Kopf auf den Küchentisch gelegt und schlief. Er hatte die halbe Nacht wach gelegen, die Kopfschmerzen waren zu stark gewesen und jetzt war er müde.
»Wach auf«, sagte eine Stimme, die von ganz weit weg zu kommen schien.
Morlov öffnete die Augen und richtete sich auf. Ihm gegenüber saß der Graue. Morlov blickte ihn lange an. Ein altes, von Falten durchzogenes Gesicht. Auffällig blass. Der Graue trug wie immer einen Hut, die langen Haare quollen darunter hervor. Die Augen des Grauen waren auf ihn gerichtet, aber Morlov war, als blickte er durch ihn hindurch.
»Wer bist du?«, fragte Morlov.
Der Graue ging nicht darauf ein. »Du kannst jetzt nicht schlafen. Sie kommt gleich.«
Wen meinte der Graue?
»Sag ihr, dass es nicht mehr lange dauert, es geht auf das Ende zu.«
Im nächsten Moment hörte Morlov, wie ein Auto die Hauptstraße des kleinen Dorfs hochfuhr und dann vor seinem Haus hielt. Morlov stand auf und ging zum Fenster.
Ein blauer VW Golf. Eine Frau stieg aus. Sie war schlank, fast zierlich und trug eine braune Lederjacke, die ihr zu groß war. Sie sah zu Morlovs Haus hinüber, wirkte unschlüssig, hatte noch ihren Autoschlüssel in der Hand, betrachtete ihn einen Moment lang. Schließlich drückte sie auf den Knopf des Schlüssels, um die Türen des Wagens zu verschließen. Dann ging sie auf das Haus zu.
Morlov wartete am Fenster. Der Stuhl, auf dem der Graue gesessen hatte, war leer. Es klingelte, Morlov ließ die Frau ein zweites Mal klingen, dann ging er zur Tür.
Er öffnete, und als er sie von Nahem sah, wusste Morlov, wer sie war. Er hatte ihr Foto im Internet gesehen. Als er über Paul Skamper recherchiert hatte. Die Frau, die vor ihm stand, war Skampers Ex-Frau.
»Mein Name ist Dora Kohörner, ich bin von der Nürnberger Kriminalpolizei.«
Sie hatte einen Ausweis in der Hand, Morlov blickte kurz darauf, dann steckte sie ihn wieder ein.
»Sind Sie Simon Morlov?«
Morlov nickte.
»Es geht um Marek Klöpper. Ein Fahnder von der Gebühreneinzugszentrale. Nach unseren Informationen war er bei Ihnen, kurz bevor er verschwand.«
»Deswegen waren schon Kollegen von Ihnen hier.«
»Richtig, aber es sind neue Erkenntnisse aufgetaucht. Darf ich vielleicht hereinkommen?«
Morlov zögerte einen Moment, dann machte er eine einladende Handbewegung.
Dora setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorher der Graue gesessen hatte. Sie holte sich einen Notizblock hervor.
»Sie sind nicht wegen diesem GEZ-Typen hier«, sagte Morlov.
Dora blickte ihn überrascht an.
»Paul Skamper hat Sie geschickt. Wahrscheinlich hat er Sie gebeten, mir etwas auf den Zahn zu fühlen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind die Ex-Frau von Paul Skamper. Der GEZ-Typ interessiert Sie doch gar nicht. Außerdem soll der sich doch nach Tschechien abgesetzt haben.«
Dora wusste einen Moment nicht, was sie sagen sollte.
»Aber sagen Sie Skamper, dass ich ihm deswegen nicht böse bin. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe gemacht an seiner Stelle.«
Dora schwieg noch immer.
»Was hat er Ihnen denn von mir erzählt?«, fragte Morlov.
Dora zögerte einen Augenblick. Dann beschloss sie, ganz offen zu sein. Diesem Mann etwas vorzumachen, hatte keinen Sinn. »Er glaubt, dass Sie etwas mit diesen dubiosen Vorgängen in der Geocaching-Szene zu tun haben. Und dass Sie das Artefakt haben.«
Morlov lehnte sich zurück und lächelte. »Welches Artefakt?«
»Sie wissen, wovon ich rede.«
»Wenn Sie nach dem Artefakt suchen, Sie können sich hier gerne umsehen, bitte.« Morlov machte eine einladende Handbewegung, doch Dora ging nicht darauf ein.
