34
Wo hast du nur gesteckt?«, fragte Delorme, kaum dass Cardinal zum Präsidium zurückkam. »Wir haben dich angefunkt.«
»Ich bin zum Frauenhaus rüber«, sagte er. »Ich hab Terri Tait gefunden.«
»Du hast Terri Tait gefunden.« Delorme zog eine Augenbraue hoch, an der die kleine hakenförmige Narbe allmählich verblasste. »Wie hast du sie gefunden?«
»Schülerakten. Ich hab mich auch über ihren Bruder, Kevin Tait, schlau gemacht. Hat, wie’s aussieht, zwei Jahre für unerlaubten Heroinbesitz gesessen, und ich glaube, er ist hier in der Stadt.«
»Deshalb ist sie uns gegenüber so zugeknöpft. Sie will nicht, dass ihr Bruder richtig lange in den Knast wandert.«
»Wieso hast du mich angefunkt?«
»Wir haben von der Gerichtsmedizin eine Identifizierung bekommen. Sie haben jemanden, auf den die Zähne passen. Ist dir mal ein Typ namens Morris Tilley über den Weg gelaufen? Auch als ›Toof‹ bekannt – weshalb die Odontologen ihn so schnell identifizieren konnten. Er hatte einen überzähligen Schneidezahn.«
»Kenne ich nicht.«
»Natürlich nicht. Du, du gibst dich ja nicht mit kleinen Fischen ab. Wir haben Morris Tilley schon mindestens dreimal kassiert, meistens für Bagatelldiebstahl. Er ist auch als Dealer bekannt, meist von Hasch. Morris Tilleys Problem war, dass er hundert Prozent grassüchtig war. Allerdings hatten wir seit fast einem Jahr nicht mehr von ihm gehört.«
»Vielleicht hat er beschlossen, clean zu werden.«
»Haha. Er verfügte über keine anderen Einkünfte außer vom Dope und vom Billardhallen-Strich.«
»Hast du schon die Eltern benachrichtigt?«
Delorme schenkte ihm ihr reizendstes Lächeln, was ausnahmslos zu bedeuten hatte, dass jetzt etwas Unangenehmes kam. »Ein Elternteil«, korrigierte sie ihn. »Ich hatte gehofft, du kommst mit.«
Die Tilleys wohnten an der Main West hinter dem Parkplatz zum Country-Style-Donuts-Imbiss. Dank der landesweiten Obsession für frittiertes Gebäck gab es keine Immobilie in der ganzen Stadt, die so schnell expandierte wie dieser Parkplatz, der in seiner Gefräßigkeit ein Kalksteinkloster, eine Reihe kleiner Läden sowie ein paar edwardianische Häuser verschlungen hatte. Die Adresse der Familie Tilley lag fünfzig Meter weiter westlich, inmitten eines Blocks aus roten Backsteinbauten, bei denen in jüngster Zeit hässliche Ladenfronten wie Pilze aus dem Boden schossen: Deirdres Schönheitssalon, Arktis-Klimaanlagen, Anwaltskanzlei Prent & Polone.
Zuweilen kommt es vor, dass ein Gewaltverbrechen die Polizei zu einer guten Adresse führt, einer Familie mit guten Manieren und Abschlüssen von den besten Universitäten; Cardinal hatte das selbst schon ein-, zweimal erlebt. Doch das waren seltene Fälle. Der Mord an Morris Tilley war eher der Regelfall.
Seine Mutter bat sie in den Flur. Es war ein dunkler, enger Raum mit einem leichten Geruch nach Moder und alten Kleidern aus Secondhand-Shops am unteren Ende der Skala. Mrs. Tilley selbst war eine Spatzenportion von einer Frau in einem verschossenen geblümten Kleid, die ihnen hinter einer Schmetterlingsbrille hervor entgegenblinzelte.
Cardinal stellte sich und Delorme vor.
