43

Eric Fraser hatte gerade eine D-35 poliert und hängte sie wieder an das Gestell hinter dem Tresen. Zu seinen Aufgaben gehörte es unter anderem auch, einmal die Woche die Gitarren zu polieren. Das tat er lieber, als an der Kasse zu arbeiten oder Elektroverstärker auszupacken. Er putzte gern; das war eine angenehme, geistig anspruchslose Tätigkeit, bei der er ganz nach Lust und Laune träumen konnte – von der Insel, dem verlassenen Haus, dem Jungen in Edies Keller.

»Was kostet die Martin?«, wollte ein dicker Junge mit Schweißperlen auf der Oberlippe wissen.

»Dreitausend Dollar.«

»Und die Gibson da drüben?«

»Zwölfhundert.«

Eric merkte, dass der Junge die Gitarren gern ausprobiert hätte, aber er ermunterte ihn nicht dazu. Alan hatte es nicht gern, wenn Jugendliche teure Gitarren in die Hand nahmen, solange sie nicht ernsthafte Kunden waren.

Der Junge zog weiter in die Notenabteilung, und Eric machte sich daran, die Gibson zu polieren. Er spielte die Gitarren nie selber. Carl und Alan waren ausgebildete Musiker, und Eric mochte es nicht, wenn sein mangelndes Talent offenkundig wurde. Keith Londons Gitarre, eine Ovation in ausgezeichnetem Zustand, lag zu Hause unter seinem Bett. Er hatte sie ausprobiert, doch er war so aus der Übung, dass ihm gleich die Finger wehtaten.

Ein junges Mädchen betrat den Laden und begann in den Notenblättern zu kramen. Offenbar versuchte sie, sich einen Song von Whitney Houston einzuprägen. Sie war vielleicht zwölf, mit langem glattem Haar. Eric genoss es, sie anschauen zu können, ohne ein Verlangen zu spüren; einen Gefangenen in seiner Macht zu haben machte ihn unempfänglich für andere Regungen. Katie Pine hatte nicht dieses Glück gehabt. Eric hatte gerade an Billy LaBelle gedacht, als Katie Pine zufällig hereinkam und Instrumente bewunderte, ohne etwas zu kaufen. In dem Augenblick, als sie den Laden betrat, hatte Eric einen Wink des Schicksals verspürt: Sie würde ihm gehören, und keine Macht der Welt konnte ihn daran hindern.

Bei Billy LaBelle war das anders gewesen. Der Junge kam regelmäßig zu Unterrichtsstunden in den Laden. Eric hatte ihn über lange Wochen beobachtet. Stets kam er allein und ging, mit dem Gitarrenkasten in der Hand, auch wieder allein nach Hause. Eric hatte große Pläne mit ihm gehabt, aber dann war er ihnen unter den Händen gestorben. Nun, Edie und er hatten ihre Lektion gelernt; so etwas würde ihnen nicht noch einmal passieren. Mit dem jetzigen Gefangenen hatte er Großes vor.

Seine Gedanken kreisten ständig um ihn und all die Dinge, die er mit ihm machen wollte. Wohin man auch ging, überall traf man auf Keith Londons Foto – in der Mall gleich neben Troy Music, auf der Straße, an den Bushaltestellen. Aber der Junge war keine zwei Stunden in der Stadt gewesen, ehe er verschwand. Niemand würde ihn finden – schon gar nicht die Bullen, die er in den Fernsehnachrichten gesehen hatte.

Wenn er nur endlich einen passenden Ort gefunden hätte. Abgeschieden sollte er sein, aber geräumig genug, um die Kamera und die Scheinwerfer aufzustellen, ein Ort, wo er frei war in seinem Tun. So etwas war nicht leicht zu finden. Leerstehende Häuser gab es nicht viele in der Gegend.

»Eric, du kannst das morgen fertig machen. Übernimm doch mal kurz die Kasse.«

»Okay, Alan. Im Lager gibt’s auch noch was zu tun?«

»Das hat Zeit bis morgen. Übernimm jetzt bitte die Kasse.«

Ich soll doch bloß die Kasse übernehmen, dachte er, weil du den großen Experten herauskehren willst. Den Provinzheinis hier zeigen, wie man richtig Gitarre spielt. Sein Chef machte sich daran, für einen Typ mit Haaren bis zu den Knien eine Dobro zu stimmen. In mancher Hinsicht, in seiner Charakterfestigkeit und Freundlichkeit, erinnerte er ihn an seinen letzten Pflegevater.

