18
Wenn sie langsam sterben sollen, musst du sie in den Bauch schießen. Du jagst ihnen eine Kugel tief in den Unterleib. Dann brauchen sie Stunden, ehe sie abkratzen. Und sie sterben unter höllischen Schmerzen. Die Show ist sehenswert.«
Edie hielt die Luger, wie er es ihr gezeigt hatte, eine Hand stützte die andere, die Füße auseinander, in leicht geduckter Stellung. Ich komme mir vor wie ein Kind, das Räuber und Gendarm spielt. Aber wenn der Schuss losgeht, ist es ganz unvergleichlich.
»Heb dir den Bauchschuss für besondere Gelegenheiten auf, Edie. Aber jetzt stell dir vor, der Typ kommt dort über den Hügel auf dich zu. Er will nicht mit dir reden, und er will dich auch nicht verhaften. Er hat nur ein Ziel: deinen Tod. Was bleibt dir da übrig? Ihn rechtzeitig stoppen. Es ist dein gutes Recht, den Bastard abzuknallen.«
Mit seinen langen knochigen Händen zeigt er mir, wie man den Abzug betätigt.
»Ein Kopfschuss ist immer das sicherste, verstanden, Edie?«
»Ein Kopfschuss ist immer das sicherste.«
»Du zielst immer erst auf den Kopf, es sei denn, du bist mehr als zwanzig Meter entfernt. In dem Fall zielst du auf die Brust. Das ist das zweitsicherste. Wiederhole. Schuss in die Brust ist das zweitsicherste.«
»Schuss in die Brust ist das zweitsicherste. Schuss in den Kopf ist das sicherste.«
»Gut. Und du schießt immer das ganze Magazin leer. Nicht einen Schuss abfeuern und warten, was dabei herauskommt, sondern das ganze Magazin leerballern. Peng, peng, peng.«
Ich machte einen Luftsprung, wenn er das tat. Ich schrie auf, doch er hörte gar nicht hin, so konzentriert ist er, wenn er mir Schießunterricht gibt. Seine Haare scheinen sich dann zu sträuben, und seine Augen sind pechschwarz.
»Edie, du gibst ihnen die ganze Ladung. Kugelsichere Weste? Na wenn schon. Drei von diesem Kaliber legen jeden flach – zumindest vorübergehend – und verschaffen dir Zeit zur Flucht.«
»Meine Arme fangen an zu zittern.« Er beachtet mich gar nicht. Er ist ein Marineinfanterist, ein Schleifer, ein geborener Lehrer. Und ich bin seine geborene Schülerin. Ich bin schwach, aber er macht mich stark.
»Durchatmen, Edie. Hol tief Luft und halt die Luft an, bis du abdrückst. Du bestimmst den richtigen Augenblick.«
Wenn Edie zu lange wartete, wiederholte Eric: »Du bestimmst den richtigen Augenblick«, um dann entnervt hinzuzufügen: »Du wärst jetzt schon längst hinüber.«
Edie drückte ab, und der Knall war wie immer lauter, als sie erwartet hatte. »Der Rückschlag ist so stark«, sagte sie, »meine Arme kribbeln richtig.«
»Mach doch nicht die Augen dabei zu, Edie. So triffst du nie.« Eric stapfte durch den Schnee, um nach dem Pappkameraden zu schauen. Als er zurückkam, war sein Gesicht wie versteinert. »Anfängerglück. Ein Treffer direkt ins Herz.«
»Habe ich ihn erledigt?«
»Purer Zufall. Er hätte dir schon längst die Birne von den Schultern gepustet, langsam, wie du bist. Probier’s noch mal. Ziel auf die Brust. Und, um Gottes willen, lass die Augen offen.«
Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder so weit war, und er wiederholte seine Anweisungen. »Wie gesagt, wenn sie langsam sterben sollen, schießt du sie in den Bauch. Hast du schon mal einen Wurm am Haken gesehen?«
»Das ist schon lange her. Als ich klein war.«
»Genauso winden sie sich. Aah!« Eric hielt sich den Bauch, ging auf die Knie und ließ sich dann nach hinten fallen. Er wand sich fürchterlich und gab Würgegeräusche von sich. »So machen sie dann«, sagte er, auf dem Rücken im Schnee liegend. »Sie winden sich vor Schmerzen, und das stundenlang.«
»Ich glaube dir, dass du das kennst.«
»Du weißt nicht, was ich kenne«, widersprach ihr Eric kalt. Er stand auf und klopfte Schnee von seinen Jeans. »Was ich schon gesehen habe, geht dich gar nichts an.«
Edie drückte ab, verfehlte das Pappschild und sogar den Baum. Eric wurde darauf gleich wieder freundlicher. Er war den ganzen Morgen guter Stimmung gewesen; das war er immer, wenn sie einen Gast hatten. Einen Gast zu haben löste etwas in ihm aus. Heute früh gleich nach dem Wecken hatte er sie mit einem Abstecher in den Wald überrascht. Er schlug Schießunterricht vor, und da wusste sie, dass der Tag gut werden würde. Er fasste sie von hinten und korrigierte ihre Haltung. »Macht nichts. Wenn es zu einfach wäre, würde es keinen Spaß machen.«
»Warum zeigst du es mir nicht? Ich möchte es sehen, wie du es machst. Dann könnte ich es leichter nachmachen.« Ihre Ergebenheit ihm gegenüber wirkte wie ein Zauberwort. Es wirkte immer.
