21
Als Cardinal nach seinem nutzlosen Besuch bei dem ehemaligen Korporal Sauvé in die Stadt zurückfuhr, rief er Catherine an, von der er erfuhr, dass sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen worden und nun wieder zu Hause war.
»Ich hab ihn gebeten, erst mal zu uns zu kommen, aber er wollte nichts davon hören. Ich hab es nicht forciert. Du weißt ja, wie er ist.«
»Wie geht’s ihm deiner Meinung nach?«
»Nicht schlecht, wenn man bedenkt … Ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber er ist ein zäher alter Bursche.«
Cardinal erzählte ihr, dass er vermutlich am nächsten Tag zurück sein würde.
»Du solltest nicht zu lange warten. Es regnet, und wie’s aussieht, bekommen wir noch eine Schicht Eis. Könnte ziemlich scheußliches Reisewetter geben.«
Cardinal hatte sich mit Delorme in einem Café auf der St-Denis verabredet, aber er war etwas früher da, und es nieselte schon wieder, und so stellte er sich in einer der Malls unter der Ste-Catherine unter. Natürlich haben die meisten modernen Städte solche unterirdischen Einkaufszentren, und in Städten mit langen Wintern erfreuen sie sich besonderer Beliebtheit. Doch Montreal verbirgt eine ganze Zivilisation unter seinen Straßen. Geschäfte aller Art – Apotheken, Kaufhäuser, Tabakhandlungen, Pelzläden – reihen sich meilenweit aneinander. Cardinal verstand, wieso, besonders an einem Regentag wie diesem und noch mehr bei dreißig Grad minus – aber Spaß machte es ihm nicht. Unter der Erde fühlte er sich, trotz der üppigen Dekorationen, bedrückt, und in der Beleuchtung sahen die Passanten erschöpft und unzufrieden aus.
Er gelangte an eine Kreuzung so groß wie ein Flughafen und sah sich die Straßenschilder genau an; unter der Erde war es schwer, sich zu orientieren. Ein Kosmetikladen fiel ihm ins Auge, und er stand eine Weile vor dem Schaufenster und überlegte, ob es etwas gab, das er Catherine mitbringen konnte. Er entdeckte ein Eau de Cologne namens Torso, mit einer entsprechenden Flasche, aber es erinnerte ihn zu sehr an Autopsien.
Um eins verließ er die Mall und traf, wie verabredet, Delorme im Tasse-Toi-Coffeeshop. Es war eine winzige Crêperie für Touristen. An der Decke hingen Streichholzbriefchen aus aller Welt als Souvenirs. Die Klientel schien gänzlich aus riesigen Texanerinnen zu bestehen.
»Gott, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte er zu Delorme.
»Ich weiß, dass Sie nicht ohne mich leben können, Cardinal. Das ist der einzige Grund, warum ich mitgekommen bin.«
Sie bestellten jeder eine Crêpe Spezial des Tages und einen Kaffee, Cardinal entkoffeiniert.
»Wie lief’s bei Bernard Theroux?«
»Ich hab nicht mit ihm, sondern mit Françoise Theroux gesprochen. Ich glaube, das war nur von Vorteil.«
Cardinal hörte ihr schweigend zu und machte sich ein paar Notizen. Er lehnte das Foto der jungen FLQ-Mitglieder gegen seine Kaffeetasse. »Er heißt also Yves Grenelle, und Miles Shackley hat kurz vor seinem Tod nach ihm gesucht. Das heißt, wenn wir Madame Theroux glauben dürfen.«
»Sie ist eine Frau im mittleren Alter mit einer Kindertagesstätte, und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als diese Dinge hinter sich zu lassen. Ich denke, wir können ihr glauben. Und was haben Sie aus Sauvé rausbekommen?«
»Nichts.«
»Gar nichts? Und dafür sind Sie extra da rausgefahren?«
»Ich glaube, ihm hat mein Französisch nicht gepasst.«
»Das kann ihm niemand verübeln.«
»Kommt dazu, dass wir nichts haben, womit wir Druck auf den Kerl ausüben können. Er hat seine Zeit abgesessen, er lebt zurückgezogen, was kümmert’s ihn, dass ein paar Cops aus Ontario seine Hilfe brauchen? Ich an seiner Stelle würde mich vermutlich genauso verhalten.«
Als die Rechnung kam, sagte Cardinal: »Ganz schön happig für ein bisschen Kaffee. Wieso kommen die damit durch?«
»Sie verlangen das Doppelte, wenn du aus Ontario kommst.«
Sie ließen einen der Wagen am RCMP-Präsidium stehen und fuhren quer durch die Stadt Richtung Hochelaga-Distrikt. Delorme hielt einen Stadtplan auf den Knien ausgebreitet und navigierte Cardinal durch ein kompliziertes Netz von Einbahnstraßen.
»Hätten wir nicht einfach auf der Ste-Catherine bleiben können?«
»Nicht, wenn Sie heute noch ankommen wollen. Da ist es.« Cardinal bog in eine deprimierende kleine Einbahnstraße ein.