»Er hat auch gesagt, Sie hätten ihm gegenüber einen Mord zugegeben.«
Morlov sah sie lange an. Er lächelte immer noch. Er lehnte sich nach vorne. »Und Sie glauben ihm?«
»Ich frage Sie nur, ob das wahr ist.«
»Es ist richtig, dass wir über einen Mord gesprochen haben. Es ging allerdings um den Mord, den er begangen hat.«
Dora schluckte. Der Kerl ist völlig durchgedreht, hatte sie Skamper gewarnt. Bisher hatte sie mit einem ruhigen, sachlich wirkenden Mann gesprochen. Und doch war etwas an ihm, das sie an Skampers Worte denken ließ. Sie hatte die Jacke nicht abgelegt, obwohl es in der Küche angenehm warm war. Doch sie spürte ein leichtes Frösteln. »Das müssen Sie mir schon genauer erklären«, sagte sie.
Morlov ging nicht auf ihre Frage ein. »Nach dem Gespräch mit Skamper habe ich mir oft gedacht, wie es für Sie gewesen sein muss, als er endlich zurückgekommen ist. Sie haben ihn gesehen, und Sie hatten nur ein Gefühl: dass ein anderer vor Ihnen stand. Ein ganz anderer Mann, nicht der Mann, der Sie vor Jahren verlassen hatte. Noch heute ist er ein anderer. Etwas von ihm ist im Dschungel geblieben. Es ist immer noch dort, er ist niemals ganz zurückgekehrt.«
Er spielt Psychospielchen mit dir, warnte eine Stimme Dora. Doch ihre Kehle war trocken, es war, als hätten seine Worte etwas in ihr berührt, was sie seit Jahren versucht hatte, zu vergessen.
»Er hat nie über das gesprochen, was damals passiert ist. Es gab Zeitungsberichte, es gab dieses Buch mit seinen hässlichen Andeutungen, aber Ihr Mann hat dazu geschwiegen. Und das alles wegen eines lächerlichen Artefakts. Und Sie wollen mir erzählen, Sie würden wegen dieses Artefakts Nachforschungen anstellen? Sie hassen dieses Artefakt. Es hat Ihr Leben zerstört.«
Dora zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. Nicht auf die in ihr aufkommenden Gefühle zu achten. Doch ihr Herz raste.
»Was ich mit Paul Skamper besprochen habe, war ein Gespräch unter Freunden. Ja, wir sind Freunde, Ihr Ex-Mann und ich sind Freunde.« Morlovs Stimme hatte sich verändert. Als wäre er selbst erstaunt über das, was er sagte.
Dora gab sich einen Ruck, als müsste sie zurückkehren aus einem Traum. Du musst sachlich bleiben, dachte sie. Du bist eine Polizistin, die einen Fall untersucht. »Kennen Sie einen Berthold Markoven?«, fragte sie.
»Ich hab den Namen noch nie gehört.«
»Markoven ist vor zwei Tagen gestorben. Er wollte mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Markoven ist ein pensionierter Kriminalbeamter, der jedoch immer noch an einem Fall gearbeitet hat, den er nicht lösen konnte.«
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Markoven glaubte, einem ehemaligen Stasikiller auf der Spur zu sein.«
»Und er war der Meinung, ich sei das gewesen?«
Dora zögerte einen Moment. »Er glaubte, dass Sie etwas wissen.«
»Wie ist er denn gestorben?«
»Ein Herzinfarkt«, sagte Dora. Sie ärgerte sich. Sie benahm sich wie eine Anfängerin. Er fragte sie aus, nicht sie ihn. Und jetzt gab sie auch noch zu, dass sie im Grunde nichts in der Hand hatte.
Morlov nickte mehrmals, sagte aber nichts dazu. »Haben Sie denn Paul Skamper jemals gefragt, was in Kolumbien geschehen ist?«
Dora spürte, wie verkrampft ihre Hand war, die den Stift hielt. Warum hörte er nicht auf, immer wieder auf diese Geschichte zurückzukommen?
