später fällt die Haustür hinter ihm mit einem lauten Knall ins Schloss.
Erschöpft lasse ich mich noch einmal aufs Bett sinken und stoße einen lauten Seufzer aus. Wie hatte mir das nur passieren können?
Zehn Sekunden später setze ich mich ruckartig wieder auf – keine gute Idee, sofort spüre ich einen stechenden Schmerz im Kopf, da miaut noch ein amtlicher Kater –, denn mir wird klar, dass ich mich jetzt echt beeilen muss. In eineinhalb Stunden muss ich bei World Music sein, also keine Zeit, um zu lamentieren! Jetzt schnell unter die Dusche, fertig machen, Sachen schnappen und los!
»… und du rufst mich jeden Tag an, hörst du, Stella?« Auf der Fahrt zu World Music habe ich Mama an der Strippe, die wie manisch auf mich einredet und mir letzte Instruktionen erteilt. »Und wenn du mich vor Ort brauchst, sagst du es mir bitte, ich komme dann sofort dahin.«
»Ja, Mama«, antworte ich. »Ich rufe dich an, aber dein Erscheinen wird wirklich nicht nötig sein.«
»Das kannst du doch jetzt noch nicht wissen!«, ruft sie empört aus.
»Nein, natürlich nicht«, gebe ich ihr recht. Und denke gleichzeitig: Aber selbstverständlich weiß ich das! Fehlte mir noch, dass meine Mutter die gesamte Truppe tyrannisiert.
»Und pass vor allem bei diesem Martin Stichler auf!« Mama betont das Wort diesem so, als handele es sich um Satan höchstpersönlich. »Ich sage dir, der führt nichts Gutes im Schilde, das habe ich von Anfang an gewusst.«
Leider habe ich vor ein paar Tagen den Fehler begangen, Mama zu erzählen, dass Martin doch ganz nett ist und mich sogar zu einem tollen Event eingeladen hat. Als sie mich vorhin über Handy im Auto erwischte, musste ich dann leider zugeben, dass ich mit meiner Einschätzung wohl falschlag, und ihr vom gestrigen Abend erzählen.
Die Episode mit Tim habe ich dabei selbstredend verschwiegen, Mama wäre ausgeflippt. Vermutlich irgendwas in der Richtung, ob ich eigentlich wahnsinnig sei und dass dieser Martin das doch bestimmt mitbekommen hat und mich sicher bei David Dressler anschwärzen wird und überhaupt. Nein danke, mir dröhnt ja schon jetzt der Kopf bei ihren Vorhaltungen. Was aber auch daran liegt, da will ich nicht unfair sein, dass ich ziemlich platt und übermüdet bin.
»Ich pass bestimmt auf, Mama. Ich bin ja schon groß.«
»Ach, mein Schätzchen«, jetzt nimmt ihre Stimme einen zärtlichen Ton an, »für mich wirst du eben nie groß, sondern immer mein kleines Mädchen sein.«
»Ja«, gebe ich seufzend zurück, »das weiß ich.«
»Ich mache mir eben Sorgen um dich und will, dass es meinem Liebling gutgeht.«
»Mir geht’s gut.« Eine faustdicke Lüge. Das bestätigt mir auch ein kurzer Blick in den Rückspiegel, den ich an einer roten Ampel riskiere. Die Herrin der Augenringe ist eine Schönheit gegen mich, ich sehe echt fertig aus. Zum wiederholten Mal ärgere ich mich über mich selbst. Warum musste ich auch ausgerechnet gestern Abend so unvernünftig sein? Wo es doch ab heute um die Wurst geht!
Die Ampel springt auf Grün, ich gebe Gas und krame gleichzeitig mit der rechten Hand in meiner Tasche auf dem Beifahrersitz herum. Es hilft nichts, die Sonnenbrille muss her, so kann ich meinen Kollegen nicht unter die Augen treten. »Okay, Mama«, sage ich, um sie abzuwürgen, »ich bin jetzt gleich da und muss auflegen.«
»Gut«, antwortet sie. »Aber nicht vergessen: Ruf mich an.«
»Ja«, gebe ich ansatzweise genervt zurück. »Das mache ich!« Wir beenden das Telefonat, ich biege in die Stichstraße ein, an deren Ende das Gebäude liegt, in dem World Music bisher seinen Sitz hatte. Bereits aus der Ferne sehe ich den Reisebus, der davor parkt. Ab jetzt heißt es No way back – um mal einen Song der großartigen Foo Fighters zu zitieren.
»Einen schönen guten Morgen!« Nachdem ich mein Auto geparkt habe und mit meinen zwei Koffern zum Bus gerollert bin, werde ich von einem strahlenden David Dressler begrüßt.
»Guten Morgen!«, erwidere ich und stelle mein Gepäck ab. Mein neuer Boss wirft einen fragenden Blick darauf. »Was Größeres vor?«
»Ich bin einfach gern für alle Eventualitäten gewappnet«, gebe ich zurück.