»Wow«, sagte Delorme. »Das ist ja nur ein paar Schritt von den Theroux entfernt.«
Sie dachte noch einmal an das, was Sergeant Ducharme ihnen am Morgen über Simone Rouault gesagt hatte: Simone Rouault war, Zitat, eine ziemliche Nervensäge. Sie war unter anderem – unter so manch anderem – eine Informantin gewesen. Simone Rouault war, sagen wir einmal, kompliziert. Einmal ist sie ganz und gar für die Guten, für Recht und Ordnung – sehen wir zu, dass wir die Mistkerle in ein tiefes Verließ werfen und den Schlüssel wegschmeißen! Das nächste Mal zündet sie am Mount Royal Dynamit. Eine explosive Mischung, diese Frau. Eine überzeugte Separatistin, die als Spitzel für das CAT-Team gearbeitet hat, und wenn Sie das auf die Reihe kriegen, lassen Sie’s mich wissen. Höllisch launisch. Fougère kam von ihren Treffen immer zurück wie nach einem K. O. in der fünften Runde. Die gute Nachricht: Bringen Sie Simone Rouault ein gutes Tröpfchen mit, und sie verkauft Ihnen ihre Mutter.
Sie standen vor einem winzigen Doppelhaus mit einem verrosteten roten Balkon, der herunterhing wie ein halb geöffneter Mund. Nach einer Ewigkeit wurde die Tür von einer uralten Frau geöffnet, die sich auf eine Gehhilfe stützte. Aus dem Mundwinkel baumelte ihr eine Zigarette, an deren Spitze vier Zentimeter Asche zitterten.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn wir stören«, sagte Delorme auf Französisch. »Wir möchten gerne zu Simone Rouault.«
»Ich bin Simone Rouault. Was wollen Sie?«
Delormes Schnellfeuer-Französisch war zu viel für Cardinal. So ziemlich das einzige Wort, das er verstand, war »Ontario«. Und Ms. Rouaults Antworten konnte er schon gar nicht entschlüsseln. Cardinal blieb hinter Delorme stehen und versuchte, ernst, aber nicht bedrohlich auszusehen.
Endlich trat die Frau beiseite. Cardinal und Delorme traten in ein Zimmer kaum größer als Cardinals Schlafzimmer daheim. »Was ist los mit Ihnen? Sind Sie taubstumm?«
»Leider ist mein Französisch nicht besonders gut.«
»Ontario, typisch. Na schön. Sprechen wir eben Englisch – plumpe Sprache, machen wir das Beste draus.«
Sie bewegte sich schmerzhaft langsam und zur Seite gekrümmt. Langsam ließ sie sich in einen Sessel sinken, der einzigen Sitzgelegenheit außer dem Bett, einer Faltcouch, die sie nicht hochgeklappt hatte; Cardinal bezweifelte, dass sie dafür die Kraft besaß.
»Macht nichts«, sagte Cardinal, »ich kann stehen.«
»Setzen Sie sich schon, Himmelherrgott noch mal. Es ist nur ein Bett. Es beißt nicht. Mich soll der Teufel holen, wenn ich das Ding für Sie hochklappe. Verdammtes Monstrum.«
Als Cardinal und Delorme sich setzten, sank das Bett ein gutes Stück zu Boden.
»Ms. Rouault«, sagte Cardinal, »in den Fall, an dem wir arbeiten, ist mindestens eine Person verwickelt, die 1970 in der FLQ aktiv war, und wir müssten mit Ihnen über diese Zeit reden. Das braucht Sie überhaupt nicht zu beunruhigen. Wir wollen nur ein paar Auskünfte von Ihnen.«
»Beunruhigen? Schätzchen, ich bin nicht beunruhigt. Ich habe ein Dutzend Bomben gelegt, fünfundzwanzig Kommuniqués verfasst, flüchtige Straftäter versteckt, Staatsfeinde unterstützt und begünstigt und sieben Banküberfälle organisiert. Nur zu, verhaften Sie mich.« Sie hielt ihm die verkrümmten, gequälten Handgelenke entgegen.
»Wir sind nicht gekommen, um Sie zu verhaften.«
»Das will ich auch verdammt noch mal hoffen. Dann müssten Sie nämlich gleich die ganze RCMP mit einsperren. Meine Gefährten kamen ins Gefängnis. Meine Liebhaber kamen ins Gefängnis. Selbst mein bester Freund kam ins Gefängnis. Aber ich blieb frei. Dafür gibt es Gründe.«
»Das ist uns bekannt«, sagte Cardinal. »Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass Sie noch in Montreal leben, und unter Ihrem richtigen Namen.«
»Sehen Sie mich an. Was können sie mir jetzt noch anhaben? Reinplatzen und eine kleine alte Dame erschießen? Meinetwegen können sie kommen. Ist mir egal.«
»Nun, wir hoffen, dass Sie uns –«
Sie unterbrach ihn. »Wissen Sie, dass ich eigentlich nicht mit Ihnen reden darf?«
»Die Ereignisse, für die wir uns interessieren, liegen dreißig Jahre zurück. Ich glaube nicht, dass Sie nach so langer Zeit noch Geheimhaltungsvorschriften verletzen.«
»Da ist der CSIS offenbar anderer Meinung. Sie haben mich heute Morgen angerufen und mich angewiesen, Ihnen nichts zu sagen.«
»War das Calvin Squier am Telefon?«
»Er hat mir seinen Namen nicht genannt. Ein älterer Mann. Frankokanadier. Er hat gesagt, ich würde die nationale Sicherheit gefährden, wenn ich Ihnen irgendwelche Auskünfte gäbe. Ich fühle mich denen nicht im Mindesten verpflichtet.
