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Nen Yim drückte sich durch die klare Membran und strich mit ihrer Gestalterhand über die blassen, fedrigen Spulen des Schiffsgehirns, des Rikyam. Sie zitterte, und ihre spezialisierten Finger zuckten. Einst waren diese Finger die Beine eines jener krustentierartigen Geschöpfe gewesen, die nur zu dem einen Zweck gezüchtet wurden, einmal Hände von Gestaltern zu werden. Der tierische Ursprung war noch immer deutlich erkennbar. Die Finger – schmaler, dünner und kräftiger als die eines durchschnittlichen Yuuzhan Vong – kamen unter einem dunklen, flexiblen Rückenschild hervor, der als Handrücken diente. Zwei der »Finger« endeten in Zangen, und ein weiterer verfügte über eine einziehbare Klinge. Alle waren mit kleinen Sensorknoten besetzt, die alles schmeckten, was sie berührten. Nen Yims Ausbildung als Gestalterin erforderte, dass sie allein vom Geschmack her alle Elemente und mehr als viertausend Verbindungen und ihre Varianten erkannte. Mit diesen Fingern hatte sie den schnellen, nervösen Geschmack von Kobalt kennen gelernt, die Schärfe von Tetrachlorkohlenstoff gekostet und über die komplexen und endlosen Variationen der Aminosäuren gestaunt.

Und jetzt zitterte sie, weil das Aroma morbid war.

»Das Rikyam stirbt«, murmelte Nen Yim dem Novizen an ihrer Seite zu. »Es ist schon mehr als halb tot.«

Der Novize, ein junger Mann namens Suung Aruh, ließ die Ranken seines Kopfschmucks kummervoll zucken.

»Wie ist das möglich?«, fragte er.

»Wie das möglich ist?«, erwiderte Nen Yim, und Zorn vibrierte in ihrer Stimme. »Sehen Sie sich um, Novize. Die lumineszierenden Mykogene, die einst die Wände bedeckten, hängen in Fetzen herab. Die Kapillaren des Maw Luur sind mit toten oder mutierten Recham Forteps verstopft. Das Weltschiff Baanu Miir stirbt, Initiat. Warum sollte es dem Gehirn anders ergehen?«

»Es tut mir Leid, Adept«, sagte Suung, und seine Ranken bildeten Knoten der Ergebenheit. »Aber… welche Maßnahmen gilt es zu ergreifen? Können wir ein neues Rikyam wachsen lassen?«

Nen Yim kniff die Augen zusammen. »Unter wem sind Sie vor meiner Ankunft ausgebildet worden?«

»Unter dem alten Meister Tih Qiqah.«

»Ich verstehe. Er war hier der einzige Meistergestalter?«

»Ja, Adept.«

»Und wo sind seine Adepten?«

»Im vergangenen Jahr hat er keine Adepten ausgebildet, Adept Nen Yim.«

»Und die Initiaten scheint er ebenfalls vernachlässigt zu haben. Welche Dienste haben Sie für ihn geleistet?«

»Ich…« Suungs Verlegenheit wuchs.

»Ja?«

»Ich habe ihm Geschichten erzählt.«

»Geschichten?«

»Krippengeschichten, mit Anklängen für Erwachsene.«

»Er hat Sie nur zur Unterhaltung benutzt? Wie ein persönlicher Diener?«

»Im Grunde schon, Adept.«

Nen Yim schloss die Augen. »Man hat mich einem sterbenden Schiff zugewiesen. Obwohl ich nur den Rang eines Adepten bekleide, bin ich hier das höchste Mitglied meiner Kaste, und ich habe nicht einmal einen ausgebildeten Initiaten.«

»Wie ich hörte, ist der Mangel an Gestaltern darauf zurückzuführen, dass sie im Krieg gegen die Ungläubigen gebraucht werden.«

»Natürlich«, erwiderte Nen Yim. »Nur die senilen, ungeschickten und in Ungnade gefallenen Gestalter bleiben zurück und kümmern sich um die Weltschiffe.«

»Ja, Adept«, sagte Suung.

»Möchten Sie nicht fragen, zu welcher Kategorie ich gehöre?«, knurrte Nen Yim.