»Verstehe.« Er nickt grinsend. »Eine vorausdenkende Frau, sehr gut!«
»Genau.« Ich freue mich und notiere es im Geiste auf meiner mentalen Pluspunktliste. David Dressler wendet den Kopf nach links, sieht an mir vorbei und begrüßt wieder jemanden. »Guten Morgen!«
»Moin!«, kommt es zurück, und mir fährt sofort der Schreck in die Glieder. War ja klar, dass wir hier zeitgleich einlaufen: Martin Stichler steht hinter mir. Ich drehe mich zu ihm um – und freue mich ein weiteres Mal. Mag ja sein, dass ich etwas angeschlagen bin – aber Martin sieht amtlich scheiße aus! So, als wäre er überhaupt nicht im Bett gewesen. Die Haare verstrubbelt, das Hemd hängt ihm halb aus der Hose, und seine Augen wirken glasig. Dem würde ich auch eine Sonnenbrille empfehlen. Im Gegensatz zu mir hat er lediglich einen mittelgroßen Seesack dabei, den er erschöpft hinter sich herschleppt.
»Na?«, will David von ihm wissen. »Harte Nacht gehabt?«
»Frag Stella«, gibt er grunzend zurück und stolpert dann an uns vorbei zur offenen Bustür.
»Oh!« David mustert mich überrascht. »Ihr wart zusammen auf Tour?«
»Das würde ich jetzt so nicht sagen«, antworte ich und hoffe, dass ich dabei nicht allzu zickig klinge. Mein neuer Chef muss ja nicht wissen, dass ich am liebsten in den Bus springen und Martin den Hals umdrehen würde. Aber im nächsten Moment taucht schon Hilde hinter mir auf, so dass David nicht nachfragt und sie stattdessen begrüßt. Ich mache mich schnell daran, mein Gepäck unten im Bus zu verstauen, dann steige ich ebenfalls ein.
Martin sitzt direkt in der ersten Reihe und betrachtet mich feindselig, als ich die drei Stufen hochgeklettert komme.
»Hast es gestern ja noch nett gehabt«, stellt er bissig fest. Huh, hat der eine Fahne, die rieche ich selbst aus einer Entfernung von zwei Metern!
»In der Tat«, erwidere ich und lächele ihn süffisant an. Der soll bloß nicht glauben, dass er mich verunsichern könnte!
»Freut mich für dich!« Er verzieht spöttisch den Mund. »Aber findest du es nicht ein bisschen albern, hier drin die Sonnenbrille aufzulassen … oder kannst du noch nicht wieder gerade aus den Augen gucken?«
Ohne ein weiteres Wort an den Deppen zu verschwenden, marschiere ich bis ganz nach hinten durch den Bus, denn die meisten alten und neuen Kollegen haben bereits ihre Plätze eingenommen. Ich lasse mich neben Tobias auf einen der Sitze fallen.
»Hi, Stella«, begrüßt er mich und wirkt regelrecht hibbelig. »Freust du dich auch so?« Ich denke kurz an den Idioten in der ersten Reihe und gebe ein »Geht so« zurück.
»Guck mal!«, fordert er mich auf, nimmt seinen Rucksack und hält ihn mir hin, damit ich einen Blick hineinwerfen kann. Ich sehe eine Flasche Campari. »Dann können wir uns auf der Fahrt schon mal schön einen genehmigen!«
Ich seufze und schüttele den Kopf. Wie kann es nur sein, dass Tobias noch so ein Kind ist!
»Ich glaube, das lassen wir lieber«, stelle ich fest und fühle mich dabei nahezu mütterlich. Tobias macht ein enttäuschtes Gesicht. Tut mir ja auch leid, dass ich ihm kein guter Spielkamerad bin. Aber Job ist Job, und Schnaps ist – na, Schnaps eben!
»Guten Morgen!« Hilde stößt zu uns, fröhlich lächelnd und bestens gelaunt. Scheint den Schock mit dem Umzug und unserer Reise überwunden zu haben. Sie stellt den großen Picknickkorb, den sie unterm Arm klemmen hat, in der Sitzreihe vor uns ab und lässt sich danebenplumpsen. Irre ich mich, oder gerät der gesamte Bus dabei ins Wanken? Hilde ist mit ihren sicher hundert Kilo wahrlich kein Leichtgewicht.
Kaum sitzt sie, fängt sie auch schon an, in ihrem Korb zu wühlen, und holt Sekunden später ein in Aluminiumfolie geschlagenes Päckchen hervor. »Will einer von euch auch ein Salamibrot?«, fragt sie, während sie es knisternd auspackt.
Salamibrot?