»Du möchtest also sehen, wie es der Meister macht? Okay, dann pass gut auf, Baby.«
Edie lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf wie ein Hundejunges, während Eric noch einmal auf die einzelnen Punkte einging. Er zeigte ihr die richtige Haltung, den Griff, die leicht geduckte Stellung und das Visieren entlang des Pistolenlaufs. Er war in seinem Element, wenn er ihr etwas zeigen und beibringen konnte, Dinge, die er in Toronto, Kingston oder Montreal gelernt hatte. Edie war, abgesehen von einer Klassenfahrt nach Toronto, in ihrer Highschool-Zeit nie aus Algonquin Bay herausgekommen. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie noch nie eine eigene Wohnung gehabt und noch nie jemanden wie Eric kennen gelernt. Jemand, der so selbstsicher war. Und so schön.
Edies Tagebuch, 7. Juni vergangenen Jahres: Ich verstehe gar nicht, wie er sich mit einem hässlichen Ding wie mir abgeben kann. Bei meinem abstoßenden Gesicht und vorn flach wie ein Brett. Er weiß ja gar nicht, wie hinreißend gut er aussieht. So schlank, dabei muskulös, und seine Art zu gehen – leicht geduckt –, da bekomme ich gleich weiche Knie. Sie stellte sich sein Gesicht mit den zarten Knochen und harmonischen Zügen auf einer zwölf Meter breiten Kinoleinwand vor. Für alles, was er tat, könnte man Eintritt verlangen.
Diese Schatten unter den Augen geben ihm etwas von einem Künstler, als ob ihn ein Dämon treibt. Ich sehe ihn oben auf einer Klippe am Meer, das Haar vom Sturm zerzaust und mit wallendem weißen Schal.
Er war mit einem Rasierwasser und einer Packung Papiertaschentücher an ihren Tresen bei Pharma-City gekommen und hatte sie nach Batterien und einer kleinen Packung PowerUp gefragt.
Ich bin verloren, hatte sie am Tag, als er den Drugstore betrat, in ihr Tagebuch geschrieben. Ich habe den mächtigsten Mann des Universums getroffen. Sein Name ist Eric Fraser, er arbeitet im Troy Music Centre, und sein Gesicht sieht für mich göttlich aus. Diese Augen! Von Zeit zu Zeit las sie in ihrem Tagebuch, um sich in Erinnerung zu rufen, wie leer ihr Leben gewesen und wie erfüllt es seit der Bekanntschaft mit Eric Fraser war. Sogar sein Name ist schön.
»Haben Sie das schon mal probiert?«, hatte er sie gefragt. Sie sahen einander an, während der Geschäftsleiter die Kasse betätigte.
»Das ist so ein Weckmittel, oder? Koffeinhaltige Tabletten?«
»Oh, durchaus möglich, dass auf dem Beipackzettel etwas von Koffein steht. Schreiben können die, was sie wollen. Aber glauben Sie mir, mit PowerUp kann man erstaunliche Sachen machen.«
»Die ganze Nacht wach bleiben, so was?«
Doch er hatte sie nur verschlagen angelächelt und mitleidig den Kopf geschüttelt. »Erstaunliche Sachen.«
Sie hätte sich niemals träumen lassen, wie erstaunlich.
