21

Vielleicht lag es an seiner katholischen Erziehung, dass die Vorstellung, in der Madonna Road zu wohnen, immer eine Saite in Cardinal anschlug. Der Name hatte für ihn Anklänge an Gnade, Reinheit und Liebe. Die Madonna war die Mutter, die den Kummer über die Ermordung ihres Sohnes erduldet hatte, die Frau, die leiblich in den Himmel aufgenommen worden war, die Heilige, die für Sünder Fürsprache bei einem Gott hielt, der, seien wir ehrlich, ein ziemlich harter Knochen sein konnte.

Die Aura dieses Namens war nun beschmutzt – einem Popstar hatte es gefallen, Gnade durch Kommerz, Reinheit durch schrille Aufmachung und Liebe durch Sex-Appeal zu ersetzen –, doch Madonna Road war immer noch eine stille Gegend, eine schmale, im Bogen am westlichen Ufer des Trout Lake verlaufende Straße, wo Birken im Frost leise ächzten und Schneeklumpen lautlos von den Zweigen fielen.

Cardinal ging schon lange nicht mehr zur Messe, doch unabhängig davon war ihm die Gewohnheit geblieben, ständig sein Gewissen zu erforschen und sich selbst Vorwürfe zu machen. Er war sich selbst gegenüber ehrlich genug, zuzugeben, dass ihn diese Gewohnheit die meiste Zeit nur neurotisch, aber nicht gut machte. Auch jetzt hatte er Grund, so zu denken: Sein kleines Haus an der Madonna Road war so gemütlich wie ein Gefrierfach. »Winterfestes Cottage mit Seeblick«, so stand es in der Immobilienanzeige. Doch wenn die Temperaturen in den Keller gingen, konnte man das Haus nur dadurch warm halten, dass man gleichzeitig den Kamin und den Ofen mit ordentlichem Zug betrieb. Cardinal trug gefütterte Kordsamthosen und ein Flanellhemd, darunter lange Unterwäsche. Weil ihn immer noch fror, hatte er sich in einen Frotteemantel gehüllt. Obwohl er dampfend heißen Kaffee trank, blieben seine Hände klamm. Er hatte zehn Minuten gebraucht, um aus den gefrorenen Leitungen genügend Wasser für den Teekessel zu erhalten. An diesem weniger begünstigten Stück der Madonna Road blies der Wind vom See herüber und pfiff durch die Fenster, ohne dass die teure dreifache Verglasung irgendetwas daran geändert hätte.

Die gefrorene Oberfläche des Sees war so weiß, dass Cardinals Augen schon tränten, wenn er nur hinsah. Zum Schutz zog er die Vorhänge zu. Irgendwo dort draußen am anderen Ufer des gefrorenen Sees, vielleicht auch mitten in der Stadt, ging der Mörder seinen Alltagsgeschäften nach. Vielleicht trank er auch gerade eine Tasse Kaffee, während Katie Pine schon unter den Toten weilte und ihre Mutter um sie trauerte; Billy LaBelle lag, Gott weiß wo, verscharrt, und Todd Curry lag in Toronto auf dem Obduktionstisch der Gerichtsmedizin. Der Mörder konnte sich auch Platten anhören – von Anne Murray zum Beispiel – oder mit der Kamera über der Schulter durch den blendenden Schnee wandern. Cardinal nahm sich vor, einmal den Fotoklub zu überprüfen, wenn es so was hier gab. Wenn der Mörder Fotos von Katie Pine gemacht hatte, konnte er sie schwerlich in einem Drugstore zur Entwicklung gegeben haben, er musste sie zu Hause selbst entwickeln. So ein Hobbyfotograf konnte Mitglied eines Fotoklubs sein.