Sehen Sie, wie ich lebe. Ich möchte bezweifeln, dass Detective Lieutenant Jean-Paul Fougère so gelebt hat wie ich – in New Brunswick oder wo sonst zum Kuckuck er seinen Ruhestand verbracht haben mag, bevor er das Zeitliche gesegnet hat. Der CSIS ist der gleiche Haufen unter anderem Namen. Hätten sie nicht angerufen und mir gedroht, hätte ich vielleicht nicht mit Ihnen geredet, aber jetzt können sie mich mal.«
Delorme griff in ihre Tasche und zog die längliche Packung heraus. »Ich hab von Françoise Theroux gehört, dass Sie das hier mögen.«
Die Frau nahm die Packung und betrachtete sie wie einen Gegenstand von äußerster Seltenheit. Museumswürdig. Mit Mühe zog sie die Flasche heraus und hielt sie wie ein Neugeborenes im Arm.
»Geht’s ihnen gut, den Theroux?«
»Sie scheinen nicht schlecht zu verdienen.«
»Gott hat Sinn für Humor, nicht? Der Mörder, der verdient gut, und ich bin ein Fall für die Wohlfahrt.«
»Wir müssten etwas über diese Person erfahren«, sagte Cardinal. Er reichte ihr das Bild von Shackley als jungem Mann.
Sie betrachtete es eine Weile ausdruckslos, bevor sie es zurückgab. Ein zartes Lächeln huschte über ihre trockenen, brüchigen Lippen, und sie schüttelte langsam den Kopf hin und her. »Ich könnte Ihnen was erzählen.« Sie neigte den Kopf in Richtung des Champagners. »Können Sie mir den aufmachen, ja?«
Cardinal nahm die Flasche und fing an, die Folie zu entfernen.
»Immer wieder schön, nicht wahr?«, sagte sie zu Delorme, »einem starken Mann dabei zuzusehen, wie er mit seinen Händen arbeitet.«
Delorme ließ die Bemerkung unkommentiert.
»Die Gläser sind da drüben, mein Junge.« Sie wies auf ein metallenes Regalfach über dem halbhohen Kühlschrank. »Wollen Sie nicht mittrinken?«
»Würde ich gern«, sagte Cardinal. »Aber leider …«
»Ja, sicher. Zu schade. Geht natürlich nicht, dass betrunkene Mounties durch die Gegend rennen, nicht wahr?«
»Wir sind keine Mounties«, sagte Delorme.
»Das war metaphorisch gemeint, meine Liebe. Sie dürfen nicht alles so wörtlich nehmen.«
Cardinal brachte die Flasche und ein trübes Champagnerglas. Er goss es für sie voll und stellte die Flasche ab.
Die Frau hielt sich das Glas für einen Moment unter die Nase und sog den Duft ein. »Veuve Cliquot«, sagte sie. »Jedermanns Lieblingswitwe.«
»Veuve heißt Witwe«, sagte Delorme zu Cardinal.
»Danke. So viel hab ich auch verstanden.«
»Es gab Zeiten, da hab ich nichts anderes getrunken.« Ms. Rouault nahm einen kleinen Schluck, hielt das Glas vor sich hin und betrachtete die Farbe, bevor sie noch einmal nippte. »Hat sich überhaupt nicht verändert – im Unterschied zu mir.«
Cardinal und Delorme warteten.
»Ich war schön«, sagte sie. »Das müssen Sie zunächst mal wissen. Ich war sehr schön.«
»Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte Cardinal. Wenn auch von violetten Äderchen überzogen, so waren die hohen Wangenknochen noch immer zu erkennen. Die anmutig geschwungenen Brauen. Die grauen Augen, die jetzt fast ganz unter Hautfalten versteckt waren, standen so weit auseinander, dass sie ihr in jüngeren Jahren einen Ausdruck von frühreifer Klugheit verliehen haben mussten.
»Ich hatte eine Intensität«, sagte sie in nüchternem Ton, »ich hatte etwas Leidenschaftliches an mir, gepaart mit der nötigen Distanziertheit, die die Leute offenbar faszinierend fanden.« Sie fasste unter Schmerzen in ein Bücherregal und holte ein Foto herunter, auf dem eine junge Frau in die Kamera lacht. Sie hatte wunderschöne Zähne und eine verlockend volle Oberlippe, und ihre großen grauen Augen waren absolut strahlend.
