27

 

Die ganze übrige Nacht hindurch fiel bis in die frühen Morgenstunden der Regen weiter in großen, schweren Tropfen, die jedes Mal mit einem hörbaren Schlag auf eine Oberfläche fielen. »Fallen« war vielleicht nicht das richtige Wort. Der Regen warf sich mit voller Wucht gegen jeden Wagen, jedes Haus und jede Straße. Es gab einen stechenden Schmerz, wo er die Haut traf, und man konnte die Eiskristalle in jedem Tropfen erkennen und zusehen, wie sie sich augenblicklich auf jede vereiste Windschutzscheibe und jeden spiegelglatten Bürgersteig aufpfropften.

Salzstreufahrzeuge waren überall im Einsatz, bis jede Straße, die keine schwarze Glasfläche war, wie Zunder unter den Füßen knirschte. An den wenigen Autos, die im Schneckentempo die Straßen der Stadt durchstreiften, rasselten die Schneeketten. Die Stromkabel hingen unter dem Gewicht des Eises immer tiefer durch. Die Highways entlang standen die Strommasten grotesk schief.

Bis neun Uhr morgens war die ganze Stadt ohne Elektrizität. Polizei- und Feuerwehrwache hatten Notstromgeneratoren, doch der im Polizeipräsidium schaltete sich immer wieder ab, und ein paar überarbeitete Mechaniker kamen immer wieder vom Dach und murmelten Flüche auf Französisch.

Um zehn, elf herum klarte der Himmel auf, und die Sonne blendete. Eine Kaltfront hatte endlich die Warmfront verdrängt, und während der Regen aufhörte, stürzten die Temperaturen auf bis zu zwanzig Grad minus. Ohne Strom, ohne Heizung waren die Bewohner von Algonquin Bay jetzt ernsthaft in Gefahr. Die Schulen wurden geschlossen und zu improvisierten Schlafsälen umfunktioniert.

Zwei Menschen starben. Ein Mann, der sein Abendessen im Haus gegrillt hatte, war an Kohlenmonoxid erstickt. Jemand mand anders starb in einem Feuer, das sich in der Christie Street ausbreitete, als ein Kerosinöfchen umgestoßen wurde.

Im Polizeipräsidium wurde jeder Urlaub gestrichen. Alle Beamten wurden mobilisiert, um von Haus zu Haus zu gehen und Kinder sowie alte Menschen in die Schulen zu evakuieren. McLeods Protestschreie waren von Chouinards Büro im dritten Stock bis zum Fitness-Raum im Keller zu hören. »Ich bin Ermittler, verflucht noch mal, kein Boy Scout. Was kommt als Nächstes – vielleicht Katzen von Bäumen runterholen?«

Cardinal erwachte spät. Zuerst dachte er, dass ein großer Hund auf seiner Brust schlief, doch dann merkte er, dass der Tod seines Vaters auf ihm lastete. Er rief Chouinard an und teilte ihm mit, dass sein Vater gestorben sei. Chouinard war mitfühlend und sagte, er solle sich so viel Zeit nehmen, wie er brauche; die Familie ginge jetzt vor. Als ob das Cardinal entgangen wäre.

Also beschloss er, zu Hause zu bleiben. Er rief das Bestattungsinstitut an und traf die ersten Vorkehrungen. Dann rief er seinen Bruder in British Columbia an. Catherine benachrichtigte Kelly.

Die Walcotts hatten es irgendwie geschafft, die Ereignisse der letzten Nacht zu verschlafen, selbst das Kommen des Krankenwagens. Kaum hatte Catherine es ihnen gesagt, zückten sie ihre Bücher und widmeten sich der Lektüre. Die anderen waren freundlich, besonders Mrs. Potipher, und selbst die kleinen Mädchen wahrten den angemessenen Ernst. Doch schon nach einer Stunde bekam Cardinal das Gefühl, dass er in diesem Zimmer nur Totenwache hielt und sich anderswo nützlicher machen konnte. Seine Gedanken wanderten zu Paul Laroche und dem Aktenberg, der an diesem Morgen mit dem Hubschrauber eingeflogen werden sollte.

Als Cardinal das Büro betrat, begrüßte Delorme ihn mit einer innigen Umarmung. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Wenn ich irgendwie helfen kann, müssen Sie es mir sagen.«

Ihr Mitgefühl trieb Cardinal die Tränen in die Augen, aber er brachte ein Nicken zuwege.

