Oberbefehlshaber

 

Nach Einführung des gemeinsamen Marktes, der von den Vereinigten Planetaren Streitkräften unter dem Kommando von Oberbefehlshaber Donal Graeme überwacht wurde, befanden sich die zivilisierten Welten in dem äußerst ungewöhnlichen Zustand eines fast völlig ungestörten Friedens. Er dauerte zwei Jahre, neun Monate und drei Tage absoluter Zeit. Doch früh am Morgen des vierten Tages wurde Donal ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen, als jemand an seiner Schulter zerrte.

„Was ist los?“ fragte er, als sein Verstand sofort zu arbeiten begann und die Reste der Müdigkeit abstreifte.

„Sir …“ Es war die Stimme Lees. „Ein Sonderkurier, der Sie sprechen möchte. Er sagt, die Nachricht dulde keinen Aufschub.“

„Gut.“ Noch benommen, aber entschlossen schwang Donal die Beine über den Rand der Schwebliege und griff nach seiner Unterhose, die auf einem Gleitsessel neben ihm lag. Er nahm sie auf und warf dabei irgend etwas zu Boden.

„Licht“, sagte er zu Lee. Die Beleuchtung flammte auf, und er konnte erkennen, daß sein Armbandcomputer vom Sessel gefallen war. Er hob ihn auf und starrte mit trüben Augen auf die Anzeigen. „Neunter März“, murmelte er. „Ist das richtig, Lee?“

„Ja, das stimmt“, antwortete die Stimme Lees von der anderen Seite des Zimmers. Donal lachte leise und ein wenig heiser.

„Noch keine Nerfling-Saison“, murmelte er. „Aber sie fängt bald an. Bald.“

„Sir?“

„Nichts, Wo ist der Kurier, Lee?“

„Im Gartensalon.“

Donal zog die Unterhose an, unmittelbar darauf die Uniformhose und auch Hemd und Jacke, womit seine Ausstattung komplett war. Er folgte Lee in den Gartensalon. Außerhalb seiner Suite klebte noch die Schwärze der zu Ende gehenden Nacht über Tomblecity, Cassida. Der Kurier, ein schlanker, kleiner Mann mittleren Alters in Zivilkleidung, wartete auf ihn.

„Kommandeur …“ Der Kurier blinzelte Donal an. „Ich habe eine Mitteilung für Sie. Ich weiß selbst nicht, was sie bedeutet …“

„Schon gut“, unterbrach ihn Donal. „Wie lautet sie?“

„Ich soll folgendes ausrichten: ‚Die graue Ratte ist aus dem schwarzen Labyrinth herausgekommen und hat den weißen Hebel betätigt.’“

„Ich verstehe“, sagte Donal. „Ich danke Ihnen.“ Der Kurier zögerte.

„Irgendwelche Botschaften oder Befehle, Kommandeur?“

„Nein, danke“, sagte Donal. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Sir“, sagte der Kurier, und Lee begleitete ihn hinaus. Als Lee zurückkehrte, stellte er fest, daß Donal inzwischen seinem Onkel Bescheid gegeben hatte. Ian Graeme war bereits bei ihm, voll angekleidet und bewaffnet. Donal schnallte sich ebenfalls einen Waffengurt um. Der Glanz des künstlichen Lichts hatte die Dunkelheit aus dem Raum vertrieben, und sowohl die Helligkeit als auch die Nähe seines düsteren und hochgewachsenen Onkels machten deutlich, daß die Belastungen und Anstrengungen der letzten Monate nicht spurlos an Donal vorübergegangen waren. Er wirkte nicht direkt eingefallen, aber die Haut schien nun direkt über seinen groben Knochen zum Zerreißen gespannt zu sein. Er schien nur noch aus eckigen Kanten und angespannten Muskeln zu bestehen. Seine Augen lagen tief; die dunklen Ringe darunter zeugten von den Strapazen, denen er ausgesetzt war.

Wenn man ihn musterte, dann konnte man praktisch nur zu dem Schluß kommen, es hier mit einem Mann zu tun zu haben, der am Rande des körperlichen und nervlichen Zusammenbruchs stand. Oder mit jemandem, der mit so fanatischer Entschlossenheit ein Ziel verfolgte, daß er bereits weit über die Grenzen der üblichen menschlichen Leistungsfähigkeit hinaus war. Ihm haftete irgend etwas von der Transparenz eines Fanatikers an, in dem das Licht eines alles verzehrenden Willens durch die zerbrechliche und nicht so standhafte Hülle des Körpers schimmert. Mit dem einen Unterschied, daß Donal nicht wirklich transparent war – er glühte, sein Körper, alles an ihm, jede Faser seines Seins. Er war wie ein fester, solider Barren aus gerade im Feuer gehärtetem Stahl, und die weiße, ascherne Hitze war sein Wille, der alles verzehrte, nur sich selbst nicht.

