Ein Mann kommt in ein Dorf. Hinter einem Tor bellt ein Hund. Im Giebel geht ein Fenster auf. Für einen Moment blitzt darin das Sonnenlicht auf. Der Mann steht vor einem Benz. Die Frau am Fenster verschränkt die Arme auf einem Kissen, das sie auf die Fensterbank gelegt hat. Der Mann wartet. Er schaut zur Frau hoch. Läuft auf den kleinen, runden Platz. In der Mitte eine Kastanie, rundherum alles neu gepflastert. Er hält ein großes Mobiltelefon an sein Ohr. Die Frau am Fenster, das ahnt der Mann nur, zieht die Augenbrauen hoch. Große Augen macht man hier. Er brüllt ins Telefon: »Thüringen ist das einzige Land, in dem die Frauen No sagen und Ja meinen!«
Mit der Beiläufigkeit eines Könners bricht ein Junge den Mercedes-Stern vom Auto und läuft davon.
Sieben Jahre später erlebt Onkel Egon etwas, was ihm in 31 erfolgreichen Berufsjahren in der DDR nicht widerfahren ist. Kaum zu glauben. Wenn er normalerweise den Fernseher anschaltet und die bunten Lichter der Shows ihn und seine Frau erleuchten und die vertrauten Stimmen der Moderatoren sie umarmen, bleibt sein Leben draußen. »Läuft doch nur Dreck im Fernsehen«, sagt er gern, »aber irgendwie muss man ja |120|den Kopp abschalten.« An diesem Abend ist sein Leben Teil des Fernsehens. Eine Flasche Rotkäppchen-Sekt, halbtrocken und kalt, wird fünf Minuten vor der Sendung mit großem Knall geöffnet. Er setzt sich auf das Sofa. Er seufzt. Er nimmt die Fernbedienung und drückt mit dem Zeigefinger auf den großen roten Knopf. Der Bildschirm des neuen Grundig-Fernsehers schnappt den MDR heran.
Prösterchen. Die Gläser klirren, es sind die Kristallgläser aus der Vitrine in der Schrankwand. Ein kleiner Schluck wird genommen, das Glas auf die grüne, reich gemusterte Tischdecke abgestellt. Sie ist neu. Ein Schnäppchen. Der Moderator hat einen Zopf. Seine Sendung heißt »Mach dich ran«, in 48 Stunden werden hier die Probleme der Bürger gelöst, also Nachbarschaftsstreit, zu wenig Bushaltestellen, marode Spielplätze oder, wie hier, bei uns im Dorf, in dem meine Mutter so viele Baugrundstücke und Bauanträge kennt, im Dorf, wo es eine Dorfkneipe gibt und der Fußballplatz bislang eine grüne holprige Fläche war, auf der unser Anwalt Hans aus Frankfurt am Main nicht gut spielen konnte, und das ein Problem war und man Probleme löst, sagt Hans jedenfalls: »Probleme löst das Fernsehen.« Onkel Egon und unser Anwalt Hans sind die erfolgreichen Macher. Der SED-Funktionär und der Westdeutsche. Sie verstehen sich gut. Sie machen was her. Sie sind wer. Und wenn Onkel Egon jetzt auf den Bildschirm schaut, sieht er sich selbst. »Da bist du, im Fernsehen. Unwahrscheinlich«, sagt Tante Rosi. »Jetzt mal den Schnabel halten«, sagt Onkel Egon. Und dann hört Onkel Egon Onkel Egon zu.
Was man in der Szene nicht sieht, ist, dass ich hinter der Kamera und dem Moderator stehe. Vor zwei Monaten.
»So, Aufnahme«, sagte der Moderator.
»Wie heißen Sie?«
»Egon.«
»Na gut, Egon. Wie fühlen Sie sich mit dem neuen Fußballplatz?«
»Gut.«
»Können Sie etwas mehr sagen?«
»Ja, gut.«
»Noch etwas mehr.«
»Ja, ja, wollte ich doch gerade.«
»Na gut. Also los.«
»Ja, also, wir freuen uns, dass wir mit vereinten Kräften und dank der MDR-Fernsehstation …«
»Das können Sie weglassen.«
»Fußballplatz ist schon toll.«
»Sagen Sie mal, dass Sie einfach glücklich sind.«
»Ich bin einfach glücklich.«
Auch die Lokalzeitung hatte die Dorfinitiative mit Berichten begleitet und Hans Müller interviewt. »Die Ereignisse überschlagen sich« war eine Überschrift.
Aber die Ereignisse hatten sich eigentlich kaum überschlagen. Hans war einfach in ein Dorf gezogen, wo es viele billige Häuser gab, denn die Zahl der Dorfbewohner hatte sich nach 1990 halbiert. Sie schwankte jetzt zwischen 102 und 99, je nach Jahreszeit, denn hier im Dorf sterben die alten Leute lieber im Sommer. Als der Anwalt ins Dorf kam, gab es einen Bevölkerungsanstieg von drei Prozent. Er kam mit seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn. Wir lernten ihn im Sommer kennen, als er in das Bauamt meiner Mutter kam und noch auf der Schwelle erschrocken die Tür ansah und |122|sagte: »Warum gibt es denn hier gepolsterte Türen?« Ich blickte von meinem Malblock auf. Den Panzer, in dem eine Familie wohnt, auf mehreren Etagen, mit vielen geräumigen Zimmern, hatte ich fast fertig gemalt und fragte mich, was denn so komisch war an der weißen, gepolsterten Tür und ob das jetzt was Besonderes war. Dann musste ich zum Zahnarzt.
