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Don (kurz für Adonis) Dyson war ein jugendlich wirkender Fünfziger, drahtig wie ein Turner, mit federndem Gang und lebhafter Gestik, nur war er, wie seine Mitarbeiter nicht müde wurden zu betonen, eben kein Adonis. Das Einzige, was Detective Sergeant Don Dyson mit seinen Namensvettern in den Museen gemeinsam hatte, war ein Herz so kalt wie Marmor. Keiner wusste, ob er so auf die Welt gekommen war oder ob fünfzehn Jahre Berufserfahrung bei der Mordkommission in Toronto ein ohnehin schon kühles Temperament vollends in Eiseskälte verwandelt hatten. Der Mann hatte keine Freunde – weder bei der Polizei noch anderswo –, und alle, die Mrs. Dyson kennen gelernt hatten, sagten, neben ihr wirke ihr Gatte geradezu sentimental.

Detective Sergeant Dyson war kahl, pingelig, berechnend und ins eigene Wort verliebt. Er hatte lange, an den Enden spatelförmige Finger, auf die er über die Maßen stolz war. Wenn er seinen Brieföffner benutzte oder mit einer Schachtel Büroklammern spielte, vermittelten diese langen Finger einen spinnenartigen Eindruck. Sein kahler Schädel, der von einem geometrisch exakt geschnittenen Haarkranz gesäumt war, besaß eine vollkommen sphärische Gestalt. Jerry Commanda konnte den Mann nicht ausstehen, doch Jerry ertrug ganz allgemein Autorität nur schwer, ein Charakterzug, den Cardinal seiner indianischen Herkunft zuschrieb. Delorme behauptete, sie könne Dysons Schädel als Spiegel benutzen, um sich die Augenbrauen zu zupfen. Was freilich nicht hieß, dass sie sich tatsächlich die Augenbrauen zupfte.

Derselbe blinkende Schädel neigte sich nun Cardinal zu, der in einem Winkel von exakt fünfundvierzig Grad auf einem Stuhl neben Dysons Schreibtisch saß. Gewiss hatte sein Vorgesetzter irgendwo gelesen, dass dieser Winkel führungspsychologische Vorteile bringe. Er war ein Mann, der Genauigkeit liebte und für alles, was er tat, seine Gründe hatte. In einer Ecke seines Schreibtisches hatte er einen honigglänzenden Donut deponiert, den er präzise um halb elf – und nicht eine Minute früher oder später – zusammen mit einem Schluck koffeinfreien Kaffee aus der danebenstehenden Thermoskanne vertilgen würde.

In diesem Augenblick hielt Dyson gerade den Brieföffner zwischen seinen ausgestreckten Händen, als ob er den Schreibtisch damit vermessen wollte. Wenn er redete, schien es so, als wandte er sich in erster Linie an die Klinge. »Ich habe nie gesagt, Sie hätten Unrecht. Ich habe nie behauptet, das Mädchen sei nicht ermordet worden. Mit keinem Wort.«

»Nein, das haben Sie auch nicht.« Cardinal neigte dazu, sich immer dann, wenn Wut in ihm aufstieg, besonders höflich zu benehmen. Doch jetzt kämpfte er gegen diese Neigung. »Meine Versetzung ins Dezernat für Eigentumsdelikte war von Ihnen lediglich als spirituelle Übung gedacht.«

»Erinnern Sie sich noch, welche Ausgaben Sie verursacht haben? Wir befanden und wir befinden uns immer noch in Zeiten der Kostenreduzierung. Wir können nicht so tun, als wären wir die Mounties, das können wir uns nicht leisten. Sie haben alle freien Ressourcen für diesen einen Fall verwendet.«

»Drei Fälle.«

»Nicht drei, höchstens zwei.« Dyson zählte sie an seinen langen Fingern ab. »Katie Pine, höchstwahrscheinlich. Billy LaBelle, vielleicht. Margaret Fogle, keinesfalls.«

»Detective Sergeant, bei allem Respekt, aber sie hat sich weder in einen Vogel verwandelt, noch hat sie sich in Luft aufgelöst.«

Und wieder das Spiel mit den Fingern, die zur Schau gestellte Maniküre, als Dyson die Gründe aufzählte, warum Margaret Fogle nicht ermordet worden sein konnte. »Sie war siebzehn – sehr viel älter und cleverer als die beiden anderen. Sie stammte aus Toronto, nicht von hier. Sie war nicht das erste Mal von Zuhause ausgerissen. Mein Gott, das Mädchen hat jedem, der es hören wollte, erzählt, dass diesmal niemand – hören Sie, niemand – sie wiederfinden würde. Und sie hatte irgendwo einen Freund, in Vancouver oder was weiß ich wo.«

»In Calgary. Und sie ist dort nie angekommen.« Und sie wurde das letzte Mal lebend in unserer schönen Stadt gesehen, du kahles Rindvieh. Lieber Gott, schenke ihm die Einsicht, dass er mir McLeod gibt und mich mit dem Fall weitermachen lässt.