„Bewaffnen Sie sich, Lee“, sagte Donal und deutete auf einen anderen Waffengürtel. „Wir haben noch zwei Stunden, bis die Sonne aufgeht und es zum großen Knall kommt. Danach werde ich auf jeder Welt außer Dorsai als Verbrecher geächtet sein – und ihr beide ebenfalls.“ Er kam nicht auf den Gedanken, sich bei ihnen zu erkundigen, ob sie sich mit ihm in die Katastrophe stürzen wollten, die bald um ihn herum losbrechen würde. Und sowohl Lee als auch Ian stellten die Selbstverständlichkeit, mit der er sie einbezog, nicht in Frage.

„Ian, hast du Lludrow verständigt?“

„Ja“, sagte Ian. „Er hat sich mit allen Einheiten in den Raum zurückgezogen, und er meint, er kann sie dort, falls nötig, eine Woche festhalten – in völliger Funkstille.“

„Gut. Kommt.“

 

Sie verließen das Gebäude und traten auf die Reiseplattform zu, die in der Bereithaltungsmulde auf sie wartete. Kurz darauf trug sie die Plattform lautlos durch die samtene Schwärze der zu Ende gehenden Nacht und neigte sich dann dem Landefeld entgegen, das nicht weit von Donals Wohnsitz entfernt war. Donal schwieg und überlegte, was er in sieben Tagen absoluter Zeit erreichen konnte. Am achten Tag mußte Lludrow die Funkverbindung wiederherstellen. Und die Befehle, die er dann erhielt, würden sich kraß von denen unterscheiden, die ihm Donal in einer versiegelten Kapsel zugestellt hatte und die Lludrow jetzt gerade studieren mochte. Sieben Tage …

Sie gingen auf dem Landefeld nieder. Das Schiff – ein Raum- und Atmosphärenkurier vom Typ N4J – stand für sie bereit. Die Positionslichter glühten stetig und gleichmäßig. Das vordere Schott des großen, nur schattenhaft zu erkennenden Zylinders schwang auf, und ein narbengesichtiger Senior-Kapitän trat ihnen entgegen.

„Sir“, sagte er, salutierte vor Donal und wich zur Seite, damit sie eintreten konnten. Sie gingen an Bord, und das Schott schloß sich hinter ihnen.

„Coby, Kapitän“, sagte Donal.

„Ja, Sir.“ Der Kapitän schritt an einen Wandkommunikator heran. „Kontrollraum“, sagte er. „Coby.“ Dann wandte er sich wieder Donal zu. „Darf ich Sie zum Salon führen, Kommandeur?“

„Das wäre mir recht“, erwiderte Donal. „Und lassen Sie Kaffee kommen.“

Sie suchten den Salon auf, der so eingerichtet war wie der Gesellschaftsraum einer Privatjacht. Und kurz darauf schickte die Kombüse den bestellten Kaffee. Ein Autoservierer brachte ihn, rollte leise summend durch die Tür und parkte direkt neben ihren Gleitsesseln.

„Setzen Sie sich zu uns, Cor“, sagte Donal. „Lee, das ist Kapitän Coruna El Man. Cor, mein Onkel Ian Graeme.“

„Dorsai!“ sagte Ian und schüttelte ihm die Hand.

„Dorsai!“ erwiderte El Man. Die beiden düster wirkenden Berufssoldaten lächelten einander andeutungsweise zu.