Meine Mutter zeigte ihm in den nächsten Wochen die leeren Häuser und Grundstücke in Dasdorf und Treustedt. Und bald zeigte Hans meinem Onkel Egon und vielen anderen verängstigten Parteimitgliedern, wie man den Fragebogen zu Parteimitgliedschaft, Stasimitarbeit usw. so ausfüllt, dass man eine neue Anstellung bekommt. Egon, nicht mehr Versorgungsabteilung des Kreises, wollte in die Vertriebsabteilung von Coca-Cola.
Sie wurden Freunde, Egon und Hans. Hans besuchte Onkel Egon in der Plattenbauwohnung. Vom Küchenfenster aus habe ich sie manchmal unten neben der Klärgrube am Klettergerüst ein Bier trinken sehen. Sie lehnten an den Stangen mit dem abgeplatzten Lack – der fremde Mann mit dem beigekarierten Sakko, dem weißen Hemd, den schwarzen Locken, der Nickelbrille und einer Krawatte und der Mann mit dem Seitenscheitel, grau schon die Haare, im Mund eine Zigarette, f6 ohne Filter, der Anzug auch grau. Einmal ging ich nach unten zu ihnen und Egon fragte, ob meine Eltern da seien. »Ja, ja, die sind doch immer da, auf dem Balkon.«
Hans: »Was für ein klaustrophobisches Land. Aber du brauchst eben ’ne Mauer, wenn du anders bist. Ich meine, jetzt huldigen die hier dem wilden Kapitalismus. Und ihr redet euch ernsthaft ein, dass Kommunismus ungerecht ist und falsch. Leute!«
Dann holte Hans sein Diktiergerät heraus und diktierte: »Frau Engler, legen Sie mir bitte die Akten für kommende Woche raus und antworten Sie Frau Pätzold von der Hoch-Tiefbau GmbH wie folgt: …«
Egon: »Ihr Wessis.«
Hans: »Ha.«
Oben umarmten meine Eltern Hans und Egon und redeten, und ich fragte meine Mutter: »Mama, was ist ein Wessi?«
»Es gibt keine Wessis.«
Später wurden Hans und Egon zur Tür gebracht. Wir hörten, wie meine Mutter das Schloss von innen verriegelte, wie sie die Kette vorschob und in die Küche ging.
Der Himmel war so groß wie immer, er wurde rot, orangefarben, Zuckerwattewolken zogen sich so durch. Meine Schwester und ich gingen auf den Balkon. Mein Vater saß da und rauchte. Nein, Quatsch, er rauchte gar nicht. Das bilde ich mir bloß ein. Er hatte nie eine Zigarette in der Hand. Meine Mutter rauchte Zigarren. Manchmal. Wenn Jagd oder Kirmes war. Er saß nur da und starrte vor sich hin und hob sein Bierglas, eins von den bedruckten, auf dem »Jever« oder »Wernesgrüner« stand oder ein Auto drauf war. Die wurden nur zu besonderen Anlässen aus der Schrankwand geholt und wenn Besuch kam natürlich. Birgit und ich küssten ihn auf die Wange und sagten: »Träum was Schönes.« Er sah gut aus. Er sagte nichts. Er brummte. Er hatte mit Hans besprochen, was geschehen war. Die Wende und so. Als wir ihn küssten, trat meine Mutter auf den Balkon, sie hatte auf einem weißen Tablett Bier mitgebracht und eine Flasche Becherovka und zwei kleine Gläschen. Sie stellte das |124|Tablett ab. Dann umarmte sie uns, küsste uns auf den Mund, und wir gingen in unser Zimmer.
In meiner Erinnerung sehe ich die beiden, wie sie in den roten Himmel schauen, wie im Kino. Ein Bussard fliegt im Kreis, bleibt in der Luft stehen und kracht im Sturzflug Richtung Erde. »Was für ein Drama jeden Tag um uns herum«, sagt mein Vater und lächelt. Ich höre die brummende Stimme von Stefan Meyer, unserem Nachbarn, und den Kindern, die noch wach bleiben dürfen, ich sehe meine Mutter ihre Hand auf die Schulter meines Vaters legen.
Die Rollläden aus braunem Papier sind heruntergezogen, und das ganze Zimmer leuchtet orange. Es ist warm und hell, und wir liegen beide in meinem Bett, weil wir sowieso nicht schlafen können. Wir hören ein Klopfen, Pfeifen, immer wieder. Klopft jemand an eine Scheibe? Pfeift da die Mutter? Eigenartige Stille. Wie im Zentrum eines Orkans. Nicht gut. Wir schauen uns an. Birgit zieht eine Augenbraue hoch. Haben wir hinter uns die Balkontür zugemacht? Also, kann es sein, dass ich die Tür von innen verriegelt habe?
Wir steigen aus dem Bett, schleichen über den Flur, öffnen leise die Tür zum Wohnzimmer. Und da sehe ich, wie sie beide an der Scheibe stehen, die Hände um das Gesicht gelegt, um hereinschauen zu können.
Mein Vater steht an der Glastür, er hämmert wie ein Bekloppter gegen das Glas.
»Andrea?«
»Ja?«
»Was machen wir jetzt?«
»Scheiße.«
Pause.
|125|»Geh mal hin und mach ihnen die Tür auf, Birgit.«
»Bist du bescheuert? Du hast die Tür zugemacht.«
»Scheiße.«
»Scheiße.«
Ich starre den Samowar an, den Ofen, den runden Tisch, die Tapete, die ein Holzmuster zeigt, den grünen Teppich, die zwei Hibiskusbäume, die bei unserer Geburt gepflanzt worden sind. Hibiskus. Lebensbaum. Ich habe vor ein paar Jahren hineingeritzt in die Rinde von meinem Lebensbaum, darunter war hellgrünes Holz. Im Schrank verstecken? Keine gute Idee. Im Schrank wird man schnell gefunden.
Ich starre auf das Kupferbild, auf dem eine Frau mit Bogen zu sehen ist. Ich will hineinrennen, in das Bild hinein, ich brauche den Bogen, dringend, ich brauche einen Notausgang. Ich sehe mich um. Keiner zu sehen. Einzige Möglichkeit: Balkontür öffnen.