»Am Strand. Im Sommer 1970. Ich war einunddreißig.« Und somit war sie jetzt in ihren Sechzigern. Man hätte sie eher auf etwa achtzig geschätzt. »Osteoporose, Arthritis, das ganze Programm«, sagte sie, als ob sie Cardinals Gedanken erriete. »Mochte noch nie Milch. Aber die hier umso mehr.« Sie zog eine Schachtel Gitanes heraus und zündete sich eine an. Dann nahm sie mit einer ausgetrockneten Klaue das Foto wieder an sich und zeigte mit dem Finger auf das Bild – nicht auf ihr junges Gesicht, sondern auf die Wolken im Hintergrund der Aufnahme, den Hügel zur Linken, das Laub zur Rechten. »Sehen Sie das? Wissen Sie, was das ist? Oder besser gesagt, was das war?«
Cardinal zuckte die Achseln. »Sie sagten, Sie waren am Strand.«
»Schon wieder diese Wortklauberei. Ihr zwei solltet heiraten. Ich hab auf meine Zukunft gezeigt. Das meinte ich. Damals hatte ich noch eine. Wären Sie so nett?« Sie hielt ihr Glas hin, und Cardinal füllte es auf. Sie nahm zitternd einen Schluck und hielt das Glas auf ihrem Schoß. »Meine Zukunft«, sagte sie noch einmal. »Seltsam, der Gedanke, dass dieser Körper – dieses Gesicht, dieses Zimmer – schon seltsam, dass dies hier meine Zukunft war. Hätte ich das damals gewusst, hätte ich mir gleich einen Strick um den Hals gelegt. Sie bringen doch ein bisschen Zeit mit?«
Cardinal und Delorme nickten.
»Das ist ein großer Luxus, Zeit zu haben. Bon. Ich habe Ihre Aufmerksamkeit, ich habe meine Zigarette, ich habe ein volles Glas. Dann lassen Sie mal eine alte Dame erzählen, wie ihre Zukunft dahingegangen ist.
Ich war neunundzwanzig. Eigentlich nicht besonders alt. Aber damals bedeutete Jugend alles. Jung zu sein wurde als eine Ehre betrachtet, so wie man umgekehrt früher einmal so tat, als wäre es eine Leistung, alt zu sein. Beides völliger Unfug. Man ist so alt, wie man ist, und man hat keinen Einfluss darauf. Damals, ich meine 1968, 1969, standen Sie ab dreißig mit einem Fuß im Grab. Die Beatles waren am Höhepunkt ihres Ruhmes. Alles war verrückt nach Trudeau – und warum? Weil er jung war und gut aussah. Wie Kennedy. Telegen. Es gab sogar eine Regierungsorganisation, die sich die Gesellschaft junger Kanadier nannte. Natürlich verbarg sich dahinter ein völlig unproduktives Programm, das die hohen Arbeitslosenziffern vertuschen sollte, aber es klang so romantisch.
Fünfzig Prozent der Bevölkerung waren unter dreißig, und das hieß, wir hatten Macht. Bei solchen Zahlen mussten die Politiker uns zuhören. An den Universitäten streikten die Studenten, um ihre Lehrpläne zu ändern, ja sogar, um bei der Besetzung von Professorenstellen mitzureden. Und natürlich die endlosen Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg. Es waren radikale Zeiten.
Man ging zu einer Demo, einem Sit-in, und Sie finden keinen Menschen, der über dreißig ist – oder nur eine Hand voll. So ein berauschendes Gefühl, von Tausenden von Leuten umgeben zu sein, die alle so aussehen wie du. Die alle dasselbe sagen, dasselbe singen, an dasselbe glauben. Natürlich hat das auch etwas Beängstigendes: So viele Menschen, die alle dieselben Sachen tragen – Bomberjacken und Blue Jeans, Batik-T-Shirts und Blue Jeans, indische Seide und Blue Jeans –, und alle sagen dasselbe. George Orwell wusste schon, wovon er redet.«
Sie nahm einen Schluck Champagner und einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Sie atmete langsam aus und hing der Rauchwolke nach. »Ich hatte panische Angst vor dem Altwerden. Es war die Zeit, in der ich lebte. Nicht nur meine eigene Neurose. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Ich hatte jung und unglücklich geheiratet. Mein Mann hielt sich für einen großen Künstler, aber außer ihm konnte das niemand so sehen, und er hat es an mir ausgelassen. Jedenfalls war es irgendwann vorbei, und als ich dreißig wurde, fühlte ich mich völlig ausgelaugt.
Ich war bereits zu alt, um in der Studentenbewegung mitzumachen. Ich hatte zwei Jahre an der University of Montreal studiert, aber das Studium an den Nagel gehängt, als ich heiratete. Nach der Trennung habe ich nur sehr langsam wieder Fuß gefasst. Hab einen Job bei einer Ölfirma angenommen, der langweiligste Job, den Sie sich vorstellen können, und habe ernsthaft angefangen, mich für Politik zu interessieren – es gibt nichts Besseres, um Leute kennen zu lernen.
Damals war ich Separatistin. René Lévesque hatte die Parti Québécois gegründet, und ich glaubte leidenschaftlich daran. Quebec würde ein eigenständiger, souveräner Staat werden, aber mit dem übrigen Land durch eine Wirtschaftsunion verbunden bleiben, so wie jetzt die europäischen Staaten in der EU. Und die PQ würde dies mit demokratischen Mitteln erreichen: Sie würde als Erstes zur Regierungspartei der Provinz gewählt, dann würde sie in einem Referendum die Leute selber für oder gegen die Trennung abstimmen lassen und als Drittes die neue Nation gründen.