Ganz in Schwarz war er gekleidet gewesen und schmal wie ein Laternenpfahl. Wenn er dann noch seine Sonnenbrille aufsetzte, hätte man wetten können, dass er in einer Underground-Band spielte. Sie wunderte sich immer noch, dass so ein gut aussehender, cleverer und weltgewandter Mann wie Eric Fraser sich für ein Mauerblümchen, eine Verliererin wie sie, Edie Soames, interessierte. Drei Tage vor dem ersten Tagebucheintrag, in dem sie Eric Fraser erwähnte, hatte sie noch geschrieben: Ich bin nichts, mein Leben ist nichts, ich bin eine dicke runde Null.
Eric ging zur Zielscheibe, um nachzuschauen, und zog Atemwolken hinter sich her, die wie Federn aussahen. Ganz in Schwarz, mit abstehenden Haaren und dunkler Sonnenbrille war er eine befremdliche Gestalt in der Schneelandschaft. Als er zurückkam, hielt er die Pappscheibe wie eine Trophäe in die Höhe. »Gut geschossen. Du machst echt Fortschritte. Das sind keine Zufallstreffer mehr.«
Sie verstauten die Scheibe im Kofferraum von Edies rostigem Pinto und fuhren bergab zum Highway. Eric lehnte sich in die Polster zurück, als ob er zur königlichen Familie gehörte. Zwar hatte er selbst ein Auto, einen blauen, mindestens zehn Jahre alten Ford Windstar, den er perfekt in Schuss hielt, aber er benutzte ihn nur, wenn er unbedingt musste.
Edie bog beim alten Auto-Kino links ab und fuhr die kurze Strecke bis zum Trout Lake. Sie parkte beim Jachthafen, genau unter dem Schild »Parken für Unbefugte verboten«. Der zugefrorene See lag vor ihnen, völlig eben und blendend weiß im Sonnenlicht. Nur die Hütten der Eisfischer bildeten ein paar dunkle Flecken. Am öffentlichen Strand, wo man ein großes Rechteck als Eisbahn freigeschaufelt hatte, liefen Kinder Schlittschuh.
Sie überquerten den Highway und stapften den Berg hinauf. Hin und wieder schoss ein Schlitten mit Kindern an ihnen vorbei. Eric liebte es, im Freien zu sein. Manchmal wanderte er drei, vier Stunden lang bis nach Four Mile Bay und wieder zurück oder bis zum Flughafen hinaus. Edie hätte das bei Eric nie vermutet, er sah so, ja, städtisch aus. Aber die langen Wanderungen, die Berge, der Schnee und die Stille schienen seine innere Unruhe zu dämpfen. Es war eine Ehre, diese Zeit in der Natur mit ihm zu teilen.
Sie stiegen über einen Maschendrahtzaun, der fast bis zum Boden niedergedrückt war, und gingen weiter bergauf bis zum neuen Pumpenhaus. Edie war außer Atem, lange bevor sie oben ankamen und dann neben dem zugefrorenen kreisförmigen Speicherbecken standen. Ein Sportflugzeug mit Kufen statt Rädern brummte über sie hinweg und schwenkte ein in Richtung Trout Lake. Sie lehnten an dem Schutzzaun mit den Hinweistafeln, die davor warnten, im Speicherbecken zu baden oder im Winter dort Schlittschuh zu laufen. Edie konnte, keine zweihundert Meter entfernt, die Stelle erkennen, wo sie Billy LaBelle vergraben hatten. Sie hielt es für besser, das nicht zu erwähnen, es sei denn, Eric sprach es von sich aus an.