Der Novize zögerte. »Ich weiß, dass Sie an einem der heiligen Programme mitgearbeitet haben«, sagte er vorsichtig.

»Ja. An einem Programm, das in einem Fehlschlag endete. Mein Meister hat versagt. Ich habe versagt. Wir haben die Yuuzhan Vong enttäuscht. Die Ehre des Todes wurde mir verweigert, und ich bin hierher geschickt worden, damit ich unserem ruhmreichen Volk möglichst gute Dienste leiste.« Geschickt?, dachte sie in der Abgeschiedenheit ihres Geistes. Man hat mich verbannt.

Suung antwortete nicht und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

»Ihre Ausbildung beginnt jetzt, Initiat«, sagte Nen Yim. »Denn ich brauche Sie. Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, wir können kein neues Rikyam für das Schiff wachsen lassen. Anders ausgedrückt: Wir könnten, aber es hätte keinen Zweck.«

Sie sah sich um. Der innere Torus des Weltschiffs war in Boden und Decke stark gewölbt und hatte die Farbe alter Knochen. Erhellt wurde er nur von den zwei Schimmerern, die die beiden Gestalter bei sich trugen. Nen Yim sah zum Rikyam zurück beziehungsweise zu dem Teil davon, den sie erkennen konnte. Seine zahlreichen Neuronenknäuel wuchsen im Zentrum des Schiffes, wo es kein Oben und Unten gab – im Gegensatz zu den reicheren Weltschiffen erzeugte Baanu Miir ihre Schwerkraft durch Rotation und nicht durch Dovin Basale, die gefüttert werden mussten. Das Gehirn des Schiffes war umgeben von multiplen Schichten aus Korallenschalen, darin befanden sich zahlreiche Öffnungen mit osmotischen Membranen. Zugang zu ihm gab es vom inneren Torus aus, wo sich nur Gestalter aufhalten durften. Hier, wo die Rotation des Schiffes lediglich einen vagen Eindruck von künstlicher Schwerkraft vermittelte, ließ sich die Membran freilegen, indem man ein Dehnungsventil in der Schale berührte. Nur die Hand eines Gestalters konnte die Membran durchdringen und die Nervenknäuel dahinter erreichen.

»Dieses Schiff ist fast tausend Jahre alt«, sagte Nen Yim. »Die Organismen, aus denen es besteht, sind geboren und gestorben, doch das Gehirn war immer hier. All die Jahre hat es die Funktionen des Schiffes integriert, Eskortenganglien gebildet, wo wir sie brauchten, und dem Schiff seine besondere Form gegeben. Aber wenn das Gehirn erkrankt, so greift die Krankheit auch auf das Schiff über. Es können Maßnahmen ergriffen werden, aber letztendlich muss auch das Schiff, wie alles andere, den Tod umarmen. Unsere Pflicht, Novize, besteht darin, dieses Schiff so lange wie möglich an der ersehnten Umarmung zu hindern, bis neue Weltschiffe wachsen oder Planeten besiedelt werden. Im Fall dieses Schiffes kommt nur die erste Möglichkeit in Betracht. Baanu Miir ist nicht imstande, die Belastungen eines überlichtschnellen Fluges auszuhalten. Wir würden Jahrzehnte oder Jahrhunderte brauchen, um eine bewohnbare Welt zu erreichen.«

»Könnten die Bewohner nicht mit schnelleren, kleineren Schiffen zu einer neuen Welt gebracht werden?«, fragte Suung.

Nen Yim lächelte schief. »Das ließe sich vielleicht bewerkstelligen, wenn die Galaxis von den Ungläubigen gesäubert wäre und die Krieger nicht mehr alle Schiffe für ihren Krieg brauchten.«

»Gibt es irgendetwas, das wir jetzt tun können, Adept Nen Yim?«, fragte Suung. In seiner Stimme erklang ein gewisser Eifer, der Nen Yim amüsierte und sie sogar ein wenig aufmunterte. Es war nicht Suung Aruhs Schuld, dass er nichts wusste.