Wenn es etwas gibt, was ich absolut hasse, dann sind es Leute, die in der Öffentlichkeit ihre stinkenden Stullen auspacken. Geruchsbelästigung ist das! Ach was, Köperverletzung! In Verbindung mit meinem Kater spüre ich sofort die Übelkeit in mir aufsteigen, als mir der Duft von Hildes schwitzigem Reisesnack in die Nase steigt.
»Sorry«, keuche ich und springe auf. Verwundert sehen mich die anderen an, während ich durch den Gang nach vorn stolpere. Auf dem Weg kommt mir David entgegen, der mittlerweile auch eingestiegen ist.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, will er besorgt wissen, und ich nehme an, dass ich vermutlich schon grün im Gesicht bin.
»Salami«, ist das Einzige, was ich herausbringe, dann quetsche ich mich eilig an ihm vorbei. Ich schaffe es gerade noch, die Bustür zu erreichen, schon ergießt sich ein Schwall Erbrochenes aus meinem Mund auf den Gehsteig. Natascha, die Volontärin, die draußen steht und gerade den Bus entern wollte, springt erschrocken zurück und rümpft angeekelt die Nase.
»Tut mir echt leid«, ächze ich zwischen zwei Würgekrämpfen. Bloß gut, dass ich heute noch nichts gefrühstückt habe, so spucke ich im Wesentlichen nur Galle aus. Trotzdem peinlich genug, denn natürlich bin ich mit dieser Aktion hier schlagartig im Mittelpunkt des Interesses. Und das leider auf eine Art und Weise, wie ich sie nicht gerade für ideal halte.
Ein paar Mal würge ich noch, dann hat sich mein Magen einigermaßen beruhigt. Ich atme tief durch und drehe mich zitternd um.
Martin Stichler lächelt süffisant und hält mir ein kleines Päckchen hin. »Kaugummi?«, fragt er scheinheilig. Am liebsten würde ich ihn zum Teufel jagen. Aber da ich selbst keine dabeihabe und auch keine Zahnbürste griffbereit, reiße ich ihm die Packung mit einem bellenden »Danke!« aus der Hand.
Als ich wieder ein paar Reihen nach hinten gehe – ich sehe, dass Hilde ihre Stulle weggepackt hat und mir einen betretenen Blick zuwirft –, komme ich wieder an David vorbei. Er mustert mich nachdenklich, und ich gehe davon aus, dass er jetzt vermutet, ich hätte mich gestern furchtbar besoffen. Somit kann ich das Sternchen auf der Pluspunktliste vermutlich streichen. Geht ja gut los.
Ach, scheiß drauf, Stella, sage ich mir selbst, lass ihn glauben, was er will! Und erstaunlicherweise fühlt sich der Gedanke nicht bedrohlich, sondern fast gut an.
»So, da wären wir!« Ich muss eingepennt sein, denn irgendwann reißt mich David Dresslers Stimme aus dem Schlaf. Verwirrt blicke ich auf und wische mir mit dem Handrücken verstohlen ein bisschen Spucke weg, die mir aus dem Mundwinkel getropft sein muss. Hoffentlich hat das keiner gesehen! Immerhin: Die Kopfschmerzen haben sich zu einem beständigen, aber erträglichen Brummen abgeschwächt.
Ich schaue rechts neben mir aus dem Fenster. Unser Bus parkt direkt neben einem Waldstück. Wird das am Ende tatsächlich ein richtiges Survivalcamp, und wir müssen in der Wildnis übernachten? So mit Holz sammeln, Feuer selbst machen und Tiere jagen? Ach, das ist ja Unsinn, mir gehen mal wieder Nerven und Phantasie durch!
»Wir sind hier«, erzählt David – und jetzt verstehe ich auch, weshalb er so laut ist, denn er steht ganz vorne im Bus und spricht in ein Mikro, »ganz in der Nähe des Örtchens Schneverdingen, direkt am Naturschutzpark Lüneburger Heide. Hier werden wir die nächsten sieben Tage miteinander verbringen. Und wenn ihr mal alle nach links guckt«, ich tue wie uns geheißen, »seht ihr auch schon unsere Unterkunft.« Ich muss zweimal hinsehen, weil ich es nicht glauben kann – mir bleibt vor Schreck glatt die Luft weg!
»Aber das ist ja …«, rufe ich entsetzt aus, halte mir dann aber schnell eine Hand vor den Mund, um mich damit selbst zum Schweigen zu bringen.
»Richtig«, bestätigt David Dressler meine düstere Vermutung und sieht dabei so aus, als würde er sich geradezu diebisch freuen. »Das ist eine Jugendherberge. Wir wollen uns hier schließlich auf das Wesentliche konzentrieren, da lenkt uns jeder übertriebene Chichi wie Hotelbar, Restaurant oder Wellnessbereich nur ab. Back to the roots, so lautet das Motto in den nächsten Tagen.«
»Geil!«, kommt es von der Seite. Tobias, natürlich. »Ich hab’s ja gesagt: Klassenfahrt!«