5
Wahnsinn
Also …«, sagte Matt auf der Heimfahrt. Ich legte die Stirn an das kalte Glas des Autofensters und weigerte mich, ihn anzusehen. Seit unserem Aufbruch hatte ich so gut wie nichts gesagt. »Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über alles Mögliche«, erwiderte ich ausweichend.
»Nein, erzähl es mir«, beharrte er. »Was war los?«
»Ich habe versucht, mit ihr zu reden, und sie hat sich aufgeregt«, seufzte ich. »Dann hat sie mich als Monster bezeichnet. Alles wie immer.«
»Ich weiß nicht, warum du sie überhaupt treffen wolltest. Sie ist ein furchtbarer Mensch.«
»Ach, so übel ist sie gar nicht.« Die Scheibe war durch meinen Atem beschlagen, und ich zeichnete ein paar Sterne auf das Glas. »Sie macht sich große Sorgen um dich. Weil sie fürchtet, ich könnte dir etwas antun.«
»Die Frau ist irre!«, schnaubte Matt verächtlich. »Gut, das war zu erwarten, schließlich lebt sie in dieser Klinik, aber … du darfst nicht auf sie hören, Wendy. Nimm ihre Beschuldigungen auf keinen Fall ernst, okay?«
»Okay«, log ich. Mit meinem Ärmel wischte ich die Kritzeleien von der Scheibe und setzte mich aufrechter hin.
»Bist du dir ganz sicher?«
»Wie bitte?«
»Dass sie verrückt ist? Dass … ich kein Monster bin?« Ich drehte nervös an meinem Daumenring und starrte Matt an, der nur den Kopf schüttelte. »Ich meine es ernst. Vielleicht bin ich wirklich böse.«
Matt blinkte plötzlich und fuhr an den Straßenrand. Regen trommelte auf das Autodach, und die anderen Autos rasten auf der Autobahn an uns vorbei. Matt drehte sich zu mir um und legte seinen Arm auf meine Rückenlehne.
»Wendy Luella Everly, an dir ist nichts böse. Absolut nichts«, sagte Matt ernst. »Diese Frau ist total verrückt. Ich weiß nicht, warum, aber sie war nie eine Mutter für dich. Hör nicht auf sie. Sie hat keine Ahnung, wovon sie spricht.«
»Ehrlich, Matt?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin von allen Schulen geflogen, die ich jemals besucht habe. Ich bin ungehorsam und launisch und furchtbar wählerisch. Ich weiß, dass du und Maggie ständig mit mir kämpfen müsst.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass du ein böser Mensch bist. Du hattest eine wirklich traumatische Kindheit, und die hast du noch nicht ganz verarbeitet, aber du bist nicht schlecht«, sagte Matt überzeugt. »Du bist ein willensstarker Teenager ohne jede Furcht. Das ist alles.«
»Aber irgendwann gilt das nicht mehr als Entschuldigung! Okay, sie hat versucht, mich umzubringen, aber ich muss allmählich selbst dafür Verantwortung übernehmen, wer ich bin.«
»Aber das tust du doch!«, sagte Matt mit einem Lächeln. »Seit wir hierhergezogen sind, hast du dir solche Mühe gegeben. Deine Noten werden besser und du hast schon Freunde gefunden. Das macht mir zwar manchmal Sorgen, aber ich weiß, dass es gut für dich ist. Du wirst erwachsen, Wendy, und es wird alles gut.«
»Okay.« Ich nickte. Dagegen fiel mir kein Argument ein.
»Ich weiß, ich sage dir das nicht oft genug, aber ich bin stolz auf dich und liebe dich.« Matt beugte sich zu mir und küsste mich auf den Scheitel. Das hatte er seit meiner Kindheit nicht mehr getan, und es wühlte mich unglaublich auf. Ich schloss die Augen und weigerte mich zu weinen. Er lehnte sich wieder in seinen Sitz zurück und sah mich ernst an.
»Okay? Geht’s dir jetzt besser?«
»Ja, mir geht’s gut.« Ich zwang mich zu einem Lächeln.
