24

 

Red Bear erinnerte sich auf den Tag, die Stunde, die Minute genau daran, wie er diese Narben bekommen hatte. Es war sein einundzwanzigster Geburtstag gewesen. Onkel Victor nahm ihn in den Geräteschuppen mit. Bis auf den heutigen Tag wusste niemand außer ihnen beiden, was sich in dem kleinen Betonschuppen abgespielt hatte, der wie ein Zwerg im Schatten der Hochhausriesen stand. Wer hätte geahnt, welch magische Kräfte vom Hinterhof eines Sozialwohnbaukomplexes in Toronto ausgingen, einer Stadt, die mit Magie so wenig anzufangen wusste.

Victor führte ihn zu dem Geräteschuppen, verband ihm die Augen und lotste ihn hinter die Rückwand in seinen Tempel. Zu dem Zeitpunkt machte der Gestank Red Bear oder Raymond, wie er bis dahin geheißen hatte, nichts mehr aus. Ihm wurde nicht übel davon, sondern im Gegenteil: Der Geruch beschleunigte seinen Puls. Onkel Victor hatte ihn auf diesen Tag vorbereitet, ihn jahrelang ausgebildet und ihn dem schwarzen, pochenden Herzen von Palo Mayombe immer näher gebracht. Raymond fühlte das Pulsieren ringsum, den Herzschlag der Magie.

»Heute ist der wichtigste Tag in deinem Leben, Raymond.«

Onkel Victors keuchende, geisterhafte Stimme klang wie ein Kazoo. »Heute mache ich dich zum Priester von Palo Mayombe. Denk dran, du musst diesen Schritt nicht tun. Jetzt ist noch Zeit, es dir zu überlegen.«

»Ich weiß. Ich will es, Onkel.«

»Bist du dir sicher?«

»Ich bin mir sicher. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche.« Raymond alias Red Bear atmete den Geruch von Kerzenwachs, exotischen Kräutern wie Fingerkraut und Wermut und in erster Linie fauligem Fleisch tief ein.

»Also gut. Zwei Dinge werden heute passieren. Als Erstes wirst du deine Seele aufgeben. Und zweitens wirst du ausgestrahlt. Du weißt, was das bedeutet?«

»Ja, Onkel. Meine Seele stirbt. Für mich wird es daher weder ewige Seligkeit noch ewige Verdammnis geben. Aber ich werde mehr Freiheit besitzen als irgendjemand sonst unter der Sonne: Ich habe die Freiheit, andere Seelen zu nehmen.«

»Und ausgestrahlt zu werden?«

»Ausgestrahlt zu werden bedeutet, dass ich den Schmerz der Narben im Gegenzug für Palo Mayombes Licht und Macht auf mich nehme.«

»Und du unterziehst dich diesen Dingen aus freien Stücken?«

»Ja.«

»Hat dich irgendjemand dazu gezwungen?«

»Nein.«

»Und dir ist klar, dass dies, wenn es einmal vollzogen ist, nicht rückgängig gemacht werden kann?«

»Ja.«

»Nun gut. Dann fangen wir an.«

Raymond hörte, wie sein Onkel das zeremonielle Messer aus der Scheide zog. Es folgte das Geräusch von Eisen gegen Schleifstein. Dann fesselte der Onkel seine Handgelenke mit den Ledermanschetten, die an der Decke hingen. Raymond bekam einen trockenen Mund. Sein ganzer Körper bebte.

Diese keuchende Stimme, rau wie Schmirgelpapier, hob jetzt zum Sprechgesang seiner selbst erwählten Religion, Palo Mayombe, an.

Dann die erste sengende Berührung der Klinge.

Wer kann die vollständige Rezeptur aufzählen, alles, was dazugehört, ein Monster zu erschaffen? Eine Leiche, das Hirn eines Mörders, ein Blitzstrahl – der verrückte Wissenschaftler legt einen Schalter um, in tote Adern kommt plötzlich Leben, und das Böse treibt sein Unwesen auf Erden. Der Fall Red Bear ist prosaischer.