Das Mädchen gab es schließlich auf, sich die Akkorde hier im Laden einzuprägen, und kaufte die Noten für den Whitney-Houston-Song.

»Spielst du Klavier?« Ein bisschen Freundlichkeit zeigen, selbstverständlich alles wegen des Chefs.

»Ja, ein bisschen.«

»Sehr gut. Diese Akkorde hören sich gut an auf dem Klavier. Für Gitarre passen sie nicht so, zu viele Mollakkorde.« Das Reden fiel ihm leicht, wenn er sich frei fühlte. Weil er den Gefangenen zu Hause hatte, konnte er mit den Kunden jetzt genauso plaudern wie sein Chef und dessen Kompagnon. Eric riss den Kassenzettel ab und heftete ihn an die Einkaufstüte. »Viel Erfolg damit. Und falls du andere Noten brauchst, sind wir dir gern behilflich.«

»Oh, danke. Das ist echt nett.« Ein Anflug von Akne und im Mund eine dicke Zahnspange. Erstaunlich, noch vor einer Woche wäre ich viel zu aufgeregt gewesen, um mit ihr zu sprechen. Mein Herz hätte wie rasend geschlagen, und schreckliche Bilder wären aus der Registrierkasse gequollen.

Jetzt konnte Eric zusehen, wie sie ihr langes glattes Haar aus dem Gesicht strich, ohne dass es ihn erregt hätte. Das war Selbstbeherrschung.

Jane, die Tochter seiner Pflegeeltern, hatte auch solche langen glatten Haare gehabt, nur dass Jane blond war. Ihr Haar hatte ihn immer fasziniert. Sie hatte die Angewohnheit, ständig damit zu spielen, beim Fernsehen Strähnen zwischen die Finger zu nehmen und zu drehen oder leicht schielend nach gespaltenen Haarspitzen zu suchen. Manchmal berührte Eric sogar ihr Haar, ohne dass sie es merkte. Wenn sie im Auto auf dem Beifahrersitz saß und er hinter ihr, konnte er dieses goldene, süß duftende Vlies berühren, ohne dass sie es auch nur geahnt hätte.

Eine Weile hing er Erinnerungen an Jane nach. Was er alles mit ihr angestellt hätte, wenn er bloß Gelegenheit dazu gehabt hätte. Schließlich kam Alan Troy zu ihm und sagte, es sehe nach ruhigem Geschäft aus, er könne für heute Feierabend machen.

»Ganz bestimmt, Alan? Ich könnte noch bleiben.«

»Nein, nein, das geht schon. Carl ist ja auch noch da und kann dann den Laden abschließen.«

Eric hatte schon den Mantel an und wollte gerade aus der Tür gehen, als er plötzlich auf eine Anwandlung hin fragte: »Wie viel würdest du für eine gebrauchte Ovation zahlen?«

Sein Chef war gerade am Geldzählen und blickte nicht einmal von der Kasse auf. »Warum, Eric? Hast du eine zu verkaufen?«

»Ein Typ hat neulich versucht, mir eine aufzuschwatzen. Er wollte dreihundert Dollar dafür.«

»Tja, es kommt immer auf das Modell an. Eine neue Ovation kriegt man eigentlich nicht unter achthundert Dollar. Das Angebot klingt schon verlockend – immer vorausgesetzt, das Instrument ist in einem guten Zustand.«

»Schien ganz gut erhalten. Allerdings bin ich kein Experte auf dem Gebiet.«

»Warum bringst du das gute Stück nicht mal mit, wenn der Besitzer es erlaubt? Ich schau sie mir an und erstelle sozusagen ein Gutachten.«

»Vielleicht mach ich das mal. Ich fürchte bloß, der Typ ist gar nicht mehr in der Stadt. Nacht, Alan.«