„Gut“, sagte Donal. „Jetzt, da die Vorstellungsformalitäten erledigt sind … wie lange brauchen wir bis nach Coby?“

„Wir können sofort in die erste Phasenverschiebung gehen, sobald wir die Atmosphäre hinter uns gelassen haben“, erwiderte El Man mit seiner ziemlich rauhen und kratzenden Stimme. „Wir haben die Berechnungen die ganze Zeit über auf dem aktuellen Stand gehalten. Nach dem ersten Sprung brauchen wir mindestens vier Stunden, um die Daten für den nächsten zu ermitteln. Dann sind wir nur noch ein Lichtjahr von Coby entfernt, und für jede weitere Phasenverschiebung ist immer weniger Berechnungszeit erforderlich. Trotzdem – fünf weitere Kalkulationsperioden, die durchschnittlich jeweils zwei Stunden umfassen. Zehn Stunden, plus die vier für den zweiten Sprung, dann drei oder vier weitere für den Direktanflug und die Landung auf Coby. Sagen wir achtzehn Stunden insgesamt – mindestens.“

„Gut“, meinte Donal. „Ich brauche zehn von Ihren Leuten für einen Stoßtrupp. Und einen guten Offizier.“

„Nehmen Sie mich“, sagte El Man.

„Kapitän, ich … nun gut“, erwiderte Donal. „Sie und zehn Männer. Nun …“ Er zog einen Bauplan aus der Innentasche seiner Jacke. „Wenn Sie sich das hier bitte alle ansehen würden … wir stehen vor folgender Aufgabe …“

 

Der Plan zeigte eine unterirdische Residenz auf Coby, jenem Planeten, dessen Staat sich aus einer Ansammlung von Bergwerken heraus entwickelt hatte und der nie richtig terrageformt worden war. Allerdings war es auch fraglich, ob das selbst mit modernen Methoden überhaupt möglich war. Wega, eine Sonne vom AO-Typ, war zu ungastlich zu ihren Satelliten, und die Umweltbedingungen auf Coby, dem vierten Planeten von sieben, waren nicht gerade paradiesisch.

Auf dem Plan war ein Gebäudekomplex mittlerer Größe dargestellt, der rund achtzehn Räume umfaßte und von Gärten und Höfen umgeben war. Der Unterschied zu den gewöhnlichen, überirdisch angelegten Bauwerken auf anderen Welten, so legte Donal dar, bestand in der damit verbundenen optischen Täuschung. Soweit es das visuelle Bild betraf, mochte jemand, der sich in dem Gebäude oder einem der Gärten befand, die Vorstellung haben, sich auf der Oberfläche eines durch und durch terrageformten Planeten aufzuhalten. Aber achtzig Prozent dieses Eindrucks waren nichts weiter als reine Illusion. In Wirklichkeit war die betreffende Person in allen Richtungen von massivem Fels umgeben – Fels unter den Füßen, Felsen höchstens zehn Meter über dem Kopf, Felsen überall.

Für den Stoßtrupp bot diese Situation gewisse Nachteile, aber auch einige bestimmte und eindeutige Vorteile. Ein Nachteil war, daß der Rückzug nach Erreichen des Ziels – der Festnahme eines Mannes, über dessen Identität sich Donal noch keine Gedanken machte – nicht so einfach vonstatten gehen konnte, wie es auf der Oberfläche eines Planeten der Fall sein mochte. Da brauchte man bloß alle Männer in das in der Nähe wartende Schiff zu verfrachten und abzudampfen. Ein großer Vorteil jedoch, der den erwähnten Nachteil mehr als ausglich, war folgender: Bei dieser Art von Gebäude waren die es umgebenden Felswände durchsetzt mit Versorgungskorridoren und Gerätekammern, die die Oberflächenillusion schufen – und somit war ein leichtes und unbemerktes Eindringen möglich.

Als die anderen drei Männer bei ihm unterrichtet waren, gab Donal den Plan El Man, der ihn mitnahm, um die Männer des Stoßtrupps in Kenntnis zu setzen. Donal schlug Lee und Ian vor, seinem Beispiel zu folgen und so viel Schlaf wie möglich zu tanken. Dann suchte er seine Kabine auf, entkleidete sich und legte sich in die Koje. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und für ein paar Augenblicke drohten sich seine Gedanken in Spekulationen darüber zu verlieren, was auf den verschiedenen Welten geschehen mochte, während er schlief. Unglücklicherweise hatte noch niemand das Problem der überlichtschnellen Nachrichtenverbindung gelöst. Und das war natürlich der Grund, warum alle für andere Planeten gedachten Mitteilungen und Botschaften von Raumschiffen überbracht wurden. Es war die schnellste und auch – wenn man es sich genau überlegte – praktischste Möglichkeit, sie den Empfängern zu übermitteln.

Doch das zwanzigjährige harte Training bekam Donals Nerven langsam unter Kontrolle. Er schlief ein.