Nicht einmal eine Lüge könnte die Situation retten. Das hat man schon gelernt. Die Uhr zurückstellen bei Verspätungen, Wer-hat-Fragen sofort verneinen. Lügen lernen.
»Dann geh jetzt besser ins Zimmer und leg dich in den Bettkasten«, sage ich zu Birgit.
Sie geht. Ich gehe zur Balkontür und beuge mich, mit einem Bein schon in gegenüberliegender Fluchtrichtung stehend, nach vorn, strecke den Arm, so weit es geht, nach vorn, alles dehnt sich. Mit Daumen und Zeigefinger drücke ich die Klinke nach oben. So, offen. Rennen. Denn jetzt beginnt die Jagd. Die Wohnung ist jetzt gar nicht mehr groß.
Ein bisschen fange ich an, Birgit zu hassen. Ich bin eifersüchtig, weil sie im Bettkasten liegt und vergessen worden ist. |126|Und Michel schläft. Als Einziger hat er ein eigenes Zimmer. Das tut mir auch leid. Da ist man allein. Am nächsten Morgen kommt er verpennt aus seinem Zimmer. Wir treffen uns im Badezimmer vorm Spiegel und kämmen uns den Pony zur Seite.
Ich: »Ich würde gern fliegen können.«
Er: »Da müssen wir zaubern.«
Ich: »Wie?«
Er: »Da müssen wir eine Hexe fragen.«
Ich: »Wo wohnt die?«
Er: »In den Bergen.«
Irgendwann später holt uns Hans zum Rummel ab. Wir fahren mit allen Karussells, die es gibt, und Birgit muss sich hinsetzen, an den Rand einer Teetassenachterbahn, und dann kotzen. Dann gehen wir zu einer Wahrsagerin. Ein kleines, blaues Zelt hat sie, und am Eingang bekommen wir so einen Prospekt zu unserem Sternzeichen, wo hinten auch unsere Glückszahlen draufstehen. Die Zettel schmeißen wir gleich weg.
Auf einem kleinen, gesprenkelten Schild, silberrosa mit gelben Pünktchen, steht: Betty Patzig – Zukunftsmanagerin. Ein Aufsteller im gleichen Muster wirbt für ihre buddhistische Thaimassage. In einem Glaskasten vor dem Zelt Zeitungsartikel mit Fotos. Ein Horoskop kann man sich von ihr auch erstellen lassen. Vor dem Zelt eine lange Schlange, manche Leute lesen Zeitung: »Steht wieder nur Mist drin.«
Betty Patzig ist Mandantin. Zu schnell gefahren auf der Autobahn und geblitzt worden, betrunken gewesen und dann in Erfurt in einer schmalen Straße links und rechts stehende |127|Autos gerammt. Schaden 200 000 Mark. Wir lachen. »Betrunken kann sie nichts sehen«, sagt Hans. »Eine witzige Schlaumeierin, hat mal im Orchester gespielt, leider zu blau, wir gehen mal weiter.« Neben dem Wahrsagerzelt ist ein Losstand. Hans kauft drei Lose. »Die hatte schon vor der Wende Probleme. Total unangepasst. Komisch, jetzt ist es nicht besser geworden.« Birgit schreit kurz auf. Sie hat einen Kugelschreiber gewonnen. Sie sucht sich eine rosafarbenen Glitzerkugelschreiber aus, wo »Hoch-Tiefstapelbau« drauf steht. Wir gehen weiter.
Hans: »Da ist mit den Jahren unter der Käseglocke eine Kultur entstanden, die ihresgleichen sucht. Ein Land der Größe von Nordrhein-Westfalen hat drei Orchester. Drei Weltklasseorchester.
Die Partei hat ja weitgehend gar nicht verstanden, was da vor sich ging. Sie haben das erst gefördert und dann nicht mehr kapiert. Die Kunst ist über den Staat hinausgewachsen. Oder auch, dass durch die Verbannung einiger unliebsamer Regisseure in der Provinz teilweise glänzendes Theater entstanden ist und Einfluss hatte, ob das die Parteipolizei nun wollte oder nicht. Theater war das, mit einer wahnsinnigen Subtilität, die es bei uns gar nicht gab in der Form.
Künstler waren in der DDR die einzige Gruppe, die das machen durfte, was sie konnte. Ich kenne die DDR ja, verzeih, aber viel länger als du. Das ist altersbedingt. Und wir haben uns schon Sachen mit dieser Faszination angesehen. Da standen Leute auf den Bühnen, die für das Publikum formulierten: Schaut mal her! Wir sind gezwungen, alles unter Niveau zu machen, aber hier nicht, hier sprechen wir auf hohem Niveau. Das konnte ja niemand.«
|128|Er geht geistesabwesend zu einem Zuckerwattestand. »Dreimal bitte, ganz groß … So ist das ja mit den Parteikadern, mit den Spitzen, dass die im Grunde die Arbeiterklasse verachtet haben. Das haben schon Liebknecht und Luxemburg erkannt, dass man, wenn es so einen Staat geben würde, eine ganz andere Partei braucht. Die Masse in der DDR, das waren ja auch überhaupt keine Arbeiter.«
Wir halten die Zuckerwatte und bleiben noch etwas, weil es so gut riecht oder weil Hans einfach nicht weiterläuft. »Die Ingenieure«, sagt er und wedelt mit seiner Zuckerwatte, als wäre die Zuckerwatte ein Ingenieur, »waren zum Beispiel durchaus in der Lage, richtige Autos zu bauen, sie durften nicht.« Wir laufen ein Stück.
»Können wir Lose kaufen?«, frage ich.