»Mrs. Tilley, sind Sie die Mutter von Morris Tilley?«
»Ja. Steckt der Junge schon wieder in Schwierigkeiten? Er will das eigentlich nicht. Er denkt einfach nicht nach, wissen Sie? Er findet etwas ganz toll und lässt sich zu einem Fehler hinreißen. Und dieses Marihuana hat ihm von Anfang an nicht gut getan. Andere Mütter beklagen sich, ihre Kinder wären süchtig nach Videospielen oder nach ihren Computern, und ich würde alles darum geben, wenn Morris sich für so was interessieren würde. Ich meine, er hat Marihuana entdeckt, da war er mal gerade zwölf, und seitdem ist er benebelt. Aber er meint es nicht bös, wirklich nicht. Er ist ein guter Junge, ich meine, Mann. Auch wenn er in mancher Hinsicht eher noch ein Junge ist. Was hat er diesmal angestellt? Nichts Ernstes, will ich hoffen.«
»Ich fürchte, wir müssen Ihnen etwas weitaus Schlimmeres mitteilen, Mrs. Tilley. Vielleicht setzen Sie sich besser.«
»Ja, sicher. Gehen wir ins Wohnzimmer.« Ein Schaukelstuhl aus braunem Vinyl mit schwerer Schlagseite stand neben einem prall gepolsterten Sofa, über dessen beide Enden ein Tiger hergefallen zu sein schien.
»Möchten Sie eine Tasse Tee? Kaffee?«
»Nein, danke. Bitte setzen Sie sich, Mrs. Tilley.«
Mrs. Tilley schwankte ein wenig, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht, als hätte jemand an ihren Füßen einen Stöpsel gezogen. Sie ließ sich auf das zerrissene Sofa herab und faltete die Hände ordentlich auf dem Schoß.
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Morris tot ist, Mrs. Tilley.« Cardinal pochte heftig das Herz. An das hier würde er sich nie gewöhnen. »Jemand hat ihn umgebracht.«
»Ihn umgebracht?«
»Es tut mir sehr leid.«
Mrs. Tilley wandte sich an Delorme, wie wenn eine Frau Vernunft in die Sache bringen könnte. »Wieso sollte irgendjemand Morris umbringen? Morris ist … Morris kommt mit jedem … Morris kann keiner Fliege was zuleide tun. Er raucht zu viel Marihuana, das stimmt. Und er kann keinen Job halten, aber schließlich ist es in letzter Zeit der Wirtschaft ja auch nicht gut gegangen, wissen Sie. Und Morris ist sehr wählerisch; der nimmt nicht einfach, was kommt. Aber er lässt sich nicht auf Prügeleien ein. Das kann nicht Morris sein. Da liegt eine Verwechslung vor, Sie werden sehen. Sie haben den Falschen.«
»Seine Identität wurde durch den Zahnstatus ermittelt«, sagte Delorme. »Seine Zähne. Ihr Sohn hat, glaube ich, einen überzähligen Schneidezahn?«
Das folgende Schweigen war kurz, die Stille tief. Irgendwo tickte eine Uhr: eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Und dann zerriss das Heulen von Mrs. Tilley die Luft. Es war laut und lang und mochte aus der Ferne wie das Heulen eines Hundes klingen. Wie eine Erstickende schnappte sie nach Luft und gab einen zweiten heulenden Laut von sich, der Cardinal nicht so sehr wegen seiner Lautstärke in den Ohren wehtat, sondern weil sich in dem langen, gespensterhaften Klagelaut das Leiden aller menschlichen Seelen zu vereinen schien.
Delorme kam mit einem Glas Wasser aus der Küche zurück; Cardinal hatte nicht einmal mitbekommen, wie sie aufgestanden war. Es dauerte eine Weile, doch irgendwann gelang es Delorme, die Frau zu beruhigen. Das laute Heulen ging in Schluchzen über, das Schluchzen in stumme Tränen, und irgendwann war sie in der Lage zu reden.
»Ich muss ihn sehen«, sagte sie. »Sonst werde ich es nie ganz glauben.«
»Selbstverständlich«, sagte Delorme. »Wir können das mit dem Gerichtsmedizinischen Institut in Toronto absprechen, wenn Sie möchten. Oder die vereinbaren etwas mit Ihrem Bestattungsunternehmen, und Sie können ihn hier noch einmal sehen.«
Dies löste einen weiteren Tränenstrom aus. Cardinal hatte die Erfahrung gemacht, dass der Informationsfluss oft ganz versiegte, wenn man erst einmal zuließ, dass die Trauer gänzlich von den Hinterbliebenen Besitz ergriff. Auf die Gefahr hin, taktlos zu wirken, ging er mit der ersten Frage dazwischen.