Chouinard war überrascht, Cardinal zu sehen, doch wo er schon mal da war, wollte er ihn und Delorme auch zum Einsatz bringen. Er versuchte, sie für das Haus-zu-Haus-Kommando mit einzuplanen, doch Cardinal wollte nichts davon hören. Er nahm Chouinard mit in das Konferenzzimmer, das sie für die Akten in Beschlag genommen hatten. Die Ontario Provincial Police hatte fünf Aktenkisten aus den Ermittlungen des CAT-Teams zu den FLQ-Entführungen herübergeflogen. Jetzt waren die Kisten wie offene Schubladen im Konferenzzimmer aufgereiht.

»Okay, Sie haben also einen Berg Papier durchzuarbeiten. Tun Sie es so schnell Sie können, und dann brauche ich Sie wie alle anderen auf der Straße.«

R. J. Kendall steckte den Kopf herein. »Ich brauche jetzt jeden unten. Wieso sind Sie noch hier?«

Chouinard schritt ein. »Öm, Chief – Sie wissen es vielleicht noch nicht, aber Cardinals Vater ist letzte Nacht gestorben.«

R. J. sah Chouinard an, als wäre er gerade mit einem Raumschiff gelandet. Dann sah er wieder Cardinal an. »Ist das wahr?«

»Ja, Sir.«

»Mein Beileid«, sagte R. J., ohne welches zu vermitteln. »Aber wenn Sie nicht nach Hause gehen, möchte ich, dass Sie runterkommen. Wir haben hier einen ausgewachsenen Notstand.« Dann schien er ein wenig nachgiebiger zu werden. »Tut mir leid, das mit Ihrem alten Herrn«, sagte er und legte Cardinal eine Hand auf die Schulter. »Nehmen Sie sich so viele Tage frei, wie Sie brauchen. Seinen Vater zu verlieren, das ist ein echter Schlag.«

»Danke, Chief. Im Moment wäre es mir ebenso lieb, an diesen Akten weiterzuarbeiten.«

»In Ordnung. Arbeiten Sie, woran Sie wollen. Aber jetzt will ich, dass die Truppe vollständig antritt«, sagte Kendall und ging hinaus.

»Jemand von den Elektrizitätswerken Ontario ist da, um uns zu sagen, was Sache ist«, erklärte Chouinard. »Ist gar nicht mal so schlimm. Wenigstens gibt es Donuts.«

»Wieso immer Donuts?«, fragte Delorme auf ihrem Weg nach unten. »Seh ich so aus, als würde ich Donuts essen? Versprechen Sie mir, dass Sie mich erschießen, wenn es je dazu kommt.«

Cardinal holte sich einen schwarzen Kaffee und pflanzte sich so nah wie möglich am Ausgang hin.

Der Mann von den Elektrizitätswerken war Paul Stancek, ein früherer Klassenkamerad an der Highschool. Das Einzige, woran sich Cardinal noch erinnerte, war, dass Stancek ihren Geschichtslehrer, Mr. Elkin, perfekt nachahmen konnte, inklusive australischem Akzent. Das war zu der Zeit, als Stancek – ebenso wie er selbst vermutlich – noch eine dünne Bohnenstange ohne den geringsten Anflug von pfirsichfarbenem Flaum auf den Wangen war. Jetzt war er über eins achtzig mit einem langen Schnauzbart, der einem Western-Sheriff Ehre gemacht hätte.

»Ich weiß, Sie haben zu tun«, sagte Stancek. »Also komme ich sofort zur Sache. Das Stromnetz von Ontario ist so ausgelegt, dass es alles übersteht außer einem Jahrhundertereignis. In Algonquin Bay ist im Moment dieser Eisregen genau dieses Ereignis.

In Algonquin Bay speist sich der Strom aus zwei separaten Quellen. Damit die ganze Stadt dunkel wird, müssen diese beiden Quellen ausfallen. Sie kennen alle die Masten, die von Osten hereinführen. Sie kommen aus den Bergen, den Highway 17 entlang, etwa oberhalb Corbeil. Sie bringen den Strom aus dem Ottawa River und dem Mattawa River rein.

Die andere Quelle liegt oben in der Nähe von Sudbury. Das sind die Masten, die aus der entgegengesetzten Richtung an der Umgehungsstraße bis in die Stadt führen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese beiden Netze öfter als einmal alle hundert Jahre gleichzeitig zusammenbrechen, ist gleich null.