Der Gedanke an Kameras brachte ihn auf Catherine. Zu den schlimmen Folgen ihrer Krankheit gehörte auch, dass sie aller kreativen Energie beraubt wurde. Ging es ihr gut, war das Haus voller Fotografien in verschiedenen Stadien der Entwicklung. Sie kam und ging, Kameras über beiden Schultern, und war Feuer und Flamme für ihr Projekt. Brach aber die Krankheit wieder aus, ließ sie als Erstes die Kameras liegen, so wie man auf einem sinkenden Schiff zuerst unnützen Ballast über Bord wirft. Er hatte sie vor dem Frühstück angerufen, und sie hatte ihm einen guten Eindruck gemacht. Er erlaubte sich sogar den Gedanken, dass sie bald wieder nach Hause entlassen werden könne.

Aber jetzt wartete das Telefon mit dem unbarmherzigen Schweigen des Henkers darauf, dass er zum Hörer griff und eine bestimmte Nummer wählte. Nach einer langen schlaflosen Nacht hatte sich Cardinal dazu entschlossen, an diesem Morgen Kelly anzurufen und ihr mitzuteilen, dass sie sich für das nächste Semester eine andere, billigere Hochschule suchen müsse; ihre Tage in Yale seien gezählt. Sie hatte ihren Bachelor an der York University in Toronto gemacht, und es gab keinen Grund, warum sie nicht dorthin zurückkehren konnte. Seit dem Augenblick, wo er das Geld an sich genommen hatte, war das Gefühl der Schuld immer tiefer in ihn gedrungen. Es war nicht so sehr die Aussicht, von Delorme überführt zu werden – diese Wahrscheinlichkeit war eher gering. Aber Monat für Monat, Jahr für Jahr hatte sich die Säure der Schuld durch den Panzer des Verleugnens gefressen, und nun hielt er es nicht länger aus.

Was ihn am meisten plagte, war das Bewusstsein, für Catherine nicht der Ehemann, für Kelly nicht der Vater zu sein, den sie liebten. Beide lebten in der falschen Vorstellung, er sei ein untadeliger Mensch. Auch wenn durch sein Vergehen niemand Schaden genommen hatte – wer würde sich schon daran stoßen, dass Cardinal in einem Augenblick der Schwäche einen Kriminellen um eine große Summe Geldes erleichtert hatte? –, stand doch fest, dass er nun schon seit Jahren eine unbekannte Größe, ein völliger Fremder für seine Nächsten war. Kelly liebte und achtete den Vater und Polizisten, der er früher einmal gewesen war. Die Einsamkeit, nicht verstanden zu werden, war unerträglich geworden.

Und so hatte er sich dazu durchgerungen, Kelly anzurufen und ihr zu erklären, was er getan hatte, und dass er es sich nicht länger leisten könne, sie in Yale studieren zu lassen. Mein Gott, das Mädchen hatte einen IQ von 140, eigentlich müsste sie von selbst darauf kommen. Wie kam ein Kripobeamter aus einer kanadischen Kleinstadt dazu, seine Tochter zum Studium nach Yale zu schicken? Hatte sie ihm wirklich die Geschichte abgenommen, wonach das Geld aus dem lange zurückliegenden Verkauf des Hauses seiner Großeltern stammte? Hatte es Catherine geglaubt? Selbstbetrug musste in der Familie liegen. Na schön, er würde ihr sagen, sie solle ihr Semester zu Ende bringen, dann würde er, nachdem er die Kleinigkeit, den Mörder von Katie Pine, Billy LaBelle und Todd Curry zu überführen, erledigt hatte, vor Dyson und dem Polizeichef ein Geständnis ablegen. Seinen Job bei der Polizei würde er verlieren, aber eine Gefängnisstrafe war unwahrscheinlich.

Er nahm den Hörer ab und wählte Kellys Nummer in den Vereinigten Staaten. Eine ihrer Mitbewohnerinnen hob ab. Cleo? Barbara? Er konnte sie nicht auseinanderhalten. Sie rief Kelly herbei.

