Waffe mitnehmen sollen«, dachte er. Plötzlich hatte er Angst. Es war Vollmond, der Himmel war klar, doch das helle Mondlicht drang nur schwach durch die Baumwipfel. Er hastete durch den Wald. Der Lichtschein seiner Taschenlampe flackerte über den Boden wie ein aufgeschrecktes Tier auf der Flucht.
Er blickte auf die GPS-Anzeige seines Handys. Noch zweihundert Meter. Auf einmal fühlte er sich leicht und sicher. Die Angst war verschwunden. Am Abend hatte er drei Whisky getrunken und danach Tabletten geschluckt. Die Mischung aus Alkohol und Drogen beflügelte ihn. Er lachte kurz auf, ein unmotiviertes, lautes Lachen, aber hier würde ihn niemand hören. Er war allein, es war zwei Uhr nachts, um diese Zeit würde er niemandem begegnen.
Er war jetzt mitten im Wald. Ihm war, als hätte ihn die Dunkelheit verschluckt. Es war Ende März, doch in der letzten Woche war es noch einmal kalt geworden. Wenn er atmete, verließ ein Frosthauch seinen Mund.
Er blieb stehen und blickte auf sein Handy. Noch fünfzig Meter. Sein Atem ging heftig, er war die Anstrengung nicht mehr gewohnt. Seit zwei Stunden irrte er schon durch die Nacht, aber jetzt war er kurz vor dem Ziel.
Sein Puls beruhigte sich. Im nächsten Moment hörte er einen Schrei. Ein schriller Schrei, wie in Todesangst ausgestoßen und danach ein dumpfer Schlag, als würde etwas Schweres auf den Boden fallen.
Er stand jetzt regungslos, horchte in die Nacht. Aber es war nichts mehr zu hören. Nur manchmal ein Knacken, als würde jemand auf einen Ast treten. Wind kam auf und schüttelte die Baumkronen.
Er begann zu schwitzen. Feiner Schweiß stand auf seiner Stirn, obwohl es kalt war. Aber das war die Anstrengung, erst der Weg zum ersten Versteck, dann die Suche nach dem nächsten Hinweis. Vielleicht waren es auch die Tabletten, vielleicht auch die Angst, vielleicht auch alles zusammen.
Denn die Angst war wieder da. Ein instinktives Wissen, dass er in Gefahr war. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er zurückgehen solle. Jetzt sofort, ohne nachzudenken, einfach nur weg von hier. Noch konnte er zurück.
Der Schrei war verklungen. Er kramte in seiner Tasche, ob er noch eine Pille hatte, aber da war nichts mehr. Egal, er musste weiter, er würde nicht umkehren, dafür war er schon zu nahe, sein Handy zeigte fünfzig Meter Entfernung an. Fünfzig Meter, dann würde er mehr wissen. Die anderen in der Redaktion hatten ihn schon abgeschrieben, sie glaubten, dass es vorbei war mit ihm, aber in dieser Nacht würde er ihnen zeigen, dass er immer noch einen Riecher für die große Story hatte. Es war seine letzte Chance und er war so nah am Ziel.
Er dachte an Carola. Vor der Fahrt nach Nürnberg hatte er sie angerufen. Er hatte ihr gesagt, dass sich alles ändern würde. Dass er einer Sache auf der Spur war, einer großen Sache, und dass alles wie früher sein würde.
Er lief weiter, dreißig Meter zeigte das Handy an, zwanzig Meter. Der Schein seiner Taschenlampe flackerte über den Boden.
Dann sah er den Mann. Am Zielpunkt, zwanzig Meter vor ihm, war eine Gestalt. Ein Schatten, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sich nicht bewegte.
Er blieb stehen, stand regungslos da, blickte auf die Gestalt vor ihm, sein Herz spürte er im Hals pochen, ein lautes, schnelles Pochen voller Angst. Er leuchtete mit der Taschenlampe nach vorne, aber der Schein war zu schwach, das diffuse Licht machte alles noch geheimnisvoller, der Wald bestand nur aus Schatten und Gesichtern.
»Wie heißt die Antwort?«, fragte eine Stimme.
Er zitterte. Das Licht seiner Taschenlampe zuckte über den Boden. Die Gestalt vor ihm hatte gesprochen. Er hatte die Worte klar und deutlich gehört. Dann begriff er. Das gehörte zur Suche.
Fieberhaft überlegte er. Am letzten Versteck hatte er eine Nachricht entschlüsselt. Das musste die Antwort sein.