Lange bevor Red Bear Red Bear war, hieß er Raymond Beltran, Sohn einer Teenager-Prostituierten namens Gloria Beltran, die in der großen Emigrationswelle von 1980 mit anderen, im eigenen Land missliebigen Kubanern in die USA verschifft wurde. Klein Raymond war damals acht Jahre alt, und war schon sein Leben in Havanna ungewiss gewesen, so war das nichts im Vergleich zu der Odyssee, die vor ihm lag.

Glorias erste Station war Miami, zusammen mit den weit über hunderttausend Kubanern in diesem Exodus. Sie zog zu einem Cousin, der sie rauswarf, als er nach Hause kam und Gloria dabei erwischte, wie sie ihr Gewerbe auf der Wohnzimmercouch ausübte, Klein Raymond keine drei Meter entfernt im Nebenzimmer. Ihre nächste Station führte sie zu einem Onkel, einem wesentlich älteren und offenbar viel toleranteren Mann. Unglücklicherweise musste sie aus grundsätzlichen Erwägungen heraus weiterziehen, als der Onkel darauf bestand, dass sie ihre Miete in Naturalien bezahlte. Die Liste der folgenden Adressen war lang: zwei Wochen hier, drei Monate dort, jede Kellerwohnung schlimmer als die letzte.

Als sie zu Inigo Martinez zogen, einem Drogendealer, der, vom mörderischen Konkurrenzkampf in Miami zermürbt, sein Augenmerk auf den grenzenlosen Markt von Kanada richtete, kehrte für Gloria und Raymond so etwas wie eine Verschnaufpause ein. Und so kam es, dass Raymond Beltran in einer Sozialwohnung in einem Komplex namens Regent Park aufwuchs, im Osten des Zentrums von Toronto.

Jedes Mal, wenn die Regierung eine Volkszählung veranstaltet, erweist sich Regent Park als das ärmste Viertel in Toronto. Die meisten Bewohner sind erst vor kurzem eingewandert und versuchen, ihren Träumen ein winziges Stück näher zu kommen. Viele sind alleinerziehende Eltern, die von der Wohlfahrt leben; fast alle achten das Gesetz. Nicht so Inigo Martinez. Er war auch kein erfolgreicher Geschäftsmann, denn seine Vorstellung von Kanada als einem grenzenlosen Markt für Drogen erwies sich als ein Irrtum. Ein solch fataler Irrtum, genauer gesagt, dass ein verärgerter Konkurrent ihn eines Tages vom Dach eines Hochhauses an der Eastside werfen ließ.

Gloria konnte die Ausweisung verhindern, indem sie einen Kanadier kubanischer Herkunft dazu brachte, sie zu heiraten. Gegen ein bescheidenes Entgelt war er bereit, zu einer Reihe Einwanderungsbefragungen zu erscheinen, sich auf ihrer »Hochzeitsreise« fotografieren zu lassen und dergleichen mehr. Nachdem ihr Familienstand gesichert war, versuchte Gloria, ihn zu Kindergeldzahlungen zu zwingen, doch er verschwand aus ihrem Leben, wie es Leute, die bei Sinnen waren, schon immer getan hatten.

So blieb ihr nichts weiter übrig, als Raymond mit der Stütze, die sie vom Sozialamt bekam, sowie den Einkünften aus ihrem alten, liegenden Gewerbe großzuziehen. Natürlich beschwerten sich die Nachbarn, und die Polizei schaute regelmäßig vorbei. Das Katholische Kinderhilfswerk zerrte sie regelmäßig wegen Kindesvernachlässigung vor das Provinzgericht in der Jarvis Street. Nachdem sie selber das letzte Mal mit vierzehn auf einer Schulbank gesessen hatte, sah Gloria keinen Grund, wieso das bei ihrem Sohn anders sein sollte; sie hatte ihn lieber bei sich in der Wohnung.

Neben dem Einfluss seiner Mutter war die andere prägende Kraft in Raymond Beltrans Jugend – der Blitzstrahl, der mit einem Schlag das latente Mörderhirn zum Leben erweckte – die Hexerei.