Er erwachte rund zwölf Stunden später und fühlte sich so ausgeruht wie seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Nach dem Frühstück ging er hinunter zum Fitneßcenter des Schiffes. So eng und klein es auch war – in einem interstellaren Raumschiff war diese zusätzliche Einrichtung noch immer ein Luxus. Hier traf er auf Ian, der dabei war, ganz methodisch die Körperübungen nach Art der Dorsai durchzuführen. Wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot, unterzog sich der düstere Mann jeden Morgen dieser Prozedur, genauso gewissenhaft und nahezu automatisch, wie sich die meisten Männer rasieren oder sich die Zähne putzen. Einige Minuten lang beobachtete Donal, wie Ian am Barren turnte und dabei die Muskeln seines ganzen Körpers beanspruchte. Und als sein Onkel auf die Matte hinuntersprang, glänzte seine breite Brust vor Schweiß, und der säuerliche Geruch stieg Donal scharf in die Nase. Dann begannen sie zu ringen.

Das Resultat war ein wenig überraschend für Donal – Ian war noch weitaus stärker, als er erwartet hatte. Sein Onkel war größer und kräftiger als er. Aber Donal hätte ihm an Schnelligkeit und Gewandtheit klar überlegen sein müssen – aufgrund seiner Jugend und auch seiner eigenen natürlichen Reflexe, die außergewöhnlich gut waren. Doch die Strapazen des letzten Jahres und seine physische Untätigkeit hatten ihren Tribut gefordert. Dreimal konnte er sich gerade noch rechtzeitig aus der Umklammerung seines Onkels befreien. Und als er den älteren Mann schließlich zu Boden warf, gelang ihm das nur mit Hilfe eines Tricks, den er während des letzten Schuljahres auf Dorsai verschmäht hätte. Es war ein Trick, der auf hinterlistige Weise die leichte Steifheit des ganz vernarbten linken Arms von Ian ausnutzte. Diese geringe Beeinträchtigung der Beweglichkeit war das Ergebnis einer alten Verwundung.

Die Situation konnte Ian kaum verborgen geblieben sein, ebensowenig wie die Gründe, die hinter der eigentlich unfairen List standen, mit der ihn Donal geschlagen hatte. Doch in der letzten Zeit schien ihn nichts aus der Ruhe bringen oder verärgern zu können. Er sagte kein Wort, duschte zusammen mit Donal und kleidete sich an. Dann suchten sie den Salon auf.

 

Kaum hatten sie dort Platz genommen, kam die Aufforderung, die Sedative einzunehmen. Und – ein paar Minuten später – der Schock einer Phasenverschiebung. Unmittelbar darauf trat El Man in den Salon.

„Wir sind jetzt in Funkreichweite, Kommandeur“, sagte er. „Wenn Sie die Nachrichten hören wollen …“

„Sehr gern“, gab Donal zurück.

El Man berührte einen bestimmten Punkt an der Wand, und sie schien ihre Festigkeit zu verlieren und wurde transparent. Das dreidimensionale Bild eines am Tisch sitzenden Nachrichtensprechers von Coby erschien.

„… breitete sich nach den Anschuldigungen, die die Kommission des Gemeinsamen Marktes gegenüber dem Oberbefehlshaber der Vereinigten Planetaren Streitkräfte, Donal Graeme, erhob, rasch aus“, ertönte die Stimme des Nachrichtensprechers. „Der Kommandeur selbst ist verschwunden; die meisten Schiffe seiner Raumflotte befinden sich derzeit offenbar außerhalb der Funkreichweite, so daß ihr jetziger Standort unbekannt ist. Diese Entwicklung hat offenbar zu Gewaltakten auf den meisten zivilisierten Welten geführt, was in einigen Fällen gar in offenen Revolten gegen die amtierenden Regierungen gipfelte. Anlaß für die Vielzahl der Auseinandersetzungen ist offenbar einerseits die Furcht der breiten Massen vor einer Ausweitung des unbeschränkten Marktes und andererseits die Überzeugung, die Anschuldigungen gegen Graeme seien ein Versuch, die letzten noch bestehenden Sicherheitsgarantien für die Rechte des einzelnen aufzuheben.