»Jona«, sagte er. »Jona ist der Mann im Walfisch.«
Einen Augenblick war Stille. Dann hörte er wieder die Stimme.
»Eine gute Antwort.«
Langsam hob die Gestalt vor ihm die Hand und deutete nach rechts.
»Zwanzig Schritte«, sagte der Mann.
Er nickte. Ganz ruhig, sagte er sich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er hier auf jemanden treffen würde. Im nächsten Moment war wieder ein Schrei zu hören. Er wandte sich in die Richtung, aus der er den Schrei gehört hatte, aber da war nur Dunkelheit und eine Wand von Bäumen. Vielleicht kam das vom Tiergarten, er musste sich ganz in der Nähe befinden.
Er sah wieder nach vorne. Der Mann vor ihm war verschwunden, war weg, als wenn er sich in Luft aufgelöst hätte.
Er ging langsam weiter bis zu der Stelle, wo der Mann gestanden hatte. Das würde ihm niemand glauben. Dass da in der Nacht ein Mann gewesen war, der ihn nach Jona im Walfisch gefragt hatte.
Er bewegte sich nach rechts in die Richtung, die der Mann gezeigt hatte. Leise zählte er. Nach zwanzig Schritten stand er vor einem großen Baum. Er blieb stehen.
Hier war also das Versteck. Er ging näher zu dem Baum.
Auf einmal war seine Angst wie weggeblasen. Er blickte nach oben. Dann sah er es. Der Lichtschein seiner Taschenlampe war zu schwach, um genau erkennen zu können, worum es sich bei dem Ding handelte, das da oben an einem Ast baumelte. Aber er war sich sicher, dass es das war, was er suchte.
Jetzt wusste er auch, warum für dieses Versteck ein Seil nötig war. Kletterausrüstung sei wichtig, hatte es in der Beschreibung geheißen. Der Schein seiner Taschenlampe fuhr über den Baumstamm. In etwa fünf Metern Höhe gab es einen dicken Ast. Wenn man das Seil um diesen Ast schlang, konnte man daran hochklettern. Den Rest des Stammes hochzukommen, dürfte dann nicht mehr schwer sein.
Er warf das Seil nach oben. Beim vierten Wurf schlang es sich so um den Ast, dass das Ende des Seils wieder nach unten flog und er die beiden Enden verknoten konnte. Er zog ein paar Mal heftig an dem Seil, um sicherzugehen, dass es halten würde.
Er achtete nicht mehr auf das, was um ihn war. Er hatte die geheimnisvolle Begegnung im Wald vergessen, er dachte nur noch an das, was er da oben finden würde. Er hatte eine Pechsträhne gehabt, er trank zu viel, aber das würde sich ändern. Er dachte wieder an Carola. Gleich am Morgen würde er sie anrufen. Er würde sich ändern. Er wollte noch eine zweite Chance, dann würde es wieder so sein wie früher.
Er tat das hier nur für sie.
Er wusste nicht, dass er Carola nie mehr sehen würde.
Nürnberger Abendblatt
Nürnberg. Vor drei Tagen wurde in den frühen Morgenstunden der 35-jährige Andreas W. aus Leipzig in der Nähe des Tiergartens tot aufgefunden. Ein Jogger hatte die Leiche entdeckt und sofort die Polizei alarmiert. Der Tote hatte schwere Kopfverletzungen. Die Polizei geht davon aus, dass Andreas W. durch einen Sturz von einem Baum ums Leben gekommen ist.
Andreas W. war mithilfe eines Seils auf einen Baum geklettert. Dabei stürzte er vermutlich ab und fiel mit dem Kopf unglücklich auf einen Stein. Er war nach Angaben der Polizei sofort tot.
Das Seil hing noch an dem Baum. Bei dem Toten fand man neben seinem Handy, einem Ausweis und einer Brieftasche nur ein Papier, auf dem handschriftlich eine sinnlos aneinandergereihte Buchstabenfolge notiert war.
Erste Untersuchungen haben ergeben, dass der Tote einen Blutalkoholwert von über zwei Promille hatte. Außerdem fanden sich in seinem Blut Spuren von Kokain und Medikamenten. Ein Fremdverschulden wird von der Polizei ausgeschlossen.
Andreas W. arbeitete als freier Journalist in Berlin. Er war vor zwei Tagen in einem kleinen Hotel abgestiegen. Welche Gründe er für seinen Aufenthalt in Nürnberg hatte, ist der Polizei nicht bekannt.