»Hi, Daddy.« Seit wann nennt sie mich wieder so?, fragte sich Cardinal. Eine kurze Zeit lang war er ihr »Pop« gewesen, was Cardinal nur schwer ertragen hatte, dann war sie zum üblichen »Dad« zurückgekehrt, aber seit kurzem hieß er wieder »Daddy«. Wahrscheinlich war es der amerikanische Einfluss, dachte er, so wie sie andere sprachliche Eigentümlichkeiten übernommen hatte. Aber das war eine Marotte, die ihm gefiel.

»Hi, Kelly. Was macht das Studium?« So sachlich, so knapp. Warum konnte er sie nicht »Schatz« oder »Prinzessin« nennen wie die Väter in Fernsehserien? Warum kann ich nicht sagen, dass das Haus ohne sie kälter ist? Ohne Catherine? Warum sage ich ihr nicht, dass dieses kleine Cottage plötzlich die Ausmaße eines Flughafens angenommen hat?

»Ich arbeite an einem Riesenprojekt für meine Malklasse. Dale hat mich davon überzeugt, dass mir das Großformat am besten liegt, nicht die mickrigen Formate, an denen ich bisher geklebt habe. Ich fühle mich befreit. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut mir das tut. Meine Malerei ist hundertmal besser.«

»Das klingt gut, Kelly. Klingt, als hättest du Spaß daran.« Das waren seine Worte. Was er dachte, war: Mein Gott, wie gern höre ich, dass du glücklich bist, dass du dich entwickelst und dass dein Leben so erfüllt ist.

Kelly berichtete weiter, sie habe erst jetzt wirklich gelernt, wie man mit Farbe umgehe. Normalerweise hätte sich Cardinal an der Begeisterung seiner Tochter geweidet. In der letzten schlaflosen Nacht hatte er in der Tür ihres Schlafzimmers gestanden und das schmale Bett betrachtet, in dem sie eine Woche lang geschlafen hatte. Dann hatte er das Taschenbuch aufgehoben, in dem sie geschmökert hatte, nur um etwas zu berühren, was sie in der Hand gehabt hatte.

Auch jetzt stand er in der Tür, das schnurlose Telefon unters Kinn geklemmt. Das Zimmer war in einem hübschen hellen Gelbton gestrichen und hatte ein großes Fenster mit Blick auf ein Birkenwäldchen, doch eigentlich war es nie Kellys Zimmer gewesen. Cardinal und Catherine waren erst in die Madonna Road gezogen, nachdem Kelly ihr Studium begonnen hatte, das Zimmer benutzte sie nur, wenn sie zu Hause zu Besuch war. Ein Fernsehvater hätte ihr gesagt, er habe ihr Taschenbuch berührt, nur um etwas zu haben, was sie in der Hand gehalten hatte, doch Cardinal hätte so etwas nie über die Lippen gebracht.

»Da wäre noch etwas, Daddy. Ein paar aus unserer Gruppe planen, nächste Woche nach New York zu fahren. Es ist die letzte Woche der Francis-Bacon-Ausstellung, und das sollte ich mir wirklich ansehen. Nun habe ich aber die Kosten für die Reise nicht eingeplant. Es geht um rund zweihundert Dollar, wenn man Benzin, Essen und dergleichen zusammenrechnet.«

»Zweihundert US-Dollar?«

»Hm, ja. Das ist zu viel, oder?«

»Tja, ich weiß nicht. Wie wichtig ist es denn, Kelly?«

»Ich würde es nicht machen, wenn du denkst, dass es zu teuer ist. Tut mir leid, ich hätte gar nicht erst davon anfangen sollen.«

»Nein, nein. Das geht schon in Ordnung. Wenn es wichtig für dich ist.«

»Ich weiß, dass ich dich ein Vermögen koste. Ich versuche ja auch zu sparen, wo ich nur kann, Daddy. Du würdest gar nicht glauben, was ich alles nicht mitmache.«

»Ich weiß. Schon gut. Ich überweise dir heute Nachmittag das Geld auf dein Konto.«