Nach den uns vorliegenden Informationen finden Kämpfe auf den folgenden Welten statt: Venus, Mars, Cassida, Neuerde, Freiland, Harmonie, Eintracht und Santa Maria. Bekanntgeworden ist, daß die Regierungen folgender Planeten abgesetzt oder in den Untergrund gegangen sind: Cassida, Neuerde und Freiland. Von Alt-Erde, Dunnins Welt, Mara, Kultis und Ceta werden keine Kämpfe gemeldet. Und hier auf Coby ist es bisher ebenfalls zu keinen Gewalttätigkeiten gekommen. Fürst William von Ceta hat angeboten, seine Söldnerstreitkräfte als Polizeitruppen einzusetzen, um den Unruhen damit ein Ende zu machen. Truppenkontingente von Ceta sind auf dem Weg oder befinden sich bereits auf den Welten, auf denen derzeit gekämpft wird. William hat angekündigt, daß seine Truppen dazu eingesetzt werden, alle Rebellionen niederzuschlagen, mit denen sie es zu tun bekommen – ohne Rücksicht darauf, welche Gruppe dadurch an die Macht kommt. ‚Es ist nicht unsere Aufgabe, Partei zu ergreifen’, hat er angeblich verlauten lassen. ‚Wir haben die Pflicht, Ordnung in das gegenwärtige Chaos zu bringen und die Flammen der Selbstzerstörung zu löschen.’

Ein gerade von Alt-Erde eingetroffener Bericht besagt, daß eine Anzahl der aufständischen Gruppen für die Ernennung Williams zum Weltregenten eintreten. Er solle mit unbeschränkten Befugnissen ausgestattet werden und als starker Mann dem gegenwärtigen Notstand ein Ende machen. Eine ähnlich starke Bewegung hat den Namen Graemes auf ihr Banner geschrieben und favorisiert den verschwundenen Oberbefehlshaber für diesen Posten.

Weitere Meldungen folgen in Kürze“, schloß der Mann am Tisch. „Schalten Sie zu unserer nächsten Nachrichtensendung in fünfzehn Minuten wieder ein.“

„Gut“, sagte Donal und bedeutete El Man, den Empfänger auszuschalten. Der narbengesichtige Dorsai kam der Aufforderung nach. „Wie lange noch bis zur Landung?“

„Ein paar Stunden“, erwiderte El Man. „Wir sind unserem Zeitplan ein wenig voraus. Die letzte Phasenverschiebung haben wir bereits hinter uns. Wir befinden uns nun im Direktanflug. Haben Sie Koordinaten für das Landegebiet?“

Donal nickte und erhob sich.

„Ich komme in den Kontrollraum hoch“, sagte er.

 

Es war ein zeitraubender, aber recht einfacher Vorgang, die N4J auf dem Punkt der Oberfläche von Coby zu landen, den Donal mit seinen Koordinaten beschrieben hatte. Donals Wunsch, unbemerkt niederzugehen, machte die Sache nur wenig schwieriger. Coby besaß nichts von dem, was eine terrageformte Welt ihr eigen nennen mochte, und hatte deshalb auch nichts zu verteidigen. Das Kurierschiff setzte ohne Zwischenfall auf der atmosphärelosen Oberfläche auf, direkt über der Frachtschleuse eines subplanetaren Transporttunnels.

„Also gut“, sagte Donal fünf Minuten später, als sich die bewaffneten Männer der Einsatzgruppe im Salon versammelt hatten. „Dies ist ein Unternehmen auf völlig freiwilliger Basis, und ich möchte jedem von Ihnen noch einmal die Gelegenheit bieten, es sich anders zu überlegen, ohne Nachteile befürchten zu müssen.“ Er wartete. Niemand rührte sich. „Verstehen Sie mich bitte richtig“, sagte er. „Ich möchte nicht, daß jemand mitkommt, weil er sich dazu moralisch genötigt sieht oder nicht vor seinen Schiffskameraden zurückstehen will.“ Wieder wartete er. Niemand trat zurück. „Also gut. Wir gehen folgendermaßen vor: Sie begleiten mich durch diese Frachtschleuse und folgen mir in den Empfangsraum. Hier befindet sich eine Tür, die zu einem Tunnel führt. Wir gehen jedoch nicht durch diesen Korridor, sondern brennen uns durch eine der Wände; auf diese Weise verschaffen wir uns einen direkten Zugang zu der Versorgungssektion einer angrenzenden Wohnanlage. Sie alle haben eine Skizze unserer Route gesehen. Sie haben meine Anordnungen zu befolgen – oder, wenn ich ausfalle, die des jeweils Befehlshabenden. Verletzte, die nicht weiterkönnen, müssen zurückbleiben. Noch Fragen?“ Er sah sich im Kreis der Männer um.