»Mrs. Tilley, wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?«
»Erst vor kurzem. Vor zwei oder drei Monaten.«
»Zwei oder drei Monate?«
»Also, zwei. Morris hat oft nur Sinn für seine Angelegenheiten. Seine Projekte und so, und dann sehe ich ihn ein paar Monate nicht. Dann komme ich irgendwann von Loblaw’s nach Hause, und da sitzt er am Küchentisch und verputzt eine Stulle, mit sich und der Welt zufrieden. Er ist ein guter Sohn. Manchmal bringt er mir Blumen mit. Letztes Mal waren es Tulpen. Er weiß, dass ich Tulpen mag. Seine Brüder kämen nie auf die Idee.«
»Die letzte Adresse, die wir von ihm haben, ist Marsden Road«, sagte Delorme. »Oben in Greenwood?«
»Ja, das stimmt. Er teilt sich eine Wohnung mit Freunden.«
»Was hatten Sie für einen Eindruck, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«
»Na ja, wie immer. Morris ändert sich nicht. Er hat sich nicht geändert, seit er zwölf war. Unbekümmert, ein bisschen gedankenlos. Ein bisschen geistesabwesend, manchmal. Ich denke, das Marihuana ist daran schuld. Er hat mir erzählt, dass er gerade gutes Geld verdient.«
»Gutes Geld womit?«
»Dass er bei einer Spedition arbeitet. Beladen und entladen. Nichts Berückendes, aber ’ne Lohntüte immerhin.«
»Hat er erwähnt, bei wem er arbeitet?«
»Nein. Nein, er hat nur gesagt, es sei ein guter Laden. So hat er es genannt. Er hat gesagt: ›Ma, ich bin endlich bei einem guten Laden. Es ist ein Anfang.‹ Nicht dass ich geglaubt hab, dass es ihn weiterbringt. Er bleibt ja nie bei der Stange. Aber ich war froh, dass er ein bisschen Geld in der Tasche hat. Er hat mir sogar was mitgebracht. Hat nichts gesagt, aber als er wieder weg war, fand ich einen Hundert-Dollar-Schein unter der Keksdose.«
»Haben Sie irgendwann einmal jemanden von den Leuten gesehen, bei denen er arbeitet, oder einen seiner Freunde?«
»Nein, das heißt, einen. Einen Jungen namens Sam, den er ab und zu mitbrachte. Die beiden saßen dann in der Küche und verdrückten ein Dutzend Plätzchen auf einmal. Hermits aß er am liebsten – Sie wissen schon, Zimt und Rosinen und nicht zu süß? Also, wenn Morris da ist, hat man die besser nicht im Haus.«
»Wie hieß Sam mit Nachnamen, Mrs. Tilley, wissen Sie das?«
»Nein, tut mir leid. Sah nicht schlecht aus, der Junge.«
»Können Sie ihn wohl beschreiben?«
»Er ist hellhäutig, hat sehr dunkles Haar und sehr helle Haut. Er ist kleiner als ich, und ich bin nur eins achtundfünfzig ohne Schuhe.«
»Nicht zufällig Sami Deans, oder?«, fragte Delorme. »Stämmig gebaut, wirkt immer irgendwie verdutzt?«
»Ja, könnte man sagen. Ich hab seinen Nachnamen nie erfahren, jedenfalls hat Morris ihn immer Sammy genannt, als wäre er ein kleines Kind. Natürlich ist in Wirklichkeit Morris nie erwachsen geworden. Jetzt wird er es wohl auch nicht mehr.« Mrs. Tilley legte die Hand vor die Augen und weinte eine Weile hinein.
Delorme fand irgendwo eine Schachtel Kleenex-Tücher.
»Mrs. Tilley, können Sie sich ganz bestimmt nicht erinnern, einmal einen anderen Freund oder Kollegen von Morris kennen gelernt zu haben?«, fragte Cardinal. »Das ist überaus wichtig.«
»Morris brachte normalerweise niemanden mit, fürchte ich. Noch nie. Er war ein umgänglicher Junge, aber am Ende kam er doch allein nach Hause – schon als ganz kleiner Junge.«
Sie brauchten nicht lange, um festzustellen, dass Mrs. Tilley im Grunde nichts über die Aktivitäten ihres Sohnes wusste. Nach ein paar weiteren Fragen kam sie noch mit zur Tür, tupfte sich, während sie hinter ihnen herwankte, die Augen und dankte ihnen für ihre Freundlichkeit.