Ich war einsam und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, meine Leere zu füllen. Deshalb war ich gerne bereit, die ganze Lauferei zu übernehmen, Briefe zuzukleben, die Marken zu lecken, Flugblätter von Tür zu Tür zu verteilen. Es gab eine Menge andere junge Québécois, die mithalfen, und so hatte ich schnell eine Menge Freunde. Ich stand um sechs Uhr morgens auf, um mit unserem Kandidaten an der Metro zu sein, und dasselbe machte ich noch mal abends nach der Arbeit, und anschließend hielten wir noch endlose Planungstreffen ab.
Aber jung, wie wir waren, dachten wir natürlich, es würde über Nacht passieren. Als unser Kandidat verlor und René Lévesque auch, war ich ganz und gar erstaunt und deprimiert. Und ich kann Ihnen auch zumindest einen Grund dafür nennen, wieso wir verloren haben: die FLQ. Die Liberalen brauchten nicht lange, um die PQ mit den Bomben in Westmount in Verbindung zu bringen, und das hat die Leute abgeschreckt. Egal, wie oft Lévesque beteuerte, er befürworte keine Gewalt, die PQ stehe für Demokratie – die FLQ machte den Wählern Angst, und so verloren wir, haushoch.
Das hatte unterschiedliche Wirkungen auf die Parteihelfer. Einer der jungen Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, sagte, er wolle sich der FLQ anschließen. Er hat mich sogar gefragt, ob ich mitkäme, und ich war so deprimiert, dass ich sagte, vielleicht. Nicht dass ich mir Hoffnung machte, es würde irgendetwas dabei rauskommen. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe es dann schlicht vergessen.
Bon. Etwa ein halbes Jahr später steht er vor meiner Tür und fragt mich, ob ich bereit wäre, die Revolution zu unterstützen, das heißt die FLQ. Ich hab ihm gesagt, ich wolle nichts mit Gewalt zu tun haben. Er sagte, nein, nein – keine Gewalt. Was sie bräuchten, sei Geld. Er fragte mich, ob ich immer noch bei der Ölfirma arbeite. Aus irgendeinem Grund hatte ich ihm von einer meiner Aufgaben dort erzählt. Einmal im Monat verteilte die Firma an die verschiedenen Büros große Geldsummen für die Gehaltsabrechnung. Das war natürlich in den Tagen, als es noch keine elektronischen Überweisungen gab. Aber sie benutzten keinen Geldtransporter. Ich fuhr einfach zusammen mit meinem Chef herum und brachte diese großen, braunen Umschläge zu den Büros. Er blieb im Wagen sitzen, während ich damit reinging.
Ich hab dem Jungen gesagt, dass ich auf keinen Fall die Firma bestehle, bei der ich arbeite. Und er sagte, nein, natürlich nicht, ich solle das Opfer sein. Sie würden mich und meinen Chef ausrauben, während wir unsere Runde fuhren. In zwei Wochen war wieder Zahltag, und dann würden sie es tun. Ich sagte, ich bräuchte ein bisschen Zeit, um es mir zu überlegen.
Nun ja, als ich das sagte, sah er mich anders an. Das passte ihm kein bisschen ins Konzept. Und in seinen Augen konnte ich ablesen, was er dachte: Wenn sie nicht mitmacht, habe ich mich dem Miststück völlig ausgeliefert. Er würde mit den anderen FLQ-Mitglieder ziemlichen Ärger bekommen. Ich kann Ihnen sagen, dieser Blick machte mir Angst. Er gab mir drei Tage Bedenkzeit.
Ich konnte nicht schlafen vor lauter Angst. Mir war klar, wenn ich nicht mitspielte, würde ich es vielleicht nicht überleben, und wenn ich mitmachte, hatte ich Angst, ins Gefängnis zu kommen. Zwei Tage später setzte ich mir also eine blonde Perücke auf und ging mitten in der Nacht zur Polizei, um ihnen zu erzählen, dass ich Informationen über die FLQ hätte. Und so bin ich Detective-Lieutenant Jean-Paul Fougère begegnet – möge er in Frieden ruhen.«
Sie nahm einen langen Zug an ihrer Zigarette. »Jean-Paul Fougère … Jean-Paul Fougère war fünfunddreißig, schlank, nicht besonders groß und sehr elegant – falls elegant das richtige Wort für einen Mann ist. Er bewegte sich einfach auf eine Art, die mich faszinierte. Allein ihm dabei zuzusehen, wie er eine Zigarette anzündete, war ein Vergnügen – die Art, wie er sie hielt, während er sprach, oder sie gegen den Aschbecher klopfte. Es war wie eine Art Darbietung.
Im Lauf der nächsten Monate erzählte er mir eine Menge über sich, aber das brauchen Sie jetzt nicht zu wissen. Das Einzige, was Sie wissen müssen, ist, dass er bei CAT ziemlich weit oben war und verzweifelt versuchte, die FLQ zu infiltrieren. Die Cops hatten einfach keinen blassen Schimmer, wann die FLQ das nächste Mal zuschlagen würde, und sie hatten keine Ahnung vom Ausmaß der Bedrohung. Von vielen Mitgliedern kannten sie die Namen – Leute von der äußersten Linken, Leute aus der kommunistischen Partei, Labour-Aktivisten. Aber sie konnten nichts beweisen. Sie brauchten jemanden von drinnen.