»Du verstehst zu schweigen, das schätze ich sehr«, hatte Eric einmal zu ihr gesagt. Er war den ganzen Tag lang verschlossen gewesen, und Edie hatte schon gefürchtet, er könnte sie satt haben und wollte sie und ihr Fischgesicht nicht mehr sehen. Stattdessen hatte er sie gelobt. Es war das erste Mal, dass überhaupt jemand sie für etwas gelobt hatte, deshalb hütete sie seine Worte wie einen Schatz. Nun konnte sie stundenlang mit ihm zusammen sein, ohne ein Wort zu sagen. Wenn sich trübe Gedanken einstellten oder der Hass auf ihr Gesicht aufwallte, dann verdrängte sie das und erinnerte sich an seine wohltuenden Worte. Edie konnte in tiefem Schweigen neben ihm stehen und auf die kreisförmige Eisfläche starren, und Eric schien das zu mögen.
»Ich habe Hunger«, sagte er schließlich. »Vielleicht sollte ich mir etwas zu essen besorgen, bevor ich umfalle.«
»Willst du nicht zum Abendessen kommen?«
»Ich esse lieber allein.« Er mochte es nicht, dass sie ihm beim Essen zusah. Das war eine seiner Schrullen.
»Was ist, wenn unser Gast aufwacht?« Eric hatte ihr eingeschärft, den Gast nie beim Namen zu nennen.
»Nach allem, was du ihm gegeben hast? Das glaube ich kaum.«
Edie wandte sich vom Speicherbecken ab und sah hinüber zu den Bergen und zu den Wäldern hinter Trout Lake. Die Luft roch nach Kiefern und verbranntem Holz.
»Ich wünschte, wir brauchten nicht zu arbeiten, um uns durchzuschlagen«, sagte sie. »Ich wünschte, wir könnten die ganze Zeit zusammen sein, reisen und Neues erleben.«
»Die meisten Jobs sind Zeitverschwendung. Und die Leute, Mann, wie ich die hasse.«
»Du meinst Alan.« Alan war Erics Chef. Er ließ ihm keine Ruhe, trug ihm Dinge auf, die er schon längst erledigt hatte, und erklärte ihm Dinge, die er schon längst wusste.
»Nicht nur Alan, auch Carl. Dieser schwule Sack. Und wie sie mich bezahlen – nur wegen denen muss ich in diesem Schweinestall wohnen.«
Edie wurde es allmählich richtig kalt vom Stehen, doch sie sagte nichts. Wenn er anfing von Leuten zu sprechen, die er hasste, wusste sie, was kommen würde. Bald würde es eine »Party« geben, wie Eric immer sagte. Sie hatten ihren Ehrengast schon sicher in Verwahrung. Edie bekam plötzlich Herzklopfen und verspürte den Drang, auf die Toilette zu gehen. Sie presste die Lippen aufeinander und hielt den Atem an.
»Ich meine, wir sollten den Termin etwas vorverlegen«, bemerkte Eric beiläufig. »Machen wir die Party etwas früher als geplant. Wir wollen doch nicht, dass sich unser Gast langweilt.«
Edie ließ geräuschlos den Atem ausströmen. Schlieren schwammen an den Rändern ihres Gesichtsfeldes. Weit unten von der Schlittenbahn war fröhliches Kindergeschrei zu hören, das von den kalten weißen Bergen widerhallte.
*
Bum, bum, bum. Edie hätte am liebsten geschrien. Sie hatten doch gerade vor einer halben Stunde zu Abend gegessen; was wollte sie denn nun schon wieder? Bum, bum, bum. Als ob sie mit dem Stock direkt auf meinen Schädel klopfen würde. Nie hat man Ruhe. Den ganzen Tag öde Arbeit in dem öden Drugstore in diesem öden Kaff, und was erwartet mich zu Hause? Bum, bum, bum.
»Edith! Edith, wo steckst du denn? Ich brauche dich!«
Edie stand mit einem nassen Teller in der Hand am Spülbecken und rief, zur Treppe gewandt: »Ich komme gleich!« Dann in normaler Lautstärke: »Alte Ziege.«
Der Baum vor dem Küchenfenster schwankte im Wind und kratzte mit eisigen Fingern an der Fensterscheibe. Wie wohltuend grün hatte derselbe Baum vor ein paar Monaten ausgesehen. Eric war in ihr Leben getreten und hatte ihr den grünsten Sommer ihres Lebens beschert.