Hexerei, oder genauer gesagt brujería, begegnete Raymond in der Gestalt von Victor Vega, einem Landsmann aus Kuba, der dem Jungen ungefähr hundert Jahre alt schien. Vega war hager, knorrig und gebeugt. Er zog ein Bein nach, Hinterlassenschaft eines Autounfalls vor langer Zeit. Sein braunes Gesicht war wie eine Karikatur aus Brauen und Wangenkno-chen. Alles in allem ein wenig anziehendes Äußeres für einen Mann, der allen, die wussten, was er war, Respekt, ja Furcht einflößte.

Vega war Medizinmann, ein patrón des Palo Mayombe – einer Religion, die den bekannteren Voodoo und Santeria ähnlich ist, afrikanischen Glaubenssystemen, deren Götter sich als christliche Heilige tarnen. Wie seine beiden Schwesterreligionen befasst Palo Mayombe sich mit Magie, doch in den Händen von Victor Vega war es Magie der schwärzesten Sorte.

Er lebte am anderen Ende des Flurs, auf dem auch Gloria und Raymond wohnten; sie begegneten sich oft im Fahrstuhl, grüßten einander auf Spanisch und tauschten sich über das Wetter aus, nicht viel mehr als das. Doch der alte Mann sah sie stets neugierig an, als ob er sie irgendwoher wiedererkenne. Als sie eines Tages auf den Fahrstuhl warteten, sagte Victor: »Wie ich sehe, sind Sie Anhängerin von Santeria.« Er deutete mit einem sehnigen Finger auf einen riesigen geschnitzten Armreif an Glorias Handgelenk.

»Ich zünde meine Kerzen an«, sagte Gloria. »Ich bitte hier und da um Führung.«

»Kennen Sie Mayombe?«

»Ja, ich hab einen Cousin, der patrón ist. Meine Eltern glaubten allerdings nicht daran, deshalb hab ich nicht viel darüber erfahren.«

»Trotzdem habe ich gesehen, dass Sie es sozusagen in der Familie haben.«

»Tatsächlich?«

»Die Augen Ihres Sohnes. Er hat die Art von Augen, die in die Zukunft sehen können.«

»Na ja, das stimmt, er weiß manchmal Dinge, die er eigentlich nicht wissen kann.« Sie sah Raymond an. »Selbst als kleiner Junge, Raymond. Selbst als du klein warst, hatten die Dinge, die du gesagt hast, oft die seltsame Angewohnheit, wahr zu werden. Ich weiß noch, wie du – vor vielen Jahren, damals in Havanna – auf die Mulattin Lena Lindo gezeigt hast und gesagt hast: ›Aber die ist tot, diese Frau.‹ Und am nächsten Tag war sie tatsächlich tot.«

»Das hab ich in einem Traum gesehen«, sagte Raymond. »Ich dachte, es wäre wirklich so.«

»Ja, natürlich«, entgegnete der alte Mann. »Natürlich hast du das. Aber jetzt will ich dir etwas sagen, etwas, das auch wahr ist: Eines Tages wirst du ein patrón sein.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Gloria. »Raymond ist kein religiös veranlagter Mensch.«

»Oh doch, das ist er, auch wenn er es vielleicht noch nicht weiß. Aber das sieht man an seinen Augen. Eines Tages wird er der mächtigste patrón sein, den wir je gesehen haben.«

Von dem Tag an kamen die drei sich näher. Vega entfaltete ein wohlwollendes Interesse an dem Jungen, er nahm ihn zu Blue-Jays-Spielen mit und brachte ihm bei, Autos zu reparieren und alle möglichen Motoren. Noch nie hatte Raymond von einem Erwachsenen so nachhaltig Aufmerksamkeit bekommen, und er blühte darin auf. Er verstand sich besser mit dem alten Mann als mit Jungen in seinem Alter, und Gloria freute sich, dass er Zeit mit jemandem aus ihrer Heimat verbrachte. So entstand eine enge Freundschaft zwischen den dreien.