Sie hätte nicht allein zu ihm gehen sollen. Aber Schmidt hatte keine Zeit gehabt. Außerdem war das hier eher privat. Sie hatte nichts, aber auch nichts gegen Morlov in der Hand. Außer dem, was ihr Paul Skamper erzählt hatte. »Darum geht es hier nicht«, sagte sie.
»Es geht nur darum«, sagte Morlov. »Sie machen ihm heute noch Vorwürfe, weil er nie etwas erzählt hat. So ist es doch. Aber vielleicht hat er nichts erzählt, weil Sie nie gefragt haben. Und Sie haben ihn nie gefragt, weil Sie Angst hatten. Angst vor dem, was er sagen würde.«
Dora musste raus hier. Dieser Morlov spielte mit ihr, machte Andeutungen, tat so, als wisse er alles über damals. Als wäre er der Ermittler und sie die Verdächtige.
Sie steckte ihren Notizblock ein. »Ich glaube, es hat nicht viel Sinn, sich weiter zu unterhalten.« Sie stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Die übliche Floskel nach der Vernehmung eines Zeugen. Dora redete wie ein Automat. Morlov sah sie forschend an, sagte aber nichts. Stumm begleitete er sie zur Haustür, hielt sie für sie auf und sah ihr nach, wie sie zu ihrem Auto ging.
Dora hatte sich die ganze Zeit unter Kontrolle. Doch im Auto fiel die Maske ab. Sie zitterte auf einmal, es kostete sie Mühe, nicht einfach loszuheulen. Sie steckte den Zündschlüssel ein und startete den Motor.
•
Skamper saß vor dem Computer, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer in die Hand und drückte das Freizeichen. »Ja.«
»Hallo, hier ist Dora.«
»Und, hast du etwas über Morlov rausgekriegt?«
»Ich war vorhin bei ihm.«
Skamper war überrascht. Dass sie gleich zu ihm fahren würde, hatte er nicht erwartet. »Und?«
»Er ist wirklich etwas seltsam. Er hat natürlich alles abgestritten, oder besser gesagt, ist nicht darauf eingegangen.«
»Das war zu erwarten.«
»Sag mal, was hast du ihm eigentlich alles erzählt?«
Skamper atmete aus. Hatte dieser Morlov seine Tour auch bei Dora abgezogen? Die Tour des allwissenden Sehers. »Gar nichts, ich habe gar nichts erzählt. Er hat geredet. Er reimt sich da etwas zusammen, ich weiß nicht, wie er das macht. Ich kenne ihn überhaupt nicht.«
»Er nennt dich seinen Freund.«
»Diese Freundschaft ist etwas einseitig.«
Dora schwieg.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Worüber hat er denn gesprochen?«
»Von deiner Zeit in Kolumbien. Er hat geredet, als wäre er dabei gewesen.«
»Er hat keine Ahnung. Er war nicht dabei, niemand war dabei. Nur ich weiß, wie das gewesen ist.«
»Du hast es mir nie erzählt.«
Skamper schwieg einen Moment. »Vielleicht werde ich das irgendwann mal. Aber darum geht es doch überhaupt nicht. Es geht darum, dass dieser Simon Morlov vielleicht wirklich der ist, den Markoven gesucht hat. Hat man denn etwas über Markovens Tod herausgefunden?«
»Nichts Neues. Es wird auch keine Obduktion geben.«
Skamper schwieg. Er trat auf der Stelle.
»Ich werde mich trotzdem weiter umhören, wegen Morlov«, sagte Dora.
Sie scheint mir doch zu glauben, dass mit diesem Morlov etwas faul ist, dachte Skamper. »Tu das, ich kann nichts anderes tun, als hier zu warten, dass er Kontakt aufnimmt.«
»Ruf mich an, wenn er sich meldet.«
»Werde ich.«
»Mach’s gut«, sagte sie.
»Du auch«, sagte Skamper. Er legte das Telefon zurück auf den Tisch. Es war lange her, dass sie so miteinander gesprochen hatten.
Skamper sah wieder auf den Bildschirm. Das E-Mail-Programm blinkte. Eine neue Nachricht. Er öffnete das Programm. Eine Nachricht von Morlov. Der Link zu einem Cache. Skamper starrte gebannt auf den Schirm.