»Warum widersprechen Sie mir so hartnäckig in diesem Punkt, Cardinal? Wir leben im größten Land der Erde – nachdem die ruhmreiche Sowjetunion so freundlich war, sich selbst zu demontieren –, und drei Eisenbahnlinien verlaufen kreuz und quer über diese fast zehn Millionen Quadratkilometer große Eisbahn. Alle drei Linien schneiden sich hier am Ufer unseres Sees. Wir haben einen Flughafen und einen Busbahnhof. Jeder, der zu irgendeinem Ziel in diesem riesigen Land unterwegs ist, muss durch unsere Gegend. Wir haben mehr Ausreißer, als wir brauchen können. Ausreißer, aber keine Mordfälle. Sie haben die freien Kapazitäten der ganzen Abteilung an Gespenster verschwendet.«

»Soll ich dann wieder gehen? Ich dachte, ich wäre wieder im Morddezernat«, sagte Cardinal ruhig.

»Das sind Sie auch. Ich hatte nicht die Absicht, alte Geschichten aufzuwärmen, aber bei Katie Pine« – und an dieser Stelle wies er mit dem Finger auf Cardinal –, »bei Katie Pine gab es damals keinen auch noch so kleinen Hinweis auf Mord. Ich meine, abgesehen davon, dass sie ein Kind war und offensichtlich irgendetwas nicht stimmte, gab es keine Indizien für Mord.«

»Keine gerichtsrelevanten Indizien, das mag schon sein.«

»Sie hatten überzogene Ansprüche an Personal und Logistik, und außerdem Überstunden, die durch nichts zu rechtfertigen waren. Ein Überstundenberg in astronomischer Höhe. Ich stand mit meiner Einschätzung nicht allein – der Chef war voll und ganz meiner Meinung.«

»Detective Sergeant, Algonquin Bay ist nicht gerade riesig. Wenn ein Kind vermisst wird, erhält man abertausende Hinweise aus der Bevölkerung. Jeder möchte helfen. Wenn jemand im Kino ein Messer zieht, muss man das überprüfen. Jemand sieht einen jugendlichen Rucksacktouristen, und schon muss man das überprüfen. Jeder in der Stadt glaubt, Katie Pine irgendwo gesehen zu haben: Sie ist am Seeufer, sie ist unter anderem Namen im Krankenhaus, sie war in einem Kanu im Algonquin Park. Allen diesen Hinweisen mussten wir nachgehen.«

»Das haben Sie mir damals schon gesagt.«

»Nichts davon war unbegründet. Das dürfte mittlerweile ja wohl klar geworden sein.«

»Damals war es nicht klar. Niemand hatte Katie Pine mit einem Fremden gesehen. Niemand hatte sie in ein fremdes Auto steigen sehen. Sie war auf dem Rummelplatz und von einer Minute zur anderen plötzlich verschwunden.«

»Ja, ich weiß. Die Erde öffnete sich.«

»Die Erde öffnete sich und verschluckte das Mädchen. Und Sie haben einfach geglaubt – ohne Indizien –, dass sie ermordet worden ist. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass Sie Recht hatten. Sie hätten genauso gut auch Unrecht haben können. Fest stand nur, dass sie verschwunden war, und zwar spurlos. Ein Rätsel.«

Ja, natürlich, dachte Cardinal. Katie Pines plötzliches Verschwinden hatte alle vor ein Rätsel gestellt. Allerdings hatte ich mir eingebildet, von Polizisten würde auch in Algonquin Bay verlangt, hin und wieder ein Rätsel zu lösen. Gewiss, das Mädchen war Indianerin, und wir wissen ja alle, wie verantwortungslos diese Leute sein können.