Victor bezahlte Raymond oft dafür, dass er ihm bei seiner Arbeit half. Denn der alte Mann war nicht nur Medizinmann, sondern auch so etwas wie ein Gärtner für das Gelände um den Block. Von außen besehen, war sein Geräteschuppen nicht mehr als ein voll gestopfter Betonkasten mit einer Metalltür und einem Wellblechdach. Er war stets sorgfältig abgeschlossen, wenn Victor nicht drinnen war; niemand sonst hatte einen Schlüssel. Wäre irgendeiner der Teenager in der Nachbarschaft auf die Idee gekommen, einzubrechen, hätte er das gewöhnliche Sortiment an Gartenscheren, Rasenmähern, Heckenscheren, Handschuhen und Schläuchen gefunden.

Doch es brach nie jemand ein, und es würde wohl auch nie dazu kommen, da es in dem Schuppen so übel roch. Die ganze Rückwand entlang war säckeweise Schafs- und Kuhdung gestapelt, und im Sommer stank es zum Himmel.

Das war also Raymonds erster Eindruck – dieser atemberaubende Gestank, der einem entgegenschlug. Die Lungen verschlossen sich in einer Art Selbstschutzmechanismus, und es würgte einen im Hals. Die ersten paar Male, die er über die Schwelle trat, packte ihn gnadenlos die Angst – eine solch heftige Angst, dass es ihm den Magen umdrehte, noch bevor Victor das Hinterzimmer, das Geheimzimmer, seinen »Tempel« öffnete.

Sooft Raymond und Victor zusammen waren, sprach der alte Mann von Magie. Er lehrte ihn, dass man die Ereignisse in dieser Welt mit Hilfe von jenseitigen Geschöpfen zu beeinflussen vermochte. Dazu musste man lediglich wissen, wie man sie beherrschen konnte. Dieses Wissen, machte Victor ihm klar, konnte er vermitteln. Raymonds Interesse an Magie erwachte immer mehr, und er lag Victor in den Ohren, ihn zu unterrichten. Irgendwann erklärte sich Victor einverstanden, ihm seinen Tempel zu zeigen.

An diesem ersten Tag – Raymond war noch keine zwölf – hockte sich Victor neben ihn und packte ihn hart an der Schulter. Sein Atem roch nach Zwiebeln, doch das war nichts im Vergleich zu dem Gestank in diesem Schuppen.

»Mein kleiner Raymond«, sagte er. »Was ich dir jetzt zeigen werde, ist ein großes Geheimnis. Du hast gesagt, du willst etwas über Magie erfahren. Du willst lernen, wie man die Geister befehligt. Sie sich zu Nutze macht, um den Menschen, die man liebt, deiner Mama und mir, Gutes zu bringen. Wie man sich vor Feinden schützt. In der Zukunft liest. Bist du immer noch an diesen Dingen interessiert?«

»Ja, Onkel.« Victor hatte ihm gesagt, er solle ihn Onkel nennen, und inzwischen kam es ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. »Onkel, wieso riecht es hier so schlimm?«

»Wenn du die Magie verstehst, wirst du wissen, dass das ein guter Geruch ist, kein Gestank. Aber willst du mir jetzt genau zuhören?«

»Ja.«

»Weil das, was ich dir jetzt zu sagen habe, das Wichtigste ist, was du je von mir hören wirst. Ich wiederhole: Was ich dir jetzt zeigen werde, ist ein großes Geheimnis. Es ist so geheim, dass ich dich töten werde, falls du jemals irgendeinem Menschen von dem, was du hier drinnen siehst oder was ich hier drinnen tue oder was du hier drinnen tust, erzählst. Hast du mich verstanden? Ich werde dich töten, Raymond.«

Onkel Victors braunes, wie eine Walnuss zerfurchtes Gesicht kam näher. Seine schwarzen Augen sahen ihn forschend an, und Raymond wusste, dass der Alte seine Angst sehen konnte.