»Nur in der Kultur, leider nur dort, fand eine einzigartige Selbstvergewisserung statt, es war auch den Kommunisten nicht möglich, sich nur auf kommunistische deutsche Kultur zurückzubesinnen.«
Er lacht. »Die gab es ja gar nicht. Also musste man die ganze deutsche Kultur erben. Man durfte die Leute da ja noch zwingen, ins Ballett zu gehen.«
»Igitt«, sagt Birgit.
»Lose kaufen?«
»Eigentlich irre, was so ein kleiner, verkrampfter Staat alles hervorgebracht hat.«
»Weiß nichts davon«, sagt Birgit.
»Ist ja auch wie vergessen. Jetzt rennen sie zu Wahrsagern und in Autohäuser. Vom Westen aus haben das auch nicht viele Leute so gesehen. Nur ganz wenige Künstler, Schriftsteller, Musiker sind überhaupt noch bekannt.«
»Wozu?«
|129|»Weil sie gut waren, und du musst doch deine Herkunft kennen. Ich jedenfalls dachte erst, wenn ich im Osten bin, dann finde ich all das wieder. Aber es ist weg.«
So geht der Tag zur Neige und unsere Zuckerwatte auch. »So ein großer Haufen Zuckerwatte und am Ende sind’s wahrscheinlich nur fünf Stücke Zucker. Erzählt das mal besser euren Eltern nicht. Wollt ihr noch einen Schokoapfel?«
»Cool«, rufen wir.
Hans dreht auf seinem neuen Fußballfeld eine Runde wie ein König durch seinen Park. Vom Spielfeldrand aus schauen die Dorfbewohner ihm zu. Sie bewundern ihn. Oft wird er zum Essen eingeladen. Die Frauen schenken ihm Sekt.
Hans ist ihr Anwalt, ihr Verteidiger, er hat sie gegen die Welt zu verteidigen. Und vor der muss man sich in Acht nehmen, von hier aus, von Osten aus gesehen. Wer hätte denn gedacht, dass es im Kapitalismus wirklich nur um Zahlen und Fakten geht und nicht um Anstand. Seit ein paar Jahren erst, vielleicht erst seit 1995, sagen die Ostdeutschen von sich selbst, dass sie eben Ostdeutsche sind, nicht Bundesbürger. So eine Verarsche sei das alles gewesen, die Wende, die Einheit. Und jetzt identifiziert man sich doch tatsächlich mit etwas, auf das man geschimpft hat damals, geschimpft und verflucht und es hingenommen, aber das nun seit sechs Jahren gar nicht mehr existiert.
Der Anwalt war auch unser Beschützer, und das machte ihn irgendwie unantastbar. Wann immer man ihn sah, hatte er Geschenke von Dorfbewohnern im Arm: Eier zum Beispiel, ausrangierte Stühle, antik, ein oder zwei sorgfältig |130|eingewickelte und mit lockig gezogenen Geschenkbändchen versehene Flaschen, die er bei sich zu Hause aufbewahrte: »Immer Spumante, immer nur Spumante«, sagte er, und ich wusste nicht genau, was er damit meinte.
Er vertrat die großen Baufirmen, die sich hier niedergelassen hatten und um die Millionenaufträge konkurrierten. Es sind die Geschäftsführer dieser Baufirmen, die hier die großen Höfe gekauft haben und Pferde besitzen, die der freiwilligen Feuerwehr beitreten, das Spanferkel spendieren und ihren Porsche um die Schlaglöcher schlängeln.
Er vertrat den Bürgermeister, der ihn oft zum Bier einladen wollte, die Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen der Bauämter und Banken versorgte er mit Blumensträußen. Auf Dienstreise war er nicht allein.
Dann gehen alle in die Dorfkneipe. Lucian, David und Jule und ein paar Leute aus unserem Viertel, auch Stefan Meyer und seine Familie sind gekommen, um auf der braunen Erde einen Fußballrasen auszurollen. Wir gehen in die Kneipe. In der Dorfkneipe wird schon getanzt. Jemand gibt uns ein Halbliterglas Bier. Wir schütten es runter. Mit einem Tempo wie unbeaufsichtigte Schüler auf Klassenfahrt. Wir sind unbeaufsichtigte Schüler. Wollen wir tanzen? Wir tanzen. Unbeholfen. Sofort heftig schwitzend. 99 Luftballons. Auch Nirvana, später. An der einen langen Tafel, die es gibt, reden die Alten sich die Köpfe rot, als gäbe es Kriegsgefahr.
Unter dem Druck einer als feindlich empfundenen Welt legte das Dorf alle wichtigen Belange in Anwaltshände: Verantwortung, Vermögen, Freizeit. Das Eindringen des Westdeutschen war als Aufwertung empfunden worden. Er passte auf sie auf. Denn draußen war der Feind, und der glaubte |131|jetzt sogar Stasiakten. Das müsse man sich überhaupt einmal vorstellen: Nun werde der Stasi geglaubt. Alles, was die kritzelten, würde wahr werden, Wahrheit sein. Die Stasi! Wer keinen Täter nennen konnte, musste selbst einer sein, und wer nicht einmal zum Täter ernannt wurde, hatte ja gar keine Geschichte, jedenfalls keine interessante. Zwei Fragen galt es einander zu stellen: Hast du eine Akte? Warum nicht?
Die Stasiakten werden gehandelt wie Wertpapiere. Sie sind der Seismograph einer Karriere und unantastbar, wie von objektiven, uneigennützigen Beobachtern verfasst. Als sei die Stasi eine Protokollstelle gewesen. Aber es waren Verbrecher, Unterdrücker, und zwar kraft der Information.