•
»Es kommt nicht in Frage, dass eine von euch mitkommt.«
Skamper saß am Frühstückstisch mit einer Kaffeetasse in der Hand. Eine Tasse, auf der Goofy abgebildet war, der sich in Clinch mit einem bulligen Hund befand.
Skamper gegenüber saßen Arabella und Jasmin.
Arabella hatte ihren alpinblauen Pyjama an, auf dem Haifische aufgedruckt waren. Sie stellte sich wahrscheinlich vor, dass so der Pyjama einer Privatdetektivin auszusehen hatte. »Aber du hast mir den Auftrag gegeben, das Artefakt zu finden. Und jetzt willst du, dass ich mich raushalte. Gerade dann, wenn es interessant wird.«
»Gerade dann, wenn es gefährlich wird.«
»Warum soll diese Suche gefährlich werden?«
Skamper schwieg einen Moment, rührte in seinem Kaffee. »Ich habe mit dem Typen gesprochen, der diesen Cache gelegt hat. Ich habe ihn kennengelernt. Und ich weiß, dass er gefährlich ist.«
Arabella sah erstaunt zu Jasmin. »Aber davon hast du nichts erzählt. Du hast uns wichtige Infos nicht gegeben.«
»Ich wusste ja bis vor kurzem noch nicht, dass sie so wichtig sind. Aber ich möchte auf keinen Fall, dass ihr bei dieser Suche dabei seid.«
»Aber gerade wenn es so gefährlich ist, sollten wir dabei sein. Was ist, wenn dir da etwas passiert und niemand weiß, wo du überhaupt steckst?«
Skamper schüttelte den Kopf. »Ich sag euch doch, das ist nicht ein Spaziergang mit einer kleinen Schnitzeljagd. Der Kerl ist so durchgedreht, dass es nicht mehr feierlich ist.«
»Und warum gehst du dann nicht zur Polizei?«, fragte Arabella.
»Genau, du könntest Mami Bescheid sagen.«
Skamper sah seine Tochter müde an. Er zögerte, er dachte an das Telefongespräch mit Dora. Er hatte ihr nichts von Morlovs Mail erzählt. Er wusste nicht, warum. Irgendwie hatte er das Gefühl, das wäre eine Sache, die nur ihn und Morlov anging. »Ich will sie da nicht mit reinziehen. Das hier ist etwas, das ich allein durchziehen muss. Ich will nicht, dass Dora damit zu tun hat. Es ist einfach zu gefährlich.«
»Aber gerade wenn es gefährlich ist, brauchst du einen Profi«, sagte Jasmin.
Skamper lächelte.
»Aber wir könnten doch wenigstens in deiner Nähe sein«, sagte Arabella. »Und wenn irgendwas ist, sendest du uns ein Zeichen per SMS.«
Skamper überlegte. »Das ist vielleicht gar nicht so dumm. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr euch nicht einmischt.«
»Großes Indianerehrenwort«, sagte Arabella.
•
Susanne Winter saß am Tresen des Spielzeugmuseums. Sie sah auf die Uhr. Viertel vor sechs. Noch fünfzehn Minuten, dann würde das Museum schließen.
Im Museum gab es nur noch einen Besucher. Es war den ganzen Tag nicht viel los gewesen. Das Wetter war einfach zu gut, um ins Museum zu gehen.
In diesem Moment kam der letzte Gast aus den Ausstellungsräumen zurück. Ein Amerikaner, beim Kauf der Eintrittskarte war sie mit dem großen Mann ins Gespräch gekommen. Er hatte erzählt, dass er Verwandte in Nürnberg habe und seit zwei Wochen hier sei.
Er hatte eine Halbglatze und trug hellblaue Jeans und ein Shirt mit einem Konterfei von Barack Obama.
Der Amerikaner nickte ihr zu und blieb an dem Stand mit den Ansichtskarten stehen.
»Und, wie hat es Ihnen gefallen?«, fragte sie.
Der Mann sah zu ihr. »Oh, ja, sehr schön, very nice.« Er lächelte, dann kam er zu ihr und legte eine Postkarte auf den Tresen. Er holte eine Geldmünze aus einer Jackentasche und legte sie daneben. Susanne Winter gab ihm das Wechselgeld zurück.