»Ich sag’s keinem, Onkel.«

»Ich liebe dich, mein Kind, aber wenn du darüber redest, werde ich nicht mehr zögern, dich zu töten, als ein Schlachter beim Schwein. Du wirst sterben, du wirst begraben, und deine Mutter wird endlos Tränen um dich vergießen und nie wieder glücklich sein. Das willst du doch nicht, oder?«

»Nein, Onkel.«

»Wenn also jemand zu dir sagt: ›Hey, dieser Victor ist ein seltsamer alter Vogel. Was treibt der denn so in seinem Gartenschuppen?‹, was sagst du dann?«

»Ich sage gar nichts.«

»Vielleicht zwingt derjenige dich aber, etwas zu sagen. Was wirst du ihm sagen, wenn er dir den Arm verrenkt und dir wehtut, um dich zum Reden zu bringen?«

»Ich sag ihm, ich weiß nicht, was du hier drinnen tust?«

»Nein, du sagst ihm Folgendes: ›Onkel Victor bewahrt da drin seine Gartengeräte auf.‹ Das ist alles. Kein Wort mehr. Schließlich ist es die Wahrheit. Niemand kann behaupten, du lügst. Was sagst du also?«

»Onkel Victor bewahrt da drinnen seine Gartengeräte auf.«

Die knöchernen Finger packten ihn an der Schulter; sie fühlten sich wie die Krallen eines Habichts an. »Gut, Raymond. Du bist ein guter Junge. Du bist würdig, Magie zu lernen. Und jetzt will ich dir meinen Tempel zeigen.«

Victor schob seinen Fuß unter ein Gestell mit Düngersäcken und trat auf ein Pedal. Etwas klickte, und die Rückwand drehte sich in einer Angel. Der Gestank wurde zehnmal schlimmer, und Raymond würgte.

»Schon gut«, sagte Victor. »Du gewöhnst dich an den Geruch. Mit der Zeit wirst du ihn lieben. Es ist der Geruch der Macht.«

Es war ein winziger Raum und stockdunkel außer einer einzigen roten Glühbirne, die an der Decke brannte. Als sich Raymonds Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, sah er, dass der Raum sehr spärlich ausgestattet war: ein großer Tisch, ein Beil und eine Reihe Messer an der Wand. Die Wand selbst war mit Symbolen bemalt, die er nicht verstand. Mitten auf dem Tisch stand ein großer Eisentopf, mit einem Köcher langer Stöcke darin, die so gerade wie Pfeile waren.

Er sah ein Huhn, das an einem Bolzen im Tisch festgebunden war, die schwarzen Augen voller Furcht.

Victor deutete auf den Eisentopf.

»Die Quelle meiner Macht«, sagte Victor. »Sieht nach nichts Besonderem aus, nicht wahr?«

Raymond spürte, dass keine Antwort erwartet wurde. Sein Onkel streckte die Hände nach ihm aus, um ihn hochzuheben.

Raymond zuckte zurück.

Victor beugte sich herab und sprach in sanftem Ton.

»Du hast nichts zu befürchten, mein Kind. Nichts. Das hier untersteht meiner Kontrolle. Du wirst lernen, diese Gefühle der Angst zu ignorieren. Irgendwann wirst du gar nichts mehr fühlen, und glaub mir, es ist ein großer Vorteil in dieser Welt, nichts zu fühlen. Und fürs Erste einmal sollst du wissen, dass ich dich beschützen werde. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas zustößt. Nicht das Geringste.«

»Ich will nach Hause, Onkel.«

»Dafür ist es zu spät, Raymond. Bleib an meiner Seite, und dir stößt nichts Schlechtes zu.«

Er hob Raymond hoch und stellte ihn auf eine Apfelkiste, so dass der Junge in den Topf schauen konnte. Darin befand sich eine faulige, geronnene Flüssigkeit mit undefinierbaren festen Bestandteilen, die darin schwammen.

»Nganga«, sagte Victor. »Man nennt das hier nganga. Hier kommen die Dinge rein, die wir den Göttern darbringen. Wenn wir zum Beispiel von Oggun etwas wollen, dem Gott des Eisens, dann geben wir vielleicht einen Schienenbolzen hinein, oder auch ein paar große Nägel. Geht es um eine Gunst von Ochosi, dem Gott der Jäger, dann mag eine Pfeilspitze das Richtige sein.«

»Aber es gibt doch nur einen Gott, oder, Onkel?«

Das braune Gesicht wiegte sich nach links und rechts.

