Die schwarz-weiße Katze
Giorgino del Crocilone betrat das Sprechzimmer des Pfarrhauses; er schien noch betrunkener als gewöhnlich.
Giorgino del Crocilone war noch keine fünfunddreißig Jahre alt, ein kräftiger Mann, aber bei dem Schweineleben, das er schon seit längerer Zeit führte, war er frühzeitig gealtert.
«Ich bin hier», brummte Giorgino, während er mit gesenktem Kopf dastand und den verschmierten Hut in den Händen drehte.
«Jawohl», antwortete Don Camillo. «Es ist schon eine Weile her, seit wir uns gesehen haben. Nicht einmal bei deiner Hochzeit wolltest du den Pfarrer sehen. Und hast du bemerkt, wie das ausging? Ihr müßt euch in eure Köpfe einhämmern, daß ein Bürgermeister, auch wenn er so kräftig wie Peppone ist, es nicht allein schafft, zwei Christenmenschen für das ganze Leben zusammenzubinden.»
Giorgino strich sich mit der Hand über die Stirn. «Ich wollte kommen, aber ich konnte nicht», sagte er.
«Das ist nun vorbei», seufzte Don Camillo, «und außerdem, wenn du willst, ist es noch nicht zu spät, sich mit Gott auszusöhnen. Was willst du jetzt? Setz dich und sprich.»
Giorgino ließ sich in einen Sessel fallen. Aber sofort sprang er wieder hoch, riß wie irr beide Augen auf und seine Stimme zitterte vor Angst: «Die Katze!» keuchte er.
In gewissen Gegenden, wenn einer stockbetrunken ist, sagt man, er habe einen Affen, und so sagte Don Camillo ruhig: «Katze? Ich würde eher von einem Affen reden.»
Aber Giorginos Rausch beschränkte sich nur auf seine Beine. Im übrigen sprach er ganz vernünftig, und in seinen Augen glitzerte etwas, das gar nichts mit Alkohol zu tun hatte.
«Setz dich wieder hin», sagte Don Camillo, «reg dich nicht auf, sprich in aller Ruhe. Hier sind keine Katzen. Schau dich um, Giorgino. Schließ die Tür und dann setz dich.»
«Sie ist nicht hier, aber sie kommt noch», sagte Giorgino schließlich, «sie ist überall, diese verfluchte schwarzweiße Katze. Seit jenem Abend verfolgt sie mich.»
Giorgino del Crocilone war im März 1945 mit Peppone und seinem Partisanentrupp in der Macchia, und am Abend des 23. erklärte er, er müsse rasch ins Dorf, um eine Rechnung zu begleichen.
«Entweder bringe ich die Sache jetzt in Ordnung oder nie mehr. Jetzt wird alles liquidiert, und wenn man sich nicht beeilt, findet man keinen mehr vor, wenn der Umsturz kommt.»
«Geschäfte dieser Art behagen mir nicht», erwiderte Peppone, «jetzt muß man die persönlichen Belange vergessen.»
Giorgino schüttelte den Kopf. «Mein Bruder sitzt im Konzentrationslager, und wer ihn denunziert hat, muß bezahlen. Wenn du mich nicht gehen läßt, hau ich ab.»
«Dann hau ab», antwortete Peppone und kehrte ihm den Rücken zu.
Giorgino kam bis zur Tenne der Gianelli, als es bereits zehn Uhr war. Er drückte vorsichtig die Falle der Haustür, und die Tür ging auf. Er befand sich in der Küche, und vor dem Kaminfeuer saß die alte Gianelli in ihrem Rollstuhl.
Die Alte konnte kaum die Arme bewegen, denn vor zehn Jahren hatte sie der Schlag getroffen, aber ihre Zunge funktionierte noch gut.
«Was willst du?» fragte die Alte.
Giorgino zielte mit der Maschinenpistole auf ihre Brust.
«Schweig!» zischte er.
Die Alte zuckte die Schultern. «Unnötig, leise zu reden, ich bin allein in diesem Haus zurückgeblieben.»
«Wenn du auch nur das Maul aufmachst, bringe ich alle um», flüsterte Giorgino.
Dann stieg er in den ersten Stock und fand nur leere Betten. Auch in der kleinen Stube und im Keller entdeckte er niemanden. Der kleine Stall war verlassen, die Scheune leer.
