Subpatrouillenführer II

 

Newton sollte es nie vergessen.

Was den technischen Entwicklungsstand anging, wurde diese Welt nur noch von Venus übertroffen – und manche meinten gar, sie seien sich ebenbürtig; der Planet Newton schwamm in materiellem Überfluß, war hochmütig aufgrund seiner entwickelten Wissenschaften und wiegte sich angesichts seiner starken Kampfverbände in Sicherheit – und auf diese Welt fiel nun der bedrohliche Schatten einer nie für möglich gehaltenen Invasion. Im einen Augenblick fühlten sich ihre Bewohner unter der mächtigen Abschirmung durch die neunzig Schiffe im Orbit noch so geborgen wie immer – und dann plötzlich waren feindliche Schiffe über ihnen, rasten am Himmel ihres Planeten entlang und bombardierten sie mit … was?

Nein, Newton sollte es nie vergessen. Aber das kam erst später.

Für die Männer in den fünf Schiffen zählte nur das Hier und Jetzt. Ihr erster Anflug auf die reiche Welt unter ihnen schien kaum mehr als eine weitere Übung zu sein. Die neunzig Schiffe waren da – und auch noch eine Menge anderer Raumschiffe. Sie wurden von den Instrumenten der Schiffe von Freiland erfaßt – jedenfalls die, die sich nicht gerade auf der anderen Seite des Planeten befanden. Doch das war alles. Selbst der zweite Anflug verlief so gut wie ohne Zwischenfall. Doch als Donals Leitschiff herankam und zum dritten Angriffsflug ansetzte, glich Newton einem aufgestachelten Hornissennest.

Der Schweiß war wie eine dicke und nasse Decke auf Donals Gesicht, als sie im planetennahen Raum aus dem Sprung kamen. Und es war nicht nur die Anspannung allein, die ihn zum Schwitzen brachte. Die psychischen Schocks von fünf Phasenverschiebungen forderten ihren Tribut. Als sie bereits halb um Newton herum waren, wurde die kleine, weißwandige Welt des Kontrollraums plötzlich von einem heftigen Stoß erschüttert. Doch das Schiff setzte seinen Flug fort, als sei es nicht getroffen worden, feuerte den zweiten Torpedo ab und tauchte in die Sicherheit der sechsten Phasenverschiebung.

„Beschädigungen?“ fragte Donal – und er war überrascht, wie seltsam krächzend seine Stimme klang. Er schluckte und wiederholte die Frage in einem akzentuierteren und beherrschteren Tonfall. „Beschädigungen?“

„Keine …“, ertönte die scharfe Stimme eines Offiziers vom Kontrollpult. „Naher Abfangstrahl.“

Beinah grimmig blickte Donal erneut auf das Bild im Kontrollauge. Das zweite Schiff tauchte auf. Dann das dritte. Das vierte. Das fünfte.

„Diesmal doppelt so schnell!“ befahl Donal rauh. Sie konnten eine oder zwei kurze Minuten ausruhen, dann erfolgte erneut die schreckliche mentale Verzerrung der Phasenverschiebung.

Das Bild im Kontrollauge schien Donal plötzlich entgegenzufliegen, als sich die Vergrößerung abrupt verstärkte. Donal entdeckte zwei Schiffe von Newton: eins in der Nähe des Planeten, das andere auf Abfangkurs, der es aus etwa zwei Uhr an ihren Angriffsvektor heranführte.

„Verteidigung“, begann Donal, doch die Kanoniere hatten den Befehl nicht erst abgewartet. Die Geschützcomputer arbeiteten auf Hochtouren, und die Sucher hatten das Ziel registriert. Donal beobachtete, wie das ihnen auf einer weitgestreckten Abfangtangente entgegenrasende Newton-Schiff wie ein in Zeitlupe festgehaltener Ballon auseinanderplatzte. Die Trümmer schienen von einem imaginären Wind davongeweht zu werden.

Dann die nächste Phasenverschiebung …

 

Für einen Augenblick verschwamm der Raum vor Donals trübem Blick. Ein würgender Brechreiz stieg kurz in ihm empor. Gleichzeitig damit hörte er, wie sich jemand am Kontrollpult übergab. Ärger flammte in ihm auf, und er schürte das Feuer aus Zorn, um gegen die zunehmende Übelkeit anzukämpfen.

Du hast die Kraft. Du mußt dich nur dazu zwingen! Dieser Gedanke war wie ein Fluch, den er dem Würgen in seiner Kehle entgegenwarf. Das Schwanken des Raums nahm ein Ende, und der Brechreiz ließ ein wenig nach.

