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Das Ontario Psychiatric Hospital – oder das OH, wie man die psychiatrische Klinik gewöhnlich nannte – liegt nahe dem Highway 11, einige Kilometer westlich von Algonquin Bay. Es ist ein wunderschöner Ort – lange Zufahrt, weitläufiges Gelände, in Kiefernwälder eingebettet. Es spiegelt damit die Auffassung früherer Generationen wider, wonach Menschen, die an geistiger oder emotionaler Verwirrung leiden, mehr als irgendetwas sonst den Rückzug in eine friedliche Umgebung brauchen – ein Asyl.

Dank der Fortschritte in der medikamentösen Behandlung sowie finanzieller Einschnitte im Gesundheitswesen stehen viele Betten im OH leer. Doch immerhin etwa drei- bis vierhundert Patienten beherbergt es jederzeit rund ums Jahr. Die meisten davon, so genannte chronische Patienten, werden nicht mehr entlassen. Dies schließt die schweren Fälle von geistiger Behinderung wie auch diejenigen ein, die unter irreversibler Demenz leiden. Dabei ist nicht klar, ob der Patient überhaupt etwas von seinen gegenwärtigen Lebensumständen mitbekommt, geschweige denn, was die Zukunft für ihn bereithält oder besser gesagt ihm vorenthält.

Ein paar der Insassen, wie Catherine Cardinal, sind vorübergehend in der Klinik, bis die akute Phase ihrer Schwierigkeiten abklingt und sie gefahrlos in die Gesellschaft entlassen werden können.

Dr. Jonas hatte ihr ein Sedativum gegeben und sie über Nacht in Toronto behalten. Danach hatte er sie auf eine neue Medikation umgestellt und sie mit dem Krankenwagen ins OH bringen lassen, da er die Nähe zu ihrem Mann für den wichtigsten Faktor bei ihrer Genesung hielt. Er würde zu ihrem Arzt dort oben eng in Verbindung bleiben.

John Cardinal saß jetzt bei ihr im Wintergarten auf dem dritten Stock. Sie saßen immer im Wintergarten, wenn er sie besuchte. Später dann, wenn es ihr besser ging, würden sie einen Spaziergang machen, vielleicht sogar eine Spritztour in die Stadt. Doch vorerst blieb ihnen nur dieser überhitzte Raum mit dem vielen Glas und den Vinylsofas und dem Blick auf den Highway und die Bäume. Die Sonne verbarg sich hinter schweren Wolken, und der Regen lief in dicken Rinnsalen die Fenster herunter.

»Sollte Regengarten heißen«, sagte Cardinal.

Catherine antwortete nicht. Sie saß am anderen Ende der Couch, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf tief darüber gesenkt, das Gesicht unter dem Haar verborgen – ein Bild des Jammers. Cardinal kämpfte zwischen Mitgefühl und Sorge einerseits und andererseits der Frustration, nicht bei der Fahndung nach Terri Tait im Einsatz zu sein. Sicher, sie hatten sämtliche Abteilungen in Alarmbereitschaft versetzt, und im Moment blieb ihm nicht allzu viel, was er noch für Terri tun konnte, doch es gab noch andere Ansätze, die man hätte verfolgen können.

»Möchtest du eine Cola?«, fragte er. »Am Ende des Flurs gibt es einen Automaten, ich kann dir eine besorgen.«

Nichts deutete darauf hin, dass Catherine ihn hörte.

»Die glauben, dass du diesmal nicht lange hier bleiben musst. Vielleicht nur für ein paar Wochen.«

Catherine sagte etwas.

»Wie meinst du? Tut mir leid, Schatz, ich hab dich nicht verstanden.«

»Bravo, John. Ich sagte, bravo. Bist du nun zufrieden?«

Cardinal starrte auf das Cover einer Promi-Illustrierten, mit Schlagzeilen über Rosie McDonnell und Julia Roberts. Was mach ich eigentlich hier? Ich sollte unten im Präsidium sein und mit der ViCLAS reden.

»Gott«, sagte Catherine nach einer Weile.

Sie war aus freien Stücken in der Klinik, doch das machte die Erfahrung für sie offenbar nicht weniger bitter.