«Sie sind mit all ihren Sachen fortgegangen», sagte die Alte, als Giorgino zurückkam.
Giorgino schäumte vor Wut. Er stieß die Mündung der Maschinenpistole zwischen die Rippen der Alten.
«Wohin sind sie gegangen?»
«Weiß ich nicht», antwortete die alte Gianelli.
«Wenn du mir nicht sagst, wohin sie gegangen sind, knall ich dich ab.»
«Ich weiß es nicht», erwiderte die Alte, «laß mich in Ruhe!»
Giorgino blieb beharrlich stehen, aber die Alte hatte einen Dickschädel.
«Dann wirst eben du für die anderen bezahlen», sagte Giorgino und feuerte eine kurze Salve ab.
Die Alte blieb steif und unbeweglich in ihrem Rollstuhl vor dem Kamin sitzen. Es hätte auch so nicht viel gebraucht, sie umzubringen, denn der Schlaganfall hatte ihr wenig Lebenskraft gelassen.
Giorgino verhielt sich einen Augenblick ganz still und lauschte, ob sich etwas rege. Aber die nächtliche Stille wurde nicht einmal von Hundegebell unterbrochen. Selbst die Hunde hatten in jenen unglückseligen Zeiten das Bellen verlernt. Und wer in der Nacht einen Schuß hörte, sagte sich, es sei der Wind, der einen Fensterladen zuschlägt.
Giorgino hörte also keinen Laut, aber er hatte das deutliche Gefühl, daß ihn jemand beobachte. Er drehte sich zum Fenster um und sah zwei weitgeöffnete Augen, die ihn hinter den Scheiben anstarrten.
Die Salve hämmerte los, bevor Giorgino auch nur ans Schießen dachte. Die Scheiben splitterten, aber die Katze rannte weg. Giorgino sah sie genau, weil das Aufflammen der Feuergarbe sie beleuchtete. Es war eine große schwarz-weiße Katze.
Diesmal dauerte die Salve länger als die erste, und bald darauf durchbrach lärmiges Tack-Tack von Maschinengewehren die Stille der Nacht.
Die deutsche Garnison hatte Alarm geschlagen, und Giorgino floh durch die Felder auf den Fluß zu. Bevor er in Sicherheit war, pfiffen zweimal Kugeln knapp drei Finger breit an seinem Kopf vorbei.
Die Ereignisse nahmen ihren Lauf, und Giorgino kehrte mit den anderen des Partisanentrupps ins Dorf zurück. Niemand hatte auch nur die geringste Idee, von wem die alte Gianelli umgelegt worden war. Im übrigen waren dies Fragen, die man vergessen wollte, schließlich wehte in jener Zeit ein rauher Wind.
Hin und wieder aber dachte Giorgino an die verfluchte Katze. Eines Abends, während er gerade einzuschlafen versuchte, spürte er, daß ihn zwei Augen anschauten, und als er zum Fenster blickte, sah er die schwarz-weiße Katze auf dem Fenstersims sitzen, die ihn anstarrte wie an jenem Abend.
Er schleuderte einen Schuh nach ihr, der aber nur die Scheibe zerbrach. Doch in dieser Nacht konnte Giorgino nicht schlafen.
Noch mehrere Male begegnete Giorgino der schwarzweißen Katze. Dann fühlte Giorgino plötzlich zwei Augen auf sich ruhen, und wenn er sich umdrehte, war da die schwarz-weiße Katze, die ihn anstarrte.
Es wurde zum Alptraum. Eines Abends, als er sein Zimmer betreten hatte, entdeckte er, daß die schwarzweiße Katze auf seinem Bett kauerte. Das Licht brannte, und er konnte sie deutlich sehen. Er schloß die Tür und schob den Riegel vor. Das Fenster war zu.
«Diesmal entwischst du mir nicht», sagte Giorgino, während sein Herz fast zersprang. Die Doppelflinte hing an der Wand. Giorgino streckte die Hand nach ihr aus, aber die Katze sprang plötzlich vom Bett herab, kroch blitzschnell in den Kamin und verschwand, wie sie gekommen war.
Giorgino konnte nicht schlafen, ohne sich vorher mit Wein vollaufen zu lassen. Aber als er am nächsten Morgen mit verdorbenem Magen aufwachte und einem
Kopf, der fast zerplatzte, blickte er sofort zum Kamin: dort saß die schwarz-weiße Katze und starrte ihn an.
