28
Lise Delorme hatte nicht viele Freunde bei der Kripo. Die Arbeit in der Abteilung für Sonderermittlungen, die auch Beamtendelikte einschloss, war nicht dazu angetan, sich Freunde zu machen. Außerdem war sie nicht der Typ, der sich aufdrängte oder sich leicht in eine Gruppe einfügte. Wenn es um Freundschaften ging, war sie auf ihre Klassenkameraden aus der Highschool-Zeit angewiesen, und das war die meiste Zeit nicht so leicht. Da waren auf der einen Seite diejenigen, die studiert hatten und dann verändert oder verheiratet, zumeist beides, zurückgekehrt waren. Und dann waren da all die anderen, die nicht aufs College gegangen waren und deren Horizont über ihren Highschool-Freund und ein Kind mit achtzehn nicht hinausreichte.
Die meisten Schulfreundinnen hatten mittlerweile Kinder, und das bedeutete, dass Delorme nicht das Hauptinteresse ihres Lebens teilte. Wenn sie sich mit alten Bekannten traf, erkannte sie an deren Blick, dass sie die Veränderung bei Lise Delorme bemerkt hatten. Ständig unter Männern zu arbeiten hatte sie härter gemacht, und auf eine Weise, die ihr selbst teilweise verborgen blieb, war sie im Umgang mit Frauen zurückhaltender und weniger geduldig geworden.
All das zusammen führte dazu, dass sie eine beträchtliche Zeit allein verbrachte. Aus diesem Grund hatte sie, anders als alle anderen bei der Kripo, unausgesprochen Angst vor dem Feierabend. Als Cardinal sie dann eines Abends mitten im Schreiben von Akten mit dem Vorschlag überraschte, zu ihm nach Hause zu fahren und dort ein Brainstorming abzuhalten, weckte das alle möglichen Gefühle in ihr, Schwalben nicht unähnlich, die sich in ihre Nester unterm Scheunendach drängen. »Keine Sorge«, hatte Cardinal gefrotzelt, ehe sie überhaupt etwas antworten konnte, »ich werde Sie nicht mit meinen Kochkünsten traktieren. Wir können uns eine Pizza ins Haus bestellen.«
Delorme zögerte und sagte, sie wisse nicht so recht. Abends sei sie immer ziemlich müde; sie würde daher wohl kaum einen Wirbelwind neuer Ideen entfesseln.
»Fehrenbach fällt als Verdächtiger aus, stimmt’s? In welche Richtung sollen wir jetzt ermitteln?«
»Ich weiß, es ist nur …«
Cardinal hatte sie mit einem leichten Stirnrunzeln angesehen. »Lise, wenn ich Ihnen Avancen machen wollte, dann sicherlich nicht bei mir zu Hause.«
*
Dann war jeder in seinem Auto zu Cardinals winterkaltem Cottage an der Madonna Road gefahren, wo Cardinal erst einmal im Kamin Feuer machte. Delorme war ganz gerührt, wie freundlich er war. Er zeigte ihr Tischlerarbeiten, die er für die Küche angefertigt hatte, und dann ein großes Landschaftsbild – eine Ansicht des Trout Lake mit der NORAD-Luftwaffenbasis im Hintergrund –, das seine Tochter im Alter von zwölf Jahren gemalt hatte. »Die künstlerische Ader hat sie von ihrer Mutter. Catherine ist Fotografin«, erläuterte er und zeigte auf das sepiabraune Foto eines einsamen Ruderboots an einem unbekannten Ufer.
»Die beiden müssen Ihnen fehlen«, hatte Delorme gesagt. Es war ihr so herausgerutscht, und sie bereute es sogleich. Doch Cardinal hatte nur mit den Achseln gezuckt und das Telefon zur Hand genommen, um die Pizza zu bestellen.