»Und wenn der Gott der Schatzsucher gnädig war, wenn man die Zeichen richtig gedeutet hat, die Wüsten durchquert hat und den Dschungel durchwandert, wenn man die Hitze ertragen hat und die Kälte, den Hunger und den Durst, wenn man nicht verrückt geworden ist, besessen von dem Dämon Gold, dann kann man vielleicht den magischen Augenblick erleben, wo man die Schatzkiste hebt. Niemand kann diesen Moment beschreiben, den Augenblick, in dem wir die Schatztruhe öffnen. Wir wissen nicht, was sie enthält: wertlose Knochen oder einen Haufen Goldmünzen und funkelnder Diamanten.«
Paul Skamper schwieg einen Moment, ließ die Worte wirken.
»Im Dschungel Kolumbiens habe ich jahrelang nach der sagenumwobenen goldenen Stadt gesucht. Gefunden habe ich sie nicht. Das Einzige, was ich von meinen Reisen mitgebracht habe, ist ein mysteriöses Artefakt. Ich wurde von den Organisatoren dieser Veranstaltung gebeten, hier unbedingt auch dieses Artefakt zu zeigen. Ich komme dieser Bitte gerne nach und habe es mitgebracht. Hier ist es.«
Skamper drückte auf das Mousepad seines Notebooks und an der Wand erschien die Vergrößerung eines würfelförmigen Steins. Dann öffnete Skamper seinen Notebook-Koffer, holte das Artefakt heraus und legte es auf den kleinen Tisch neben seinem Pult.
Der Durchmesser des würfelförmigen Steins betrug ungefähr fünfzehn Zentimeter. Er hatte eine matte, graublau glänzende Oberfläche. Im Innern des Würfels waren kleine Punkte, die bei Lichteinfall zu leuchten begannen. Sobald man von einer anderen Seite des Steins in das Innere blickte, änderte sich auch die Anordnung der Punkte. Das Ganze wirkte wie ein eingearbeitetes Hologramm. Was es bedeutete, wusste niemand. Skamper hatte auch nach vielen Untersuchungen noch nicht herausgefunden, woraus diese Punkte gemacht waren und wie sie in den Stein gekommen waren.
Skamper fuhr mit seiner Rede fort: »Niemand konnte mir bisher sagen, ob dieser Stein ein bedeutendes Kunstwerk aus längst vergangenen Epochen ist oder eine wertlose Spielerei, ob die geheimnisvollen Zeichen im Innern eine raffinierte Fälschung oder das Zeugnis einer Kultur sind, die vor Urzeiten versunken ist, die aber schon damals unvorstellbare Kenntnisse und Fähigkeiten besaß. Das Artefakt ist ein Geheimnis und es ist meine persönliche Schatzsuche.«
Paul Skamper machte eine Pause. Ein röchelndes Husten war zu hören. Skamper blickte den Mann in der zweiten Reihe an. Ein älterer Mann in weißem Hemd mit Brille, der immer in den unpassendsten Momenten des Vortrags gehustet hatte, ein heiseres Krächzen, als würde er im nächsten Moment die Lebensgeister aushauchen.
Skampers Blick strich über die Stuhlreihen vor ihm. Man hatte mit hundert Zuhörern gerechnet, gekommen waren jedoch weit weniger und die meisten Stühle waren leer geblieben.
Arabella, die die Veranstaltung organisiert hatte, hatte so etwas geahnt.
»So was Blödes, dass zur selben Zeit im Haus so viele interessante Kurse laufen. ›Partnersuche – richtig angepackt‹. Da würde ich auch gern hingehen. Und neben uns läuft der Vortrag ›Abnehmen – aber richtig‹. Da kommen also auch die ganzen Dicken nicht zu uns. Das wird echt schwer.«
Als Skamper jetzt die leeren Reihen vor sich sah, war er froh, dass sein Vortrag bald zu Ende war. Vielleicht zwanzig Zuhörer verloren sich in dem großen Raum, wobei man das alte Ehepaar in der dritten Reihe abziehen musste, das während seines ganzen Vortrags selig geschlafen hatte.
»Haben Sie vielleicht Fragen?«
Skamper blickte in die Runde, sah dann zu dem großen Mann mit Halbglatze, der ganz vorne saß und sich die ganze Zeit über Notizen gemacht hatte. Wahrscheinlich jemand von der Presse.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Der Brillenträger aus der zweiten Reihe ließ ein unterdrücktes Röcheln hören, als würde er gleich wieder von einem Hustenanfall geschüttelt, konnte das aber unterdrücken.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Eine ältliche Frau mit kunstvoll toupierten Haaren streckte den Kopf herein. Alle blickten sie erwartungsvoll an.