»Es ist nur«, sagte er dann. Er stockte, sie sah ihn fragend an.
»In dem Saal hinten, da wo die Bären sind und die alten Schreibmaschinen. Da riecht es komisch. It smells strange.«
Susanne Winter sah ihn erstaunt an.
»Aber sehr schön«, sagte der Amerikaner. Er nickte ihr noch einmal zu und ging dann die Treppe hoch zum Ausgang.
Susanne Winter sah wieder auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Jetzt würde sicher niemand mehr kommen. Sie stand auf. Das mit dem komischen Geruch musste sie überprüfen.
Der Amerikaner hatte recht. Sie stand jetzt vor dem großen Tisch im großen Ausstellungssaal. Es roch penetrant. Vielleicht eine tote Maus, dachte sie.
In ihrer Wohnung war eine einmal eine tote Maus im Hohlraum hinter der Flurwand gewesen, wo die Kabel verliefen. Es hatte Wochen gedauert, bis der Gestank verschwunden war.
Es kam von der Rückseite des Tisches. Dort saß ein großer, schwarzer Bär, dem man eine Brille aufgesetzt hatte.
Sie ging näher. Ja, es kam von dem Bären. Sie nahm ihn in die Hand. Komisch, er war sehr schwer in ihrer Hand. Der Geruch stieg ihr in die Nase, es war kaum auszuhalten. Sie drehte den Bären ein wenig, dann sah sie es. Ein Riss an der rechten Seite, der notdürftig mit einem weißen Faden zusammengenäht war. Jemand hatte sich an dem Stofftier zu schaffen gemacht.
Sie zog an dem weißen Faden, der sofort aufging. Es war ganz einfach, das Fell zu öffnen. Im Innern war etwas. Ein Gesicht sah sie an. Ein abgeschnittener Kopf. Susanne Winter fing an zu schreien.
Sie ließ den Bären fallen und auf dem Boden rollte der Schädel heraus und blieb liegen.
Es war der Kopf von Birdy, er hatte den Mund leicht offen, als wollte er immer noch weiterreden, und Susanne Winter hörte nicht auf zu schreien.
•
Skamper drehte den Schlüssel und öffnete die Schublade seines alten Schreibtisches. Darin lag ein Revolver. Skamper blickte lange auf die Waffe, dann nahm er sie in die Hand. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr angerührt. Er öffnete die Trommel, noch vier Kugeln, zwei Kugeln waren irgendwo im Dschungel Kolumbiens.
Als er von der Expedition zurückgekommen war, hatte er sich vorgenommen, den Revolver nie wieder in die Hand zu nehmen. Aber es wäre ein Wahnsinn, heute ohne Waffe loszuziehen.
Neben dem Revolver lag ein Schulterhalfter. Er nahm ihn heraus und legte ihn an. Dann schob er die Waffe hinein. Er nahm sich noch ein paar Ersatzpatronen und schloss die Schublade wieder.
Im Haus war es still. Arabella und Jasmin schliefen noch. Sie waren gestern auf einer Party gewesen und spät nach Hause gekommen.
Skamper überlegte kurz, ob er sie wecken sollte. Er hatte gesagt, er würde ihnen Bescheid geben, sobald er aufbrechen würde. Doch er war ganz froh, dass beide fest schliefen. Er wollte sie nicht in diese Sache hineinziehen.
Außerdem war ihm klar, dass er das Artefakt nur zurückbekommen würde, wenn er allein ging. Und er musste es zurückhaben. Ohne das Artefakt hatte er das Gefühl, dass die ganzen Jahre, die er nach Schätzen gesucht hatte, vergeblich gewesen waren. Er hatte für die Suche seine Familie zurückgelassen, hatte seine Ehe zerstört, hatte einen Freund getötet. Und zurückgekommen war er nur mit dem Artefakt. Aber dieses Artefakt barg in sich die Möglichkeit, dass er etwas Außerordentliches gefunden hatte. Er musste nur dahinterkommen, was diese seltsamen Punkte im Inneren des Steins für eine Bedeutung hatten. Das Artefakt war ein Fluch und ein Versprechen.