„Also gut“, sagte er. „Gehen wir.“

Er führte sie den Hauptkorridor entlang, dann aus dem Schiff hinaus und durch die Frachtschleuse in den Empfangsraum. Dabei handelte es sich um eine düstere Kammer mit glattgeschmolzenen Felswänden. Donal vermaß eine dieser Wände, kennzeichnete eine bestimmte Stelle und ließ seine Männer mit den Brennern aktiv werden. Drei Minuten später befanden sie sich in der Versorgungssektion einer Wohnanlage von Coby.

Der Bereich, in dem sie sich nun aufhielten, erwies sich als ein Netzwerk aus kleinen Tunnels, die gerade groß genug waren, um jeweils einem Mann Durchlaß zu gewähren. Dieses Labyrinth aus Korridoren war durchsetzt mit winzigen Nischen und Spalten, die die technischen Vorrichtungen enthielten, die zur Erzeugung und Aufrechterhaltung der Oberflächenillusion erforderlich waren. Die Wände waren mit einer Dauerbeleuchtungs-Patina beschichtet. Und in diesem kalten, weißen Licht schritten sie hintereinander durch einen der Tunnels und gelangten in einen Garten.

Der Zyklus des Kunstumweltsystems der Wohnanlage war offenbar gerade auf Nacht justiert. Dunkelheit hüllte den Garten ein, und über ihnen glänzte der imitierte Schimmer eines sternübersäten Himmels. Voraus und rechts von ihnen befand sich die Ansammlung von Haupträumen. Das aus ihnen tropfende Licht tauchte sie wie in eine weiche Aura.

„Zwei Mann halten diesen Ausgang“, flüsterte Donal. „Die anderen folgen uns.“

Geduckt führte er sie durch den Garten zum Fuß einer breiten Treppe. Am oberen Absatz war eine einzelne Gestalt zu erkennen. Sie ging auf der Terrasse vor einer transparenten Wand auf und ab.

„Kapitän …“, wisperte Donal. El Man glitt fort und verschwand in den Büschen unter der Terrasse. Eine Zeitlang rührte sich nichts in der künstlichen Nacht, dann tauchte er als verschwommene Kontur hinter der oben auf und ab schreitenden Gestalt auf. Die beiden Schatten verschmolzen miteinander und sanken zu Boden. Nur der Schemen El Mans kam wieder in die Höhe. Er winkte sie zu sich.

„Drei Mann bleiben auf dieser Terrasse“, flüsterte Donal, als sie alle den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. El Man wählte drei Soldaten des Stoßtrupps aus, dann drangen sie weiter in das beleuchtete Innere der Wohnanlage vor.

Sie kamen an verschiedenen Räumen vorbei, und eine Zeitlang schien es, als könnten sie ihr Ziel erreichen, ohne auf einen anderen Mann zu stoßen als den, den sie hier suchten. Dann, ohne jede Vorwarnung, brach um sie herum eine regelrechte Schlacht los.

 

Als sie in die Haupthalle gelangten, wurde aus drei nebeneinander liegenden Räumen gleichzeitig mit Handwaffen das Feuer auf sie eröffnet. Die Soldaten reagierten ganz automatisch auf die von der Ausbildung trainierten Reflexe, warfen sich zu Boden, gingen in Deckung und erwiderten das Feuer. Damit saßen sie fest.

Sie – aber nicht die drei Dorsai. Donal, Ian und El Man reagierten auf ihre eigene, besondere Weise, die das Produkt ihrer Gene und Reflexe und der Spezialausbildung war und die die Dorsai als Berufssoldaten prädestinierte. Die gemeinsame Reaktion dieser drei Männer erfolgte bereits einen Sekundenbruchteil, bevor das Feuer auf sie eröffnet wurde. Es war fast, als besäßen sie eine Art sechsten Sinn, der nun wirksam geworden war. Jedenfalls wirbelten sie so rasch herum, daß man ihren Bewegungen kaum folgen konnte, und stürmten auf einen der Räume zu, in denen sich der Gegner verbarg. Sie erreichten die Tür, rissen sie auf und standen ihren Feinden direkt gegenüber, noch bevor die ihre Waffen zum Einsatz bringen konnten. Jetzt befanden sich die drei Dorsai mitten unter ihnen in dem verdunkelten Raum, und sie gingen unmittelbar darauf zum Angriff über.