In der Dorfkneipe schüttelt der Wirt hinter dem Tresen den Kopf: »Kaum zu glauben, holt der Hans hier das Fernsehen her. Das kann nicht sein. Kann man sich einfach nicht vorstellen. Wo gibt’s so was? Einfach so einen neuen Fußballplatz.«
Hans setzt den Bierkrug an und schluckt, gluck, gluck, gluck, gluck, gluck, seufz. »Wisst ihr Ossis was? Ihr denkt immer nur ans Verlieren. Kein Wunder, dass ihr alles verloren habt, in euren Köpfen gibt es so etwas wie Gewinnen nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Erfolg überhaupt niemals in Erwägung gezogen wird. Ihr habt Angst vor dem Risiko und riskiert damit alles.«
»Wir haben nur keinen Bock, die gleichen Arschlöcher zu sein wie ihr«, sagt der Wirt.
»Ich bin kein Arschloch.«
»Nööö, also der Hans ist kein Arschloch, das kannste so nicht stehen lassen.«
»Das Bier ist zu warm«, sagt Hans.
|132|»Komm, wir fahren in die Stadt und besaufen uns«, sagt Jule. »So langweilig.«
David und Jule haben beide einen Simson-Roller, der es bei freier Fahrt auf 55 Stundenkilometer bringt. Im Sommer kleben kleine Fliegen am Visier. Wir fahren durch die Nacht, über die Landstraßen, durch Kastanienalleen oder über das Kopfsteinpflaster vor der Einfahrt nach Buchenwald. Wir rasen durch die Goetheallee, an der Post und am russischen Friedhof vorbei, bis ans andere Ende der Stadt, und da setzen wir uns irgendwohin und haben vergessen, etwas zu trinken zu kaufen. Wir steigen auf den Roller, es geht weiter, dann stehen wir auf dem Marktplatz und gehen in den C-Keller, gleich rechts neben dem Hotel Elephant, da ist immer wer, Punks, Studenten, da kennt man alle, da trinken wir eine Vita Cola und Bier. Dann gehen wir in die Gerberstraße, da gibt es ein besetztes Haus, da ist es richtig abgefuckt, da kostet ein Teller Spaghetti 2 Mark 50, wenn man hochgeht, gibt es Matratzen, auf denen liegen zwei Heroinjunkies. Wir treffen einen komischen Typen, der verkauft uns Pilze. Essen, Wasser trinken. Wir gehen auf die Straße, eine runde Mülltonne brennt, Punks sitzen auf Bierbänken drum herum und Frauen in Hanfkleidern und Perlen im Haar.
Die nächsten Monate sind genauso wie die letzten. Geographie haben wir bei Frau Schreck, sie träumt davon, mit dem Motorrad durch die USA zu fahren, mit ihrer Mutter. In Geschichte wird ein Ausflug geplant: »Auf nach Buchenwald.« Sagt Herr Stubendorff. Wir stöhnen.
»Andrea, du bereitest bitte mit David zusammen einen kleinen Vortrag vor.« Ich bin beruhigt. David ist ganz gut darin. Jedenfalls seit er ein Referat über Kafkas Verwandlung |133|verhauen hat, weil er die ersten zwei Seiten übersprungen hatte, weil da ja nie was passiert. Bis zum Referat hat er sich über die Geschichte gewundert. »Samsa, was ist eigentlich dein Problem?« Das fand ich ganz interessant, denn sonst begreift jeder, dem nicht alle Hirnzellen verbrannt sind, dass es Käfer in dieser Welt nicht gut haben. Ungünstig, wenn man sich in einen verwandelt. Weil es eine Metapher ist, hat die Verwandlung aber offenbar dann doch nicht stattgefunden. Ich würde gern einmal zurückspulen und das Buch das erste Mal lesen, und zwar ab Seite drei. Das Problem eines Außenseiters ist doch nicht, dass er sich wie ein Käfer fühlt. Denn die Gesellschaft denkt da nicht an Kafka, denkt nicht so romantisch, denkt nicht, dass hier einer irgendwie anders ist. Man denkt eher so: »Samsa, reiß dich zusammen.«
Der Platz ist übersichtlich. Egal, wohin man läuft, fluchtartig irgendwohin, wo nichts ist. Was sollen wir uns angucken, wo bekommen wir die Horror-Holocaust-Show? Ist doch nichts hier. Zerstreuung. »Hier das ist der Appellplatz und da, umdrehen, sind die Baracken gewesen.« Nichts mehr, worauf zu zeigen wäre. Kies, grau, der Himmel hängt tief. Als wäre der Berg so hoch, dass man mit dem Kopf an den Himmel stoßen könnte. Appellplatz und die Häftlingsbaracken sind eines. Nur kleine Schilder zeigen auf die längst abgerissenen Baracken.
Unter den Mädchen wird die total beliebte Mengele-Literatur besprochen. »Ja, weißte noch, wie die denen die Haut, Zähne, krass, ne?« Ich bekomme einen Zettel: »Hi, wie wär’s mit uns? Was machst du am Nachmittag?« Kein Name drunter. Herr Stubendorff erzählt von der Hexe von Buchenwald. Sie habe rote Haare gehabt. Täglich sei sie |134|durchs Häftlingslager geritten und habe tätowierte Männer als Lampenschirme ausgesucht. Ich stelle mir eine Frau mit brennenden Haaren auf einem schwarzen Ross vor, das Haizähne hat. Einige schreiben fleißig mit. »Was, was? Hat er Tattoo gesagt? Welche Haarfarbe hatte die?«
»Sag mal, Anika, seh ich das richtig, dass du dir ’ne Zigarette anzündest?« Herr Stubendorff ist ungehalten.