Bum, bum, bum. Sie bemühte sich, das Pochen des Spazierstocks ihrer Großmutter nicht zu hören, und wünschte sich stattdessen, der Zweig würde wieder grün ausschlagen. Der ganze Sommer war ein einziges großes Farbenspiel aus tausend schillernden Grün- und Blautönen gewesen, in dem sie die Wonne gekostet hatte, Eric kennen zu lernen. Aus Langeweile und Bedeutungslosigkeit war mit Eric plötzlich Leidenschaft geworden. Er hatte Spannung und erregende Augenblicke in ihr leeres, nichtiges Leben gebracht.
Ich bin ein erobertes Land, hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben. Ich gehöre jetzt Eric, er herrscht über mich, wie es ihm beliebt. Er hat mich im Sturm erobert. Diese Worte erinnerten sie an einen anderen Sturm, einen Orkan aus Wind und Regen, der im vergangenen September die stahlgraue Oberfläche des Lake Nipissing aufgepeitscht hatte.
Sie hatten das Indianermädchen umgebracht. Na ja, rein technisch gesehen, hatte Eric es getötet, aber sie war dabei gewesen, sie hatte ihm geholfen, das Mädchen mitzunehmen, hatte es in ihrem Haus gefangen gehalten und zugesehen, wie er es tat.
»Siehst du den Ausdruck in ihren Augen?«, hatte er sie gefragt. »Das ist die Angst, das ist mit nichts anderem zu verwechseln. Auf diesen Ausdruck kannst du dich verlassen.«
Das Mädchen war an das Messingbettgestell gefesselt und mit ihrem eigenen Slip geknebelt worden. Dann hatte er ihr noch einen Schal um den Mund gebunden. Man sah nur noch die kleine Nase und braune, dunkle Augen, die bis zum Äußersten geweitet waren. Tiefe Seen der Angst, aus denen man in langen Zügen trinken konnte.
»So einfach geht das«, hatte Eric ein paar Nächte vorher gesagt. Sie hatten bei Kerzenlicht im Wohnzimmer gesessen und geplaudert, während die Alte oben fest schlief. Eric kam gern nachts zu ihr herüber, um ihr bei Kerzenlicht Gesellschaft zu leisten – ohne Essen und Trinken –, nur um zu reden oder einfach schweigend dazusitzen. Schon seit Wochen hatte er ihr von seinen Plänen erzählt und ihr Bücher zu lesen gegeben. Er hatte sich über den Couchtisch gebeugt, wobei seine markanten Züge im Kerzenlicht noch stärker hervortraten, und dann die Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger ausgelöscht.
Und dann hatte er es genau so gemacht: mit einem leichten Druck auf die Nasenflügel. Er löschte das junge Leben mit einem leichten Druck von Daumen und Zeigefinger aus. Es hatte überhaupt nichts Gewaltsames, von der verzweifelten Gegenwehr des Mädchens einmal abgesehen.
Edies Knie hatten gezittert, und sie hatte sich übergeben wollen, doch Eric hatte sie fest in die Arme genommen und ihr dann eine Tasse Tee gemacht. Er hatte ihr erklärt, dass es eine Zeit brauche, sich daran zu gewöhnen, aber dafür sei es auch mit nichts zu vergleichen.
In dem Punkt hatte er Recht. Moral war bloß eine Erfindung wie die Geschwindigkeitsbegrenzung: eine Regel, an die man sich halten konnte oder auch nicht, ganz wie es einem passte. Eric hatte ihr klargemacht, dass man nicht gut sein musste. Es bestand kein Zwang, gut zu sein. Und diese Erkenntnis wirkte so durchschlagend, als hätte sie plötzlich Flugbenzin in den Adern.
Der Septembertag war ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, und als das Mädchen tot war, schien das Zimmer mit einem Mal voller Vogelstimmen, die in den zartesten Tönen sangen. Sonnenlicht floss wie Gold durch das Fenster herein.
Eric packte die Leiche in einen Seesack, den er mit einem Riemen über der Schulter trug, und dann fuhren sie mit seinem Windstar zur Shepard’s Bay, wo er ein kleines Boot gemietet hatte. Er hatte sogar für Angelzeug gesorgt. Gründlichkeit und Voraussicht gehörten zu den Eigenschaften, die Edie an ihm bewunderte. Eric, so schien es, ging nicht einmal über die Straße, ohne sich vorher einen detaillierten Plan zu machen.