Also willkommen im Jahr einhundert. Normalerweise können wir bei starkem Eisregen einfach die Amperezahl in den Kabeln hochsetzen. Das heizt sie genügend auf, um das Eis zu schmelzen. Aber diesmal funktioniert das nicht. Diese Kabel sind dreimal so schwer belastet wie vorgesehen, und einige von ihnen werden reißen. Hier ein paar Richtlinien für den Fall, dass Sie gerade in der Nähe sind, wenn eins runterkommt.«

McLeod brüllte so laut, dass sie alle zusammenzuckten: »Wieso schalten Sie die verdammten Dinger nicht einfach so lange ab, bis es vorbei ist? Der Strom ist sowieso jedes Mal nach zehn Minuten wieder weg.«

Stancek blinzelte nicht einmal. »Dafür, dass wir die wichtigsten Überlandleitungen nicht abschalten, gibt es drei Gründe. Erstens, weil wir, solange sie nicht unter Strom sind, nicht sagen können, wo die Leitungen unterbrochen sind, und wir sie somit nicht reparieren können. Zweitens, weil es weitaus gefährlicher wäre, den Strom wieder einzuschalten, als ihn einfach weiterfließen zu lassen. Das könnte Menschen töten, von denen man nicht einmal wusste, dass sie in Gefahr sind. Und drittens: So halten wir es eben.«

»Nicht übel«, sagte McLeod. »An Ihnen ist ein Polizist verloren gegangen.«

Stancek fuhr fort. »Jeder Mast trägt sechs Kabel. Jedes Kabel transportiert vierundvierzigtausend Volt. Also: vierundvierzigtausend Volt. Ja, das reicht, um Sie zu töten. Es reicht, um Sie zehnmal zu töten.«

Cardinal dachte an einen der ersten Unfälle, die er bearbeitet hatte, als er nach Algonquin Bay zurückkam: Ein Teenager war bei einer Art Mutprobe auf einen Transformator an der Relaisstation geklettert. Bis die Rettungsdienste an Ort und Stelle waren, war der Junge nur noch Asche. Als sie ihn von dem Metall losbrachen, war sein verkohlter Kopf heruntergefallen und zu Cardinals Füßen gerollt.

»Vierundvierzigtausend Volt«, sagte Stancek erneut. »Aber selbst wenn eines dieser Kabel nur zwanzig Meter von Ihnen entfernt runterkommt, muss das nicht heißen, dass Sie in jedem Fall erledigt sind. Nicht, wenn Sie wissen, was Sie tun müssen. Also hören Sie gut zu.

Wenn ein Kabel auf Ihr Auto fällt, rühren Sie sich nicht. Bleiben Sie einfach im Wagen sitzen, außer Sie haben einen noch triftigeren Grund – ein Feuer zum Beispiel – um auszusteigen. Falls Sie rausmüssen, steigen Sie nicht aus, sondern springen Sie aus dem Wagen. Was Sie umbringt, ist der Unterschied zwischen den Volt am Wagen und am Boden. Falls Sie schon lange von einer leitenden Funktion geträumt haben, machen Sie Überstunden, reißen Sie sich meinetwegen den Arsch auf, aber aus einem Auto unter Hochspannung zu steigen, ist mit Sicherheit der falsche Weg.

Ein wahrscheinlicheres Szenario? Ein Kabel kommt irgendwo in der Nähe runter.« Stancek ging zu einer Stelltafel und entkorkte einen Marker. Während er sprach, erschienen rote Kreise und Pfeile auf dem Papier. »In diesem Fall gibt es zwei Dinge, die Sie verstehen müssen. Das erste ist die Bodenstrahlung. Wie jede Stromquelle nimmt die Spannung aus einem Stromkabel mit der Entfernung ab. Und wenn die Erde der Leiter ist, nimmt sie sogar schnell ab. Anders gesagt, wenn ein Kabel zwei Meter von einem Menschen entfernt runtergeht, wird er wahrscheinlich getötet. Jemand anders, der fünfzehn Meter weg ist, bleibt möglicherweise völlig unversehrt.

Also gehen Sie natürlich schnell weg, richtig? Falsch. Haben Sie das mitbekommen? Das war, wie man’s nicht machen soll. Sie gehen nicht weg. Sie bleiben auf dem Fleck stehen. Und merken Sie sich, was ich Ihnen jetzt sagen werde, denn das hat schon so manchen Streckenarbeiter vor einem frühen Grab bewahrt: Falls ein Kabel irgendwo in Ihrer Nähe fällt, halten Sie Ihre Füße zusammen. Machen Sie keinen einzigen Schritt in irgendeine Richtung. Es ist der Spannungsunterschied zwischen Punkt A und Punkt B, der Sie umbringt. Wenn Sie sich in der Nähe eines Kabels befinden, das vierundvierzigtausend Volt in den Boden jagt, kann schon ein Abstand von einem halben Meter tödlich sein. Das ist das Geheimnis der Bodenstrahlung. Also halten Sie die Füße zusammen.