Giorgino entschloß sich zu einer kleinen Luftveränderung. Er ging in die Stadt, arbeitete in einer Transport-Genossenschaft und schlief in einer miesen Mansarde. Aber auch dort konnte er nur wenig schlafen. Schon am zweiten Morgen, als er die Augen öffnete, sah er die schwarz-weiße Katze, die ihn durch das Fenster der Mansarde anstarrte. Rasend vor Angst kletterte er auf das Dach, und rannte heulend, so wie er gerade war, im Hemd, dem Tier nach.
Sogleich sprach es sich herum, ein Irrer laufe nackt über die Dächer. Man höre ihn schreien. Giorgino fand gerade noch Zeit, in seine Mansarde zurückzukehren, sich anzukleiden und davonzulaufen. Seine Papiere waren nicht in Ordnung, und außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Er machte sich wieder auf den Weg ins Dorf, traf zu Hause ein: vor der Tür wartete eine schwarz-weiße Katze auf ihn.
Jetzt hatte er nicht mehr den Mut, allein in dem einsamen Häuschen zu leben. Da war aber ein unglückliches Mädchen, das seit einem Jahr sein Geschwätz anhörte. Er heiratete sie.
In die Kirche wollte er nicht gehen, wegen der Politik, sagte er, doch in Wirklichkeit fehlte ihm der Mut dazu. Das unglückliche Mädchen entpuppte sich als eine sehr brave Frau.
Sie war ein sanftes, freundliches Geschöpf, das immer ja sagte, auch wenn sie lieber nein gesagt hätte. Alles verlief gut, bis zu jenem Tag, als Giorgino heimkehrte und die Frau in dem kleinen Hof antraf, wie sie gerade der schwarz-weißen Katze ein Schälchen Milch hinstellte.
«Was soll das bedeuten?» schrie Giorgino, während die Katze davonrannte.
«Das arme Tier kommt immer hierher», erklärte die Frau, «es mag mich. Darin sehe ich nichts Böses.»
Giorgino wurde rasend. Er gab der Frau eine Ohrfeige. Es war die erste, aber nicht die letzte.
Dann wurde ein Kind geboren, und das ließ Giorgino die schwarz-weiße Katze für eine Weile vergessen. Aber die Katze kam wieder.
Eines Tages nahm Giorgino das Kind auf den Arm, um es zum Arzt zu bringen. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr gemächlich die verlassene Straße entlang. Plötzlich rannte die schwarz-weiße Katze aus einer Hecke quer über die Straße, gerade vor ihm, als ob sie vom Vorderrad überfahren werden wollte.
Giorgino bremste und gab der Lenkstange einen kräftigen Ruck. Die Straße war steinig und sein einer Arm mit dem Kind behindert. Er schlitterte samt dem Fahrrad in den Kies und stürzte zu Boden, wobei das Kind heftig mit dem Kopf gegen einen Wegstein schlug.
Halb wahnsinnig trottete Giorgino nach Hause, das tote Kind auf dem Arm. Da rebellierte seine Frau zum ersten Mal, stürzte auf ihn los und schrie:
«Du läßt dich ständig mit Wein vollaufen und kannst nicht einmal geradestehen. Wärst du nicht besoffen gewesen, dann wärst du nicht gefallen und das Kind wäre nicht tot.»
Giorgino hatte nicht mehr die Kraft zu antworten.
Die Frau verließ ihn, ging zu ihrer Familie zurück und ließ ihm ausrichten, wenn er sich noch einmal bei ihr sehen lasse, werde sie ihn mit Gewehrschüssen empfangen.
Verzweifelt ergab sich nun Giorgino ganz dem Wein, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Denn sobald der Alkohol seine Wirkung verlor, sah er die schwarz-weiße Katze, auch wenn sie gar nicht da war.
Zwei Jahre vergingen, aber die schwarz-weiße Katze blieb ihm immer auf den Fersen. Eines Tages hatte er plötzlich eine Pistole in der Hand und wollte sich erschießen, aber ein gräßlicher Gedanke ließ ihn zurückschrecken. Und so ging er zu Don Camillo.
Don Camillo hörte sich die Geschichte an, und als Giorgino geendet hatte, sagte er leise zu ihm:
«Ich verstehe, mein Sohn, ich verstehe alles. Aber du mußt vernünftig denken. Du darfst dich nicht von dieser fixen Idee überwältigen lassen.»