»Bin ich hier richtig bei dem Vortrag ›Urintherapie für Fortgeschrittene‹?«
Arabella antwortete für Skamper. »Das ist einen Stock höher, direkt über uns. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht versehentlich in den Kurs daneben reinplatzen. Da läuft das Anti-Aggressionstraining für Senioren. Die alten Herrschaften können ganz schön sauer werden, wenn man sie bei ihrem Kurs stört.«
Die ältere Dame nickte und schloss wieder die Tür, die mit lautem Quietschen ins Schloss fiel.
Der hustende Brillenträger hatte sich vorgebeugt, um einen besseren Blick auf das Artefakt zu haben. »Meines Wissens nach ist dieses Artefakt nichts weiter als ein würfelförmiger Stein, der überhaupt keine Bedeutung hat.«
»Sie können es so sehen«, sagte Skamper.
»Da habe ich aber etwas anderes gelesen.« Die blonde Frau aus der vierten Reihe hatte sich zu Wort gemeldet. Sie war mollig, trug eine rosa Bluse und hielt mit beiden Händen ihre hellblaue Handtasche auf ihrem Schoß fest.
»Solche Artefakte gibt es doch wie Sand am Meer.« Der hustende Brillenträger lehnte sich zurück, nahm seine Brille ab und fuchtelte bei seinen weiteren Worten damit herum.
»Bei Ebay kann man Dutzende davon kaufen. Und alle sollen irgendeine geheimnisvolle Kraft haben. Aber seriöse Wissenschaftler haben festgestellt, dass es sich fast immer um Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert handelt. Mit modernsten Labormethoden hat man das untersucht. Aber die Leute glauben lieber, dass da ein großes Geheimnis dahintersteckt.«
»Seriöse Wissenschaftler«, schnaufte jetzt Arabella. Sie konnte es nicht stehen lassen, dass jemand die Echtheit des Artefakts anzweifelte. »Diese Wissenschaftler erzählen uns doch alles Mögliche. Dabei braucht man sich nur ein bisschen informieren, dann weiß man, was da dahintersteckt.«
»Was steckt denn dahinter?«, fragte der Brillenträger.
»Außerirdische. Diese Artefakte sind Relikte von Außerirdischen. Die haben das vor Jahrtausenden von Jahren hier zurückgelassen.«
Einen Augenblick sagte niemand etwas. Skamper sah stumm auf die Notizen seines Vortrags. Er kannte Arabellas Faible für Aliens. Wenn sie einmal davon anfing, war sie nicht mehr zu bremsen. Unauffällig sah er auf seine Uhr. Noch fünf Minuten, dann hatte er diese Veranstaltung hinter sich. Er hatte keine Lust mehr. Sollte Arabella ruhig noch etwas über Außerirdische erzählen. Dann war die Zeit um, und Skamper würde sich nie mehr zu einem Vortrag »Auf Schatzsuche in Südamerika« überreden lassen.
»Natürlich Außerirdische.« Die Ironie in der Stimme des Brillenträgers war nicht zu überhören. »Die kleinen, grünen Männchen. Ich frag mich nur: Warum sind die denn damals wieder abgehauen? Sind einfach auf die Erde gekommen, haben ein paar Dinge gebaut – und flutsch. Weg waren sie wieder. Und haben den Erdlingen nur ein paar Steinchen zurückgelassen, die angeblich magische Kräfte haben.«
»Wer sagt denn, dass die Außerirdischen wieder verschwunden sind?«, fragte Arabella.
Skamper wurde es nun doch zu viel. »Ich denke, dass dieses Artefakt hier durchaus irdisch ist. Und dass Außerirdische heute noch auf der Erde rumstolpern, das kann ich wirklich nicht glauben.«
»Du kannst doch die Fakten nicht leugnen.« Arabella wandte sich jetzt an die anderen. »Ich wollte es ja nicht erzählen, aber mich hatten sie auch schon am Wickel.«
»Die Außerirdischen?«, fragte die mollige Blonde aus der vierten Reihe.
Arabella nickte heftig. »Sie haben mich auf ihr Raumschiff entführt. Vor fünf Jahren war das. Und dann irgendwelche Untersuchungen gemacht, ich habe davon nichts mitgekriegt, ich war die ganze Zeit bewusstlos. Aber wie sie mich dann wieder rausgelassen haben, daran kann ich mich erinnern.«
Arabella machte eine Pause, Skamper nahm einen großen Schluck von dem Glas Wasser, das auf seinem Pult stand. Er hatte die Entführt-von-Außerirdischen-Geschichte schon ein Dutzend Mal gehört.