Als die Pizza kam, hatten sie schon einige Ideen durchgespielt. Der Grundgedanke beim Brainstorming bestand darin, dass man über die Vorschläge des anderen kein Urteil abgeben durfte; es war verboten, den anderen in irgendeiner Weise in seinem Gedankenfluss zu hemmen. Deswegen war es auch ein guter Einfall gewesen, die Übung fern vom Polizeipräsidium zu machen; hier konnten sie wirklich verrückte Sachen ausbrüten, ohne sich dabei allzu töricht vorzukommen.
Sie waren richtig in Fahrt gekommen, als plötzlich das Telefon klingelte. Kaum hatte Cardinal abgenommen, waren seine ersten Worte: »Ach du Scheiße! Ich bin in zehn Minuten da.« Er warf das Telefon auf die Couch, griff sich seinen Mantel und klopfte auf die Taschen, um sich zu vergewissern, dass er die Schlüssel bei sich hatte.
»Was ist denn los?«
»Ich habe ganz vergessen, dass wir um sechs Uhr einen Termin mit der Presse haben. R. J. hat die Sache arrangiert, damit Grace Legault nicht durchdreht. Tut mir leid. Es ist einer dieser Termine, wo wir der Presse Dinge sagen, die wir eigentlich nicht so gern an sie weitergeben, damit sie ihrerseits nichts verbreiten, was wir nicht verbreitet haben wollen. Das ist wenigstens der Hintergedanke bei der Sache.«
»Wessen Gedanke?«
»Dysons. Ich habe ihm allerdings zugestimmt.«
»Na, dann werde ich jetzt gehen.«
»Nein, nein. Bitte, lassen Sie doch die Pizza nicht kalt werden. Länger als eine Stunde wird es sicherlich nicht dauern.«
Delorme hatte protestiert, Cardinal hatte darauf bestanden, und so war sie am Ende geblieben und knabberte nun in der plötzlichen Stille, die Cardinal hinterlassen hatte, lustlos an ihrer Pizza. Das Ganze schien so, wie sagte man, abgekartet. Erst lud er sie zu sich nach Hause ein, dann »vergaß« er seinen Pressetermin. Dazwischen kam die Pizza.
Bei ihr entstand der Eindruck, er wollte ihr zumindest für eine Stunde sein Haus überlassen: Nur zu, schnüffle ruhig herum – ich habe nichts zu verbergen.
War das Cardinals Art, ihr (oder Dyson oder dem ganzen Dezernat) die Peinlichkeit eines Durchsuchungsbefehls zu ersparen? Oder war es ein Präventivschlag, mit dem er ihr den Wind aus den Segeln nehmen wollte? Wäre er schuldig, hätte er ihr nie freien Zutritt zu seinem Haus verschafft. Aber das war ähnlich wie mit seinem Schreibtisch: Ein Mann mit einer geheimen Schuld hätte ihn gerade deshalb offen lassen können, damit sie glauben sollte, er sei nicht schuldig.
Delorme wischte sich das Pizzafett von den Fingern und rief Dyson an. Ob es diesen Pressetermin, zu dem Cardinal gehen wollte, tatsächlich gebe, wollte sie wissen. Und ob es ihn gebe, versicherte ihr Dyson. Der Chef lege großen Wert darauf, und Cardinal habe allen Grund, sich dorthin zu begeben und zwar tout de suite (sein Französisch ließ Delorme erschaudern), andernfalls werde er, Dyson, dafür sorgen, dass Cardinal noch vor Ende der Woche nur noch Strafzettel an Falschparker verteile.
»Er ist schon unterwegs.«
»Woher wissen Sie das? Sind Sie bei ihm zu Hause? Was machen Sie da?«
»Ich bekomme gerade ein Baby von ihm. Aber keine Bange, ich kann die Dinge noch unbefangen sehen.«
»Haha. Tatsache ist, dass sich Ihnen jetzt die Gelegenheit bietet, von der wir gesprochen haben.«
»Ich verstehe nicht, warum er sie mir bietet – außer dass er unschuldig ist.«
»Das wäre doch prima.«
Delorme stand auf und putzte sich die Krümel vom Schoß. Über dem Kamin hing ein Schwarzweißfoto von Cardinal in Arbeitshemd und Jeans, wie er ein Brett hobelte und sich dazu wie ein Billardspieler nach vorn beugte. Mit seinem Dreitagebart und Sägespänen im Haar sah er für einen Polizisten ziemlich attraktiv aus. Aber ob attraktiv oder nicht, erst ließ er seine Schreibtischschubladen unverschlossen, und nun bescherte er ihr eine sturmfreie Bude. Aus Delormes Sicht kam das einer Aufforderung gleich, bei ihm zu schnüffeln.