Wenn niemand Ihnen zu Hilfe kommt, ist die einzige Chance, von einem Kabel unter Hochspannung wegzukommen, dass Sie immer nur einen Fuß zur gleichen Zeit auf dem Boden haben. Auf diese Weise leiten Sie keinen Strom durch Ihren Körper. Aber wir haben es hier mit einem Eisregen zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie wegrennen können, ohne hinzufallen, nicht auf allen vieren zu landen und als gegrillter Cop zu enden, ist äußerst gering. Daher ist mein bester Rat: Bleiben Sie, wo Sie sind, halten Sie die Füße zusammen und machen Sie keinen Schritt.

Und noch etwas müssen Sie wissen, bevor ich Fragen beantworte. Diese Stromkabel haben eine Höchstgrenze. Wenn eins in Ihrer Nähe runterkommt und Sie auf einmal von blauen Blitzen umzingelt sind, müssen Sie wissen, dass das nur drei Mal hintereinander passieren wird. Die Sicherungen sind so eingestellt, dass sie beim dritten Kurzschluss nicht wieder neu starten. Sie bleiben tot.«

Stancek hielt sich an sein Versprechen und fasste sich kurz. Als sie zu den Fragen kamen, gingen Cardinal und Delorme wieder nach oben. Cardinal hatte eine Nachricht von der Gerichtsmedizin in Toronto auf Band. Er rief vom Konferenzzimmer aus zurück und schaltete auf Freisprechanlage.

Len Weisman brachte es in der ihm eigenen verständnisvollen Art auf den Punkt: »Sie haben nichts, mein Freund. Am Auto? Nichts. Kein Haar, keine Faser, nichts. Das Wasser hat alles weggespült.“

»Das kommt einem schlicht unmöglich vor«, sagte Delorme. »Man sollte meinen, einfach nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit …«

»Vergessen Sie das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Danach dürfte niemand je im Lotto gewinnen. Danach dürfte auch nie jemand vom Blitz getroffen werden. Es gibt in diesem Geschäft eine winzige Kleinigkeit – man nennt sie Glück, und Ihr Mörder hat es ganz auf seiner Seite.«

 

Cardinal und Delorme sortierten die Akten in vorläufige Stapel – und blätterten die durch, die am ehesten Aufschluss über Grenelle versprachen. »Ich bin bei der Sache nicht sonderlich optimistisch«, sagte Delorme, »so, wie’s bisher läuft.«

Sie hatten eine Fundgrube an Informantenberichten vor sich, doch Grenelle hatte nicht für die Polizei, sondern für die CIA – oder zumindest Miles Shackleys persönliche Interpretation von der CIA – gearbeitet, und es gab keinen einzigen Bericht von ihm. Dutzende von Berichten erwähnten ihn als »ebenfalls anwesend«, einfach nur einer in einer Namensliste, mit der Information, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gewesen war.

»So kommen wir keinen Schritt weiter«, sagte Delorme. »Keiner dieser Berichte stuft Grenelle/Laroche als Spitzel oder auch nur als gefährlich ein – er ist immer nur jemand, der bei den Treffen war.«

»Hören Sie«, sagte Cardinal, »falls Sie mir sagen wollen, dass ich keine Ahnung habe, wonach ich suche, machen Sie sich keine Gedanken. Wir wissen vielleicht nicht, wonach wir suchen, aber wir werden es wissen, sobald wir es finden. Können Sie damit leben, oder wollen Sie lieber von Tür zu Tür gehen und kleinen alten Damen dabei helfen, ihre Wellensittiche vor dem Eisregen zu retten?«

Delormes braune Augen mieden seinen Blick, und Cardinal bereute seine launische Bemerkung.

Sie sah ihn wieder an und sagte leise: »Vielleicht sollten Sie einfach nach Hause gehen, John. Ihr Vater ist gestorben. Das können Sie nicht ignorieren.«

»Ich ignoriere es auch nicht. Ich hab nur ein Haus voll mit Flüchtlingen, und mir ist es lieber, mit Ihnen hier zu sein.« Er merkte, wie er ein wenig rot anlief, und beugte sich erneut über die Akten.