•
Etwas klingelte. Arabella wälzte sich in ihrem Bett. Sie fühlte sich zerschlagen. Noch ein Viertelstündchen Schlaf, gerade hatte sie so einen schönen Traum gehabt, aber das Klingeln ließ nicht locker. Hatte sie gestern vergessen, den Wecker abzustellen? Aber nein, das war ein anderes Klingeln. Ihr Wecker machte Klängeläng, Klängeläng, Klängeläng, während das hier ein hässliches Rattern war, als würde ein Lastwagen über eine Fahrradklingel fahren und diese ihre letzten Geräusche von sich geben.
Das Telefon läutete. Jetzt fiel es ihr wieder ein, sie hatte gestern noch spät telefoniert mit dem Typen, den sie auf der Party kennengelernt hatte. Und dann hatte sie das Telefon neben ihrem Bett liegen lassen und nicht wieder in die Basisstation unten im Flur gesteckt.
Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Arabella griff mit der Hand danach. »Hallo«, sagte sie schlaftrunken.
Das Telefon klingelte weiter. Arabella drückte auf das grüne Hörersymbol. »Hallo«, sagte sie nochmals.
»Hier ist Dora, ist Paul da?«
»Paul, ich weiß nicht, ich schlaf eigentlich noch.«
»Könntest du vielleicht mal nachsehen?« Doras Stimme klang ungeduldig.
Langsam richtete sich Arabella auf. Ein Teil von ihr schlief noch, hing immer noch ihren Träumen nach. Aber während sie nach unten in die Küche schlurfte, um zu sehen, ob Skamper da war oder vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte, wurde sie mit jedem Schritt wacher. »Was ist denn los?«, fragte sie. »Ist irgendetwas passiert?«
Dora zögerte einen Moment. »Ja«, sagte sie dann leise.
Arabella war mit einem Mal hellwach. Sie kam gerade in die Küche und sah auf die Uhr. Halb elf. Sie hatte verschlafen. Und heute war doch der Tag, an dem Paul auf Cachingtour gehen würde. Er hatte versprochen, ihr vor seinem Aufbruch Bescheid zu geben.
Aber als sie den Zettel auf den Küchentisch entdeckte, ahnte sie, dass er schon weg war. »Was ist passiert?«, fragte sie.
»Man hat im Spielzeugmuseum einen abgeschnittenen Kopf entdeckt. In einem Stoffbären, genau auf dem Platz, wo Paul den toten Kommissar gefunden hat.«
»Einen echten Kopf?«
»Ja.«
Arabella war elektrisiert. Also doch, der erste Beweis dafür, dass sie recht hatten. Dass sie nicht die ganze Zeit einem Phantom hinterhergejagt waren.
Ihre Gedanken rasten durch den Kopf, während sie die Nachricht auf dem Zettel las.
»Was ist jetzt mit Paul?«, tönte es aus dem Hörer.
»Der ist weg, ohne Bescheid zu geben. Und heute ist doch der Tag, wo er diesen Cache finden will. Er hat auf einen Zettel was geschrieben. ›Komme heut spät zurück. Wartet nicht mit dem Essen auf mich.‹ Nicht mal ’ne Unterschrift steht da.«
»Mist«, sagte Dora.
»Er hätte mir ruhig Bescheid geben können.«
»Was ist das für ein Cache, den er finden wollte?«
»Wir haben uns noch gestern darüber unterhalten. Er wollte nicht, dass wir mitgehen. Er hat gesagt, es wäre zu gefährlich.«
»Ich bin in einer halben Stunde bei euch.«
•
Morlov saß an einem Tisch in der Ecke des Restaurants und hielt sein Wasserglas in die Höhe. »Da ist ein Fleck. Sehen Sie? Und ich soll aus so einem schmutzigen Glas trinken. Ist dieses Restaurant hier ein Saustall?«
Der bullige Kellner beugte sich vor und blickte auf das Glas, das Morlov ihm vor die Nase hielt.