»Gut.« Er fuhr wieder auf die Fahrspur und wir setzten unsere Heimfahrt fort.
Ich hatte Matt und Maggie zwar eine Menge Probleme gemacht. Aber es würde ihnen das Herz brechen, mich zu verlieren. Selbst wenn Finn mich ins gelobte Land führen konnte, würde es ihnen zu wehtun. Zu gehen würde meine Bedürfnisse über die ihren stellen. Wenn ich also blieb, zeigte ich ihnen damit, dass sie mir etwas bedeuteten.
Das war die einzige Möglichkeit, mir zu beweisen, dass ich kein Monster war.
Als wir zu Hause ankamen, flüchtete ich in mein Zimmer, bevor Maggie mich ausfragen konnte. Es war zu still hier drin, also holte ich meinen iPod und scrollte durch die Songauswahl. Ein leichtes Klopfen riss mich aus meiner Suche, und mein Herz machte einen Sprung.
Ich ging zum Fenster, und als ich den Vorhang zurückzog, kauerte Finn auf dem Vordach. Ich überlegte kurz, den Vorhang wieder zu schließen und ihn zu ignorieren, aber seine dunklen Augen waren einfach zu schön. Außerdem wollte ich mich richtig von ihm verabschieden.
»Was machst du?«, fragte Finn, sobald das Fenster offen stand. Er blieb auf dem Dach, aber ich stand auch immer noch am Fenster und gab den Weg nicht frei.
»Und was machst du?«, konterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, sagte er und sah mich besorgt an.
»Warum denn nicht?«, fragte ich.
»Ich hatte nur so ein Gefühl.« Er wich meinem Blick aus und schaute kurz zu einem Mann, der unter uns seinen Hund ausführte. Dann blickte er mich wieder an. »Kann ich kurz reinkommen, damit wir unsere Unterhaltung beenden können?«
»Von mir aus.«
Ich wich einen Schritt zurück und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu wirken, aber als er an mir vorbei ins Zimmer glitt, beschleunigte sich mein Herzschlag. Er stand direkt vor mir, seine dunklen Augen hielten meinen Blick gefangen und ließen alles um mich herum versinken. Ich schüttelte den Kopf und entfernte mich von ihm. Er durfte auf mich nicht mehr eine so fesselnde Wirkung haben.
»Warum hast du nicht an der Tür geklingelt?«
»Das wäre wohl kaum möglich gewesen. Dieser Typ hätte mich doch niemals in dein Zimmer gelassen.« Finn hatte vermutlich recht. Seit dem Ball verabscheute Matt Finn aus tiefstem Herzen.
»Dieser Typ ist mein Bruder, und er heißt Matt.« Ich verspürte den ungeheuren Drang, ihn zu beschützen, vor allem deshalb, weil er nach dem Besuch bei Kim so toll reagiert hatte.
»Er ist nicht dein Bruder. Du musst aufhören, so über ihn zu denken.« Finn schaute sich geringschätzig in meinem Zimmer um. »Geht es um ihn? Willst du deshalb nicht mit mir fortgehen?«
»Du würdest meine Gründe niemals verstehen.« Ich setzte mich auf mein Bett und versuchte, dadurch zu zeigen, dass ich mich an diesen Ort gebunden fühlte.
»Was ist heute Abend passiert?«, fragte Finn und ignorierte meine Trotzhaltung.
»Warum bist du dir so sicher, dass etwas passiert ist?«
»Du warst nicht da«, sagte er. Offenbar hatte er keine Angst, ich könne es unheimlich finden, dass er über mich so gut Bescheid wusste.
»Ich war bei meiner Mutter. Äh … bei der Frau, die ich für meine Mutter gehalten habe.« Ich schüttelte den Kopf. Wie furchtbar das alles klang. Ich überlegte kurz, ob ich ihn anlügen sollte, aber er wusste ohnehin schon mehr über mich als irgendjemand sonst. »Wie nennt man diese Frauen? Gibt es eine besondere Bezeichnung für sie?«
»Normalerweise reicht der Name«, erwiderte Finn, und ich kam mir vor wie ein Idiot.