„Zeit …“, meldete sich Bannerman vom Schaltpult. Seine Stimme glich mehr einem Keuchen. Donal zwinkerte und versuchte, sich auf das Bild im Auge vor ihm zu konzentrieren. Der säuerliche Geruch von seinem eigenen Schweiß stieg ihm scharf in die Nase – oder war es einfach so, daß der Raum vom Schweißgestank aller Männer durchdrungen war?

Im Kontrollauge konnte er erkennen, daß vier Schiffe den letzten Anflug überstanden hatten. Und während er hinsah, materialisierte auch das fünfte.

„Noch einmal!“ rief er heiser. „Und noch tiefer diesmal.“ Am Schaltpult ertönte ein erstickter, schluchzender Laut. Donal wandte sich mit Absicht nicht um, um zu sehen, wer es war.

Wieder die Phasenverschiebung.

Ein verschwommenes Bild des Planeten unter ihm. Ein heftiger Stoß. Noch einer.

Wieder die Phasenverschiebung.

Der Kontrollraum … voller Nebel? Nein, die eigenen Augen. Zwinkern. Nicht das Bewußtsein verlieren.

„Beschädigungen?“

Keine Antwort.

„Beschädigungen!“

„… Leichter Treffer. Achtern. Versiegelt …“

„Noch einmal.“

„Kapitän …“ Das war die Stimme Bannermans. „Einen weiteren Anflug schaffen wir nicht. Eins von unseren Schiffen …“

Ein prüfender Blick ins Kontrollauge. Das Bild zittert und verzerrt sich – ja, nur vier Schiffe.

„Welches?“

„Ich glaube …“ – Bannerman keuchte – „… Mendez.“

„Noch einmal.“

„Kapitän … das können Sie … nicht verlangen …“

„Dann schalten Sie mir eine Verbindung.“ Schweigen. „Hören Sie? Geben Sie mir eine Verbindung.“

„Verbindung …“, gab die brüchige Stimme eines Offiziers zurück. „Schaltung steht, Kapitän.“

„Danke. Hier spricht Kapitän Graeme.“ Krächzend und knarrend. War das seine Stimme? „Ich bitte um Freiwillige – für einen weiteren Anflug. Nur Freiwillige. Wenn jemand mitkommen will, soll er sich melden.“

„Shai Dorsai!“

„Shai el Man! – Sonst noch jemand?“

„Sir …“ Bannerman. „Die beiden anderen Schiffe empfangen uns nicht.“

Rascher Blick ins Auge. Konzentrieren. Stimmt. Zwei der drei Schiffe dort kommen vom Kurs ab.

„Also dann nur wir zwei. Bannerman?“

„Zu …“ Krächzend. „Zu Befehl, Sir.“

„Manöver durchführen.“

Pause …

Phasenverschiebung!

Ein dahinwirbelnder Planet – Schock – nachtschwarzes All. Darf jetzt nicht das Bewußtsein verlieren …

„Bringen Sie das Schiff hier raus!“ Schweigen. „Bannerman!“

Eine schwache Antwort: „Ja, Sir …“

PHASENVERSCHIEBUNG

Dunkelheit …

„… Schluß!“

Es war ein knurrendes, scharfes, zischendes Flüstern in Donals Ohren. Mit geschlossenen Augen überlegte er, woher es stammte. Er vernahm es wieder und dann noch einmal. Und langsam dämmerte es ihm, daß er diesen Laut selbst hervorbrachte.

Mühsam öffnete er die Augen.

In der Zentrale war es totenstill. Das Kontrollauge vor ihm war auf volle Vergrößerung justiert, und in der Schwärze des Alls hingen die winzigen Schatten dreier Schiffe, jeweils weit voneinander entfernt. Mit tauben Fingern tastete er über die Sitzgurte, die ihn an den Sessel fesselten. Einer nach dem anderen löste sich. Er schob sich heraus und sank mit den Knien auf den Boden.

Schwankend und taumelnd kam er auf die Beine. Er wandte sich den fünf Sesseln an der Kontrolltafel zu und wankte ihnen entgegen.

In vier der fünf Sitze hingen die reglosen Körper von Bannerman und seinen drei Offizieren. Sie waren bewußtlos, doch der Dritte Offizier schien mehr verloren zu haben als nur das Bewußtsein. Sein Gesicht war kalkweiß, und er atmete offenbar nicht mehr. Alle vier Männer hatten sich übergeben.