»Machen wir uns doch nichts vor«, fuhr Dyson fort, steckte den Brieföffner behutsam in die schmale Scheide und legte ihn dann sorgfältig neben das Lineal. »Bei dem Mädchen handelte es sich um eine Indianerin. Ich mag Indianer, wirklich. Sie strahlen so eine fast überirdische Ruhe aus. Im Allgemeinen sind sie gutmütig und sehr kinderlieb. Im Übrigen bin ich absolut davon überzeugt, dass Jerry Commanda ein hervorragender Kriminalbeamter ist. Dennoch hat es keinen Sinn, zu behaupten, es wären Leute wie Sie und ich.«

»Nein, bei Gott nicht«, sagte Cardinal und meinte das auch so. »Das sind ganz andere Menschen.«

»Die Familien sind in alle Winde zerstreut. Das Mädchen hätte überall zwischen Mattawa und Sault Sainte Marie sein können. Es gab keinen Grund, sie ausgerechnet in zugenagelten Bergwerksschächten mitten im See zu suchen.«

Gründe hätte es genug gegeben, doch Cardinal ließ nichts verlauten. Er brauchte es nicht, weil er auf etwas viel Wichtigeres hinauswollte. »Die Sache mit dem Bergwerk auf Windigo Island ist eben, dass wir wirklich dort gesucht haben. In der Woche, in der Katie Pine als vermisst gemeldet wurde. Vier Tage später, um genau zu sein.«

»Sie wollen damit sagen, sie sei irgendwo versteckt worden, ehe man sie umbrachte. Sie sei irgendwo gefangengehalten worden.«

»Genau.« Cardinal verkniff sich den Drang, mehr zu sagen. Dyson taute langsam auf, und es war in Cardinals ureigenem Interesse, ihn dabei nicht zu stören. Der Brieföffner wurde erneut aus der Scheide befördert; eine herumliegende Büroklammer wurde aufgespießt, hochgehoben und zu einem Messingbehälter transportiert.

»Selbst dann«, setzte Dyson seine Überlegung fort, »hätte sie auf der Stelle getötet worden sein können. Der Mörder hätte die Leiche irgendwo versteckt haben können, um sie dann an einen sichereren Platz zu bringen.«

»Möglich. Die Gerichtsmediziner könnten uns in dieser Frage weiterhelfen – wir überführen die Überreste nach Toronto, sobald die Mutter informiert worden ist. Aber alles deutet auf langwierige Ermittlungen. Dazu brauche ich McLeod.«

»Den kriegen Sie nicht. Der ist bei Gericht mit Corriveau beschäftigt. Sie können die Kollegin Delorme haben.«

»Ich brauche McLeod. Die Delorme hat keine Erfahrung.«

»Sie sind bloß voreingenommen, weil sie eine Frau ist, weil sie Frankokanadierin ist und weil sie, im Gegensatz zu Ihnen, die meiste Zeit ihres Lebens in Algonquin Bay verbracht hat. Sie können zwar auf zehn Jahre Toronto verweisen, aber Sie werden doch wohl nicht behaupten wollen, dass Delormes sechs Jahre als Sonderermittlerin keine Berufserfahrung darstellen.«

»Ich will sie keineswegs schlecht machen. Sie hat bei den Ermittlungen gegen den Bürgermeister gute Arbeit geleistet, und auch in dem Betrugsfall bei der Schulbehörde. Lassen Sie sie doch in ihrer Domäne, Wirtschaftskriminalität, Beamtendelikte und das ganze heikle Zeug. Ich meine, wer würde sich sonst um diesen Bereich kümmern?«

»Darüber brauchen Sie sich keine grauen Haare wachsen lassen. Ich kümmere mich schon um die Sonderermittlungen. Delorme ist eine gute Kriminalistin.«

»Aber als Mordermittlerin hat sie keine Erfahrung. Gestern Nacht hätte sie beinahe ein wichtiges Indiz unbrauchbar gemacht.«

»Das glaube ich nicht. Worauf spielen Sie an?«

Cardinal berichtete ihm von der Plastiktüte. Es klang nicht sehr überzeugend, nicht einmal in seinen Ohren. Aber er wollte McLeod. McLeod verstand sich darauf, Dampf zu machen und einem Fall die nötige Aufmerksamkeit zu sichern.

Stille trat ein. Dyson starrte auf die Wand hinter Cardinal. Er gab keinen Laut von sich. Cardinal sah hinaus in das Schneegestöber vor den Fensterscheiben. Später war er sich nicht sicher, ob das, was Dyson dann sagte, auf einem spontanen Einfall seines Chefs beruhte, oder ob es sich um einen wohlkalkulierten Überraschungsangriff handelte. »Sie fürchten doch nicht etwa, dass Delorme gegen Sie ermittelt?«

»Nein, Sir.«

»Gut. Dann schlage ich vor, dass Sie Ihr Französisch ein bisschen auffrischen.«

*

In den vierziger Jahren entdeckte man auf Windigo Island Nickelvorkommen, die mit Unterbrechungen zwölf Jahre lang abgebaut wurden. Die Mine war nie sehr rentabel, selbst in Spitzenzeiten arbeiteten dort nicht mehr als vierzig Bergleute. Auch erschwerte die Lage mitten im See den Transport des abgebauten Erzes. Mehr als ein Lastwagen brach durch das Eis, so dass am Ende Gerüchte umgingen, über der Mine laste der Fluch der gequälten Seele, der die Insel ihren Namen verdankte. Viele Anleger aus Algonquin Bay verloren bei diesem Projekt ihr Kapital. Das Ende der Mine war gekommen, als kaum mehr als hundert Kilometer entfernt, in Sudbury, leichter abbaubare Flöze entdeckt wurden.