»Als ich da ging, war so ein Typ, der sah genauso aus wie in dem Film ›Die unheimliche Begegnung der dritten Art‹. Der sagt also zu mir: ›Putz dir immer die Schuhe ab, wenn du in eine fremde Wohnung gehst.‹« Arabella nickte wie zur Bestätigung ihrer Worte. »Genau so hat er das gesagt. Ich habe das noch heute im Ohr, als wäre es erst gestern.«
Nach ihren Worten war es still.
»Genau wie meine Mutter«, sagte die Blonde dann. »Meine Mutter hat das auch immer zu mir gesagt.«
»Das ist unglaublich«, sagte Arabella. »Das könnte bedeuten …« Sie stockte.
»Dass meine Mutter auch schon von denselben Aliens entführt wurde«, ergänzte die Blonde.
Arabella nickte bedeutungsvoll. Offensichtlich hatte sie jemanden gefunden, der ihr Faible für Außerirdische teilte.
Skamper musste das Gefühl unterdrücken, laut loszulachen. Aber er wusste, wie sehr das Arabella verletzt hätte.
Arabella deutete auf den Stein. »Also, ich hatte den Stein schon einmal in der Hand. Und da ist so was durch meinen Körper, so ein Gefühl. Und in meinem Kopf hat es Klick gemacht. Was ich damit sagen will: Das Ding ist nicht von unserer Welt.«
Wieder trat Stille ein. Alle blickten auf den Stein, der auf einem kleinen Tisch neben dem Stehpult lag. Skamper sah auf seine Uhr.
»Leider ist unsere Zeit um«, sagte er. »Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit. Wer sich den Stein genauer anschauen will, bitte, hier liegt er. Wer noch Fragen hat, ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Ich wurde außerdem gebeten, auf eine Veranstaltung hinzuweisen, die heute nach uns in diesem Haus läuft. Und zwar findet hier in diesem Saal um achtzehn Uhr die Veranstaltung ›Wege aus der Seinskrise‹ statt. Sehr zu empfehlen.«
Skamper packte das Manuskript in seinen Koffer und schaltete das Notebook aus. Die Zuhörer standen auf, kamen nach vorne. Die meisten blieben noch vor dem Artefakt stehen. Der Mann, der die ganze Zeit mitgeschrieben hatte, drängte sich zu Skamper. Er reichte ihm die Hand.
»Felix Schröder. Ich bin freier Mitarbeiter der ›Nürnberger Zeitung‹ und werde über Ihren Vortrag schreiben. Fand ich übrigens sehr interessant.«
Skamper nickte. Schröder sah auf seine Notizen.
»Ich bräuchte nur noch ein paar Informationen. Darf ich nach Ihrem Alter fragen?«
»Vierundvierzig.«
»Sie sind jetzt wie lange wieder in Nürnberg?«
»Seit einem halben Jahr.«
»Und planen Sie wieder eine Schatzsuche oder haben Sie das ganz aufgegeben?«
»Doch, ich bereite eine Suche vor, aber Sie müssen verstehen, dass ich darüber keine Details sagen will.«
»Verstehe.« Der Mann schrieb etwas in seinen Notizblock. Er zögerte einen Moment. »In Ihrem Vortrag sind Sie nur ganz kurz auf Ihre Expedition in Kolumbien eingegangen.«
Skamper schwieg. Kolumbien war wie ein Stichwort. Ein Stichwort, das ihn mit einem Schlag weit weg von diesem Raum führte, mitten hinein in den Dschungel.
Die drei Monate dauernde Expedition in Kolumbien. Die Suche nach der goldenen Stadt El Dorado. Sie waren zu dritt gewesen, drei Freunde, die sicher waren, endlich das Rätsel um El Dorado zu lösen. Skamper schwieg noch immer. Er erinnerte sich an den Moment, als er auf dem Dschungelboden lag und darauf wartete zu sterben.
Dann war das Bild weg, Skamper war wieder in dem Raum mit dem Mann, der ihn neugierig ansah.
»Alles, was es dazu zu sagen gab, habe ich schon gesagt. Ich will nicht mehr über diese Expedition sprechen.« Skamper hatte unfreundlich geklungen.
»Verstehen Sie«, versuchte er zu erklären, doch Schröder winkte ab.