»Nacht, Eric.«

»Sei vorsichtig auf dem Weg nach Hause. Der Schneematsch hat die Straßen in Rutschbahnen verwandelt.«

Alan sah Eric belustigt an. »Du scheinst neuerdings immer gute Laune zu haben, Eric.«

»Wirklich?« Eric schien nachzudenken. »Ja, das stimmt. Ich habe gute Nachrichten von zu Hause. Meine Schwester hat ihren Abschluss in Pharmazie geschafft.«

»Na klasse. Schön für sie.«

»Ja, Jane war schon immer ein begabtes Kind.«

In Wirklichkeit hatte Eric seit über vierzehn Jahren nichts mehr von seiner Pflegeschwester gehört. Er hatte sich immer ausgemalt, wegen des Brandes, den er bei den Nachbarn gelegt hatte, würde ihn seine Pflegefamilie hinauswerfen. Doch niemand kam ihm auf die Spur. Ebenso wenig wurde er bei den Quälereien erwischt, die er an Hund und Katze der Familie verübte und die für die Tiere tödlich endeten. Schließlich belangten sie ihn wegen einer völlig lächerlichen Geschichte. Am Ende wurde er wegen einer Nichtigkeit hinausgeworfen.

Schuld daran war die dreizehnjährige Jane. Wenn sie nicht so eingebildet gewesen wäre, hätte es nicht dieses schlimme Ende genommen. Er hätte sich leichter eingelebt und sich entspannen können. Doch sie reizte ihn mit ihrer Art, ständig an den Haaren zu spielen und ihn überhaupt nicht zu beachten. Nachdem er ihren Hund in seine Gewalt gebracht hatte, fühlte er sich von dem Verlangen nach Jane befreit. Plötzlich konnte er mit ihr sprechen. Er schaffte es sogar, sie zu trösten, als sie wegen ihres verlorenen Hundes weinte.

Doch keine Woche später spürte er schon wieder dieses qualvolle Verlangen in der Brust. Jane behandelte ihn wieder, als ob er Luft wäre. Er schluckte seinen Schmerz hinunter, bis er es nicht mehr aushielt. Dann nahm er sich fest vor, dass Jane ihm – und sei es auch nur für eine Nacht – Beachtung schenken müsse. Wie er das erreichen sollte, wusste er nicht. Er würde abwarten, wie die Dinge sich entwickelten.

Eines Nachts blieb er so lange wach, bis sein Pflegevater wie ein Grizzlybär schnarchte. Dann zog er Jeans und T-Shirt und sogar Strümpfe an und schlich sich auf Zehenspitzen zu Janes Tür. Die Tür war nicht verschlossen, das wusste er. Keine Schlafzimmertür im Haus hatte ein Schloss.

Manchmal las Jane bis spät in die Nacht oder hörte Musik aus ihrem rosafarbenen Radio, doch diesmal war kein Licht unter ihrer Tür zu sehen. Eric wartete nicht einmal. Er drehte den Türknauf, trat ins Zimmer und zog die Tür wieder zu. Seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, deshalb erkannte er deutlich, wie sich Janes Hüfte unter der Decke abzeichnete. Sie hatte sich zur Wand hin zusammengerollt; ein Vorhang aus üppigem Haar verbarg ihr Gesicht.

Im Zimmer roch es nach Laufschuhen und Babyöl. Eric stand lange Zeit vollkommen regungslos und beobachtete, wie sich Janes Brustkorb hob und senkte, und lauschte dem leisen An- und Abschwellen ihres Atems. Sie schläft fest, dachte Eric, ich kann mit ihr machen, was ich will.

Er hielt die Hände gerade über die Konturen ihres Körpers, so als wäre sie ein Ofen und er könnte ihre Wärme auffangen. Er berührte ihr Haar, angelte sich eine Strähne, wickelte sie um den Zeigefinger und atmete den Duft ihres Shampoos.

Plötzlich stockte Janes Atem, und Eric verharrte regungslos. Du träumst nur, sagte er fast vernehmlich, es ist bloß ein Traum, kein Grund, aufzuwachen. Aber sie wachte doch auf. Sie schlug die Augen auf, und ehe Eric es verhindern konnte, setzte sie sich auf und schrie. Eric verschloss ihr den Mund, doch sie biss ihn in die Hand und schrie: »Mom! Dad! Eric ist in meinem Zimmer. Eric ist in meinem Zimmer!«

Es folgte eine lange Nacht der Tränen und des gegenseitigen Anschreiens, mit dem Ergebnis, dass man Eric seine Beteuerung, er habe geschlafwandelt, nicht glaubte.