»Das ist eine völlig andere Religion. Ich lehre dich eine viel ältere, viel mächtigere Religion. In den christlichen Religionen, ja, da gibt es nur einen Gott. In Palo Mayombe gibt es viele. In diesen nganga kommen auch die Dinge, die wir brauchen, um die Geister zu beherrschen. Geistige Wesen, musst du wissen, haben keine Macht über Menschen, es sei denn, wir verleihen sie ihnen. Sie sind Gefäße, sie lassen sich hierhin und dorthin treiben, bis wir ihnen Macht verleihen. Wir – das heißt die Medizinmänner – geben ihnen Leben. Wir hauchen ihnen Atem ein und verleihen ihnen die Fähigkeit, zu sehen, zu hören, sich an bestimmte Orte zu begeben, Dinge zu greifen.« Victor öffnete die sehnige Faust und schloss sie wieder vor Raymonds Augen.

»Woher kommen die Geister?«

»Von Lebewesen. Tieren. Manchmal auch Menschen. Wir befördern sie auf eine Weise aus dieser Welt in die nächste, dass wir dort über sie gebieten. Dann müssen sie uns gehorchen. Sie arbeiten für uns, verstehst du. Verbanne alle Angst aus deinem Kopf und beobachte nur, was ich tue. Nur Medizinmänner haben dieses Recht, diese Macht. Und jetzt sei still. Verbanne alle Furcht und sieh einfach nur zu, was ich mache. Wir werden etwas Nettes für deine Mutter tun. Wir werden Oggun bitten, ihr etwas Hübsches zu bringen.«

Damit drehte sich Victor zum nganga um und breitete wie ein katholischer Priester über dem Altar die Hände aus. Er begann, in einer Sprache zu reden, die Raymond nicht verstand. Er wusste, dass es kein Spanisch oder Englisch oder Französisch war.

»Bahalo! Semtekne bakuneray pentol!« Victor wandte sich zu Raymond um und sagte flüsternd, aber deutlich: »Du musst immer in festem Ton mit ihnen reden. Wir flehen nicht auf Knien wie die Christen und die Muslime. Wir verlangen etwas von ihnen, wir geben ihnen Befehle.«

Victor hob noch einmal die Arme über den Kessel.

»Bahalo. Seeno temtem bakuneray pentol!«

Victor nahm das Beil von der Wand, packte das Huhn und trennte ihm mit einem einzigen Schlag den Kopf vom Hals. Er warf ihn in den Topf. Das kopflose Huhn zerrte an seiner Schnur und rannte hin und her, ohne zu merken, dass es nicht mehr am Leben war.

Raymond fing zu weinen an. Er versuchte aufzuhören, doch er konnte nicht; sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen.

Victor packte das Huhn an den Klauen und löste die Schnur. So hielt er den sich immer noch wehrenden Körper über den nganga, und das warme Blut spritzte in die Flüssigkeit. Er sprach weitere unverständliche Worte, doch dann drehte er sich zu Raymond um und packte ihn an beiden Schultern. »Hör augenblicklich auf zu weinen, Raymond. Verstehst du? Hör auf zu weinen.« Die knöchernen Hände schüttelten ihn. »Wenn du Angst zeigst, gibst du den Geistern Macht über dich. Das darf nie geschehen. Sei jetzt still. Hol tief Luft und zeig ihnen, dass du die Situation beherrschst.«

Raymond gab sich alle Mühe, doch an diesem ersten Tag versagte er hoffnungslos. Als Raymond ein paar Tage später von der Schule kam, hatte Gloria gerade einen Kunden. Raymond ging direkt in sein Zimmer und versuchte, die Geräusche, die der Mann machte, nicht zu hören, und ebenso wenig die aufgesetzten ekstatischen Schreie seiner Mutter. Als der Mann gegangen war, trat Gloria ins Zimmer ihres Sohnes.

»Komm«, sagte sie. »Ich hab eine Überraschung für dich.«

Sie fuhren mit dem stinkenden Fahrstuhl in die Eingangshalle hinunter. Gloria nahm Raymond mit auf den Parkplatz hinaus und setzte ihn in einen brandneuen Honda Prelude. Er war innen mit Leder und einem wundervollen Radio ausgestattet und roch mächtig nach neuem Auto. Alle Oberflächen blitzten in der Sonne. »Wie gefällt dir Mamis Honda?«

Raymond berührte das Lenkrad.