«Fixe Idee! Fixe Idee! Schaut doch, Hochwürden!»
Die schwarz-weiße Katze saß auf dem Fenstersims, und Don Camillo sah sie gut, bevor sie hinuntersprang.
«Es ist keine fixe Idee, Hochwürden, ganz und gar keine fixe Idee. Ich hätte mich erschossen, wenn ich nicht an etwas Entsetzliches gedacht hätte», jammerte Giorgino verzweifelt. «Ich habe alles verloren, Hochwürden. Meinen Sohn, meine Frau, meine Arbeit, meine Gesundheit, meinen Frieden. Nichts ist mir geblieben, und ich bin zum Sterben bereit. Und ich würde gerne sterben. Aber ich will nicht, daß sich diese Katze auf mein Grab setzt. Im Leben, ja, aber über das Leben hinaus, nein. Helft mir, sonst setzt sich die Katze auf mein Grab.»
Don Camillo trat ans Fenster. Draußen, zwei Meter vom Fenster entfernt, saß die schwarz-weiße Katze und wartete. Don Camillo schaute ihr direkt in die Augen.
«Was soll ich tun?» keuchte Giorgino, «ich kann nicht einmal mehr sterben, wenn Ihr mich nicht von dieser Angst befreit!»
Don Camillo legte seine riesige Hand auf Giorginos Schulter.
«Du mußt nicht sterben», sagte er, «du mußt für dein Verbrechen bezahlen, mit dem ganzen Leben, das Gott dir geschenkt hat. Nur wenn du bezahlt hast, wird sich die Katze nicht auf dein Grab setzen, wenn du gestorben bist.»
«Ich werde mich stellen», schrie der Mann, «ich werde meine Schuld bezahlen.»
«Nein, du mußt die Schuld gegenüber Gott begleichen. Und das ist schwer. Die Schuld gegenüber der menschlichen Justiz zu begleichen, das ist leicht.»
Don Camillo ging hinaus. Die schwarz-weiße Katze funkelte ihn an, bewegte sich aber nicht.
Es war zwei Uhr nachmittags, ein Sommernachmittag mit einer Sonne, die die Steine zum Zerspringen brachte. Das Dorf lag verlassen da, alle Fensterläden waren geschlossen und die Leute schliefen.
Don Camillo gab ein Zeichen, und Giorgino schlurfte zu ihm her. Die Katze saß noch immer regungslos da. Sie schaute nach oben und wartete.
«Bruder», sagte Don Camillo zu Giorgino, «geh und kehre in dein Haus zurück, kehre zu deiner Arbeit zurück. Finde deine Frau wieder und finde Frieden mit deinem Leid. Geh - und möge dich das Leid nie verlassen. Deine schreckliche Sünde steht in den Augen dieses unschuldigen Tieres geschrieben. Gott hat es ausgesucht, um dein Gewissen wachzurütteln. Mögen seine Augen dich immer anschauen und dich an dein Verbrechen erinnern, damit du es bereust. Geh, Bruder.»
Giorgino blickte Don Camillo an, dann machte er sich langsam auf den Weg.
«Und du geh auch», sagte Don Camillo zu der Katze.
Die schwarz-weiße Katze erhob sich und holte gemächlichen Schrittes Giorgino ein, der angehalten hatte.
Giorgino drehte sich um, und auch die Katze drehte sich um.
«Geht», sagte Don Camillo, «möge Gott euch den Frieden geben.»
Der Mann machte sich auf den Weg, und die schwarzweiße Katze folgte ihm. Dann verschwanden sie zusammen.
Darauf kniete Don Camillo vor Christus am Hochaltar. Sein Gesicht war schweißgebadet, und sein Kopf war leer.
«Jesus», stammelte er, «ich weiß nicht, ich weiß nicht, was ich getan habe.»
«Aber ich weiß es», antwortete Christus lächelnd.
Draußen regte sich nichts unter der strahlenden Sonne. Nur ein Dunstschleier, der aus der Erde emporstieg, schwebte in der Luft, und die Zikaden zirpten, ganz so, wie es die Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert erzählen.
Das Wasser des großen Flusses schien stillzustehen, aber es floß. Denn das Herz des alten Flusses, in dem schon meine Alten sich als Kinder spiegelten, und der mir diese Geschichten der Lebenden und der Toten erzählt, schlägt langsam.