Ihre Bemühungen, Informanten zu rekrutieren, waren erbärmlich. Es trieb Jean-Paul in den Wahnsinn. Wissen Sie, was sie machten? Sie lasen einfach jemanden von der Straße auf, nahmen ihn mit in ein scheußliches, kleines Hotel und terrorisierten ihn stundenlang. Zogen die Waffen und so was in der Art. Als ob sie auf diese Weise das arme Schwein dem Arm des Gesetzes verpflichten könnten. Oder sie drohten einem Jungen damit, ihn als Homosexuellen zu outen, was vielleicht funktioniert hätte, wenn sie jemanden erwischt hätten, der zugleich der FLQ nahe stand, aber es traf immer die Falschen. Über ganz Montreal und Quebec City gehen die Bomben hoch, und CAT tritt auf der Stelle. Jean-Pauls Chef will endlich Blut sehen, der Premierminister will Blut sehen, und sie wissen schlicht und einfach nicht, was sie machen sollen. Und genau da komme ich reinspaziert und weiß nicht, wie ich mich bei dem geplanten Überfall verhalten soll.«
»Die müssen gedacht haben, Sie schickt der Himmel«, sagte Cardinal.
»Oh, Jean-Paul war sprachlos. ›Was soll ich nur machen?‹, lag ich ihnen in den Ohren. ›Sie bringen mich um, wenn ich diesen Raubüberfall nicht mit durchziehe.‹ – ›Oh‹, sagte er, ›Sie müssen das durchziehen, keine Frage.‹ Einfach so. Ich dachte, er ist verrückt. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich ausrauben zu lassen. Wenn sie nun dabei mich oder meinen Chef erschossen?«
Sie schwieg eine Weile, um sich Champagner nachzuschenken, wobei sie mit der Achtsamkeit eines Chirurgen das Glas randvoll goss, ohne dass es überschäumte. Sie zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl die letzte noch im Aschbecher qualmte und Cardinal schon die Augen brannten. Eine Zeit lang nippte sie gedankenverloren an ihrem Veuve Cliquot. Dann hielt sie das Glas im Schoß und starrte in die blassgoldene Flüssigkeit wie in eine Kristallkugel. Schließlich sagte sie leise: »Damit fing mein Leben als Spitzel an.«
Delorme lehnte sich vor. Cardinal hatte fast vergessen, dass sie da war. Sie hatte die Gabe, in so vollkommenes Schweigen zu versinken, dass man sie glatt vergessen konnte, selbst wenn sie direkt neben einem saß.
»Sie haben Ihre Firma nicht wegen des Überfalls gewarnt?«, fragte sie.
Rouault schüttelte den Kopf, so dass sie Asche über Brust und Schoß verstreute. »Die Firma hatte keine Ahnung. Fougère arrangierte mit der Bank, dass sie ihnen nur gekennzeichnete Scheine gaben, doch davon abgesehen lief alles ganz normal weiter. Schließlich ist Zahltag, der Chef und ich machen uns auf unsere Tour, so wie immer.«
»Und wer war dann an dem eigentlichen Raub beteiligt?«
»Es waren drei: Lebrecque, ein älterer Typ namens Claude Hibert und ein ganz Fanatischer namens Grenelle. Yves Grenelle – er war der einzige Amateur bei der ganzen Sache.
Schlag drei Uhr wollen der Chef und ich das Bargeld gerade an das erste Büro liefern. Wir parken davor, an derselben Stelle wie immer, und bevor ich mit dem Umschlag rauskann, steht je ein Mann links und rechts vom Wagen. Es gibt noch einen dritten – Hibert, wie ich später erfuhr –, der auf der anderen Straßenseite mit dem Auto bereitsteht. Sie fordern unser gesamtes Geld – zunächst mal Brieftasche und Portemonnaie, damit es nicht wie ein abgekartetes Spiel aussieht. Und dann grapscht sich Labrecque – als ob er einem spontanen Impuls folgt – den Umschlag, den ich in der Hand halte.
Bis dahin war alles vollkommen reibungslos gegangen, bis Grenelle, ohne jeden Grund, meinem Chef einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzt. Ich glaube, er benutzte einen Totschläger. Mein Chef hatte nichts getan. Er hatte sich kein bisschen widersetzt. Aber Grenelle haut ihm das Ding über den Schädel, und er ist bewusstlos. Es war einfach dumm, wissen Sie, denn damit ging es nun nicht mehr nur um bewaffneten Raubüberfall, sondern um schweren Raub, grundlos. Und mein Chef, na ja, ich mochte ihn nicht gerade – er kniff mich immer und gaffte mich an –, aber ich hatte auch nichts gegen ihn. Jedenfalls wollte ich nicht, dass er für drei Tage ins Krankenhaus muss, aber genau das passierte. Das ist nicht wie im Film, wo du was auf die Rübe kriegst und zwei Minuten später rumläufst, als wär nichts gewesen.«
»Wie hat die FLQ auf Ihr Mitwirken reagiert?«, fragte Cardinal.