Das Boot hatte einen dreieinhalb Meter langen Aluminiumrumpf und wurde im Heck von einem dreißig PS starken Außenbordmotor angetrieben. Nachdem Eric den Motor angelassen hatte, überließ er Edie das Ruder. Während der Wind seine Haare zerzauste, saß er im Bug neben dem Seesack.
Der Wind schien durch Edies dünne Nylonjacke zu ziehen. Auch wurde es kälter, als sie aus der Bucht hinaus auf die offene, graue Fläche des Sees fuhren. Die Wolken türmten sich zu einem dunklen Gebirge, und bald darauf wurde es dunkel, als sei es Abend. Edie folgte der Uferlinie. Bald fuhren sie an Algonquin Bay vorüber, dessen Kalksteinkirche sich weiß von der kohlschwarzen Wolkenwand abhob. Vom Wasser aus wirkte die Stadt klein, fast dörflich, doch Edie befürchtete plötzlich, einem Beobachter am Ufer könnte etwas merkwürdig vorkommen – ein Paar in einem Boot, das bei einem heraufziehenden Sturm auf den See hinausfuhr. Wenn sich nun ein anderes Boot näherte, wäre es gewiss die Polizei, die wissen wollte, was in dem Seesack steckte. Edie gab Gas, und die Wellen schlugen lauter gegen den Schiffsrumpf.
Eric zeigte nach Westen, und Edie legte das Ruder um, so dass die Stadt in einem Bogen hinter ihnen zurückblieb. In der ganzen Wasserlandschaft war kein anderes Boot zu sehen. Eric grinste und reckte einen Daumen in die Höhe, als ob sie der Kopilot bei einem Kampfeinsatz wäre.
Wenig später erschien am Horizont die Insel mit dem Förderturm des Schachts, der wie ein Seeungeheuer in den Himmel ragte. Edie steuerte darauf zu und nahm Gas weg. Eric beschrieb einen Kreis in der Luft, worauf Edie in einem Bogen die kleine Insel umfuhr. Außer dem Schacht gab es nichts auf der Insel, dazu fehlte der Platz. Sie hielten nach anderen Booten auf dem See Ausschau, doch sie entdeckten keines.
Edie steuerte um eine felsige Landzunge und ließ das Boot dann ans Ufer treiben. Das Boot schaukelte so heftig auf den Wellen, dass sich Eric beim Aufstehen am Dollbord festhalten musste, um nicht ins Wasser zu fallen. Mit der Leine in der Hand sprang er auf einen flachen Uferfelsen. Das letzte Stück zog er das Boot, der Kiel knirschte über den Kieselstrand.
»Die Wolken gefallen mir gar nicht«, sagte er. »Bringen wir es schnell hinter uns.«
Der Seesack war schwer wie Blei.
»Mein Gott, Katies Gewicht ist auch tot nicht zu verachten.«
»Sehr witzig«, sagte Edie.
»Du kannst jetzt loslassen. Ich hab sie.«
»Soll ich dir nicht helfen, sie den Hang hochzubringen?«
»Bleib lieber beim Boot. Ich bin gleich wieder da.«
Edie sah zu, wie Eric mit dem Seesack auf der Schulter schwankend den Hang hinaufging. Zum Glück beobachtete sie niemand: Aus dieser Entfernung war deutlich zu erkennen, dass der Seesack eine Leiche enthielt. Das Rückgrat des Mädchens bildete eine geschwungene Linie im Segeltuch, und selbst die Unebenheiten der einzelnen Wirbel traten deutlich hervor. Zwei Erhebungen befanden sich dort, wo die Fersen gegen den Stoff drückten. Auch eine gerade harte Linie zeichnete sich ab; das war die Eisenstange, mit der Eric das Schloss vor dem Schachteingang aufbrechen wollte.
Die ersten großen Regentropfen, die ins Boot fielen, klangen, als ob Kieselsteine auf einen Eimer trommelten. Edie mummelte sich in ihre Nylonjacke ein. Mit unglaublicher Geschwindigkeit eilten Wolken über sie hinweg. Die aufgepeitschten Wellen bekamen weiße Schaumkronen.