»Weißt du, woran ich mich bei Mord nie gewöhnen werde?«, sagte Delorme, als sie wieder im Wagen saßen. »Daran, wie viele Opfer es gibt außer dem einen, das stirbt.«
»Wir werden den Kerl finden, der das getan hat, Lise. Deshalb arbeiten wir in diesem Geschäft. Erzähl mir von diesem Sam Deans, den du erwähnt hast. Hat mich ziemlich fertig gemacht da drinnen.«
»Siehst du, das meine ich ja. Ein hochrangiger Polizist wie du lernt nicht die richtigen Leute kennen.«
»Und, verrätst du’s mir?«
»Sami Deans. Lebt in einer WG sozusagen. In Greenwood, wie Mrs. Tilley sagte.«
Greenwood war eine der ersten Wohnsiedlungen, die in Algonquin Bay gebaut wurden. Früher einmal eine gute Adresse, war Greenwood wie Algonquin Bay überhaupt ein wenig heruntergekommen. Inzwischen war das Viertel vor allem ein Zufluchtsort für Leute mit einer bescheidenen Pension, die ihre Kleinwagen neben Klinkerbungalows mit leuchtend grünem Rasen parkten.
Bedauerlicherweise hatte einige Straßen ein weniger malerisches Schicksal ereilt.
Eine solche Straße war die Marsden Road. Sie bestand aus nur drei Häusern. Im ersten wohnte ein alter Esel, der – nicht ganz richtig im Kopf – selbst bei sengender Sonne einen Trenchcoat aus dem Zweiten Weltkrieg trug. Das zweite war vor zwei Jahren völlig ausgebrannt und aus steuerlichen Gründen weder instand gesetzt noch abgerissen worden.
Das letzte Haus im Block war einmal ein zweistöckiger weißer Klinkerbau gewesen, doch jetzt war der Klinker grau bis schwarz. Der Rasen glich, abgesehen von den völlig kahlen Stellen, einer Abfallhalde. Verzogenes Sperrholz ersetzte fehlende Fenster. In der Einfahrt, wo jemand, wie es schien, ein Siebzigerjahre-Malibu-Modell aus großer Höhe hatte fallen lassen, wuchs das Unkraut aus dem aufgebrochenen Teer.
»Hör dir das an«, sagte Cardinal, als sie auf das Haus zurollten.
»Hör dir was an?«, fragte Delorme.
»Ich höre förmlich, wie dieser Wagen rostet. Man kann das hören.«
»Wusste gar nicht, dass du ein Autonarr bist.«
»Bin ich auch nicht. Ich hasse es nur, wenn Maschinen misshandelt werden.«
Sie gingen zur Haustür hoch und klopften laut an.
»Es ist erst Nachmittag«, sagte Cardinal. »Wieso meinst du, die sind schon auf?«
Delorme klopfte noch einmal. »Also, mir ist es egal, ob sie schon auf sind oder nicht.«
Von drinnen kam eine Stimme.
»Wer ist da?«
»Polizei. Öffnen Sie die Tür.«
Cardinal sah auf die Uhr. »Wie viel Zeit willst du denen denn noch lassen, alles das Klo runterzuspülen?«
»Eine Minute, schätze ich. Die dürften inzwischen eine ausgefeilte Routine haben.«
Die Tür wurde von einem jungen Mann geöffnet, dessen Kleider ihm zwei Nummern zu groß zu sein schienen. Das fettige Haar hing ihm in einem spitz zulaufenden Pony über ein Auge.
»Sie müssen wissen, dass ich schon einen Anwalt habe«, sagte er. »Ich hab daher nicht vor, selber Fragen zu beantworten.«
Heroinsüchtige, dachte Cardinal. Als ob sie drei Meter unter Wasser wären. Sie formulieren ihre Worte mit größter Konzentration, als ob sie sich in Sprechblasen verständigen müssten.
»Wir sind nicht wegen Ihnen hier, Sami«, erklärte Delorme. »Jedenfalls diesmal nicht.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
»Wir kommen nicht, um das Haus zu durchsuchen«, sagte Cardinal. »Wir kommen nur, um Ihnen ein paar Fragen zu Morris Tilley zu stellen.«
»Toof? Den hab ich seit Tagen nicht gesehen.«
»Wann denn das letzte Mal?«
Sami schüttelte sich den Pony zurück. Er blieb, wo er war.
»Keine Ahnung. Ewigkeit her, graue Vorzeit, Mann.«
»Geht’s etwas präziser?«, fragte Cardinal.
»Wieso eigentlich? Habt ihr ihn schon wieder eingebuchtet?«
»Jemand hat ihm zwei Schüsse und einen Baseballschläger über den Kopf verpasst.«
»Oh Mann. Das ist ungeheuerlich. Das ist echt traumatisch.«
»Es ist ein Verbrechen, Sami. Dafür werden wir jemanden hinter Gitter bringen – vorausgesetzt, wir kriegen ein paar vernünftige Informationen.«
»Scheiße. Tut mir leid, Mann, aber ich bin gerade erst aufgewacht. Ich weiß einfach nicht, wie ich reagieren soll.«
Wie weggetreten kann man eigentlich sein?, fragte sich Cardinal. Und die Antwort stellte sich von selber ein: So weggetreten, wie man will.