Im Police Department von Algonquin Bay gab es keine Regeln für heimliche Durchsuchungen. Aus einem einfachen Grund: Kein Kripobeamter sollte sich dazu hinreißen lassen. Delorme hatte nie auf ungesetzliche Mittel zur Beweisfeststellung zurückgegriffen und würde das auch jetzt nicht tun. Eine heimliche Durchsuchung hatte sich auf das Ausspähen zu beschränken, ein Auskundschaften möglichen Materials für andere, die, mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl versehen, nach ihr kommen würden. Das Einzige, was man am Ontario Police College in Aylmer über solche Durchsuchungen erfährt, ist, dass sie illegal und ihre Ergebnisse vor Gericht nicht zugelassen sind. Was Delorme über diese zweifelhafte Kunst wusste, hatte sie sich selbst beigebracht.
Sie hatte eine Stunde, eher noch vierzig Minuten, um ganz sicherzugehen. Folglich galt es, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Sie schloss von vornherein alle Stellen aus, an denen man in Kinofilmen Polizisten oft stöbern sieht: schwer zugängliche Stellen auf der Oberseite von Schränken, Dachkammern oder Verstecke, für die man auf Stühle oder Leitern klettern musste. Ferner war alles ausgeschlossen, wofür Möbel oder Teppiche verschoben werden mussten. Sie konnte schwerlich Teppichläufer hochheben oder unter Couch und Sesseln nachschauen, ohne dass Cardinal die Veränderung bemerkt hätte. Sie glaubte sowieso nicht, dass Cardinal, sollte er wirklich etwas zu verbergen haben, dies an solchen Stellen verstecken würde. Deshalb hütete sie sich auch, den Deckel des WC-Spülkastens zu heben.
Nein, wenige Minuten nachdem Cardinal gegangen war, hatte sich Lise Delorme entschlossen, nur an dem Platz zu suchen, wo am ehesten belastendes Material zu finden wäre: in den Ordnern mit Cardinals persönlichen Unterlagen. Diese befanden sich, passend beschriftet, in einem unverschlossenen zerkratzten Aktenschrank aus Metall. In kürzester Zeit wusste sie auf den Cent genau, was er bei der Kripo verdiente (wegen der vielen Überstunden war es erheblich mehr, als sie erwartet hatte). Auch erfuhr sie, dass sein schmuckes, aber kaltes Haus mit Seeblick noch nicht bezahlt war. Die monatlichen Tilgungsraten waren hoch, aber bei Cardinals Gehalt bezahlbar, wenn er nicht andere hohe Kosten zu tragen hatte – wie zum Beispiel eine Tochter, die eine teure Eliteuniversität an der amerikanischen Ostküste besuchte.
Delorme interessierte sich ferner für Catherine Cardinals Einkünfte. Wenn die Frau ihres Kollegen über private Einkommensquellen verfügte, wäre er aus dem Schneider.
Sie zog den Ordner mit den Steuererklärungen heraus.