»Hä, was?«
»Mach sofort die Kippe aus.«
»Darf ich noch einmal ziehen?«
»Was?«
»Boah, das bisschen Rauch stört hier bestimmt keinen mehr.«
»Der Rauch«, das hören wir den Leiter der Gedenkstätte einer von einem dicken Parfumschleier umhüllten Rentnergruppe sagen, die da gerade und gesund und vor allem recht schlank auf dem Appellplatz steht. Perlenketten sind zu sehen und Seidenblusen und weiße Turnschuhe. »Der Rauch«, sagt der blasse Leiter, »drückte auch schon ins Tal und Ruß war auf den Straßen. Am Ende versagten hier die Krematorien, weil so viele Leichen verbrannt werden mussten. Die sind mit Transportern nach Weimar gefahren worden, und da fiel schon mal eine Leiche auf die Straße … Mach sofort die Kippe aus, Anika. Sofort, hab ich gesagt. Weg damit! Das darf doch nicht wahr sein. Du bist im Konzentrationslager!«
»Ach ne!?«
»Ich würde dich gern küssen«, sagt David. Wir küssen uns als sei es das erste Mal.
Die Sonne scheint. Der Wald rauscht. Im Ethikunterricht hat die Klasse einmal darüber abgestimmt, welche Regel, |135|welcher Leitsatz dem Menschen am besten steht. Heraus kam: »Jedem das Seine.« Jedem das Seine, das sei eigentlich ein richtiger Satz. Jeder bekommt das, was er braucht. Ich habe vergessen, wie das Gegenteil von »klaustrophobisch« heißt, aber so fühlt es sich in Buchenwald an. Man kann sich nirgends verstecken. Nur ein großer, weiter Platz. Jedem das Seine. Als die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, denke ich: Ist nur die Frage, wer das entscheidet.
»Und dann kamen die Russen und haben uns befreit«, beschließe ich einen kurzen, improvisierten Vortrag.
Herr Stubendorff nimmt mich zur Seite: »Die Alliierten haben Buchenwald befreit. Das ist aber nicht schlimm, weil, wir haben das ja alle so gelernt, dass die Russen eben kamen. Und uns alle befreit haben.«
»Die, ähm, na, die Engländer haben Buchenwald dann befreit.«
»Danke für den kleinen Vortrag, schade, dass deine Mutter nicht hier hochkommt, die hätte uns sicher spannende Geschichten erzählt.«
»Bestimmt. Aber sie kommt nicht hierher. Niemals.«
Eine Gruppe Asiaten verlässt das Krematorium und läuft Richtung Ausgang. Sie fotografieren nicht mehr viel. Sie gehen an unserer Schulgruppe vorbei und lächeln und bleiben stehen und hören etwas unserem Lehrer Herr Stubendorff zu, der dadurch noch einmal Fahrt bekommt und etwas lauter seinen Vortrag über die Hexe von Buchenwald spricht. Es schaudert alle. »Wie fanden Sie es denn hier?«, fragt der Lehrer in die Gruppe der Asiaten hinein. »Schön, sehr schön ist es hier«, sagt eine Frau in gebrochenem Deutsch. »Woher kommen Sie?«, fragt sie.
|136|»Na von hier«, sagt David.
»Aus Weimar«, sage ich.
»Ach wirklich? Ihr zwei seht gar nicht so aus.«
Ich schaue David an. Er schaut mich an. Er zieht die Hose etwas hoch. Ich klopfe einen Fussel vom Pullover.
Einige Wochen später betritt ein Mann das Klassenzimmer. Er hat einen grauen Anzug an und ein weißes Hemd. Er ist groß und schlank und hat eine Frisur. Er sagt, er kommt von der Friedrich-Naumann-Stiftung und wir können hier unsere Adresse eintragen, und dann bekommen wir Informationsbroschüren darüber. Heute sei er gekommen, um uns über die DDR aufzuklären. Unsere Klassenlehrerin nimmt in der ersten Reihe Platz.
»Wer kennt die Stasi?«
Drei melden sich. In den nächsten zwei Stunden hören wir, dass an der Grenze Menschen erschossen wurden. Das wusste ich nicht. Er berichtet von zwei Jungen, die die bescheuerte Idee hatten, nachts mal an die Grenze zu laufen, um einfach mal zu gucken, was da so los ist. Einer von ihnen wurde erschossen. Es gab Selbstschussanlagen und Abhörmethoden. Irgendwie sind alle geschockt. Mehr über die Tatsache, dass es uns keiner so deutlich gesagt hat bisher. Es war so peinlich, dass wir später so taten, als wäre das alles nichts Neues gewesen. Aber unsere Lehrer haben wir ab dem Zeitpunkt anders angesehen.