»Da muss ein neues Glas her, aber dalli.«
Der Kellner war einsneunzig groß. Ein Kerl wie ein Stier, ein breiter Nacken, dem der Hals abhandengekommen war, der Kopf schien direkt auf dem Rumpf zu sitzen. Sein Schädel war blank wie eine polierte Holzkugel und irgendwie zu klein für den mächtigen Körper. Die platte Nase ragte schief aus dem Gesicht und zwei kleine Äuglein glotzten auf das Glas vor ihm. Die schwarze Oberjacke über dem weißen Hemd spannte, sie würde bei einer schnellen Bewegung reißen. Er sah jetzt Morlov an. In seinen Augen blitzte es, als wollte er sich im nächsten Augenblick auf den Gast stürzen. Doch dann nahm er das Glas in die Hand. »Wie Sie wünschen«, sagte er.
Morlov lächelte kaum merklich und sah dem Glatzkopf nach, wie er mit dem Glas breitbeinig zur Theke ging.
Dort stand der Wirt. Er hatte sich auf den Tresen gestützt, ein kleiner, verschlagen aussehender Mann. Sein Gesicht erinnerte an eine Bulldogge, als hätte man die Kopfhaut abgerissen und schief und provisorisch wieder aufgeklebt. Mit tief eingegrabenen Falten und einer breiten Nase, die genauso platt war wie die des Kellners.
Der Kellner beugte sich nach vorne zu der Bulldogge, flüsterte etwas, dann nahm er Morlov ins Visier, der ihn kalt lächelnd fixierte. Der Wirt riss dem Glatzkopf das Glas aus der Hand. Er holte ein neues, hielt es gegen das Licht, dann füllte er es wieder mit Wasser und reichte es dem bulligen Kellner, der damit zu Morlov trottete.
Der Glatzkopf stellte das Glas auf den Tisch vor Morlov. Morlov sah darauf, blickte dann den Kellner an. »Die Sauberkeit lässt sehr zu wünschen übrig hier«, sagte er. »Dabei ist Sauberkeit das A und O, wenn Sie heute mit einer Gaststätte erfolgreich sein wollen. Sagen Sie das Ihrem Chef. Es ist kein Wunder, dass sich niemand hierher verirrt.«
Morlov ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Eine einfache Gaststube mit großen, braunen Holztischen und wuchtigen Stühlen. An den Wänden hingen Landschaftsbilder von ausgesuchter Hässlichkeit und über dem Tresen war ein Schild angebracht: »Wer den Wirt hier kränkt, wird aufgehängt.«
Außer Morlov gab es nur noch einen Gast. Ein Mann, etwa Mitte vierzig, der seinen unförmigen Körper nur mühsam hinter einen der Tische gezwängt hatte. Sein fetter Hintern quoll über die Lehne und stellte die Stabilität des Stuhls auf eine harte Probe. Die Haare sahen aus, als wäre er bei einer Putzfrau eingebrochen und hätte den erstbesten Lappen als Perücke zweckentfremdet, und die riesigen Schwitzflecken unter seinen Achseln hielten die Schmeißfliegen fern, die sich sonst überall im Raum befanden.
Der Typ saß in der Morlov gegenüberliegenden Ecke und glotzte stumpfsinnig auf das Glas Bier vor ihm. Doch Morlov wusste, dass er ihn die ganze Zeit beobachtete.
Morlov fuhr mit seinem Finger über die staubige Tischplatte und hielt ihn dem glatzköpfigen Kellner vor die Nase. »Was ist das?«, fragte er.
Der Kellner sah auf den Finger. »Staub.«
»Natürlich Staub. Aber es ist noch viel mehr. Es ist ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, wie in diesem Laden mit Hygiene umgegangen wird. Sie waren doch sicher für die Sauberkeit des Tisches zuständig. Und ich muss sagen, Sie haben Ihre Arbeit nicht gut gemacht. Keine gute Arbeit. Sie denken vielleicht, Sie könnten sich das erlauben, Sie bekommen ja sowieso Ihr Geld, aber da täuschen Sie sich. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, von mir bekommen Sie kein Trinkgeld. Trinkgeld gebe ich nur, wenn ich mit dem Ambiente und mit der geleisteten Arbeit zufrieden bin. Und das bin ich nicht. Das hier ist ein Saustall und Sie scheinen mir das Oberschwein zu sein.« Morlov beugte sich nach vorne und rief in Richtung des Wirts am Tresen, der die Szene die ganze Zeit beobachtete. »Sie sollten den Kerl da rausschmeißen und sich jemand aus dem Osten holen. Einen Ossi oder eine Polin. Die würden ganz anders arbeiten, da würde ein bisschen Schwung in den Laden kommen.«
Das Bulldoggengesicht am Tresen blickte stur in Morlovs Richtung. Kein Zucken in seinem Gesicht verriet, was er dachte.
