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TRAINERPOST.

»Na endlich«, sagt der Trainer und winkt mich in seine Meidlinger Mansarde. »Bier?«

»Niemals«, sage ich, »vorm Mittagessen.«

Im Vorzimmer herrscht dieselbe Sauwirtschaft wie immer. Der Trainer archiviert hier alte Jahrgänge von »Rolling Stone«, »Uncut«, »Variety« und »Spin« und stapelt dazwischen ungeordnet Ausgaben von »Spiegel«, »Skin Two« und »profil«. Darüber türmen sich ausrangierte Videocassetten und Taschenbücher ebenso leicht verständlichen wie blutrünstigen Inhalts, sowie die Postwurfsendungen der letzten zweieinhalb Jahre.

Er schmeißt meinen Winterrock auf zwei wacklige Zeitschriftentürme, weil sein Garderobenständer unter allen seinen Übergangsjacken und Winterpelzen ächzt und jeden Moment unter der schweren Last zusammenzubrechen droht.

»Sag nix, Kurtl«, sagt der Trainer und treibt mich vor sich her ins Wohnzimmer. »Sag nix, bevor du das gesehen hast.«

Ich weiß wie so oft nicht, was der Trainer meint.

Sein Wohn- und Arbeitsraum wird beherrscht von zirka eintausend grellgelben Memozetteln, die überall kleben, wo sie eigentlich nicht hingehören. Auf der Glastür, den Fensterscheiben, durch die man an sich einen wunderbaren Blick auf die verschneiten Hänge des westlichen Wienerwalds hätte, sogar auf den gerahmten Konzertplakaten picken die kleinen gelben Helfer, auf denen der Trainer mit kleinwinziger Handschrift wahrscheinlich wichtige Gedankenblitze und poetische Einfälle notiert hat. So schaut also die Werkstatt des Dichters aus. Gott sei gedankt, daß ich meine Songs nur singen muß.

Ich weiß nicht, wo ich mich hinsetzen soll und darf.

Die Couch vorm Fernseher (mit dem neuen DVD-Player) ist zwar weitgehend memofrei, dafür lagern dort die Reste des heutigen Frühstücks oder gestrigen Mitternachtssnacks. Der Zustand der Extrawurst und die gestockte Kaffeemilch weisen sogar eher in Richtung vorgestern.

Am Computer ist noch ein Plätzchen frei. Der Bildschirmschoner zeigt Bettie Page, halbnackt und in Bedrängnis. Das Buch, aus dem das Foto stammt, hat ihm, weiß ich, der Doc letzte Weihnachten geschenkt. Niemand wird je erfahren, wie der Trainer die bezaubernd hilflose Bettie aus dem Bilderbuch auf seinen Computer-Monitor gezaubert hat. Es geht nämlich das Gerücht, daß er mit seinem Datengerätepark ungefähr so auf du ist wie mit der Straßenverkehrsordnung, und der Trainer steht bekanntermaßen in dem Ruf, der schlechteste Autofahrer dies- und jenseits unserer Milchstraße zu sein.

Vielleicht wollte Bettie Page einfach nur raus aus ihrem Gefängnis zwischen Buchdeckeln und hat dem Trainer so lang schöne Augen (und vage Versprechungen?) gemacht, bis er endlich zum ersten Mal einen Blick in die Gebrauchsanweisung seines Scanners geworfen und dadurch das Unmögliche möglich gemacht hat? Bettie Page war ihrer Zeit schließlich immer schon weit voraus. Aber ob sie am Bildschirm des Trainers wirklich glücklich wird? Da gibt’s mindestens sechs Monate im Jahr nix zu schonen, weil sich der Trainer nicht an ihrem erfreulichen Anblick laben kann, da er auf seiner kanarischen Vulkaninsel unter Palmen hockt und sinniert.

Jetzt aber deutet er auf seinen CD-Player.

»Merken«, sagt er streng. Dann kramt er zwischen Frühstück, Snack und Computerausdrucken zukünftiger Songtexte einen orangen Umschlag hervor. »John Scofield. Die pure Groove.«

Ich hab bisher nicht auf die Musik geachtet. Mir ist auch keine wirklich aufgefallen. Jetzt spitze ich das Ohr und höre tatsächlich, was der Trainer für dringend bemerkenswert hält. Die pure Groove, viele Minuten lang auf der vergeblichen Suche nach einem Song.

»Alles klar«, sage ich, weil ich mich nicht wegen einer musikalischen Grundsatzdebatte vom Zehnten nach Meidling getummelt hab. »Und jetzt zeig her! Was hat dir der Kreuzschinder da persönlich zugestellt?«

Der Trainer drückt mir das Kuvert in die Hand.