Er schließt seinen Vortrag: »Wenn auch noch in zehn Jahren kein Schulunterricht die Vergangenheit der DDR behandelt hat, dann hat die DDR für diese Generationen nie existiert.«
|137|Hans sehe ich erst viele Jahre später. Er rief mich an und sagte mir, dass es einen Skandal gebe, den ich mir schon aus Unterhaltungsgründen unbedingt ansehen müsse. Es ist der 1. Juni. Bei meiner Mutter hole ich zuerst mein Kindertagsgeschenk ab (darauf bestehen wir alle gleichermaßen, auch nach Volljährigkeit). Bis heute gratuliert mir nämlich meine Mutter zum Kindertag. Das ist also der 1. Juni. Ich kann mich an den Kindertag besser erinnern als an meine Geburtstage. Die Geschenke sind klein, besonders und praktisch. Fußball, Technokassette, Werkzeugkoffer. In diesem Sommer fahre ich nach Weimar und bekomme den alten Samowar, den mein Vater aus Russland mitgebracht hat. Ich habe darum gebeten, auch aus Angst, er würde irgendwann weggeworfen werden. In meiner Wohnung in Berlin gibt es keine Küche. Ich kann nicht kochen, außer Tee und Kaffee. Ich nehme den Samowar und fahre dann wieder in die Innenstadt, dort warten Hans und Onkel Egon auf mich. Sie hassen sich inzwischen. Wenn sie sich sehen, der Frauenschwarm aus dem Westen und der ehemalige Funktionär, ist es, als würden sich Terminator und X-Man treffen: Jede Liebkosung kann auch ein Tötungsversuch sein. Aber heute sind sie eine Fahrgemeinschaft. Denn im Osten, habe ich jedenfalls oft erlebt, wird eine persönliche Beziehung den äußeren, praktischen Zwängen untergeordnet. Und das, obwohl sie es zusammen geschafft hatten, das Land neu zu ordnen. Hans und sein schwarzer E-Klasse-Mercedes mit beige-, also champagnerfarbenen Ledersitzen, weich, zugemüllt mit dicken Kommentarbänden zur Straßenverkehrsordnung, Schriftsätzen, Leitz-Ordnern, Pappkartons von McDonald’s (Big Macs, die wir vorhin beim Drive-in bestellt haben, lachend, große Coke). Es riecht seltsam (kommt vom Big Mac, nehme ich an). Alte Milchpackung unterm Sitz, |138|checke das Ablaufdatum, schiebe die Packung wieder unter den Sitz. Auf dem Rücksitz: drei gebügelte weiße Hemden, eine geplatzte Packung Druckerpapier, ein dunkelblaues Sakko mit goldenen Knöpfen. Zusammengenommen: niedliches Chaos. Schönheit. Bernie trägt den Samowar wie eine Zuckertüte und sitzt hinter dem Beifahrer zwischen den Papierbergen, halb auf einer leeren braunen Papphalterung für zwei Coffee-to-go-Becher. Er beobachtet den Tachometer. Unser Ziel ist ein Dorf, das zweimal am Tag von einem Bus angesteuert wird, morgens 6 Uhr 30 und am Abend um 18 Uhr 30.
Heute ist Sonntag, und am Sonntag fährt der Bus gar nicht. Hans nimmt auf dem Beifahrersitz Platz und zündet sich umständlich eine Zigarette an. Bernie fordert, das Fenster zu schließen, ihm zieht’s. Er hustet und schlägt den Kragen hoch.
Damit jeder sehen kann, dass die luxuriöse Luxusausgabe der Luxusklasse von supercoolen Leuten gefahren wird, leg ich das linke Bein über das Armaturenbrett. Und draußen fährt der wilde Osten vorbei. Neben mir mein Anwalt. Was machen wir, wenn wir angehalten werden? Ob ich schon davon gehört habe, fragt Hans, dass das Universum in zwei Milliarden Jahren zusammenkrachen werde. Dann sei sowieso Sense.
»Weißt du, worum es heute geht?«
»Ne. Ja. Nicht so richtig.«
»Mein Freund, der Fürst Dingsbums, mit dem ich übrigens in Göttingen …«
Hans erzählt von der Inneneinrichtung des Fürstenschlosses und wie der damals noch Prinz von und zu Dingsbums ihm einen ganzen Nachmittag lang vorgeführt hat, wie man auf einer Chaiselongue zu liegen habe, welches Kissen den |139|Nacken und welches den Arm optimal stütze. »Das klingt vielleicht nach enormer Langeweile«, sagt Hans und schaut mich vorwurfsvoll von der Seite an, aber was wolle man machen mit so viel Schloss und, ja, die Ehe, man lasse sich zwar gegenseitig beschatten, sei aber von den Ergebnissen inzwischen auch gelangweilt. Sie sei ja auch eine Schlampe. Die Leidenschaft für eine Chaiselongue, die habe er teilen können. Um es abzukürzen: Ob ich noch zuhöre. Ja! Ob wir den Fürsten mal gleich anrufen sollten. Nicht unbedingt.
Er wählt am Display im Armaturenbrett (Brett? Leder und lackiertes Wurzelholz natürlich). Es tutet. Kein Prinz. Auch kein Fürst.
Hans, der Anwalt unseres Viertels, ist bei den Frauen inzwischen noch begehrter. Seine Scheidung ist so langsam durch. Einmal habe ich bei einem Grillfest beobachtet, wie Elisabeth Schneider mit ihm ins Paradies ging. Nach 20 Minuten kamen die beiden wieder zurück. Niemand hat je erfahren, was in den 20 Minuten passiert war. Hans hat das Fernsehen geholt und gezeigt, wie in unserem Viertel ein Sportplatz entsteht, innerhalb eines Tages, Hans geht noch immer gern zum Kiosk und trinkt mit den Männern dort Bier und Schnaps. Er achtet darauf, extrem gut angezogen zu sein. Er hat die Hälfte seiner Mandanten verloren und die andere Hälfte ist pleite. Es sind die großen Baufirmen, die nicht nur ihren Anwalt nicht bezahlen, auch Tischler und Maler und was bei einem Haus noch so nötig ist. Wenn man mit ihm sprechen will, erreicht man ihn selten. Fast alle Verfahren hat er verloren, wir lieben ihn trotzdem. Er ist alt geworden.
Als ich umständlich am Schloss parke, sehe ich die ersten Glühwürmchen in diesem Jahr. Der Gemeindesaal ist voll. |140|Alte Männer, meist Bauern mit Schiebermützen und Blicken wie von hungrigen Bären, sitzen vor einem Rednerpult. Der Prinz steht in einer Ecke, er hat zwei Sekretäre, einen Notar und einen Anwalt mitgebracht. Es gibt schon einiges Geschrei im Publikum, die Diskussion geht los, noch bevor der Bürgermeister zu reden beginnen will. »Soll es denn, liebe Genossen, wieder eine Feudalherrschaft geben«, ruft einer aus dem Publikum, »in der wir Bauern unterdrückt werden? Wir wollen hier keinen Adel. Das Schloss ist unsers.« Das sind, in etwa zusammengefasst, die Worte, mit denen das Publikum den Abend einleitet.