»Kennen Sie einen Typ namens Kevin Tait?«, fragte Delorme.
Sami zuckte die Achseln. »Ist ein Freund von Toof. Hab ihn schon mal hier gesehen.«
»Ist er Dealer?«
»Hören Sie, ich hab gesagt, ich hab ihn gesehen. Ich hab ihn nicht verhört. Hab auch nicht seinen Lebenslauf überprüft oder so.«
Cardinal und Delorme traten an Sami vorbei in einen Raum, der einmal Wohnzimmer gewesen, jetzt aber in ein Schlafzimmer mit einer Matratze am Boden, einem Ghettoblaster und einem Dutzend verstreuter CDs sowie einem Razor-Roller an der Wand umfunktioniert war. Irgendwo oben war eine Toilettenspülung zu hören.
»Setzen Sie sich, Sami«, sagte Delorme. »Sie sehen ja wie der Tod auf Socken aus.«
»Geht schon, ich kann stehen.«
»Setzen Sie sich, Sami.« Delorme drückte ihm auf die Schultern, und Sami sank auf die Matratze. »Jetzt denken Sie mal zurück. Wann haben Sie Morris Tilley das letzte Mal gesehen?«
»Ich glaube, das war vor ungefähr drei Wochen. Ja, vor drei Wochen. Hab ihn in der Poolhall gesehen. Toof ist ein ziemlich guter Spieler.«
»War«, stellte Delorme richtig.
»War.«
»Aber er hat das Haus mit Ihnen geteilt«, wandte Delorme ein. »Wieso haben Sie ihn so lange nicht gesehen?«
Sami zupfte an seinem Pony. »Keine Ahnung. Toof hat sich ’n neuen Bekanntenkreis zugelegt.«
»Tatsächlich?«
»Irgend so ’n Indianer, der ihm über den Weg gelaufen ist. Toof tat ziemlich geheimnisvoll, aber er war offensichtlich total beeindruckt von dem Kerl.«
»Und hat der Kerl vielleicht auch einen Namen?«, wollte Cardinal wissen. »Eine Adresse?«
»Keine Adresse. Davon hat Toof nichts gesagt. Aber der Name, weiß nicht. Black Cloud. So was in der Art. Sie wissen schon, Indianername.«
»Sind Sie dem Mann mal begegnet? Haben Sie ihn zu Gesicht gekriegt?«
Sami schüttelte den Kopf. Er hatte die Arme um sich geschlungen, obwohl es viel zu heiß im Zimmer war, und auf seiner Oberlippe waren feine Schweißperlen zu sehen.
»Sie haben nicht zufällig ’ne Zigarette für mich?«
»Leider nein«, sagte Delorme.
»Wer wohnt noch alles hier?«
»Wir sind sieben, soviel ich weiß. Wenn Toof nicht wiederkommt.«
»Tut er nicht. Und wir würden gerne den erwischen, der dafür gesorgt hat. Mit wem hängt er denn außer Ihnen noch so rum?«
Sami schien geschockt. »Ich häng mit Toof nicht rum, Mann. Er wohnt nur hier. Hat hier gewohnt.«
»Mit wem hing er also rum?«
»Keine Ahnung, Mann. Lassen Sie mich in Frieden, ja?«
Cardinal klopfte mit dem Fingerknöchel Sami auf die Stirn. »Hallo-o. Sami? Ich frag Sie nicht, bei wem er sein Dope gekauft hat. Ich frag nur, mit wem er rumgehangen hat.«
»Weiß ich doch nicht. Irgend so ’n Depp, der sich für ’ne ganz heiße Nummer hält.«
»Ein Name«, warf Delorme ein. »Wir brauchen einen Namen.«
Sami brüllte die Treppe hoch. »Hey, Paco! Wie heißt noch der Blödmann, mit dem Toof rumhängt, Alter? Der Typ, der diesen Machoschlitten fährt.«
Ein kleiner, dunkelhäutiger Mann erschien auf der Treppe, das Gesicht grotesk verzerrt vor Angst. »Scheiße, Mann. Du redest mit den Bullen?«
»Toof ist tot. Sag mir nur den gottverdammten Namen.«
Paco kam die übrigen Stufen herunter und kratzte sich am Kopf. Von seinen Kleidern gingen Dunstschwaden Marihuana aus.