Der Schacht war hundertfünfzig Meter tief und setzte sich in horizontaler Richtung weitere sechshundert Meter fort. Die Kripoleute hatten erleichtert aufgeatmet, als sich herausstellte, dass Unbefugte nur in den Schachteingang, aber nicht in den Abbaustollen eingedrungen waren.

Als Cardinal und Delorme wieder auf der Insel ankamen, war es bei weitem nicht mehr so kalt wie in der Nacht zuvor, nur wenige Grad unter null. In der Ferne sah man Schneemobile zwischen den Hütten der Eisfischer umherfahren. Vereinzelt fielen Schneeflocken aus schmutziggrauen Wolken. Die Aufgabe, die Leiche aus dem Eis zu lösen, war fast erledigt.

»Am Ende brauchten wir doch nicht sägen«, berichtete ihnen Arsenault. Trotz der Temperaturen unter null standen ihm Schweißtropfen im Gesicht. »Die Vibrationen haben uns die Arbeit abgenommen. Die Leiche löste sich in einem Stück. Allerdings wird der Transport nicht so leicht sein. Man kann hier keinen Kran aufstellen, ohne Spuren am Fundort zu zerstören. Wir haben daher den ganzen Block auf einen normalen Schlitten verfrachtet und bis zum Lastwagen geschoben. Wir dachten uns, dass Kufen weniger Schaden anrichten als ein Toboggan.«

»Gute Idee. Woher habt ihr den Lkw?« Ein grüner Fünftonner mit schwarzen Balken, die die Schriftzüge verdeckten, fuhr rückwärts an den Schachteingang heran. Dr. Barnhouse hatte die Spurensicherung unmissverständlich darauf hingewiesen, dass es, so dringend auch ein Kühlwagen gebraucht wurde, gegen alle seit Menschengedenken bekannten Hygienevorschriften verstieße, wenn man einen normalen Kühl-Lkw für Lebensmittel als Leichenwagen verwendete.

»Kastner-Chemikalien. Die benutzen den Wagen zum Transport von Stickstoff. Dort hatte man auch die Idee, die Schriftzüge mit schwarzen Balken zu überdecken. Aus Pietät. Ich fand das sehr nobel.«

»Das war wirklich nobel. Erinnere mich daran, der Firmenleitung zu danken.«

»Hallo, John! John!«

Roger Gwynn stand hinter der Absperrung und winkte ihm zu. Die unförmige Gestalt neben ihm, mit einer Nikon im Anschlag, war sicherlich Nick Stoltz. Cardinal hob seine behandschuhte Rechte zum Gruß. Eigentlich stand er mit dem Reporter des Algonquin Lode nicht auf dem Duzfuß, obwohl sie beide fast zur gleichen Zeit auf die Highschool gegangen waren. Gwynn versuchte sich einen Vorteil zu verschaffen, indem er ihre Gemeinsamkeiten übertrieb. Polizist in der Heimatstadt zu sein hatte sein Gutes, doch manchmal vermisste Cardinal schmerzlich die relative Anonymität der Großstadt Toronto. Ein kleines Kamerateam mit Stoltz in der Mitte brachte sein Gerät in Stellung, hinter ihnen stand eine schmale Gestalt im rosa Parka, dessen Kapuze mit einem weißen Pelzbesatz verziert war. Das konnte nur Grace Legault von den Sechs-Uhr-Nachrichten sein. Algonquin Bay hatte keinen eigenen Fernsehsender; die Lokalnachrichten kamen aus dem hundertdreißig Kilometer entfernten Sudbury. Cardinal hatte den Übertragungswagen neben dem Polizei-Lkw auf dem Eis parken sehen.

»Komm, John! Sei so gut und gib mir ein kurzes Statement!«

Cardinal nahm Delorme mit und stellte sie dem Reporter vor.