Glatt achtzig Prozent des Papierbergs vor ihnen war bedeutungslos, und das Übrige bestand größtenteils aus denselben Informationen, die unter verschiedenen Stichworten in immer neuen Ausfertigungen erschienen.

Ihr Interesse erwachte wieder, als Cardinal eine Akte mit der Aufschrift 5367 Reed Street fand, der Adresse, an der Duquette gefangen gehalten und ermordet worden war. Er zog einen Grundbuchauszug heraus. Es waren sogar ein Grundriss und ein Stapel Fotos von der Polizeirazzia dabei.

»Das ist interessant«, sagte Delorme. Sie hielt den verblassten Durchschlag eines Mietvertrags in der Hand. »Hundert im Monat. Mannomann, wie sich die Zeiten ändern. Und sehen Sie sich mal die Unterschrift an.«

Cardinal nahm den Durchschlag. An der Stelle für den derzeitigen Wohnsitz hatte der Mieter eine Straße in St-Antoine angegeben. Beruf: Taxifahrer, Taxiunternehmen Lasalle. Die Unterschrift lautete Daniel Lemoyne.

»Lemoyne«, sagte Cardinal. »Stimmt. Sie haben ein Taxi benutzt, um Duquette zu entführen, aber ich glaube, es war ein anderes Unternehmen.«

Richtige Aufregung stellte sich bei ihnen ein, als Cardinal die Akten mit der Aufschrift Coquette fand – Quelle Nummer 16790/B war Simones offizielle Bezeichnung gewesen. Es war ganz klar, dass sie für das CAT-Team von unschätzbarem Wert gewesen war; ihre Berichte waren außerordentlich detailliert. In Simone Rouaults beinahe romanhaften Berichten nahm Grenelle allmählich reale Gestalt an. Sie beschrieb seine Kleidung (weitaus modischer als bei den anderen felquistes), seine Art (leidenschaftlich, egoistisch, ungezügelt). Bei einer Versammlung schlug er eine Autobombe im Rathaus vor, bei einer anderen eine Serie von Nagelbomben in der Rushhour. Und dann kam der Taucherangriff im Hafengebiet. Gre nelle hatte vorgeschlagen, einen amerikanischen Manager von Pepsi-Cola zu entführen. Dann, im Juli, einen israelischen Botschafter.

Als Cardinal wieder auf die Uhr schaute, waren zwei Stunden vergangen. Delorme warf ihre letzte Akte in die »Erledigt«-Kiste.

»Da ist nichts«, sagte Cardinal.

Delorme streckte gähnend die Glieder. »So viel Papier und kein einziges brauchbares Dokument dabei. Das grenzt schon ans Übernatürliche.«

»Es ist also nichts in den Akten. Na schön. Aber Shackley ist hier raufgekommen, um Paul Laroche zu erpressen. Er verabredet ein Treffen, und Laroche hat genug Angst, um ihn umzubringen.«

»Haben wir etwas, um Laroche mit Bressard in Verbindung zu bringen?«

»Laroche ist Jäger – er dürfte Bressard eigentlich kennen. Und jeder hier erinnert sich an Bressards Prozess. Zum ersten Mal gaben die Zeitungen damals zu, dass es in Algonquin Bay so etwas wie eine Mafia geben könnte. Laroche brauchte sich nur als Petrucci auszugeben – nicht weiter schwer, da er sich immer mit schriftlichen Botschaften verständigte.«

»Was mir mehr zu schaffen macht«, sagte Delorme, ,,ist, dass Shackley eigentlich etwas Überzeugenderes in der Hand haben musste als dieses Gruppenfoto, um Laroche zu drohen. Es musste gut sein.«

»Stimmt. Es muss etwas gewesen sein, womit er Laroche ganz klar enttarnt hätte. Er muss es bei sich gehabt haben, um es Laroche zu zeigen. Und ich wünschte, wir hätten es in diesem Moment in Händen.«

»Aber Sie wissen, was damit passiert ist«, sagte Delorme. »Was es auch gewesen ist, Laroche hat es inzwischen längst zu Asche verbrannt.«

»Ich weiß.«

»Wir haben die ganze Hütte unter die Lupe genommen. Da war nichts, John.«

»Ich weiß. Und ich hab auch in Shackleys Wohnung nichts weiter entdeckt. Vermutlich, weil er es hierher mitgebracht hat. Um es einzusetzen. Es war seine wichtigste Waffe.«

»Wahrscheinlich hatte er es im Wagen versteckt.«

»Genau. Der Wagen.«

»Den die Jungs von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt haben. Auch die Gerichtsmedizin. Da ist nichts. Nichts mehr.«