Und hier zeichnete sich wieder der besondere Charakter eines Dorsai-Soldaten aus. Acht Männer lagen hier in diesem Raum im Hinterhalt, und alle waren kampferprobte Veteranen. Aber nicht einmal zwei zusammen waren in der Lage, es mit einem einzelnen Dorsai aufzunehmen. Und außerdem hatten die Dorsai den Vorteil, sich fast instinktiv in der Dunkelheit und dem Handgemenge zu erkennen und ganz genau aufeinander abgestimmt kämpfen zu können, ohne sich dazu vorher absprechen zu müssen. Die Summe dieser Vorteile führte dazu, daß die folgende Auseinandersetzung beinahe so wirkte, als würden drei Sehende gegen acht Blinde antreten.

Donal stürmte unmittelbar hinter und links von El Man in den dunklen Raum, und Ian befand sich wiederum direkt hinter ihm. Ihr Angriff splitterte die Verteidiger in zwei Gruppen auf und trieb sie gleichzeitig weiter in die Dunkelheit zurück – eine Bewegung, die die drei Dorsai infolge einer stillschweigenden Übereinkunft mit noch mehr Nachdruck verstärkten, um den Feind weiter auseinanderzutreiben. Donal drängte vier Männer zurück. Aufgrund der einfachen und ganz vernünftigen Maxime, daß man die größten Erfolgsaussichten hat, wenn man nur gegen jeweils einen Mann kämpft, überließ er drei von ihnen Ian, der sich hinter ihm befand. Dann beugte er sich hinab, bis sein Kopf beinahe auf Kniehöhe des vierten Mannes war, und warf sich gegen ihn. Sie gingen zu Boden, und Donal nutzte dabei die Gelegenheit, dem anderen Soldaten das Genick zu brechen.

Er rollte sich ab und kam wieder auf die Beine, wobei er sich automatisch drehte und einen Schritt zur Seite trat. Ein dunkler Körper stürzte an ihm vorbei, aber der schon erwähnte Instinkt sagte ihm sofort, daß es El Man war, der quer durch den ganzen Raum raste, um das allgemeine Durcheinander noch zu erhöhen. Donal wirbelte herum und wandte sich in die Richtung, aus der El Man gekommen war. Dort stieß er auf einen Gegner, der mit niedrig gehaltenem Messer gegen ihn antrat. Er wischte das Messer beiseite und hieb dem Mann die hornhautüberzogene Handkante an den Hals. Doch der Schlag war nicht ganz genau plaziert: Er tötete den Mann nicht, sondern brach ihm bloß das Schlüsselbein. Donal wandte sich dennoch von ihm ab, um in Bewegung zu bleiben. Er stürzte nach rechts, trieb einen anderen Mann an der Wand in die Enge und nahm ihm das Leben, indem er einen Schlag mit versteiften Fingern gegen dessen Luftröhre ausführte.

Dann stieß er sich von der Wand ab und jagte in die Mitte des Raumes zurück. Seine Ohren sagten ihm, daß El Man gerade einen weiteren Soldaten tötete und Ian mit den restlichen beiden beschäftigt war. Donal eilte ihm zu Hilfe und griff einen der beiden Gegner Ians von hinten an. Doch Ian, und das war überraschend genug, kämpfte noch immer mit dem anderen. Donal stürzte vor, und dann sah er auch, warum Ian solche Probleme hatte. Sein Onkel war auf einen anderen Dorsai gestoßen.

 

Donal schloß zu den beiden Männern auf, und als sie zu Boden gingen, rollten sich Ian und Donal auf den gegnerischen Soldaten und hielten ihn so fest, daß er sich nicht mehr rühren konnte und ihnen hilflos ausgeliefert war.

„Shai Dorsai!“ keuchte Donal. „Ergeben Sie sich!“

„Wem?“ knurrte der andere.

„Donal und Ian Graeme“, sagte Ian. „Von Foralie.“

„Habe schon von Ihnen gehört“, erwiderte der fremde Dorsai. „Es ist mir eine Ehre. Ich bin Hord van Tarsel, Snelbrich-Kanton. Also gut, lassen Sie mich hoch. Mein rechter Arm ist ohnehin gebrochen.“

Donal und Ian entließen ihn aus ihrem Griff und halfen van Tarsel dann auf die Beine. El Man hatte das ausgeschaltet, was vom Feind noch übriggeblieben war, und trat nun zu ihnen.

„Hord van Tarsel – Coruna El Man“, sagte Donal.

„Mir eine Ehre“, sagte El Man.