»Ich war einen Sprung unten. Den Mist in den Hof tragen und aus dem Vorhaus die Post holen. Und wie ich wieder zurückkomm’ mit dem Lift, liegt das Kuvert im Vorzimmer am Boden hinter der Tür. Durchgeschoben, unter der Wohnungstür. Ich war vielleicht zwei Minuten weg. Maximal. Aber ich hab weder im Hof noch im Stiegenhaus und im Aufzug irgendjemand gesehen. Der Kohout is mir echt nimma wurscht ...«

»Kluge Einstellung, Trainer«, sage ich und nehm mir den Inhalt des Umschlags vor.

Ein handschriftlicher Brief. In Großbuchstaben. Eilig geschrieben mit schwarzem Filzschrift auf einem weißen

A4-Blatt ohne Wasserzeichen. In der Anlage ein halbes Dutzend Fotos.

SEHR GEEHRTE MADAME!

ALS SCHÜLER UND ABSOLVENTEN IHRES INSTITUTES ERLAUBEN WIR UNS, IHNEN DIE GRÜNDUNG DES CLUBS SEVERIN ZU AVISIEREN. ES WÄRE UNS EINE GROSSE FREUDE, WENN SIE UNSEREM EXKLUSIVEN ZIRKEL ALS EHRENPRÄSIDENTIN VORSTEHEN WÜRDEN UND DAHER VERLEIHEN WIR IHNEN FÜR IHR UNERMÜDLICHES WIRKEN, IHRE GÜTIGE HÄRTE UND STRENGE HAND DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE IN GOLD

Die sechs Fotos in der Anlage zeigen einmal (unscharf) Kreuzschinders (?) geschundene Hinteransicht, sowie vier Prominente aus Wirtschaft, Kultur und Geldadel, deren Gesichter und tiefschürfende Aussagen über Gott und die Welt jeder im Land aus den »Seitenblicken« kennt. Auf diesen Bildern stehen die Herren aber nicht mit steifer Hemdbrust an der Bar, sitzen nicht in der Ehrenloge vor einem Glas Schampus und fadisieren sich auch nicht königlich bei noch einer Vernissage, Theaterpremiere oder Zirkusgala für irgendeinen guten Zweck.

Hier posieren sie im Obergeschoß des Noroticom-Hauptquartiers für die Kamera. Ihre Kostüme sind — sofern überhaupt vorhanden - zumindest gewagt. Und ihr Mienenspiel erzählt Geschichten, die man in den »Seitenblicken« nicht zu hören kriegt; Geschichten über die Lust an heißem Kerzenwachs oder die Freude am Kindsein mit 60, komplett mit Schnuller und Strampelhose.

Der sechste in dieser illustren Runde ist ein lachender Trainer am Flaschenzug.

Er schaukelt in Noras strenger Kammer an dem elektrisch betriebenen Foltermöbel, das heute für Novizin Gerda vorgesehen war, und trägt dabei seine ausgelatschten Cowboyboots, schwarze Jeans und ein großkariertes Holzfällerhemd.

Erstaunlich.

Wie ich mittlerweile weiß, gibt es der Fetische viele bzw. kann alles und jedes zum Objekt der Begierde werden, aber ich hätte den Trainer eher in der Sektion Petticoats und Perlonstrümpfe vermutet. Also, damit da keine Mißverständnisse aufkommen: Ich meine nicht den Trainer in Petticoats und Perlonstrümpfen, sondern als Liebhaber dieser (seinem Rock’n’Roll-State-of-Mind entsprechenden) Kleidungsstücke am anmutigen Körper einer Bettie-Page-mäßigen Lady.

Aber so kann man sich täuschen. Zuerst Paul Körner, dann Gerda, und jetzt auch noch der Trainer.

»Ein Bier«, sag ich, und er trabt ohne Kommentar und Widerrede in die Küche.

Mir geht allerhand durch den Kopf. Und das verdammt schnell und unsortiert. Der Opernball. Die D&G-Boutique in der Schönbrunner Straße. Die Begehung von Noras Sklavenparadies. Die heurige Herrenabfahrt in Kitzbühel. Mauseloch. Al Pacino im grandiosen Snowdown von »Scarface«. Zofe Gerda und ihr Adrenalin-Rush. Bettie Page und die Einsamkeit des Bildschirmschoners. Der Trainer in seinem kanarischen Bungalow. Nora und Ella. Der CD-Wechsler und Kris Kristofferson. Der Doc und Doktor Fu Man Chu. Geselchte Ripperln und Püree. Der Herr Josef und der Polifka-Rudl. Neil Young und kanadische Holzfällerhemden.

Der Trainer am Flaschenzug.

»Salud«, sagt er und hält mir eine Dose Gösser hin. »Is dir was, Kurtl?«

»Wär’s ein Wunder?« frage ich matt.