»Catherine, bitte versuch dich zu erinnern, dass das hier vorübergeht. Es ist in absehbarer Zeit vorbei.«

»Sicher, John.« Sie richtete ihre dunklen Augen auf ihn, und Cardinal las darin nichts als Verzweiflung. »Sicher ist es irgendwann vorbei. Und dann kommt es direkt wieder. Wie ist es dann ›vorbei‹? Das wüsste ich gerne, John. Wie ist es dann vorbei?«

»Du hast hier Leute, die dir helfen wollen, Liebling. Sie versuchen es mit diesem Lamotrigine, und sie haben jeden Grund zu der Annahme, dass es besser anschlägt als Lithium. Es soll bei Leuten mit deinem Profil besonders wirksam sein. Sie sind sehr optimistisch.«

Catherine ließ wieder den Kopf hängen und drehte ihn dabei leicht hin und her – ein stummes Nein. Falls man diese Krankheit, zumindest in ihrer depressiven Phase, irgendwie zusammenfassen konnte, dann in diesem Wort mit vier Buchstaben, in dem sich die ganze Hoffnungslosigkeit des Universums zu konzentrieren schien.

In diesem Zustand klang für sie jeder heitere Ton nur hohl, jede hoffnungsvolle Bemerkung verdächtig, jeder Ausdruck von Zärtlichkeit verlogen. Doch Cardinal konnte nicht aus seiner Haut. »Catherine, ich weiß, es ist schwer. Ich weiß, es ist zu viel. Aber versuch bitte nicht zu vergessen, dass der Grund, weshalb du dich so fühlst, nichts mit der Realität zu tun hat. Es liegt nur an einer chemischen Störung, dass dir so elend ist, dass dir die ganze Welt hässlich erscheint, aber das vergeht. Du wirst dich besser fühlen, versprochen.«

Jetzt weinte sie. Nicht die tiefen Schluchzer, die Erleichterung bringen, sondern nur die herausgepressten Tränen der Verbitterung. Der Teil von ihm, der immer noch betete, flehte jetzt darum, diese Qual auf sich nehmen zu können. Er würde sie für den Rest seines Lebens ertragen, wenn er sie Catherine damit ersparen konnte.

 

Als er ins Großraumbüro zurückkam, zog Cardinal den Vi-CLAS-Bericht unter einem Stapel Papiere hervor und sah sich die Seite mit der Zusammenfassung noch einmal genau an. Die Suche hatte hinsichtlich des Modus Operandi kein Ergebnis gezeitigt, es gab keinerlei Querverbindungen. Das hieß, sie hatten es mit einem Mörder zu tun, der zum ersten Mal in seinem Leben jemandem Kopf und Hände abschnitt und zwei Leute erschoss. Und wahrscheinlich derzeit Terri Tait in seiner Gewalt hatte.

Er rief bei Jack Whaley in der OPP-Abteilung für Verhaltensforschung an. »Jack, hier spricht John Cardinal. Ich komme immer wieder auf den ViCLAS-Bericht zurück, den Sie uns übergeben haben.«

»Ihr toter Biker. Negativ, soweit ich mich entsinne. Keinerlei Treffer.«

»Stimmt. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es für diesen Mörder das erste Mal ist. Wenn man bedenkt, dass er dem Opfer bei lebendigem Leib die Extremitäten abtrennt. Der Tatort war zu sorgfältig vorbereitet. Der Kerl hatte seine magischen Zeichen an den Wänden, er hatte die richtigen Messer, um Knochen und Bänder durchzuschneiden, er hatte etwas dabei, um die Gliedmaßen darin wegzutragen, und etwas, um darin das Blut aufzufangen. Das war kein Mord im Affekt.«

»Okay, ich hab Ihren Fall auf dem Monitor. Keine Treffer.«

»Und haben Sie unter MO die fehlenden Extremitäten, einschließlich des Kopfs?«

»Ja.«

»Und Sie haben die Hieroglyphen an der Wand?«

»So ist es.«

»Und das ist der Bericht, den Sie uns geschickt haben, ja? Negativ auf der ganzen Linie.«

»Das ist richtig.«

»Was ist passiert, als Sie es ohne die Hieroglyphen eingegeben haben?«

»Ich weiß nicht. Haben wir das überhaupt?«

»Ken Szelagy hatte beantragt, es noch mal durchlaufen zu lassen, falls das Ergebnis beim ersten Mal negativ ist, und dann ohne die Hieroglyphen.«

»Wo finde ich die Anweisung?«

»Direkt auf dem Antragsformular«, sagte Cardinal, während er die Mappe durchblätterte. »In der Rubrik ›Bemerkungen‹.«

»Ach so, ja, ich hab’s. Aber wir haben hier ein Problem, John.«

»Schießen Sie los.«

»Eine von diesen typischen ViCLAS-Störungen. Das Programm packt keine Suchmodi mit ›und/oder‹. Hier läuft alles streng mit ›und‹.«