Aus der letztjährigen gemeinsamen Steuererklärung, die Cardinal handschriftlich ausgefüllt hatte, ging hervor, dass er dem hiesigen Finanzamt seine Einkünfte wahrheitsgemäß mitgeteilt hatte. Ferner zeigte sich, dass Catherine Cardinal mit ihrem Teilzeitjob als Dozentin für Fotografie am Algonquin College kaum mehr als ein Taschengeld verdiente. Doch daneben gab es noch einen anderen Ordner, der ungleich interessanter schien, eine Erklärung für die amerikanische Steuerbehörde. Sie lief auf Catherine Cardinals Namen, war aber in Cardinals unverkennbarer Klaue ausgefüllt. Niemals würden Sie die Hilfe eines Steuerberaters in Anspruch nehmen, Mister Cardinal, das ließe Ihre intellektuelle Eitelkeit nicht zu. Aus dem Blatt ging hervor, das Catherine Cardinal aus einer Eigentumswohnung in Miami Mieteinnahmen in Höhe von elftausend US-Dollar hatte. Offenbar war die Wohnung aber die meiste Zeit des Jahres über nicht vermietet.
»Datum des Erwerbs«, flüsterte Delorme, während sie die ungewohnten Formulare durchblätterte. »Wo steht es denn? Datum des Erwerbs. Er muss doch irgendwo angeben, wann er das Ding gekauft hat.« Mit dem blauweißen Formular in der Hand setzte sie sich. Catherine Cardinal hatte die Eigentumswohnung in Florida mit einer Anzahlung von sechsundvierzigtausend US-Dollar vor drei Jahren gekauft – keine sechs Wochen nach der ersten polizeilichen Blamage im Fall Corbett.
Ruhig Blut, sagte Delormes innere Stimme. Noch weißt du gar nichts. Du suchst lediglich und hältst die Augen offen. Wir sammeln hier nur Informationen und fällen keine Urteile.
Cardinal hatte einen Teil der Jahresprämie seiner Hauseigentümerversicherung steuermindernd geltend gemacht. Delorme fand den Ordner mit der Aufschrift »Versicherungen«. Der auf der Police ausgewiesene Betrag schien auf den ersten Blick klein, aber dann erinnerte sie sich, dass Grundbesitz und nicht das Haus, das er bewohnte, teuer war. Der Ordner enthielt Rechnungen für langlebige Güter – Cardinals Camry, ein neuer Kühlschrank, eine Bandsäge –, doch dann stieß Delorme auf eine Rechnung, bei der sie erst einmal tief durchatmen musste. Sie war ausgestellt von der Calloway Marina in Hollywood Beach, Florida, und belief sich auf die Summe von fünfzigtausend Dollar für einen Chris-Craft-Kajütenkreuzer. Erworben im Oktober vor zwei Jahren, also zwei Monate nach dem zweiten Fehlschlag im Fall Corbett.
Wieder bemühte sich Delorme, ihr Herzklopfen im Zaum zu halten und sich vor voreiligen Schlüssen zu hüten. Wer vorschnell urteilte, wurde zu einer Gefahr für jeden, der einem ins Gehege kam. Aber dieser Betrag und gerade zu dem Zeitpunkt – ja, das war zweifellos verdächtig.
Aus der unteren Schublade von Cardinals Aktenschrank zog sie einen Ordner mit der Aufschrift »Yale«. Sie überflog rasch den Inhalt. Diverse Schreiben auf teurem Geschäftspapier bestätigten, was sie bereits über Yale wusste. John Cardinal schickte seine Tochter für ein Heidengeld auf eine Eliteuniversität. Jährlich über fünfundzwanzigtausend kanadische Dollar, ohne Lebenshaltungskosten, und hinzu kamen noch Reisekosten und Künstlerbedarf. Cardinal hatte gesagt, Kelly sei in ihrem dritten Studienjahr, also hatte er schon fünfundsiebzigtausend Dollar für sie ausgegeben, und ihre Ausbildung war noch nicht beendet.
Delorme legte die Papiere zurück und schloss die Schublade. Lass es dabei bewenden, sagte sie sich: Die Segeljacht, die Eigentumswohnung – da gibt es bereits genug zu recherchieren.