»Oh, sie haben mich mit offenen Armen empfangen. Labrecque sagte, er hätte sie noch nie so begeistert gesehen. Natürlich hat er auch ganz schön davon profitiert, dass er mich rekrutiert hatte. Sie hatten fünftausend Dollar erbeutet und ahnten nicht, dass es alles gekennzeichnete Scheine waren. Dafür liebten sie mich.«
»Und sind Sie Grenelle wiederbegegnet?«
»Als Lebrecque mir mitteilte, ich sei aufgenommen, war das Erste, was ich sagte, dass ich nie wieder mit Grenelle zu tun haben wollte. Idiotische Gewalt.«
Ms. Rouault goss sich Champagner nach. »In den folgenden Monaten benutzten sie mich in erster Linie, um neue Mitglieder zu werben. Sie verlangten nie irgendetwas Extremes von mir. Meistens saß ich im Café Chat Noir – das war der Treff der Aktivisten – und wartete, bis irgendein junger Separatist mich anbaggerte. Wir redeten dann über die Revolution, und früher oder später engagierte er sich für die FLQ. Es ist erstaunlich, wo man reingeraten kann, wenn man verliebt ist.
Die größte Ironie ist allerdings, dass ich kein bisschen durchschaute, was sie mir antaten. Sehen Sie, von der ersten Nacht an behandelte mich Detective Fougère wie seine große Liebe. Er war so gut zu mir, so aufmerksam, so sehr um meine Sicherheit besorgt. Natürlich war ich mit diesem Doppelleben die ganze Zeit in Gefahr. Ich nahm abends an einem FLQ-Treffen teil, und zwei Stunden später habe ich alles Wort für Wort an das CAT-Team weitergeleitet. Ich hatte die ganze Zeit Angst. Meine Nerven waren ruiniert. Ich schlief kaum. Konnte nichts essen. Leute wie Hibert, wie Grenelle meinten es verdammt erst. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass sie mich getötet hätten, sobald sie erfahren hätten, was ich machte.
Jedenfalls, es dauerte nicht lang, bis ich mich mit Haut und Haaren in Fougère verliebte.« Einen Augenblick lang ließ sie den Kopf hängen. Cardinal wollte ihr gerade mit einer Frage auf die Sprünge helfen, als der silbrige Kopf wieder hochschnellte und die grauen Augen leuchteten. »Ich lebte nur noch für unsere Treffen. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich mich nicht verstellen musste, verstehen Sie, wo ich rückhaltlos und ohne Angst die Wahrheit sagen konnte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Erleichterung das nach einigen Monaten war.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Delorme. »Das muss wie eine Droge gewesen sein.«
»Genau das, meine Liebe.« Ms. Rouault nickte und löste einen erneuten Ascheregen aus. »Beides machte süchtig. Dieses Doppelleben – Sie glauben nicht, wie ich die Macht genoss, die ich plötzlich besaß. Wie wichtig ich war! Die sitzen gelassene kleine Hausfrau riskierte auf einmal ihr Leben und rettete dabei ihr Land. Natürlich wusste Fougère, dass ich Separatistin war, aber das war ihm egal. Wir wollten beide der FLQ ein Ende bereiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Und er war so nett zu mir, so zärtlich.« Sie hielt wieder inne, die Zigarette in der Luft. Die grauen Augen blickten in unbestimmte Ferne, als schwebte Fougères Gesicht irgendwo in der Rauchwolke. »Einfach nur seine Hand zu halten bedeutete mir so viel. Ich fühlte mich so sicher, so beschützt. O ja, er spielte auf mir wie auf einer Violine.
Bon. Die ganzen Monate über galt Jean-Pauls Interesse nicht Labrecque. Ein viel zu kleiner Fisch, um sich damit abzugeben. Auch nicht Grenelle – ein Renommist, wie er sagte. Nicht wichtig genug. Er wollte durch mich an Claude Hibert herankommen. Hibert stand nicht in Verdacht, in Gewalttaten verwickelt zu sein. Doch er war inzwischen der führende Mann der Nachrichtenzelle – des Kontaktbüros, wenn Sie so wollen. Er musste mit den anderen Zellen in Verbindung stehen. Also hatte ich zwei Aufträge: das Vertrauen von Claude Hibert zu gewinnen und mich an die Spitze meiner eigenen Zelle zu setzen.
Um als die Führerin einer Zelle zu überzeugen, musste ich natürlich in der Lage sein, Sachen in die Luft zu sprengen und Kommuniqués herauszugeben. Ich bat Hibert, mir Dynamit zu besorgen. Er lehnte ab. ›Du bist noch nicht so weit‹, sagte er. Ich bat ihn um den Briefkopf der FLQ. Wir fanden nie heraus, wo sie ihn herstellen ließen. Er hatte ein Wasserzeichen, das von oben bis unten über das ganze Blatt reichte – eine Darstellung von einem Patrioten mit einer Pfeife zwischen den Zähnen und einem Gewehr in der Hand. Die Leute von CAT lechzten danach, durch mich endlich das echte Papier in die Finger zu bekommen. Damals verstand ich nicht recht, wieso.