Und so wurde Eric zu seiner großen Verwunderung aus seiner vierten und letzten Pflegefamilie hinausgeworfen, nicht etwa, weil er Hund und Katze der Familie zu Tode gequält hatte, und auch nicht, weil er das Feld des Nachbarn in Brand gesteckt hatte. Verstoßen wurde er schließlich wegen des angeblich kapitalen Verbrechens, seinen Fuß in das Zimmer seiner Pflegeschwester gesetzt zu haben.

Damit war das Kapitel der Pflegefamilien abgeschlossen. Fortan wurde er von einem Heim ins andere verfrachtet, wobei er rasch immer mehr verrohte. Noch mehr Haustiere verschwanden, noch mehr Brände wurden gelegt. Einen kleineren Jungen, der es gewagt hatte, sich über Erics Bettnässen lustig zu machen, fesselte Eric und schlug ihn mit einem Elektrokabel.

Wegen dieses Vergehens kam Eric zum dritten und letzten Mal vor das Jugendgericht in Jarvis. Nach dem Gesetz wurde er als jugendlicher Straftäter eingestuft und zur Besserung in die St. Bartholomew’s Training School in Deep River eingewiesen, wo er unter der Obhut der Christian Brothers bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr blieb.

Das einzig Gute an der Zeit in Deep River war für ihn, dass ein Mitinsasse mit Namen Tony ihm Gitarrespielen beibrachte. Nach der Entlassung aus St. Bartholomew zogen beide zusammen nach Toronto und gründeten eine Rockband. Da die anderen Mitglieder aber bessere Musiker als Eric waren, hatten sie ihn nach wenigen Wochen aus der Band geekelt. Er wechselte mehrmals den Job und zog in immer kleinere Zimmer um, bis er den Eindruck bekam, in Toronto den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ohne Freunde verbrachte er seine Abende allein mit Magazinen, die in unverfänglicher Verpackung mit der Post kamen. Seine Phantasien wurden schwärzer und schwärzer.

Toronto, so schien es ihm, war tödlich, er brauchte Luftveränderung. Er wollte in eine Gegend, wo es viel freie Natur gab und wo er nicht den Eindruck hatte, jeden Augenblick ersticken zu müssen. In seiner methodischen Art stellte er eine Liste verschiedener Kleinstädte mit ihren jeweiligen Vorzügen zusammen und grenzte seine Auswahl schließlich auf Peterborough und Algonquin Bay ein. Eigentlich wollte er beide Städte besichtigen, aber als er am Tag seiner Ankunft in Algonquin Bay das Schild »Aushilfe gesucht« am Eingang von Troy Music sah, gab das den Ausschlag. Eine Woche darauf begegnete er Edie im Drugstore und fühlte sich sogleich innerlich stärker. Die ersten Anzeichen bedingungsloser Ergebenheit, die er in ihren Augen las, gaben ihm die Gewissheit, dass dies ein Mensch war, mit dem er sein Schicksal, ganz gleich, wie es aussähe, teilen konnte.

Aber Eric Fraser dachte nicht gern an die Vergangenheit. Die schrecklichen, bedrückenden Jahre in Toronto, die Feindseligkeit, die seine Zeit in St. Bart’s geprägt hatte – all das kam ihm vor, als habe es höheren Orts eine Verwechslung gegeben, so dass er nun mit einem engen, beschränkten Leben vorlieb nehmen musste, das eigentlich für jemand anderen bestimmt gewesen war. Man hatte ihm sein eigentliches, wirkliches Leben gestohlen.

Das hätte nicht so kommen müssen, dachte er, während er an der alten CN-Sendestation vorbei zu Edies Haus fuhr. Der ganze Schlamassel wäre ihm erspart geblieben, wenn er damals schlau genug gewesen wäre, Janes Mund mit Klebeband zu verschließen.