»Bist du auch wirklich einverstanden?«

»Wirklich. Aber nächstes Jahr muss es anders werden, Kelly.«

»Oh, nächstes Jahr wird es mit Sicherheit anders. Dann bin ich ja mit meinen Seminaren fertig und habe nur noch meine Abschlussarbeit vor mir: ein oder zwei Bilder für die Gruppenausstellung, je nachdem, was Dale von mir erwartet. Nächstes Jahr kann ich einen Teilzeitjob annehmen. Es tut mir leid, aber alles ist so teuer, Daddy. Manchmal frage ich mich, wie du das alles schaffst. Ich hoffe, du weißt, wie dankbar ich dir bin.«

»Mach dir darüber keine Gedanken.«

»Hoffentlich werde ich eines Tages eine Stange Geld mit meiner Malerei verdienen, dann kann ich dir einiges zurückzahlen.«

»Ich bitte dich, Kelly, denk gar nicht an so was.« Das Telefon war feucht von Cardinals schwitziger Hand, das Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf. Kellys Dankbarkeit hatte seinen Entschluss wieder zunichte gemacht. Tief in seinem Innern war eine Tür ins Schloss gefallen, ein Riegel war vorgeschoben und ein lange nicht mehr benutztes Schild ins Fenster gestellt worden: Bis auf weiteres geschlossen.

»Du klingst ein bisschen angespannt, Daddy. Wächst dir die Arbeit über den Kopf?«

»Die Presse hat sich auf uns eingeschossen. Ich habe den Eindruck, die geben erst Ruhe, wenn wir die Luftwaffe um Unterstützung bitten. Ich komme bei der Ermittlung nicht so voran, wie ich eigentlich sollte.«

»Du schaffst das schon.«

Sie beschlossen das Gespräch mit ein paar Worten über das Wetter: Bei ihr war es sonnig und warm, gemessen in Fahrenheit; bei ihm war es beißend kalt, gemessen in Celsius unter null. Cardinal warf das Telefon aufs Sofa. Er stand bewegungslos mitten im Wohnzimmer wie ein Mann, der gerade eine schreckliche Nachricht vernommen hatte. Von draußen kam ein Geräusch, von dem er erst nach ein paar Augenblicken wusste, was es war. Dann lief er durch die Küche, riss die Hintertür auf und schrie: »Hau ab, du Mistvieh!«

Er sah noch, wie das dicke Hinterteil des Waschbären unter dem Haus verschwand. Normalerweise hielten Waschbären um diese Jahreszeit Winterschlaf, doch der Fußboden von Cardinals Haus strahlte Wärme ab, genug Wärme, um das Tier glauben zu machen, der Winter sei zu Ende. Bei Cardinals erster Begegnung mit dem Waschbären hielt dieser gerade einen halben Apfel zwischen den schwarzen Vorderpfoten und schaute ihn mit seinem Clownsgesicht an. Nun kam er zwei-, dreimal in der Woche, warf die Mülleimer um und suchte im Abfall nach Essbarem.

Vor Kälte zitternd, sammelte Cardinal Fetzen von Plastikhüllen, leere Gebäckkartons und abgenagte Hühnerknochen zusammen, die verstreut auf dem Garagenboden lagen. Er kam rechtzeitig zurück ins Haus, um das Telefon klingeln zu hören.

Das Telefon klingelte noch dreimal, ehe er sich erinnerte, wohin er den Apparat gepfeffert hatte.

Er fand ihn gerade noch rechtzeitig unter den Kissen, ehe Delorme am anderen Ende auflegte.

»Oh«, sagte sie, »ich dachte, Sie seien schon unterwegs.«

»Ich wollte gerade gehen. Was gibt es denn?«

»Wir haben das Tonband von dem CBC-Menschen zurückbekommen. Hat er die digitalisierte, die sprachverbesserte Fassung geschickt?« Delormes fragende, frankokanadische Intonation war Cardinals Ohren noch nie so willkommen gewesen.

»Haben Sie es denn noch nicht angehört?«

»Nein, es ist ja gerade erst reingekommen.«

»Ich bin gleich da.«