»Ich weiß.«

»Sie wissen, was das heißt, oder?«

Cardinal schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht akzeptieren. Wir brauchen Fingerabdrücke, wir brauchen Augenzeugen, wir brauchen DNA. Es gibt keine Zeugen, weder für Cates noch für Shackley. Wir haben kein Haar, keine Abdrücke, keine DNA. Weder im Wagen noch in Shackleys Hütte. Das Einzige, was wir haben, ist das Blut aus Dr. Cates’ Praxis, das mit dem Blut im Wagen übereinstimmt.«

»Wenn wir die DNA zurückbekommen, können wir es vielleicht Laroche zuordnen.«

»Das können wir nur, wenn er uns freiwillig eine Blutprobe überlässt – und das wird er nicht – oder wenn wir eine richterliche Verfügung kriegen. Auch nicht gerade wahrscheinlich.« Cardinal schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das darf einfach nicht wahr sein. Der Bursche bringt vier Menschen um, und er kommt ungestraft davon.«

»Es ist eben so, wie Sie gesagt haben. Talent, Ausdauer und Glück. Wir haben einfach kein Glück gehabt. Dieses Mal nicht.«

»Ich weiß.« Cardinal klappte die letzte Akte zu. »Und macht Sie das nicht krank?«

Die Lampen flackerten und gingen aus. Die Stille legte sich wie Watte über den Raum. Das Konferenzzimmer bekam reichlich Licht durch die großen Fenster, doch der Flur füllte sich augenblicklich mit Leuten, die wild hin und her liefen. McLeod steckte den Kopf zur Tür herein, Taschenlampe in der Hand. »Ich hasse diesen Bau«, sagte er. »Habe ich euch das schon mal gesagt? Ich hasse diesen Bau.«

 

Richter William Westley war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einem habichtartigen Gesicht. Sein Gang – eine eigentümliche Mischung aus gebeugtem Rücken und federndem Schritt – war für die meisten bei Gericht eine Quelle der Erheiterung, und seine Stimme, schwerfällig und sonor, wurde gerne imitiert.

Westley blickte von dem Informationsblatt, das Cardinal ausgefüllt und unterschrieben hatte, auf. »Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wer Paul Laroche zufällig ist?«, sagte er.

»Er ist der Hauptverdächtige in einer Mordermittlung.«

»Paul Laroche ist nicht nur eine Stütze dieser Gemeinde. Paul Laroche gehört die Hälfte der Häuser in dieser Stadt. Paul Laroche leitet den hiesigen Wahlkampf für den Premier dieser Provinz, falls das Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte. Und außerdem ist Paul Laroche, falls auch das Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist, der Golfspezi und Busenfreund des Premiers.«

»Ich weiß, Euer Ehren«, sagte Cardinal. »Aber hören Sie sich bitte an, was wir haben.«

Westley schmiegte sein knöchernes Kinn in die knöcherne Hand und mimte den geduldigen Zuhörer. Je mehr Cardinal versuchte, die Verbindungen als zwingend darzustellen, desto hohler klangen sie.

»Und das ist die ganze Bilanz zu Ihrem Fall? Die ganze lückenlose Beweiskette?«

»Na ja, wir hoffen, dass sich noch mehr findet.«

»Detective, damit würde ich Ihnen nicht mal eine Verfügung für einen Stadtstreicher geben. Ehrlich gesagt, bin ich sprachlos, dass Sie dafür extra hergekommen sind.«

»So bin ich nun mal«, sagte Cardinal. »Ein unverbesserlicher Optimist.«

»Überzeugen Sie mich mit DNA, dem einen oder anderen Fingerabdruck, irgendeinem ballistischen Beweis.«

»Geben Sie mir eine Verfügung, dass Laroche eine Blutprobe abliefern muss, und Sie haben Ihre DNA.«

»Für eine solche Verfügung haben Sie nicht genug in der Hand. Sie haben das Bild einer Polizei-Zeichnerin davon, wie ein früheres FLQ-Mitglied nach langer, langer Zeit vielleicht aussieht. Tut mir leid, Detective. Bringen Sie mir das kleinste Indiz dafür, das Paul Laroche mit dem Mord an Winter Cates oder dem an Miles Shackley in Verbindung bringt, und Sie bekommen von mir Ihre Verfügung persönlich ausgehändigt. Bis jetzt haben Sie nichts.«

»Und Madeleine Ferrier?«, versuchte Cardinal, die Ereignisse anno 1970 mit dem Mord an Laroches Nachbarin zu verknüpfen.