Im fünften Sessel lag Lee, von den Gurten festgezurrt. Er war bei Bewußtsein. Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem Mundwinkel der Ordonnanz. Offenbar hatte er versucht, die Gurte gleich einem wilden Tier nur mit seiner Körperkraft zu zerreißen, um sich dann sofort um Donal kümmern zu können. Aber in seinen Augen irrlichterte kein Wahnsinn, nur eine starre und unnatürliche Zielfixierung. Als Donal an seine Seite kam, versuchte Lee zu sprechen. Doch im ersten Anlauf brachte er nur einen erstickten und unartikulierten Laut hervor, und erneut rann Blut aus seinem Mundwinkel.

„In Or’nung?“ murmelte er schließlich.

„Ja“, sagte Donal heiser. „Ich schnalle Sie sofort los. Was ist mit Ihrem Mund passiert?“

„Ssunge ab’ebissen. …“, antwortete Lee mühsam. „Sons’ alles klar.“

Donal löste den letzten Gurt, tastete dann zum Kopf Lees und öffnete seinen Mund, wobei er erhebliche Kraft aufwenden mußte. Ein neuer Blutschwall rann über Lees Kinn, aber jetzt konnte Donal das Ausmaß der Verletzung erkennen. Lee hatte seine Zunge dicht hinter der Spitze fast gänzlich durchgebissen.

„Nicht sprechen“, befahl Donal. „Vermeiden Sie jede Bewegung der Zunge, bis das wieder in Ordnung gebracht ist.“

Lee nickte völlig ungerührt und begann mühsam aus seinem Sitz zu klettern.

Bis er auf die Beine gekommen war, hatte es Donal fertiggebracht, die reglose Gestalt des Dritten Offiziers loszuschnallen. Er zog den Mann aus dem Sitz und legte ihn auf den Boden. Er konnte keinen Herzschlag spüren. Donal streckte ihn lang aus und ging daran, ihm mit künstlicher Beatmung zu helfen. Doch bereits nach dem ersten Versuch begann vor seinen Augen alles zu verschwimmen, und ihm wurde so schwindelig, daß er aufhören mußte. Langsam erhob er sich wieder und machte sich daran, die Gurte Bannermans zu lösen.

„Kümmern Sie sich um den Zweiten, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen“, wies er Lee an. Der Ex-Bergmann wankte steifbeinig zum Zweiten Offizier hinüber und begann, ihn aus seinem Sicherheitssessel zu befreien.

Sie legten die drei Freiländer zwischen sich auf den Boden und nahmen ihnen die Helme ab. Bannerman und der Zweite Offizier gaben bereits wieder erste Lebenszeichen von sich. Donal ließ sie liegen und wandte sich dem Dritten Offizier zu, um einen neuen Beatmungsversuch zu unternehmen. Aber als er den Körper berührte, stellte er fest, daß er schon kalt wurde.

Er drehte sich wieder um und kümmerte sich um den Ersten Offizier, der noch immer bewußtlos war und sich nicht rührte. Nach einer Weile begann der Erste tiefer und gleichmäßiger zu atmen, und er öffnete die Augen. Doch sein Blick machte deutlich, daß er nicht wußte, wo er war, und auch seine Umgebung nicht wahrnahm. Er starrte das Kontrollpult mit so trüben Augen an, als sei er in den Visionen eines tiefen Drogenrausches gefangen.

„Wie fühlen Sie sich?“ erkundigte sich Donal bei Bannerman. Der Freiland-Kapitän knurrte und versuchte mühsam, sich mit einem Ellbogen abzustützen. Mit Donals Hilfe konnte er sich zunächst aufsetzen, kam dann auf die Knie, schob sich an der Rückenlehne eines Sessels in die Höhe und stand schließlich mit eigener Kraft.

Seit er die Augen geöffnet hatte, klebte Bannermans Blick an der Kontrolltafel. Jetzt schob er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und ohne einen Ton von sich zu geben zurück in seinen Sessel. Mit ungelenken Fingern führte er eine Reihe von Schaltungen aus.

„An alle Schiffssektionen“, krächzte er in das Gitter der Sprechanlage vor ihm. „Bericht.“

Es kam keine Antwort.

„Bericht!“ wiederholte er. Sein Zeigefinger legte sich auf einen Sensor, und eine Alarmglocke schrillte mißtönend durchs Schiff. Als das Heulen wieder verklang, drang eine schwache Stimme aus dem Deckenlautsprecher.

„Vierte Geschützabteilung meldet sich wie befohlen, Sir …“

Die Schlacht von Newton war vorüber.