Sie stellte Cardinals Pizzahälfte in den Kühlschrank, wusch ihren Teller ab und zog ihren Mantel an. Dann schaltete sie das Licht aus und fragte sich, welcher Teufel nur ihren Kollegen geritten hatte, ihr diese Gelegenheit zu einer heimlichen Durchsuchung seines Hauses zu geben, wenn sich dort so viele belastende Unterlagen befanden. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt rief sie mit ihrem Handy Malcolm Musgrave an. »Ich bin auf einige sehr interessante Rechnungen gestoßen – teure Erwerbungen gleich nach Ihren Polizeiaktionen im Fall Corbett. Aber ich kann Ihnen noch nicht sagen, wo ich sie gefunden habe.«
»Ich verstehe, er ist Ihr Kollege, aber denken Sie daran, dass Sie diese Ermittlung nicht allein führen. Um welche Summe handelt es sich denn?«
»Sechsundneunzigtausend US-Dollar. Dazu kommen noch die Kosten für eine Tochter in Yale.«
»Wahrscheinlich verdient unser hochgeschätzer Polizeichef so viel, aber weder Sie noch ich noch Ihr Kollege beziehen solche Spitzengehälter.«
»Ich weiß, es sieht schlecht für ihn aus. Aber er lebt nicht auf großem Fuß. Er gibt wenig aus.«
»Sie vergessen, dass bei solch einem Coup außer dem Zuckerbrot auch die Peitsche im Spiel ist. Wenn ein Bursche wie Kyle Corbett Sie erst mal am Haken hat, können Sie nicht einfach sagen, das Spiel interessiere Sie nicht mehr. Sie müssen tun, was er von Ihnen will, oder er packt Sie dort, wo es wehtut. Vielleicht möchten Sie zu dem Thema einmal Nicky Bell hören. Oh, Entschuldigung, der ist ja tot. Wie dumm von mir.« Musgrave bat sie, sich einen Augenblick zu gedulden.
Während sie wartete, sah sie, wie John Cardinal zu seinem Haus zurückfuhr. Sie hob eine Hand vom Lenkrad und winkte ihm, doch er sah sie nicht. Plötzlich bereute Delorme den Anruf. Dann meldete sich Musgrave wieder.
»Hören Sie, ich muss mehr über diese Rechnungen wissen. Wir haben hier keine Zeit für Primadonnen.«
»Tut mir leid. Ich kann das nicht machen. Jedenfalls nicht jetzt.«
Musgrave drängte sie und zog alle Register männlichen Imponiergehabes.
»Ich mache meine Arbeit, ja?«, sagte sie. »Ich ermittle gegen den Mann. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.« Musgrave wollte ihr weiter zusetzen, doch sie schaltete das Gerät aus.
Zu Hause angekommen, blieb sie bei laufendem Motor im Auto sitzen und legte den Kopf auf das Lenkrad. Sie versuchte erst gar nicht, sich über die Gefühle Rechenschaft zu geben, die in ihr hochstiegen. Delorme war im Lauf der sechs Jahre bei der Abteilung für Sonderermittlungen vielen diebischen Männern begegnet. Und in dieser Zeit hatte sie Motive kennen gelernt, die in ihrer Vielfalt der Fauna der nördlichen Wälder in nichts nachstanden. Manche Männer stehlen aus Besitzgier; das sind die schlichten Gemüter, die leicht zur Strecke zu bringen sind. Andere Männer, seelisch schon komplexer, stehlen aus einem Zwang heraus. Wieder andere stehlen aus Furcht. Delorme hielt diese für die bei weitem häufigsten: der Manager in mittleren Jahren, der für seinen Ruhestand das Schreckgespenst eines Lebens in Armut heraufziehen sieht. Delorme konnte Cardinal in keine dieser Schubladen stecken. Und sie dachte auch nicht weiter an die schicke Segeljacht oder die Eigentumswohnung in Florida. Was ihr den deutlichsten Eindruck gemacht hatte, waren die Briefe aus Yale. Sie spürte noch, wie sich das teure Briefpapier und das aufwändige Siegel in der Hand angefühlt hatten, ein Sinnbild für die ungeheuren Ausbildungskosten auf einer privaten Eliteuniversität. Manche Männer, das wurde ihr nun klar, stahlen aus Liebe.
»John Cardinal«, sagte sie laut, »was bist du doch für ein Narr.«