»Sie brauchen das nicht zu erklären, ich verstehe das.« Er schrieb noch etwas in sein Notizbuch. »Vielen Dank. Der Artikel erscheint wahrscheinlich nächste Woche. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute für Ihre neue Expedition.«
Skamper nickte. Schröder steckte seinen Notizblock ein und ging zur Tür. Der Saal hatte sich geleert. Skamper hatte während des Gesprächs den Stein im Auge behalten. Jetzt ging er zu dem Tisch, wo das Artefakt noch lag, und steckte es in seinen Notebook-Koffer.
Von draußen hörte er Arabellas Stimme. Was erzählte sie da? Als er aus der Tür in den großen Vorraum trat, sah er Arabella vor einem Tisch, auf dem kleine Wasserflaschen aufgereiht waren. Um sie herum standen Zuhörer seines Vortrags.
Obwohl Arabella Mitte zwanzig war, wirkte sie auf Skamper oft wie ein Teenager. Vielleicht lag das an den Zöpfen, die sie bevorzugt im Pippi-Langstrumpf-Look trug. Heute hatte sie einen weiten, blauen Rock an, an dessen Saum ein Stofftier baumelte, ein lustig blickender Delphin.
Arabella deutete auf die Wasserflaschen. Ihre Zuhörer, darunter der Brillenträger und das ältere Ehepaar, hörten ihr mit skeptischen Gesichtern zu.
»Das hier ist Wasser, in dem das Artefakt eine Monddekade lang gelegen hat. So konnten die magischen Kräfte des Steins auf das Wasser übertragen werden. Dieses Wasser ist wirklich unglaublich. Es hilft gegen Schmerzen aller Art, gegen Bluthochdruck«, Arabella blickte kurz auf den schwindenden Haaransatz des Brillenträgers, »gegen Haarausfall, Husten und gegen Beschwerden, von denen wir nicht einmal wissen, dass es sie gibt.«
Eine typische Idee von Arabella, dachte Skamper. Er musste sich zusammenreißen, um sie nicht einfach zur Rede zu stellen.
»Wie viel kostet denn eine Flasche?«, fragte der Brillenträger.
»Eine Flasche kostet nur zehn Euro. Das ist fast geschenkt.«
»Zehn Euro einfach nur für Wasser?«, fragte einer der Umstehenden. »Das ist ein ziemlicher Hammer.«
»Nicht einfach nur Wasser«, sagte Arabella. »Magisches Wasser, angehäuft mit Energie des Artefakts.«
Die Zuhörer sahen sich an, dann schüttelten sie den Kopf.
»Sie verpassen eine echte Chance.«
Doch die Leute vor Arabella wandten sich ab und drängten zur Treppe. Sie rief ihnen nach: »Es hilft auch gegen Rückenschmerzen und gegen Hämorrhoiden. Und mit der Flasche kann man sich am Rücken auch an Stellen kratzen, wo man normal nicht hinkommt. Ich hab das ausprobiert.«
»Was soll dieser Quatsch, Arabella?«, fragte Skamper.
»Das mit dem Wasser ist mir erst gestern eingefallen. Das ist ’ne tolle Idee. Ich wette, wir können ein Vermögen machen.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich möchte den Leuten nicht irgendwas andrehen. Und ich finde, das ist eine völlig bescheuerte Idee.«
»Wenn dir das mit dem Wasser nicht gefällt, ich habe da noch eine andere Idee. Ich war in der Pause in dem Urintherapie-Vortrag über uns. Monika, die das macht, hat auch einen Kräuterladen in der Stadt. Von daher kenne ich sie. Und sie hat gesagt, wenn das Artefakt die ganze Zeit in deinem Schlafzimmer war, dann haben sich die Schwingungen schon längst auf deinen Körper übertragen. Wir könnten deinen Urin als Wundermittel verkaufen. Monika ist überzeugt, dass das einschlägt wie eine Rakete.«
Skamper war einen Moment fassungslos. »Sag mal, bist du noch zu retten?«
»Es könnte nur Probleme mit der Lieferung geben. Du müsstest jeden Tag eine bestimmte Menge liefern. Aber Kräutertee könnte dir dabei helfen. Das wirkt ungeheuer harntreibend.«
»Arabella, ich will von diesem Schwachsinn nichts mehr hören.«
»Du könntest es doch wenigstens versuchen. Ich hätte schon einen Namen für das Mittel: Der Lebenssaft des Artefakts. Monika kennt einen Amerikaner, sie hat gesagt, der würde locker tausend Euro für eine Flasche von deinem Urin bezahlen.«
»Tausend Euro?«, fragte Skamper verblüfft.