»Oh. Natürlich.« Ich holte tief Luft. »Ich war also bei Kim.« Ich schaute zu ihm auf. »Weißt du Bescheid über sie? Ich meine … was weißt du eigentlich über mich?«
»Ehrlich gesagt, nicht viel.« Finn schien sich über seine Unwissenheit zu ärgern. »Es war sehr schwierig, etwas über dich zu erfahren. Das war ziemlich unangenehm für mich.«
»Du weißt also nicht …« Ich verstummte und merkte zu meinem Entsetzen, dass mir die Tränen kamen. »Sie wusste immer, dass ich nicht ihre Tochter war. Als ich sechs war, wollte sie mich umbringen. Sie sagte immer, ich sei ein Monster. Und irgendwie habe ich ihr immer geglaubt.«
»Du bist absolut nicht böse«, beteuerte Finn ernst, und ich lächelte ihm mühsam zu und drängte die Tränen zurück. »Du darfst auf keinen Fall hierbleiben, Wendy.«
»Es ist jetzt anders.« Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Sie lebt nicht mehr bei uns, und mein Bruder und meine Tante lieben mich über alles. Ich kann sie nicht einfach so verlassen. Das will ich einfach nicht.«
Finn schaute mich an, als versuche er zu entscheiden, ob ich das ernst meinte. Ich hasste es, dass er so attraktiv war und dass er solche Macht über mich hatte. Mein Leben lag in Trümmern und er musste mich nur ansehen, um mein Herz zum Rasen zu bringen.
»Ist dir klar, was du da aufgibst?«, fragte Finn leise. »Das Leben bei uns kann dir so vieles bieten. Viel mehr, als sie dir jemals geben können. Wenn Matt wüsste, was dich erwartet, würde er dich selbst fortschicken.«
»Richtig. Das würde er tun, wenn er der Meinung wäre, es sei das Beste für mich«, gab ich zu. »Und deshalb muss ich bleiben.«
»Ich will auch nur dein Bestes. Deshalb habe ich dich gesucht und deshalb will ich dich mit nach Hause nehmen«, sagte Finn mit einer Zuneigung, die mir unter die Haut ging. »Glaubst du wirklich, ich würde dich nach Hause holen wollen, wenn das zu deinem Nachteil wäre?«
»Ich glaube nicht, dass du weißt, was das Beste für mich ist«, sagte ich so gelassen wie möglich.
Er hatte mich durch seine Zuneigungsbezeugung aus der Fassung gebracht. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass das zu seinem Job gehörte. Er musste sicherstellen, dass es mir gut ging, und mich davon überzeugen, nach Hause zu gehen. Das bedeutete nicht, dass ihm wirklich etwas an mir lag.
»Bist du sicher, dass du wirklich hierbleiben willst?«, fragte Finn sanft.
»Auf jeden Fall.« Aber ich klang überzeugter, als ich war.
»Ich würde gerne sagen, dass ich das verstehe, aber das tue ich nicht.« Er seufzte resigniert. »Ich bin ziemlich enttäuscht.«
»Tut mir leid«, sagte ich geknickt.
»Das muss es nicht.« Er fuhr sich durch sein schwarzes Haar und schaute mich wieder an. »Ich komme nicht mehr in die Schule. Das ist jetzt nicht mehr nötig, und ich will dich beim Lernen nicht stören. Du solltest wenigstens eine Ausbildung bekommen.«
»Was? Brauchst du denn keine?« Mein Herz sank, als mir klar wurde, dass ich Finn gerade möglicherweise zum letzten Mal sah.
»Wendy!« Finn lachte humorlos. »Ich dachte, du wüsstest es. Ich bin zwanzig Jahre alt. Meine Ausbildung ist längst abgeschlossen.«
»Warum warst du dann …« Ich verstummte, als mir die Antwort auf meine eigene Frage klar wurde.