»Gehen Sie zum Qahsa, in dem das Wissen und die Geschichte unseres Volkes bewahrt sind, Initiat. Dort finden Sie die Protokolle des Gestaltens. Ihr Geruch und Ihr Name werden Ihnen Zugang gestatten. Lernen Sie die ersten zweihundert, und tragen Sie sie mir morgen vor. Sie sollten in der Lage sein, sich die Protokolle mit Namen, Indikation und Anwendung zu merken. Haben Sie verstanden?«

Suung war so aufgeregt, dass seine Ranken kaum die Zeichen der Ehrerbietung schafften. »Ja, Adept. Es wird geschehen.«

»Gehen Sie jetzt und lassen Sie mich über diese Angelegenheit nachdenken.«

»Ja, Adept.«

Einen Moment später war Nen Yim im inneren Torus allein. Trotzdem sah sie sich noch einmal wachsam um, bevor sie den vorderen Teil der Zweithaut löste, die an ihrem Leib klebte und den größten Teil davon verhüllte. Darunter, am Bauch, befand sich ein flaches Geschöpf. Es hatte die rudimentären Augen seiner fischartigen Vorfahren behalten, aber abgesehen davon ähnelte es einem olivgrün und schwarz gefleckten Beutel, und diesen Zweck erfüllte das Wesen auch, mehr oder weniger. Es war ein sehr spezieller Behälter.

Nen Yim griff durch die osmotische Membran, um noch einmal die fraktalen Knäuel des Rikyam zu berühren. Mit der Zange ihres kleinsten Fingers schnitt sie vier kleine Stücke aus dem Gehirn und brachte sie im Beutel unter. Dessen Gewebe schloss sich wie liebevoll um die Proben und tauchte sie in sauerstoffreiche Flüssigkeit, damit sie gesund blieben, bis Nen Yim das Laboratorium erreichte und eine dauerhafte Möglichkeit fand, die Neuronen am Leben zu erhalten.

Sie atmete tief durch und dachte an die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie beabsichtigte. Protokolle lenkten die Gestalter und schränkten ihren Bewegungsspielraum ein: tausende von Methoden und Anwendungen, die sie in dunkler Vergangenheit von den Göttern erhalten hatten. Zu experimentieren und zu versuchen, neue Protokolle zu erfinden – das war Häresie ersten Grades.

Nen Yim war eine Häretikerin. Ihre Meisterin Mezhan Kwaad war ebenfalls Häretikerin gewesen, bevor das Jeedai-Mädchen Tahiri ihren klugen Kopf abgeschlagen hatte. Gemeinsam hatten Meister und Adept gewagt, Hypothesen zu formulieren und zu überprüfen. Mit ihrem Tod hatte Mezhan Kwaad den größten Teil der Schuld sowohl für die Häresie als auch für den Fehlschlag auf sich genommen. Trotzdem war Nen Yim nur deshalb die Todesstrafe erspart geblieben, weil bereits ein großer Mangel an Gestaltern herrschte.

Das Weltschiff Baanu Miir starb – das hatte Nen Yim schon am ersten Tag erkannt, mit einem flüchtigen Blick in seine Räume. Bei einem so kranken Gehirn konnte kein ihr bekanntes Protokoll helfen, und als Adept hatte sie keinen Zugang zu den Mysterien jenseits des fünften Kortex im Qahsa. Sie musste ein eigenes Protokoll ersinnen, obgleich sie bereits den Makel der Häresie trug und man sie bestimmt beobachtete.

Ihre erste Pflicht galt nicht den starren, überkommenen Gestalterregeln, sondern ihrem Volk. Das verstanden die Götter sicher, sofern sie existierten. Wenn das Weltschiff starb, drohte zwölftausend Yuuzhan Vong der Tod. Sie würden nicht im ruhmvollen Kampf oder als Opfer sterben, sondern in Kohlendioxid ersticken und in der Kälte des Alls erfrieren. Das wollte Nen Yim verhindern, auch wenn es bedeutete, dass es das letzte Gestalten und die letzte Häresie in ihrem Leben war.

Sie presste sich das Beutel-Wesen wieder an den Bauch, zog die Zweithaut darüber und fühlte, wie sich die Flimmerhärchen der Kleidung in ihre Poren bohrten und die symbiotische Beziehung mit ihrem Körper fortsetzten. Dann verließ sie das sterbende Gehirn und kehrte durch die düsteren und opalisierenden Zimmer zu ihrem Laboratorium zurück.