Eric war seit gut zehn Minuten fort, als ein lautes Dröhnen näher kam und ein kleines Motorboot an der Spitze der Landzunge erschien. Ein Junge richtete sich auf und winkte Edie zu. Sie winkte zähneknirschend zurück. Hau ab, verdammt noch mal. Hau bloß ab.
Doch das Boot kam tuckernd näher. Der Junge hielt sich an der Windschutzscheibe fest und rief: »Alles in Ordnung?«
»Ja, aber der Motor hat Probleme gemacht.« Das hätte sie nicht sagen sollen, und sie bereute es auch gleich.
Der Junge kam mit seinem Boot im Schritttempo heran. »Soll ich mal nachsehen?«
»Nein, es ist nichts weiter. Ich habe bloß den Motor abgewürgt. Jetzt warte ich, bis er wieder klar ist. Dann springt er auch wieder an.«
»Ich bleibe solange hier, nur für den Fall.«
»Nein, nicht nötig. Du wirst doch bloß nass.«
»Das macht nichts. Ich bin sowieso schon nass.«
Wenn nun Eric hinter den Bäumen hervorkäme und immer noch den Seesack auf der Schulter hätte?
»Wie lange ist das her, dass Sie den Motor starten wollten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Edie verlegen. »Vielleicht zehn Minuten. Eine Viertelstunde. Es ist schon in Ordnung, wirklich.«
»Lassen Sie mich doch mal am Starterzug ziehen.« Er kam längsseits und hielt sich grinsend am Dollbord fest. »Einer Dame in Nöten muss man doch beistehen.«
»Nein, wirklich. Ich will noch etwas länger warten. Der Motor säuft leicht ab.«
Hinter dem Rücken des Jungen tauchte plötzlich Eric auf. Als er den Eindringling sah, zog er sich sofort hinter die Bäume zurück.
Der Junge lächelte Edie an. Es war ein schlaksiger Teenager mit vorstehendem Adamsapfel und Pickeln im Gesicht. »Sind Sie von hier?«
Edie nickte. »Vielleicht sollte ich es jetzt mal probieren«, sagte sie. Sie zog am Starterzug, doch der Motor spie nur bläulichen Rauch.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Eric von Baum zu Baum näher kam. Noch eine Minute, und er würde direkt hinter dem Jungen stehen. Ein länglicher schwarzer Gegenstand schimmerte in seiner Hand. Die Brechstange, die vom Regen nass geworden war.
»Ist der Druck ausreichend? Pumpen Sie doch mal.«
»Wie?« Edie zog wieder und wieder am Starterzug.
»Der Hebel dort oben auf dem Tank ist es. Soll ich es für Sie machen?«
Edie griff nach dem Hebel und begann zu pumpen. Der Widerstand wuchs, die Daumen schmerzten ihr. Sie zog nochmals am Starter, und diesmal sprang der Motor mit einem Heulen an. Sie grinste den Jungen an. Eric war keine zwanzig Schritte hinter ihm, halb versteckt hinter den Kiefern. Er hob die Brechstange auf die Schulter.
»Wenn Sie erlauben, fahre ich neben Ihnen her, damit Sie auch heil ankommen.«
»Nein, danke. Ich fahre lieber allein.«
Der Junge ließ seinen Motor ein paarmal aufheulen. »Warten Sie nicht zu lange, der Sturm könnte noch viel schlimmer werden.« Es gab ein dumpfes Geräusch, als er in den Rückwärtsgang schaltete und das Wasser am Heck aufschäumte. Nachdem er gewendet hatte, winkte er ihr noch einmal feierlich zu und fuhr hinaus in den Sturm.
Edie schaute zu Eric hinüber, der mit geschulterter Brechstange wie ein Holzfäller zwischen den Bäumen stand. »Mein Gott«, seufzte sie, »ich dachte schon, er würde nie verschwinden.«
Eric wartete, bis der Junge nur noch ein weißer Punkt in der Ferne war, dann sprang er ins Boot.
»Mein Gott«, sagte Edie noch einmal. »Um ein Haar hätte ich mir in die Hosen gemacht.«
»Wäre ziemlich einfach gewesen, ihm den Schädel einzuschlagen.« Eric ließ die Brechstange fallen, das Eisen schlug mit einem dumpfen Knall auf die Bootsplanken. »Sein Glück, dass ich nicht in Stimmung war.«
Der Donner rollte, und Blitze zuckten wie Speere am Horizont.