»Der Typ mit dem Batmobile? Leon Dingsbums. Nachnamen weiß ich nicht.«
»Wie sieht er aus?«, fragte Cardinal.
»Keine Ahnung, Mann. Ganz normal, wissen Sie? Braunes Haar, irgendwie dreckig. Fährt so ’nen idiotischen Angeberschlitten, schwarz. TransAm oder so.«
»Oh, warte mal«, sagte Sami. »Jetzt fällt’s mir ein. Der hat irgendwie ’ne Narbe an der Stirn. So ’ne Zickzacklinie. Ungefähr so lang.« Er hielt Daumen und Zeigefinger etwa zwei, drei Zentimeter auseinander.
»Der Typ ist wahrscheinlich mit der Birne an die Kloschüssel geknallt«, sagte Paco und drehte sich zur Treppe um.
»Brr, Paco. Mal halblang, mein Sohn.« Cardinal trat zwischen ihn und die unterste Stufe. »Wir müssen mit Ihnen und allen anderen reden, die hier wohnen. Holen Sie die mal alle runter. Keine Angst – wenn wir auf Schnee aus wären, würden Sie längst in der grünen Minna sitzen.«
Cardinal und Delorme befragten fünf weitere junge Männer, die im Haus wohnten, einer weggetretener als der andere. Das war etwas, das Cardinal schon oft bei Heroinsüchtigen beobachtet hatte: Sie waren keine üblen Burschen; sie schienen einfach nur rettungslos verwirrt. Der eine oder andere der jungen Männer, mit denen sie sprachen, hätte durchaus etwas aus sich machen können, hätte er sich nicht in die Nadel verliebt. Jeder hat so seine Krücken, nahm er an, aber manche Krücken verkrüppeln mehr als andere.
Keiner von Toofs ehemaligen Hausgenossen hatte irgendetwas Nützliches zu den Informationen beizutragen, die sie bereits hatten. Ja, sie hatten mal einen Typen namens Kevin Tait gesehen. Nein, kennen wäre zu viel gesagt. Als sie zum Präsidium zurückkamen, setzte sich Delorme an den Computer. Später kam sie mit einem Ausdruck an Cardinals Schreibtisch zurück.
»Ich hab mal sämtliche Typen namens Leon eingegeben, die wir in den letzten drei Jahren eingebuchtet haben. Rat mal, wie viele?«
»Keine Ahnung. Drei?«
»Keinen. Nicht einen. Aber jetzt sieh mal, was ich von Musgrave habe.«
»Musgrave? Doch nicht etwa Sergeant Malcolm Musgrave von der Royal Canadian Mounted Police? Du hast schon mit ihm telefoniert? Gibt es irgendwas in eurer Beziehung, wovon ich nichts weiß?«
»Mit Musgrave? Du machst wohl Witze.«
Cardinal nahm den Ausdruck und sah ihn sich an.
»Okay, ein gewisser Leon Rutkowski hat sich in Sudbury beim Heroinschmuggel erwischen lassen. Acht Jahre in Millhaven gesessen. Hat außerdem ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung und schwerer Körperverletzung. Leon scheint zu Jähzorn zu neigen.«
»Die Beschreibung passt zu dem, was sie uns in Toofs Haus erzählt haben«, sagte Delorme, immer noch mit dem Rücken zu ihm.
»Braunes Haar, blaue Augen, Narbe an der Stirn.«
»Sieh mal, was er bei seiner Festnahme gefahren hat.«
»Einen schwarzen TransAm. Allerdings steht hier unter einschlägig bekannte Komplizen nichts von einem Black Cloud.«
»Ich ruf Musgrave noch mal an«, sagte Delorme.
Während er wartete, versuchte Cardinal Catherine in ihrem Hotel zu erreichen. Die Chance, sie tatsächlich anzutreffen, war gering, das wusste er, und zum tausendsten Mal wünschte er sich, sie hätte immer ein Handy dabei. Er hinterließ eine Nachricht – er denke an sie. Machte sich Sorgen, wäre wohl treffender gewesen, und nachdem er aufgelegt hatte, spürte er ein wachsendes Unbehagen darüber, dass er sich um seine Frau sorgte, statt sich auf seinen Fall zu konzentrieren. Dann wieder hatte er Schuldgefühle wegen des Unbehagens.
Delorme zog sich bereits die Jacke an.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Musgrave hat mir eine Kontaktperson genannt.«