»Ich war nur dort, um nach dir zu suchen, und gefunden habe ich dich ja.« Finn senkte den Blick und seufzte. »Falls du deine Meinung änderst …« Er zögerte einen Moment lang. »Dann werde ich dich finden.«
»Gehst du fort?« Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Du bist noch hier, also bleibe ich auch hier. Zumindest noch eine Zeit lang«, erklärte Finn.
»Wie lange?«
»Das kommt darauf an«, sagte er. »Deine Situation ist wirklich außergewöhnlich. Es ist schwierig, genaue Prognosen zu erstellen.«
»Du sagst immer, dass ich anders bin. Was meinst du damit? Inwiefern?«
»Normalerweise warten wir, bis die Changelings ein paar Jahre älter sind als du. Die meisten wissen dann bereits, dass sie keine Menschen sind«, erklärte Finn. »Wenn der Tracker sie findet, sind die meisten erleichtert und folgen ihm gerne.«
»Warum bist du dann jetzt schon hier?«, fragte ich.
»Ihr seid so oft umgezogen.« Finn deutete auf das Haus. »Wir hatten Angst, es sei etwas nicht in Ordnung. Also habe ich dich beobachtet, bis ich es für richtig hielt, dich einzuweihen. Ich dachte, du seist bereit dafür.« Er atmete heftig aus. »Da lag ich wohl falsch.«
»Kannst du mich nicht einfach davon ›überzeugen‹, mitzukommen?«, fragte ich, und der Teil von mir, der ihm am liebsten gefolgt wäre, hoffte es.
»Das kann ich nicht«, sagte Finn kopfschüttelnd. »Ich kann dich nicht dazu zwingen, mit mir zu gehen. Ich muss deine Entscheidung respektieren, egal, wie sie ausfällt.«
Ich nickte, wohl wissend, dass ich gerade die Chance ausschlug, meine echten Eltern und meine Familiengeschichte kennenzulernen und mehr Zeit mit Finn zu verbringen. Ganz zu schweigen von meinen Fähigkeiten. Finn hatte gesagt, ich würde mit der Zeit noch weitere entwickeln. Ich wusste nicht, wie ich alleine mit ihnen umgehen sollte.
Wir sahen uns an, und ich wünschte, er stünde nicht so weit weg. Ich fragte mich gerade, ob eine Umarmung zum Abschied wohl angemessen wäre, als sich die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnete.
Matt war gekommen, um nach mir zu sehen. Als er Finn sah, loderte etwas in seinen Augen auf. Schnell sprang ich auf und stellte mich schützend vor Finn.
Ich wollte nicht, dass Matt ihn umbrachte.
»Matt! Es ist alles okay!« Ich hielt die Hände hoch.
»Gar nichts ist okay«, knurrte Matt und kam ins Zimmer. »Wer zum Teufel ist das?«
»Matt, bitte!« Ich legte ihm die Hände auf die Brust und versuchte, ihn von Finn wegzuschieben, aber es war, als stünde ich vor einer Mauer. Er zeigte über meine Schulter hinweg anklagend auf Finn. Ich riskierte ebenfalls einen Blick. Finn starrte meinen brüllenden Bruder ausdruckslos an.
»Du hast vielleicht Nerven!«, schrie Matt. »Sie ist erst siebzehn! Ich habe keine Ahnung, was du in ihrem Zimmer willst, aber du wirst sie nie wieder sehen, verstanden?«
»Matt, hör bitte auf«, flehte ich. »Er wollte sich nur verabschieden. Bitte!«
»Hör am besten auf sie«, sagte Finn ruhig.
Seine Gelassenheit brachte Matt endgültig zur Weißglut. Auch Matt hatte einen grässlichen Abend hinter sich, und das Letzte, was er jetzt brauchte, war ein Typ, der in mein Zimmer eingestiegen war, um mir meine Unschuld zu rauben.
Aber Finn stand bloß cool und gefasst vor dem Fenster. Und Matt wollte ihm solche Angst einjagen, dass er mich nie wieder ansehen würde.