»Ich kenne Ms. Delorme«, sagte Gwynn. »Wir haben uns kennen gelernt, als sie unseren ehrenwerten Bürgermeister verhaftete. Was kannst du mir über diesen Fall hier sagen?«

»Mehrere Monate alte Leiche eines Jugendlichen.«

»Oh, danke. Das wird einschlagen wie eine Bombe. Wie stehen die Chancen, dass es sich um das Mädchen aus dem Reservat handelt?«

»Ich mache darüber keine Aussagen, bevor wir nicht den Bericht aus dem Gerichtsmedizinischen Institut in Toronto haben.«

»Billy LaBelle?«

»Dazu sage ich nichts.«

»Ach komm, John. Irgendeine zusätzliche Information musst du mir geben. Ich frier mir hier den Arsch ab.«

Gwynn war ein untersetzter Mann, der sein Aussehen vernachlässigte und keine Manieren besaß, ein Lokalreporter auf Lebenszeit. »Handelt es sich überhaupt um Mord? Kannst du wenigstens das bestätigen?«

Cardinal winkte dem Aufnahmeteam aus Sudbury zu. »Wollen Sie sich nicht anschließen, Miss Legault? Ich möchte nicht alles zweimal sagen.«

Er teilte allen die grundlegenden Fakten mit, ohne von Mord oder von Katie Pine zu sprechen, und schloss mit der Versicherung, wenn er mehr wisse, werde er ihnen dies mitteilen. Als Zeichen guten Willens überreichte er Grace Legault seine Karte. Dafür erntete er freilich keinen Dank von der skeptischen Journalistin.

»Detective Cardinal«, sagte sie, als er sich schon abgewandt hatte. »Kennen Sie zufällig die Legende vom Windigo? Wissen Sie, was für eine Gestalt das ist?«

»Ja, selbstverständlich«, sagte Cardinal. »Das ist so was Mythisches.« Er seufzte innerlich. Damit würde sie groß rauskommen. Grace Legault spielte in einer anderen Klasse als Gwynn. Sie litt nicht gerade an mangelndem Ehrgeiz.

»Sind Sie hier fertig?«, fragte er Collingwood, als er und Delorme wieder am Eingang zum Schacht standen.

»Fünf Filme verschossen. Arsenault will trotzdem noch ein Video machen.«

»Da hat Arsenault Recht.«

Um den Eisblock hatte man bereits Gurte geschlungen. Nun wurde ein Flaschenzug, der mit einer elektrischen Winde verbunden war, in Stellung gebracht. Ein Foto fürs Album, dachte Cardinal, als der Block knapp einen Meter hochgehievt wurde und wie ein durchscheinender Sarg mitsamt der geschundenen menschlichen Kreatur darin über dem Fundort schwebte.

»Meinen Sie nicht, dass wir die Leiche abdecken sollten?«, raunte Delorme.

»Das Beste, was wir für das Mädchen tun können«, erwiderte Cardinal gelassen, »ist, sicherzustellen, dass alles, was die Gerichtsmediziner in dem Eisblock finden werden, schon drin war, bevor wir die Leiche fanden.«

»Ich verstehe«, sagte Delorme, »eine dumme Idee von mir, nicht wahr?«

»Ja, allerdings.«

»Tut mir leid.« Eine Schneeflocke fiel ihr auf die Augenbraue und schmolz. »Ich dachte nur, als ich sie so sah …«

»Vergessen Sie’s.«

Collingwood filmte unterdessen von mehreren Seiten den in der Luft schwebenden Eisblock. Dann blickte er von seiner Videokamera auf und sagte genau zwei Wörter:

»Ein Blatt.«

Arsenault nahm den Eisblock genauer in Augenschein. »Ein Ahornblatt, wie mir scheint. Jedenfalls ein Stück davon.«

Die Wälder des Nordens in der näheren Umgebung bestehen vor allem aus Kiefern, Pappeln und Birken.

»Segelt jemand von euch hier in der Gegend?«, erkundigte sich Cardinal.

Arsenault meldete sich. »Meine Frau und ich waren vergangenen August zu einem Picknick hier in der Gegend. Wir können das noch überprüfen, aber wenn ich mich recht erinnere, ist die ganze kleine Insel mit Strauchkiefern und Fichten bewachsen. Und natürlich jede Menge Birken.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Cardinal bei. »Was wiederum für die Annahme spricht, dass sich der Mord irgendwo anders ereignet hat.«

Delorme rief wieder die Gerichtsmedizin an und teilte mit, der Transport beginne jetzt, die Leiche werde voraussichtlich in vier Stunden eintreffen. Dann bewegten sie die sterblichen Überreste mitsamt dem Eis den verschneiten Hang zum Ufer hinunter, wo der Lkw bereitstand.

Sterbliche Überreste, dachte Cardinal. Der Ausdruck passte nicht so richtig.