»Sie machen Witze. Wir haben es doch wohl mit einem Computer zu tun?«

»Ja. Die Software ist auch ziemlich neu. Sie sind noch dabei, die Fehler auszubügeln. Jeder weiß, dass wir die Und/oderMöglichkeit brauchen, sie haben das nur noch nicht ausgetüftelt. Sie versprechen, dass es bald so weit ist. Die nächste Software-Generation.«

»Ich kann nicht glauben, dass der Durchlauf nie stattgefunden hat, Jack. Hier rennt ein Irrer frei herum, und er hält mindestens eine Person gefangen – oder Schlimmeres.« Cardinal seufzte. Für den Gesetzesvollzug waren Computer Geißel und Retter in einem. »Können Sie die Suche für mich jetzt noch mal ohne die Zeichen an der Wand durchlaufen lassen?«

»Schon dabei. Geben Sie mir eine Minute. Braucht ein paar Anschläge. Wie geht’s übrigens Catherine?«

»Gut. Und Martha?«

»Wir haben uns getrennt. Ihr ist schließlich klar geworden, dass sie doch keine Bullen mag. So, es läuft.«

»Das bringt aber keine Treffer aus den Staaten, oder?«

»Nee. Ausschließlich kanadische Daten, Provinz und Landesebene. Ist allerdings eine riesige Datenbank, die wir da inzwischen haben. Besser als alles, was sie südlich der Grenze bieten können. Da sind ’ne ganze Reihe Bundesstaaten noch nicht angeschlossen, deshalb bekommen Sie nichts von denen – so, da haben wir’s.«

»Was? Sagen Sie schon. Sie haben was bekommen?«

»Eine Sekunde noch.«

Cardinal hörte, wie Whaley in die Tastatur tippte. Dann war er wieder in der Leitung. »Okay, eigentlich dürfen wir das nicht, aber Sie kriegen es als E-Mail-Anlage.«

Cardinal klickte auf ›Neue Nachricht‹, und die Mail erschien in seinem Posteingang. Er rief sie ab und öffnete die Anlage.

»Gehen Sie auf ›Fallanalytische Überprüfung des Serienverdachts‹, dann zu ›Verknüpfung‹. Es gibt zwar keine Analyse, aber Sie kommen sicher klar.«

»Hab sie«, sagte Cardinal. »Okay. Wenn wir die Hieroglyphen weglassen, haben wir, wie’s aussieht, drei Treffer, allesamt in Toronto. Den ersten vor zwölf Jahren. Der Junge wurde auf einem Dach in Regent Park gefunden. Ich kann mich noch dran erinnern – das war, kurz nachdem ich aus Toronto hierher gekommen bin. Kann mich allerdings nicht an fehlende Extremitäten erinnern.«

»Wahrscheinlich sind sie damit bewusst nicht an die Öffentlichkeit gegangen«, sagte Whaley. »Um sich die falschen Bekenner vom Hals zu halten. Kopf, Hände und Füße fehlten, und sie haben es niemals aufgeklärt. Die müssen da unten fast wahnsinnig geworden sein. Hatten, wie’s aussieht, einen Verdächtigen.«

»Raymond Beltran. Damals zwanzig Jahre alt. Keine Vorstrafen. Aber er hegte einen Groll gegen das Opfer. Er hatte allerdings ein Alibi, bestätigt von einem Victor Vega.«

»Alter Knacker. Absoluter Tugendbold zweifellos.«

»Zweifellos. Lassen Sie mich noch mal einen Blick auf die anderen zwei werfen.«

Cardinal scrollte die Anlage zum nächsten Eintrag herunter, einem Fall vor acht Jahren. Eine Leiche, die in Toronto im Stadtteil Rosedale Valley in einem flachen Grab gefunden wurde. »Nicht identifizierte männliche Leiche. Kopf, Hände und Füße entfernt. Keine Verdächtigen.«

»Erstaunt mich, dass sie Beltran nicht auch bei dem Fall in Verdacht hatten«, sagte Cardinal. »Wenn man bedenkt, dass der letzte Fall da ganze zwei Jahre her ist. Außerdem ist Rosedale Valley nicht allzu weit von Regent Park entfernt. Aber scheinbar haben sie ihn nicht mal dazu vernommen.«

»Das hat mit dem Zeitpunkt zu tun, John. Die hier wurde zwar zwei Jahre nach dem Jungen in Regent Park gefunden, aber dem Zustand der Leiche nach muss der Mord acht Jahre vor dem anderen liegen. Da hat Beltran noch gar nicht hier gelebt; er lebte damals in den Staaten.«

»Den Staaten?«

»Florida, glaube ich. Sieh mal bei den biografischen Bemerkungen nach.«

Cardinal scrollte zu Nummer drei. Das hier lag vier Jahre zurück, ebenfalls in Toronto. Eine Frau, fünfundzwanzig Jahre alt, wird zu Hause in Mississauga vermisst gemeldet und taucht zwei Wochen später in der Nähe von Scarborough Beach wieder auf, minus Kopf, Hände und Füße.