Arabella nickte. »Es könnte ein Riesengeschäft werden.«
Skamper überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nein, nein.«
In dieser Nacht träumte Skamper das erste Mal seit langer Zeit wieder von Kolumbien. Er wachte mitten in der Nacht auf, der Schweiß klebte auf seiner Haut und alles war wieder da. Die sengende Hitze, die Erschöpfung, der Durst, die Moskitos und das Fieber. Die Bilder waren so intensiv, dass er einige Zeit brauchte, um in die Realität seines Schlafzimmers zurückzukehren.
Und noch später am nächsten Tag tauchten die Bilder wieder auf. Als hätte er Kolumbien nie verlassen, als wäre ein Teil von ihm immer noch dort, würde immer noch auf dem Boden des Dschungels liegen und nach einem Grund suchen, wieder aufzustehen.
•
Simon Morlov erinnerte sich noch genau an den Tag, als der Graue bei ihm aufgetaucht war.
Es war zu der Zeit, als die Kopfschmerzen zum ersten Mal auftraten. Stechende Schmerzen, die ihn die halbe Nacht lang wach liegen ließen.
Der Graue hatte nicht angeklopft, das tat er auch später nie. Er saß in Morlovs Küche, als dieser von seinem Garten zurückkam. Morlov musste einmal unvorsichtig gewesen sein und die Haustür offen gelassen haben. Das war die einzige Erklärung, dass der Fremde einfach so in das Haus gekommen war.
»Guten Tag«, hatte der Graue gesagt, als Morlov in der Tür stand und ihn völlig erstaunt ansah.
»Setz dich«, sagte er dann. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Der Graue stellte sich nicht vor, er erwähnte gegenüber Morlov nicht, wie er hieß, er sagte nicht, woher er kam und was er wollte. Er schien von Anfang an davon auszugehen, dass Morlov Bescheid wusste und dass Fragen unnötig waren und nur Zeit kosten würden.
Er saß an Morlovs Küchentisch, ein großer, knochiger Mann um die sechzig in einem perfekt sitzenden, dunklen Anzug. Er trug einen schwarzen Hut und die grauen, langen Haare, die struppig und wirr unter dem Hut hervorquollen, passten nicht zu seinem gepflegten Aufzug.
Morlov hatte keine Fragen gestellt, nicht nach dem Namen und woher der Fremde kam. Er hatte ihn erwartet. So lange hatte er darauf gehofft, dass irgendwann einer in seiner Küche saß so wie früher, mit einem Koffer und ohne Namen. Namen waren nie gefallen.
»Du weißt, warum ich hier bin«, hatte der Graue gesagt und Morlov hatte genickt.
»Das ist gut. Erklärungen kosten nur Zeit und wir haben nicht viel Zeit.«
Später hatte es doch Fragen gegeben. Morlovs Neugier war zu groß gewesen. Wie er gerade auf ihn gekommen sei und ob man ihn empfohlen habe, vielleicht jemand von früher.
Der Graue hatte aufgesehen und dann gelächelt. Es war das einzige Mal, dass der Graue an diesem Nachmittag lächelte und auch später sah ihn Morlov nie mehr lächeln.
Morlov sah in sein gegerbtes Gesicht, ein Gesicht mit tiefen Furchen und Narben. Auf einmal wurde seine Miene kalt und Morlov wusste, dass er nicht hätte fragen dürfen.
»Vergessen Sie die Frage«, sagte Morlov sofort. »Ich wollte nicht fragen, wirklich nicht …« Er stockte, wusste nicht mehr weiter. »Es ist nur so … es ist nur so lange her, dass jemand wie Sie hier war.«
»Ich weiß, Simon. Aber ich vertraue dir. Ich weiß, dass du der Richtige bist.«
Die Worte des Grauen machten Morlov glücklich.
Der Graue erklärte ihm alles genau. Er bestand darauf, dass Morlov sich keine Notizen machte, nichts Schriftliches, keine Fotos, keine Papiere, nichts.
Bevor der Graue ging, stellte Morlov eine zweite Frage. Eine Frage, die er stellen musste. Nach der Bezahlung. Der Graue sah ihn lange an.
»Du wirst gut bezahlt werden. Mach dir deswegen keine Sorgen, Simon. Man wird dich gut bezahlen.«
Dann nahm er seinen Koffer in die Hand und ging zur Tür. Dort blieb er stehen.