Mein Bruder schubste mich tatsächlich zur Seite, und ich landete auf dem Boden. Finns Augen blitzten auf, und als Matt ihn schubste, bewegte er sich keinen Zentimeter. Er starrte nur wütend auf meinen Bruder hinunter, und ich wusste, dass Matt bei einem Kampf definitiv den Kürzeren ziehen würde.
»Matt!« Ich sprang auf.
Im Stillen skandierte ich bereits: Verlass mein Zimmer. Verlass mein Zimmer. Beruhig dich und verlass mein Zimmer. Bitte. Ich hatte keine Ahnung, ob die Wirkung auch ohne Augenkontakt einsetzen würde, also packte ich ihn am Arm und zwang ihn, sich zu mir umzudrehen.
Er versuchte sofort, den Blick abzuwenden, aber ich erwischte ihn. Ich sah ihn starr an und wiederholte meinen Befehl wieder und wieder. Endlich erschlaffte sein Gesicht und seine Augen wurden trübe.
»Ich verlasse jetzt dein Zimmer«, sagte Matt mechanisch.
Zu meiner Erleichterung drehte er sich tatsächlich um und ging auf den Flur hinaus. Die Tür schloss er hinter sich. Ich wusste nicht, wie weit er sich entfernt hatte oder wie viel Zeit mir noch blieb, also wendete ich mich Finn zu.
»Du musst sofort gehen«, flehte ich ihn atemlos an, aber er betrachtete mich nur besorgt.
»Macht er das häufiger?«, fragte Finn.
»Was?«
»Er hat dich geschubst. Er hat ganz offensichtlich Probleme damit, seinen Jähzorn zu kontrollieren.« Finn starrte auf die Tür, durch die Matt gegangen war. »Er ist gefährlich. Du solltest nicht hierbleiben.«
»Tja, vielleicht solltet ihr die Familien, bei denen ihr eure Babys aussetzt, ein bisschen sorgfältiger aussuchen«, murmelte ich und ging zum Fenster. »Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit wir noch haben. Geh jetzt bitte.«
»Er kann wahrscheinlich nie wieder dein Zimmer betreten«, sagte Finn abwesend. »Ich meine es ernst, Wendy. Ich will dich nicht bei ihm lassen.«
»Du hast das nicht zu entscheiden!« Genervt fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. »Matt ist sonst nicht so, und er würde mich niemals verletzen. Aber er hat einen grässlichen Tag hinter sich und gibt dir die Schuld dafür, dass ich so durcheinander bin. Und damit hat er nicht unrecht.« Meine Panik legte sich. Mir wurde bewusst, dass ich Matt heute schon zweimal »überzeugt« hatte, und mir wurde übel. »Ich hasse es, ihm das anzutun. Es ist unfair und falsch.«
»Es tut mir leid«, sagte Finn aufrichtig. »Ich weiß, dass du es getan hast, um ihn zu schützen, und das ist meine Schuld. Ich hätte einfach gehen sollen, aber als er dich geschubst hat …« Er schüttelte den Kopf. »Das hat meinen Beschützerinstinkt geweckt.«
»Er wird mir nichts tun«, versprach ich.
»Es tut mir leid, dass ich dir so viel Ärger gemacht habe.«
Finn schaute wieder zur Tür, und ich merkte, dass er wirklich nicht gehen wollte. Als er mich wieder ansah, seufzte er schwer und kämpfte wahrscheinlich gegen den Drang, mich über die Schulter zu werfen und einfach zu entführen. Stattdessen kletterte er aus dem Fenster und ließ sich zu Boden gleiten.
Ohne ein weiteres Wort ging er um die Hecke der Nachbarn und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich schaute ihm nach und wünschte, ich müsste mich nicht von ihm verabschieden …
Um die Wahrheit zu sagen, machte es mich sehr traurig, Finn gehen zu lassen. Schließlich schloss ich das Fenster und zog die Vorhänge zu.