*
Bum, bum, bum.
»Ja, in Gottes Namen, ich komme ja gleich.«
Sie ging nach oben.
Die alte Frau lag zwischen Kissen begraben. Die Luft im Zimmer war stickig und verbraucht. Der Fernseher lief, aber ohne Bild.
»Was gibt’s denn?«
»Das Dingsbums ist weg. Auf dem Bildschirm schneit es bloß.«
»Und deswegen hast du mich gerufen? Du weißt doch, dass es immer in deinem Bett ist.«
»Ist es nicht. Ich habe überall gesucht.«
Edie stolzierte ins Zimmer und hob die Fernbedienung vom Boden auf. Sie zielte damit auf den Fernseher und drückte so lange, bis wieder ein Bild erschien.
Die Alte nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand. »Das ist französisch. Das will ich nicht!«
»Was macht das denn schon? Du hast doch sowieso den Ton abgestellt.«
»Wie?«
»Ich sagte, du hast doch sowieso den Ton abgestellt!«
»Ich will Gesellschaft, sonst nichts. Leute, mit denen ich reden könnte, wenn ich sie mal treffen würde.« Als ob der Entertainer auf dem Weg ins Studio kurz zum Tee bei der Alten hereinschneien würde.
Edie lüftete kurz, füllte das Wasserglas, schüttelte die Kissen auf und legte ein paar Frauenzeitschriften bereit, die sie im Drugstore geklaut hatte. Oh, Eric, errette mich von alldem.
»Edie, Schatz?« Die schmeichlerische Stimme war einfach widerlich.
»Ich hab jetzt keine Zeit. Eric kommt gleich rüber.«
»Bitte, Schatzilein, für deine alte Oma.«
»Wir haben dir doch erst vor drei Tagen die Haare gewaschen und gewickelt. Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen, nur um dir die Haare zu machen. Schließlich gehst du doch nicht tanzen.«
»Was? Was sagst du?«
»Ich sagte, du gehst doch nicht aus!«
»Bitte, Schatz. Jeder will doch gut aussehen.«
»Also in Gottes Namen.«
»Komm, Schatz. Wir schauen uns dabei Jeopardy an.« Sie hantierte mit der Fernbedienung, bis die Lautstärke ohrenbetäubend war. Ein Nachrichtensprecher sprach gerade über den Fall Todd Curry und kündigte einen Hintergrundbericht für die Sechs-Uhr-Nachrichten an. Die gestrige Ausgabe des Lode hatte ein Foto aus seiner Highschool-Zeit gebracht, auf dem er viel harmloser aussah, als er in Wirklichkeit war. Handelte es sich um einen Drogendeal, der im Streit endete, oder lief ein Serienkiller frei herum? Mehr darüber in den Sechs-Uhr-Nachrichten.
Edie holte die Waschschüssel und wusch der Alten das Haar. Es war so schütter, dass Edie schon nach ein paar Minuten fertig war, aber der Geruch wie von einem nassen Hund widerte sie an. Dann drehte sie ihr Lockenwickler ins Haar, während die Alte falsche Antworten zur Quizsendung im Fernsehen rief.
Edie schüttete das Wasser ins Waschbecken und verließ das Zimmer. Auf dem Treppenabsatz hörte sie plötzlich die Türklingel und erschrak so sehr, dass sie die Schüssel fallen ließ. Sie war sicher, dass es die Polizei sein würde. Doch als sie durch die Gardine lugte, war sie freudig überrascht. Immer wenn Eric vor meiner Tür steht, scheint die Höhle, in der ich lebe, mit einem Mal ein angenehmer heimeliger Platz zu sein, und nicht das dunkle Loch, in das ich zurückfalle, sobald er wieder gegangen ist. Die ganze Finsternis scheint nur ein Produkt meiner Phantasie zu sein. Mit ihm kommt wieder Luft und Hoffnung. Meine abgrundtiefe Höhle wird zu einem Platz an der Sonne. Was für ein Licht strahlt über den Rand herein!