»Ich werde jetzt öfters kommen.« Er nickte ihm zu, öffnete die Tür und verschwand.
Nachdem der Graue gegangen war, spürte Morlov wieder seine Kopfschmerzen. Während des Gesprächs waren sie weg gewesen. Doch dann pochte wieder etwas in seinem Kopf und Morlov nahm zwei Tabletten.
Dr. Barin entfernte die Blutdruckmanschette von Morlovs Arm. Er beugte sich über seine Unterlagen und schrieb etwas in unleserlicher Schrift auf einem Notizblock. Morlov zog seinen Pulloverärmel wieder nach unten.
Er blickte den Arzt an. Morlov schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er hatte ein jungenhaftes, etwas dickliches Gesicht und auf Morlov wirkte er wie ein pickliger Schüler, der sich den Arztkittel seines Vaters angezogen hatte, um mit seiner Freundin schmutzige Doktorspielchen zu veranstalten.
»Die Werte sind alle in Ordnung. Vielleicht ist der Cholesterinspiegel etwas hoch. Aber …« Barin blickte auf seine Notizen. »Nein, für Ihr Alter ist das völlig okay.«
Morlov war Anfang fünfzig, wirkte aber viel jünger. Er war schlank und drahtig und man sah ihm an, dass er täglich trainierte.
»Haben Sie denn noch die Kopfschmerzen?«
Morlov nickte.
»Haben Sie die Tabletten genommen, die ich Ihnen verschrieben habe?«
»Ich habe die Tabletten genommen, sie helfen, aber nicht lange.«
Barin lehnte sich zurück, betrachtete Morlov. Unter dem grauen, dünnen Pullover zeichnete sich der Ansatz eines Bauches ab. Die Arme waren dünn, die Schultermuskeln kaum ausgeprägt.
Der Junge braucht Training, dachte Morlov. Morgens hundert Liegestütze und danach einen scharfen Waldlauf. Das würde helfen, dass er nicht in zehn Jahren aussah wie ein Knautschsessel.
»Wissen Sie«, sagte Barin. »Wenn ich Kopfschmerzen habe, nehme ich einen Löffel Honig am Morgen und einen Baldriantee. Das ist manchmal besser als Tabletten.«
Morlov sah ihn stumm an.
»Nun gut, Baldriantee ist nicht jedermanns Sache. Schmeckt etwas eigenartig. Aber ich schwöre darauf.«
Was soll dieses Gerede, dachte Morlov. Er spürte wieder den Druck in seinem Schädelinnern. Die Tabletten waren das Einzige, das den Schmerz etwas dämpfen konnte.
»Sie können das ja mal probieren. Wenn es nicht klappt, verspreche ich Ihnen, dass ich Ihnen sofort wieder die Tabletten verschreibe.«
Morlov fing an zu begreifen. Der Kerl wollte ihm die Tabletten nicht verschreiben. Vielleicht hatte er sein Budget schon ausgeschöpft und musste sparen.
»Oft sind Schmerzen auch ein Zeichen«, redete Barin weiter. »Ein Zeichen dafür, dass wir mit uns nicht im Reinen sind. Vielleicht gibt es ja etwas, das Sie bedrückt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine das seelisch. Wenn Sie Kummer haben, dann kann sich das in Kopfschmerzen äußern. Das ist durchaus üblich.« Der Arzt rutschte auf seinem Stuhl herum. »Als ich ein Kind war und mein Hamster starb, was glauben Sie, was ich für Kopfschmerzen hatte, das hat gar nicht mehr aufgehört.«
Was ist mit diesem Arzt los, dachte Morlov.
»Ist da vielleicht etwas, was Sie bedrückt?«
»Ich hatte nie einen Hamster«, sagte Morlov.
»Ach so.« Barin versuchte ein Lachen, es klang unecht.
»Das war ja auch mehr ein Beispiel, wissen Sie.«
»Ich weiß.«
Der Arzt rutschte wieder unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Morlov sah ihn direkt an, Barin hielt dem Blick nicht stand. Er senkte seine Augen.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Morlov.
Barin blickte auf. »Aber nein, ich fühle mich sehr gut. Wie kommen Sie auf diese Frage?«
Morlov lehnte sich zurück. Das Pochen in seinem Kopf wurde stärker. »Verschreiben Sie mir die Tabletten«, sagte er.
Barin zögerte einen Moment, dann nickte er eifrig. »Natürlich, ich verschreibe sie Ihnen, gleich. Baldriantee ist ja nicht jedermanns Sache. Das verstehe ich.«
•