Westley ließ ihn nicht ausreden. »Ob Sie’s glauben oder nicht, Detective, ich verstehe durchaus, welche Beweisführung Ihnen vorschwebt, ich sage Ihnen lediglich, dass Sie bis jetzt noch keinen Beweis geführt haben. Jedenfalls nicht zu meiner Zufriedenheit und ganz gewiss nicht zur Zufriedenheit irgendeines Gerichts in Ontario.«

»Aber wir wissen, dass er es war, Euer Ehren. Er ist ein mächtiger Mann, zugegeben, aber wir wissen, dass er es war.«

»So ist das nun mal im Leben, fürchte ich. Nach allem, was Sie mir geschildert haben, besteht durchaus die Möglichkeit, dass Yves Grenelle Raoul Duquette getötet hat. Was Sie nicht beweisen können – korrigiere –, wofür Sie nicht einmal den Hauch eines Beweises erbringen können, ist, dass Paul Laroche Yves Grenelle ist.«

 

»Gehen wir eben zu einem anderen Richter«, sagte Delorme, als Cardinal die Unterredung zusammenfasste. »Gagnon würde uns bestimmt die Verfügung geben, wetten?«

»Es gibt nichts, was ich lieber täte, glauben Sie mir. Aber wenn wir jetzt bei den Richtern hausieren gehen, und das Gericht erfährt davon, schmeißen sie uns hochkant raus.«

»Und wenn wir ganz zufällig ein Glas finden, aus dem Laroche getrunken hat? Oder eine Zigarre, die er geraucht hat?«

»Ohne einen Durchsuchungsbefehl? Das fällt unter unerlaubte Durchsuchung und Beschlagnahme.«

»Meinetwegen, aber nehmen wir mal an, wir beschatten ihn. Früher oder später wirft er irgendetwas weg oder lässt etwas liegen – sagen wir, in einem Restaurant – etwas, das wir auf DNA untersuchen können. Ein öffentlicher Ort, wo wir keine Privatsphäre verletzen. Dafür bräuchten wir keine Verfügung.«

»Chouinard wird uns nicht erlauben, Laroche zu beschatten. Nicht mit dem, was wir bis jetzt haben.«

»Ich frag ihn.«

Delorme ging zu Chouinards Büro. Als sie nach ein paar Minuten wieder herauskam, sprach ihr Gesicht Bände, so dass Cardinal es nicht übers Herz brachte, sie zu fragen, was der Detective Sergeant gesagt hatte.

Den Nachmittag brachten sie damit zu, Laroches Lebenslauf zu rekonstruieren und, wenn möglich, mit dem Gre nelles in Deckung zu bringen. Mit Hilfe von Zeitungsberichten und Laroches Sozialversicherungsnummer konnten sie ihn bis zur Société d’aide à l’enfance in Trois-Rivières, einer Stelle des Kinderhilfswerks, zurückverfolgen. Er hatte bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr in einem Gruppenheim gelebt; danach hatte die Organisation den Jungen aus den Augen verloren. Nein, sagten sie auf Delormes Frage, Fotos hatten sie nicht.

Cardinals Pulsschlag beschleunigte sich, als er erfuhr, dass die Société auch einen etwas älteren Jugendlichen namens Yves Grenelle betreut hatte, und zwar in der gleichen Gruppe. Wieder keine Fotos, keine Akten nach dem sechzehnten Lebensjahr. Als er aus den Wirren nach dem Oktober 1970 entkommen war, könnte Yves Grenelle einfach den jungen Laroche nach Paris eingeladen, ihn getötet und seine Identität angenommen haben; es wäre dann so gewesen, als hätte es nie einen Yves Grenelle gegeben. Andererseits hätte auch ein Dritter, der sie beide kannte, beide Namen benutzen können. Ohne Fotos aus dieser frühen Zeit führte die Spur in eine Sackgasse.

 

Beacom Security hatte seinen Sitz über einem leer stehenden Ladenlokal in der Main Street. Was Ed Beacom auch verdienen mochte, seit er die Polizei verlassen hatte, war sicher nicht in die Ausstattung seines Büros geflossen. Außer ein paar Vitrinen, in denen er die unterschiedlichsten Schlösser und Alarmanlagen ausstellte, handelte es sich im Wesentlichen um einen leeren Speicher, den die billigen Linoleumböden und grellen Neonlampen nicht gerade bereicherten.