Dann ging ich in den Flur. Matt saß auf der Treppe, die nach unten führte. Er wirkte verwirrt und wütend. Am liebsten hätte er mich wegen Finn angebrüllt, aber er schien nicht zu begreifen, was genau eigentlich passiert war. Aus dem, was er von sich gab, konnte ich nur entnehmen, dass er Finn umbringen würde, wenn der sich mir noch einmal näherte. Und ich tat so, als hielte ich das für sehr vernünftig.
Am nächsten Tag zog sich die Schule endlos hin. Und dass ich die ganze Zeit nach Finn Ausschau hielt, machte die Sache auch nicht besser. Ein Teil von mir war überzeugt davon, dass die vergangenen Tage nur ein böser Traum gewesen waren. Sicherlich war Finn irgendwo hier und starrte mich genauso an wie immer.
Außerdem fühlte ich mich beobachtet. Ich spürte dasselbe Kitzeln im Nacken, das ich auch spürte, wenn Finn mich lange ansah, aber wenn ich mich umdrehte, entdeckte ich niemanden, der mir nachspionierte. Zumindest niemanden, der einen zweiten Blick lohnte.
Zu Hause war ich abwesend und schlecht gelaunt. Ich entschuldigte mich vom Abendessen, ging in mein Zimmer und schob die Vorhänge zur Seite. Aber meine Hoffnung, Finn irgendwo zu erspähen, erfüllte sich nicht. Jedes Mal, wenn ich vergeblich nach ihm Ausschau hielt, wurde der Schmerz in meinem Herzen stärker.
Ich wälzte mich die ganze Nacht unruhig herum und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie lange Finn noch in der Nähe bleiben würde. Er hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er bald weiterziehen und jemand anderen aufspüren musste.
Dafür war ich nicht bereit. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass er sein Leben weiterlebte, solange ich ihm noch nachtrauerte.
Ungefähr um fünf Uhr morgens gab ich meine Schlafversuche auf. Ich schaute wieder aus dem Fenster und diesmal glaubte ich, draußen etwas zu entdecken. Nur einen verwischten Umriss aus dem Augenwinkel, aber das überzeugte mich davon, dass er da war und sich ganz in der Nähe versteckte. Ich musste unbedingt rausgehen und mit ihm reden. Ich wollte mich vergewissern, dass er noch eine Zeit lang bei mir bleiben würde. Der Einfachheit halber ließ ich meinen Schlafanzug an und kümmerte mich nicht darum, wie meine Haare aussahen.
Hastig kletterte ich auf das Vordach und griff nach dem Ast, an dem sich Finn hatte zu Boden gleiten lassen. Aber meine Finger rutschten sofort ab und ich landete unsanft auf der Erde. Da ich auf den Rücken gefallen war, lag ich eine Zeit lang nur japsend da und hustete.
Ich wäre gern noch zehn Minütchen auf dem Rasen liegen geblieben, aber ich fürchtete, Matt oder Maggie könnten etwas gehört haben. Also rappelte ich mich auf und ging zur Hecke, die das Nachbarhaus umgab.
Die Straße war verlassen, und ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich gegen die Kälte zu schützen. Dann sah ich mich um. Ich wusste, dass er hier sein musste. Wer sollte sich denn sonst in aller Herrgottsfrühe hier herumtreiben? Vielleicht hatte ihn mein Sturz verscheucht, weil er dachte, ich sei Matt oder so.
Also ging ich die Straße entlang und suchte in den Gärten der Nachbarn nach einem versteckten Tracker. Von dem Sturz schmerzte mein Rücken und ich hatte mir offenbar auch das Knie verdreht. Ich humpelte also um fünf Uhr morgens im Schlafanzug durch die Gegend. Hatte ich den Verstand verloren?
Dann hörte ich etwas. Schritte? Jemand folgte mir, und dem eiskalten Schauer nach zu urteilen, der mir über den Rücken lief, war es nicht Finn. Ich hätte nicht erklären können, was mich so sicher machte, aber ich wusste es einfach.
Langsam drehte ich mich um.