»Nummer drei ist auch nicht aufgeklärt«, sagte Cardinal.

»Das sehe ich auch. Da kann man ja ziemlich pessimistisch werden. Diesmal kein Mangel an Verdächtigen, stelle ich fest.«

»Der Ex-Freund hatte kein Alibi, aber sie hatten auch keinen Grund, ihn zu verdächtigen, abgesehen vom Ex-Faktor. Der Nachbar in der Kellerwohnung war ein notorischer sexueller Wüstling, aber noch nicht durch den Gebrauch eines Messers oder einer anderen Waffe aufgefallen. Zu dem Fall haben sie Beltran gar nicht befragt. Beaches ist nicht allzu weit von Regent Park entfernt. Zehn Minuten mit dem Auto.«

»Ich kann nachvollziehen, wieso sie ihn nicht vernommen haben. Als Motiv hatten sie bei Opfer Nummer eins nichts weiter als feindselige Gefühle. Wenn sie ihm den Mord nicht nachweisen können, haben sie auch keine Verbindung zu den anderen beiden Fällen.«

»Sie vergessen die Geografie.«

»Zugegeben. Nur dass er die mit zweieinhalb Millionen Menschen teilt.«

Es trat eine Pause ein. Cardinal konnte Whaley am anderen Ende der Leitung atmen hören.

»Wenn ich mir die Sache so anschaue, John, würde ich diese drei Fälle nicht miteinander in Verbindung bringen. Selbst hinsichtlich des MO – im zweiten Fall ist nicht klar, ob die Hände und so weiter vor dem Tod abgetrennt wurden. Das macht aber einen Riesenunterschied. Damit haben Sie den geografischen Faktor plus den MO in zwei Fällen, wenn’s hochkommt. Nicht gerade üppig, mein Freund.«

Cardinal fluchte leise.

»Ja, ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«

»Nein, nein, was Sie mir da liefern, ist großartig. Ich versuch nur gerade, mich durch dieses riesige Dokument zu navigieren. Ich möchte mir Beltrans Background ein bisschen unter die Lupe nehmen. Wie komme ich an Einzelheiten zu den Verdächtigen?«

»Sie müssen die Links mit den Fallnummern anklicken. Die sind unterstrichen, gleich über den …«

»Hab sie. Nochmals vielen Dank für alles, Jack.«

»Hören Sie, dieses elektronische Dokument, das Sie da vor sich haben, ist inoffiziell, okay? Ich schick Ihnen das richtige per Express. Viel Spaß.«

Cardinal scrollte durch die Notizen über den jungen Beltran. Kein Engel, der Knabe. Sechs Anklagen in seiner Jugendstrafakte und eine schwere Körperverletzung, die ihn für zwei Jahre in eine Jugendstrafanstalt in Deep River brachte.

Dann die Kommentare der Torontoer Kollegen zum Alibi-zeugen des Angeklagten, diesem Victor Vega. Nannte sich Beltrans Onkel, aber sie waren keine Blutsverwandten. Die ermittelnden Beamten konnten ihn mit dem Verbrechen nicht in Verbindung bringen, hielten jedoch fest, dass er trotzig und feindselig schien.

Beltran. In Kanada kein gewöhnlicher Name. Cardinal überprüfte die Kurzfassung der Daten zur Person. Mutter arbeitslos. Vater verstorben. Staatsbürgerschaft kanadisch. Cardinal überflog einige Auflistungen sozialer Kontakte und hatte schon fast aufgegeben, unter diesem Blickwinkel etwas zu finden, als ihm eine Bemerkung entgegensprang: Mutter sagt, seit ihrer Auswanderung aus Kuba ist für sie alles schief gelaufen. Kam 1980 aus Havanna nach Miami. Zwei Jahre später nach Toronto. Sagt aus, sie bekomme keine Hilfe von Verwandten in Havanna.

»Hey, Delorme.« Cardinal erwischte sie noch gerade auf dem Weg nach draußen. Die Klinke in der Hand, blieb sie stehen. »Du solltest nicht mal dran denken, jetzt zu gehen. Ich glaube, wir haben gerade den entscheidenden Durchbruch.«