Beacom führte Cardinal und Delorme in sein Büro – das gleiche Linoleum, dieselbe Supermarktbeleuchtung – mit Blick zur Hauptstraße.

»Was sagen Sie zu diesem Wetter, hey? Müsste die Kriminalitätsrate drücken, hoffen wir mal.« Beacom war ein bulliger Typ um die fünfzig mit einem imposanten Brustkasten. Sein blauer Blazer spannte an den Nähten. Er zog zwei Plastikstühle, die an der Wand standen, nach vorne. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht bieten – wir können nicht alle das große Geld scheffeln.«

»Ehrlich gesagt«, eröffnete Cardinal das Gespräch, »weiß ich nicht so recht, was wir hier sollen. So schwer kann es doch nicht sein, für einen Fundraiser Personenschutz zu organisieren.«

»Da muss ich Ihnen Recht geben. Ich weiß auch nicht, was Sie dabei sollen, aber das hier ist Paul Laroches Show, und was Paul Laroche will, das bekommt er.«

Beacom griff in eine Schublade und zog eine dünne Akte heraus. Er machte sie auf und blätterte darin, während er weiterredete. »Ich stehe mit dem CSIS in Verbindung und, ehrlich gesagt, halten die es für ziemlich ausgeschlossen, dass dieser Fundraiser im Fadenkreuz irgendwelcher terroristischen Vereinigungen stehen könnte, für die sie sich interessieren.«

Cardinal lachte.

»Was ist so komisch?«, fragte Beacom. »Wenn daran was komisch war, würde ich gerne mitlachen.« Er zog einen Grundriss des Highlands Ski Club heraus und breitete ihn auf dem Schreibtisch aus, um anschließend mit einem dicken Finger darauf herumzupochen. »Ich selber werde hinter der Bühne sein. Da gibt es eine gute Stelle, von der aus ich den ganzen Raum überblicke. Mantis wird ein paar Bodyguards dabeihaben. Und es geht das Gerücht, es würde noch ein ehemaliger Premierminister kommen. Für den werden sie auch ein paar Jungs mitbringen. Ich hab mich schon mit ihrer Vorhut abgestimmt.«

»Und wie viele stellen Sie?«, fragte Delorme.

»Vier, inklusive meiner Wenigkeit. Meine Leute stehen hier, hier und hier. An den Ausgängen, wie Sie sehen, nicht an den Festtafeln. Wir können uns nicht alle unter die Reichen und Mächtigen mischen.«

»Glauben Sie etwa, wir wären auf dieses verdammte Dinner scharf? Meinen Sie, wir hätten nichts Besseres zu tun?«

Delorme warf ihm einen Blick zu, der ihm sagte: »Ganz ruhig.«

»Mir ist eigentlich egal, was Sie sonst noch zu tun haben«, sagte Beacom.

Es trat eine lange Pause ein, in der Cardinal überlegte, ob er gehen sollte.

»Ich denke, Sie kommen am besten an diese Tische«, sagte Beacom. Er wies auf zwei Ecktische auf je einer Seite im vorderen Teil des Speisezimmers. »Ich soll Ihnen heute sagen, wo wir Sie platzieren, also sagen Sie’s jetzt, wenn Sie irgendetwas einzuwenden haben.«

»Sieht gut aus, einverstanden«, sagte Delorme.

Cardinal zuckte die Achseln. »Solange wir ihn von hinten sehen.«

»Genau das dachte ich auch«, sagte Beacom. Er rollte den Grundriss zusammen. »Ich sag’s ihrem Koordinator, und ich geb Ihnen Bescheid, falls es noch zu irgendwelchen Änderungen kommt. Wenn es nach mir ginge, sollten Sie beide Kopfhörer und drahtlose Mikros haben, aber Laroche wollte nicht. Hat gemeint, das würde den Vorteil, ein paar Cops unter die Gäste zu mischen, zunichte machen. Ist was dran.«

Wenig später machte Beacom sie mit den Kollegen bekannt, die ebenfalls auf den Fundraiser angesetzt waren. Einer war ein pensionierter Feuerwehrmann, mit dem Cardinal schon oft zusammengearbeitet hatte; die anderen beiden waren junge Männer, die kaum die Highschool hinter sich hatten.

Als sie im Wagen saßen und zum Präsidium zurückfuhren, brachte Delorme Cardinals Gefühle auf den Punkt.

»Dieser Job«, sagte sie. »Manchmal wünschte ich mir, ich hätte mir was Befriedigenderes ausgesucht – Toilettenreinigung zum Beispiel.«