„Ganz meinerseits“, antwortete van Tarsel. „Ich bin Ihr Gefangener, meine Herren. Wollen Sie mein Ehrenwort?“

„Das würde ich zu schätzen wissen“, sagte Donal. „Wir haben hier noch einiges zu erledigen. Unter welcher Art von Vertrag stehen Sie?“

„Reine Diensterfüllung. Keine Loyalitätsklausel. Warum?“

„Besteht irgendein Grund, warum ich Sie nicht auf Gefangenenbasis anstellen könnte?“ fragte Donal.

„Nicht, was diesen Kontrakt angeht.“ Van Tarsels Stimme klang verärgert. „Ich bin zweimal auf dem offenen Markt verkauft worden, weil mein letzter Vertrag einen Druckfehler enthielt.“ Und er fügte hinzu: „Außerdem habe ich, wie schon gesagt, von Ihnen gehört.“

„Dann sind Sie hiermit angestellt. Wir suchen den Mann, den Sie hier bewachen. Können Sie uns sagen, wo er zu finden ist?“

„Folgen Sie mir“, antwortete van Tarsel. Er führte sie durch eine Tür. Sie schritten einen kurzen Korridor entlang und eine Rampe hinauf, bis sie zu einer weiteren Tür gelangten.

„Verriegelt“, sagte van Tarsel. „Der Alarm ist ausgelöst worden.“ Er sah sie an. Seine Ehre verbot es ihm, ihnen noch mehr zu sagen – auch wenn er Angestellter auf Gefangenenbasis war.

„Aus dem Weg schmelzen“, ordnete Donal an.

Zusammen mit Ian und El Man eröffnete er das Feuer auf die Tür. Sie glühte nur langsam und wie widerspenstig auf, wurde dann weiß vor Hitze und schmolz schließlich. Ian schleuderte eine Vibrationskapsel gegen das Hindernis, und die Erschütterung riß die Tür zur Seite.

An der gegenüberliegenden Wand des dahinter liegenden Raumes duckte sich ein hochgewachsener Mann. Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf, und seine Hand umklammerte einen der schweren Ionenwerfer, die hier in den Bergwerken Einsatz fanden. Unsicher richtete er die Waffe auf die Eindringlinge und konnte sich offenbar nicht entscheiden, wen er zuerst ins Visier nehmen sollte.

„Machen Sie keinen Unsinn“, sagte Ian. „Wir sind alle Dorsai.“

Der Mann mit der Kapuze ließ die Waffe sinken und gab einen erstickten, verbitterten Fluch von sich. Sein Gesicht war nur ein Schatten.

„Kommen Sie.“ Donal winkte ihn heraus. Der Mann ließ die Waffe fallen und kam mit hängenden Schultern. Daraufhin wandten sie sich um und machten sich auf den Rückweg.

Die Schießerei in der Halle dauerte noch immer an, als sie den gleichen Weg zurückgingen, doch als sie sich weiter näherten, nahm das Gefecht ein Ende. Zwei der fünf Männer, die sie zurückgelassen hatten, konnten den Rückweg zum Schiff mit eigener Kraft schaffen, ein weiterer mußte gestützt werden. Die beiden anderen waren tot. Rasch kehrten sie zur Terrasse zurück, eilten durch den Garten und von dort aus in den Tunnel. Unterwegs sammelten sie die restlichen Soldaten ihres Stoßtrupps ein. Fünfzehn Minuten später waren sie alle an Bord des Kurierschiffes, und die N4J steuerte den tiefen Raum an.

Donal stand vor dem Mann mit der Kapuze, der in einem Sessel des Salons kauerte.

„Und jetzt, meine Herren“, sagte er, „sehen Sie sich Williams Sozialtechniker an.“

Ian und El Man, die ebenfalls zugegen waren, warfen Donal einen scharfen Blick zu. Nicht die Worte hatten sie überrascht, sondern der Tonfall, in dem er sie vorgebracht hatte. Seine Stimme hatte so bitter geklungen, wie sie es bei ihm noch nie gehört hatten.

„Hier ist der Mann, der den Sturm gesät hat, der im Augenblick über die zivilisierten Welten fegt“, fuhr Donal fort. Er streckte die Hand aus, um nach der Kapuze zu greifen. Der Mann schreckte vor ihm zurück, doch Donal packte den Überwurf und riß ihn fort. Ein überraschter Laut entfuhr seinen Lippen.

„Sie haben sich also doch noch verkauft“, sagte er.

Der Mann vor ihnen war ArDell Montor.