»Nun is ma gut. Ruhe, meine Herren«, sagt der Bürgermeister. Er habe ein paar Probepackungen Cornflakes mitgebracht, die würden nun erst mal verteilt werden. Er dreht sich um, denn Hans, der Prinz und ich sitzen hinter ihm, und er sagt: »Cornflakes, das ist so ein guter Eisbrecher.«
Der Bürgermeister räuspert sich und spricht wieder zum Publikum. »Ja nun, wir wollen ganz ruhig miteinander reden.«
»Es ist genug. Uns steht’s bis hier. Das ist Enteignung!«, ruft einer aus der Menge, nicht zu orten. Egon setzt sich händeschüttelnd zu den Bauern.
Ich suche mir einen Platz, gehe an der Schrankwand entlang, die im Gemeindesaal steht. Silberne Pokale und Kelche stehen darauf. Ich ziehe im Vorbeigehen den Zeigefinger der linken Hand darüber und wische ihn an meiner Hose ab.
Weiter hinten im Saal stoße ich auf ein Bild von Erich Honecker. Was hat sein Bild, und zwar das Porträt mit hellblauem Hintergrund, mit den blassen Farben, wo Hemd und Gesicht verschmelzen, hier zu suchen? Es hängt über |141|einer schönen lackierten Biedermeier-Kommode. So ziemlich auf Augenhöhe. Ich sehe dem Mann direkt in die Augen. Das sind die Augen, denke ich, die in diesem Moment einen Fotografen sehen. Das Gesicht ist völlig ausdruckslos. Es wirkt künstlich. Denkt einer in so einem Moment? Was? Es ist unheimlich. Einige Flecken unbestimmter Herkunft liegen auf seinem linken Brillenglas. Es gab eine Zeit des Sozialismus, da hatte er so etwas wie Glanz. Glamour, wenn man so will. Da besuchte Margot Honecker Paris, trug Ballkleider und ging in die Oper. Glamour hat für mich nichts Künstliches. Aber dieses Bild von Honecker ist künstlich. Ein Mann starrt in die Kamera, völlig ausdruckslos, total neutral, total tot.
»Sie haben hier was vergessen«, sage ich zu einem der Männer.
»Ne, ham wir nicht vergessen.« Er lacht. »Das ist so ein Scherz, die Gäste finden das immer lustig, kommen ja viele von drüben.«
Das ist Ironie im Osten. Wie im Zoo. Er zeigt mir einen Trabi-Schlüsselanhänger. Ob ich einen kaufen will. Ne, danke. »Wird sonst viel gekauft. Vor allem junge Leute mit Turnschuhen. Aus Bochum und so.«
»Das Schloss wird nicht verkauft«, brüllt Egon, was sonst gar nicht seine Art ist. Die Fenster sind geschlossen. Es wird heiß und laut im Saal. Das Publikum hebt die Fäuste. »Weg mit dem König.«
Nach dieser Versammlung, die im selben Ton noch eine Weile so weitergeht, stehen Prinz, Hans und ich draußen. Rauchen. Ich muss die ganze Zeit auf die Krawatte des Prinzen schauen, die zur Hälfte in der Weste steckt. Darauf sind Rosen, weiße und rote auf dunkelblauer Seide. Nie seither |142|eine schönere gesehen. »Die Stadt hat gerade von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht«, sagt Hans, »Und die Bauern hier schießen das Geld vor. Plötzlich. Arschlöcher.«
Der Bürgermeister huscht an uns vorbei, er öffnet die Tür seines silbergrauen Audis und ruft uns vom Parkplatz zu: »Komme nie mit leeren Händen, bleibe nie länger als zwei Minuten.«
»Er will richtig in die Politik gehen«, sagt Hans.
»Hätte ein schönes Weingut werden können, wir probieren es weiter«, sagt der Prinz.
Eigentlich verfällt das Schloss schon eine Weile. Es befindet sich in keinem guten Zustand. Ein schlechtgehendes, schlechtes Wirtshaus ist in das Erdgeschoss hineindekoriert. Schön ist nur die Fassade, im Innern des Schlosses bröckelt der Putz von den Wänden. Die Steintreppen sind so abgenutzt, dass man darauf Ski fahren könnte, abschüssiges Gelände. Die oberen Etagen sind kalt und leer. Der Prinz, aus einem alten Fürstentum in Niedersachsen stammend, stand kurz vor dem Abschluss eines Kaufvertrags, um ein Weingut, ein anständiges Restaurant und die notwendigen Renovierungen in Gang zu setzen. Aber plötzlich hat sich Widerstand geregt. Das Gut, bisher im Besitz der öffentlichen Hand, wollte niemand kaufen. Die Kosten sind sehr hoch. Auch ein schöner Park ist dabei, schlecht gepflegt, aus dem 18. Jahrhundert. Hans besichtigt die erste Etage und überlegt, seine Kanzlei in das Schloss zu verlegen. Den Wirt des Restaurants nennt er einen besonderen Menschen und meint damit einen, der viel trinkt. Wir sitzen noch eine Weile mit ihm zusammen. Er erzählt, dass die Bauern hier die eigentlichen Wendegewinner sind. Alles ehemalige |143|LPG und sonst was SED-Wursthändler. Haben das Land nach der Wende aufgeteilt.
Man sehe es ihnen ja nicht an. Aber denen gehöre hier alles. Die schimpften auf den Wessi und dabei gebe es hier weit und breit keinen Wessi. Jeder Zweite sei hier Millionär. Im Handelsregister könne man das nachsehen, wie viele hier stille Gesellschafter seien, immer mit mindestens 50 000 dabei. Das Schloss kauft die Stadt nicht mit eigenem Geld. Es ist das Geld der Bauern. Wie viel Schotter hier liege, das wolle man gar nicht wissen. Die verhinderten, sagt der Wirt, dass etwas Anständiges mit dem Schloss geschehe. Traurig.
Der Prinz prostet mit einem großen gezapften Pils dem Wirt zu. Cheers.