Auch der Kellner vor Morlov reagierte nicht. »Wünschen Sie vielleicht etwas zu essen?«, fragte er.
»Ob ich was zu essen wünsche? Na, es wird Zeit, dass Sie fragen. Glauben Sie, ich bin nur hier, um das Ambiente dieses Saustalls auf mich wirken zu lassen?«
»Dann werde ich Ihnen die Speisekarte bringen.« Der bullige Kellner trottete wieder zum Tresen, nahm eine der auf der Theke liegenden Karten und brachte sie ihm. Morlov nahm sie vorsichtig in die Hand. Er hielt sie, als wäre sie mit dem Ebola-Virus verseucht.
»Mann, habt ihr die im Schweinestall aufbewahrt?« Morlov sah sich die Karte genauer an. Er studierte sie, obwohl er wusste, dass er sowieso nichts essen würde.
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Skamper setzte das Fernglas ab. Er stand am Waldrand auf einer kleinen Anhöhe, versteckt hinter einer großen Fichte. Seit einer halben Stunde beobachtete er das Gasthaus, das im Tal lag. Die einzige Zufahrtsstraße war wegen Bauarbeiten gesperrt gewesen. Ein Schild hatte darüber informiert, dass das Gasthaus geschlossen sei. Skamper hatte das Auto in einem Feldweg abgestellt und war durch den Wald hierher gelaufen, wo er einen ausgezeichneten Ausblick auf den Gasthof hatte.
Auf dem Parkplatz hinter dem Lokal parkten fünf Autos. Am Eingang stand ein Mann in einem schwarzen Anzug, der eine Zigarette rauchte. Vielleicht jemand, der den Eingang bewachte. Vielleicht aber auch nur ein Gast, der zum Rauchen vor die Tür gegangen war. Die Gaststätte war nicht geschlossen, mit dem Fernglas konnte Skamper sehen, dass sich hinter den Fenstern etwas tat. Was ging dort vor? Warum hatte ihn Morlov ausgerechnet hierher bestellt?
Skamper überlegte. Im Grunde sah alles harmlos aus. Vielleicht hatte ja Morlov auch andere Geocacher informiert, vielleicht stellte sich heraus, dass Morlov nicht mehr war als ein harmloser Geocacher, der zwar so durchgedreht war, ihm das Artefakt zu klauen, aber nicht der gefährliche Killer war, von dem Markoven gesprochen hatte.
Er würde sich das Ganze mal von Nahem ansehen.
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Arabella saß vor Skampers Computer und blickte mit angestrengtem Gesicht auf den Bildschirm. Das Mailprogramm verlangte ein Kennwort. Sie hatten schon die verschiedensten Wortkombinationen durchprobiert, bisher ohne Ergebnis.
»Wir haben im Präsidium einen Computerspezialisten, der würde das sicher knacken, aber der ist zur Fortbildung in München.« Dora hatte sich in einen Korbstuhl neben Arabella gesetzt. Auf der anderen Seite saß Jasmin.
»Hast du es noch mal mit dem Handy versucht?«
»Er hat es ausgeschaltet«, sagte Dora.
»Verdammt noch mal, warum hat er bloß nichts gesagt«, sagte Jasmin.
»Du kennst ihn doch.«
»Wer konnte auch ahnen, dass das mit den Leichenteilen nicht nur ein blödes Gerücht war.«
»Ich hätte vielleicht von Anfang an mehr machen sollen«, sagte Dora leise.
»Jetzt mach dir keine Vorwürfe. Er ist einfach so stur, warum will er diese Sache unbedingt allein durchziehen?«
Dora biss sich auf die Lippen. »Versuch es mal mit ›Jasmin‹«, sagte sie zu Arabella.
Arabella blickte sie überrascht an. Dann tippte sie den Namen und drückte »Enter«. Einen kurzen Moment geschah nichts, dann öffnete sich das Programm und Skampers letzte E-Mail-Nachrichten wurden angezeigt.
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