»Ist das nicht phantastisch?«, fragte sie. »Onkel Victor hat ihn mir von einem Freund besorgt.«

»Von wem?«, fragte Raymond.

»Einem Freund eben, keine Ahnung, von wem. Ist doch auch egal.«

Sie warf den Motor an und bog in die Gerard Street ein. Fünf Minuten später fuhren sie auf dem Gardiner Expressway aus der Stadt. Der Lake Ontario funkelte strahlend blau und silbern in der Sonne. Die wenigen Wolken waren unglaublich weiß. Gloria öffnete alle Fenster und das Verdeck, so dass ihnen die Haare um die Ohren flogen. Raymond brauchte gar nicht erst zu fragen, von wem sie den Wagen bekommen hatten. Er war von Oggun. Oggun hatte ihnen dieses Auto geschenkt, genau wie Victor es ihm befohlen hatte.

Mit der Zeit wurde Raymond im Tempel seines Onkels immer mutiger. In den folgenden Monaten und Jahren wies ihn Victor in die Kunst ein, die Geister zu beherrschen. Er erklärte ihm, man müsse, wenn man sich eine Seele holte, dem Opfer die größtmöglichen Schmerzen zufügen. Es musste tatsächlich schreien, wenn es starb, sonst bekam man keine Macht über seine Seele. Und zeigte man auch nur die geringste Furcht, dann würde am Ende der Geist einen selbst beherrschen.

Er zeigte ihm, wie man die Klauen oder Füße Zeh für Zeh abtrennte, damit der Geist würde greifen können; wie man die Füße abschnitt und sie in den nganga warf, damit der Geist in der Lage war, sich frei zu bewegen, und wie man schließlich dem Opfer in seiner letzten Agonie in die Augen sah und ihm sagte, dass man es sich aus der Hölle holen würde. Dann nahm man das Hirn und gab es in den nganga, damit der Geist in der Lage war, die Befehle des Medizinmannes zu verstehen, damit er denken konnte.

Die ersten paar Male musste sich Raymond übergeben; doch irgendwann war es so, wie Onkel Victor vorausgesagt hatte; er gewöhnte sich daran. Die Angst ließ nach, und bis er vierzehn war, empfand er überhaupt keine mehr. Hühner, Ziegen, Hunde, Katzen, am Ende war es egal. Raymond lernte, die brüllenden Tiere zu meistern und ihnen in die Augen zu starren, wenn sie starben.

Dann lehrte ihn sein Onkel, den Geist der Kreatur heraufzubeschwören, die man gerade geopfert hatte, ihn in seinen Dienst zu zwingen.

 

Die Zeit, erfuhr der einundzwanzigjährige Raymond, erhielt eine ganz neue Dimension, wenn man selber die Klinge zu spüren bekam. Das warme Blut war auf seinem Rücken verquollen, und ihm hämmerte der Kopf, so heftig biss er gegen den Schmerz die Zähne zusammen.

Sein Onkel nahm ihm die Augenbinde ab, und Raymond musste wegen der Kerzen, die in mehreren Reihen loderten, die Augen schließen. Dann nahm Victor ihm die Lederfesseln ab und setzte ihn auf einen Stuhl.

»Keine Sorge«, sagte Onkel Victor. »Die Wunden verheilen bald.«

Kühles Wasser spritzte über seinen Rücken. Sein Onkel betupfte ihn sanft. »Du hast nichts zu befürchten, weißt du. Vom ersten Moment an – damals, als du mir im Flur aufgefallen bist – brauchte ich dir nur in die Augen zu sehen, und ich habe zu Gloria gesagt: ›Ihr Sohn wird ein Priester werden, ein mächtiger Priester.‹«

Raymond erinnerte sich daran, doch der alte Mann wiederholte die Geschichte oft.

Onkel Victor rieb eine Salbe auf die langen Rillen, die er Raymond in den Rücken geschnitten hatte. Der Schmerz ließ ein wenig nach und wurde erträglich.

»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, Raymond. Glaube mir. Du wirst der mächtigste Priester auf Erden. Ein wahrer Seelensammler.«

Und dann tat Victor etwas Seltsames. Er kniete nieder und verneigte sich.