Aber ich nervte Hibert weiter mit Sprengstoff und Briefkopf. Und er sagte immer nur, ich will sehen, was ich machen kann. Fougère hatte es zunehmend satt. Dann lud er mich eines Abends – wie aus heiterem Himmel – in ein ganz besonderes Restaurant ein, Ma Bourgogne, das beste Restaurant in der ganzen Stadt. Normalerweise ging so etwas nicht, da wir nicht riskieren konnten, zusammen gesehen zu werden. Doch Jean-Paul scheute keine Mühen; wir hatten Gott weiß wie viele Männer im Rücken und draußen rund um das Restaurant, die uns bewachten. Er schmeichelte meinem Ego, indem er mir zeigte, wie wertvoll ich für das Kommando war, und außerdem kam ihm das romantische Flair gelegen.
Es war ihm nicht entgangen, dass ich verrückt nach ihm war – ich tat das alles mindestens so sehr für ihn wie für Quebec. Ich liebte ihn bedingungslos. Und er begann den Abend, schon beim Aperitif, indem er mir sagte, wie sehr er mich anbetete. Er hielt meine Hand und sah mir in die Augen. Ich konnte darin nichts anderes entdecken als grenzenlose Verehrung. Ich hab doch wahrhaftig gedacht, er würde mir einen Antrag machen. Ha!«
Der Ausruf ging in einen Hustenanfall über, der die gebrechliche Gestalt schüttelte. Dann endete der Husten in Keuchen und Schniefen. Kleenex war vonnöten, ebenso ein volles Glas, eine neue Zigarette.
»Wir hatten unser Dinner. Ein phantastisches Dinner: Hummercremesuppe, gefolgt von Rinderlende Chateaubriand. Und natürlich Champagner. Und danach Armagnac. Bis heute bin ich überzeugt, das war das beste Essen in meinem ganzen Leben. Und dann, nach dem Brandy, nimmt Jean-Paul meine Hand. Sein Gesicht ist sehr ernst, und ich begreife, dass er etwas sagen wird, das mein Leben verändert. ›Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Simone, es ist so schwer für mich‹, sagte er. ›Du hast schon so viel getan. Mein Gott, du setzt jeden Tag dein Leben aufs Spiel. Aber, Simone, wir müssen wissen, wie weit du im Ernstfall gehen würdest, um deine Ideale zu verwirklichen.‹
›Aber du hast doch wohl gesehen, wie weit ich dafür gehe‹, sagte ich. ›Du siehst es jeden Tag. Was soll ich denn noch tun? Jemanden umbringen?‹
Er schüttelt den Kopf. ›Nein‹, sagt er, und seine Stimme zittert ein wenig.
Jetzt hatte ich richtig Angst. Ich wusste nicht, was er sagen würde, aber mein Magen wusste es, denn er drehte sich mir um. Auf einmal schien die Hummercremesuppe keine so gute Idee mehr. Mein Herz hörte zu schlagen auf. Mir brach der Schweiß aus allen Poren. Ich stellte mein Glas auf den Tisch. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. ›Du willst, dass ich jemanden ficke‹, sagte ich.
›Du sollst auf keinen Fall etwas tun, was zu viel für dich ist‹, fügte er hastig hinzu. ›Das liegt natürlich ganz und gar bei dir. Aber wir haben den Eindruck, dass Hibert sich einfach kein Stück mehr bewegt, und wir brauchen etwas, das uns, hm, aus der Sackgasse hilft.‹
Ich konnte ihm immer noch nicht ins Gesicht sehen. Ich lehnte mich nur nach vorn und schaukelte, die Arme verschränkt, irgendwie vor und zurück.
›Geht’s dir nicht gut?‹, fragte er. Können Sie sich das vorstellen? Ob’s mir nicht gut ging, wollte er wissen. Er wiederholte die Frage wer weiß wie oft. Geht’s dir nicht gut? Geht’s dir nicht gut? Mein Gott! Wie konnte er das fragen? Ob’s mir nicht gut ging.
Ich antwortete, mir fehle nichts.
›Wirst du es tun?‹
›Wenn du willst, dass ich es tue.‹ Während ich das sagte, sah ich ihm in die Augen.
›Es ist weiß Gott nicht, was ich möchte‹, sagte er. ›Es ist das Letzte, was ich möchte, Simone. Das weißt du. Aber in unserem Geschäft fragt keiner danach, was wir möchten.‹
›Ich werde es tun.‹ Ich sagte es noch einmal – sehr deutlich, wie zu einem Schwerhörigen. ›Ich werde es tun. Wenn du es willst. Willst du, dass ich es tue?‹
Er nickte. Jetzt war er es, der mir nicht in die Augen schauen konnte. Sehen Sie, wenn er mich darum bitten konnte, so etwas zu tun, dann gab es keinen Grund mehr, es nicht zu tun. Ganz offensichtlich bedeutete ich ihm nichts. Von dem Augenblick an war mir egal, was ich tat, mit wem ich schlief. Ich hatte nichts zu verlieren.«
»Aber Sie hätten gehen können«, sagte Delorme. »Sie hätten Sie nicht dazu zwingen können.«
»Nach dem, was Jean-Paul zu mir gesagt hatte, wollte ich am liebsten sterben. Der Tod hatte tatsächlich allen Schrecken verloren. Und undercover in der FLQ zu bleiben schien mir eine effiziente Methode, Selbstmord zu begehen. Und so kam es, dass Hibert und ich, als wir das nächste Mal allein waren, miteinander schliefen – und von da an wollte ich nicht mehr sterben, ich war bereits tot. Ich war vollkommen betäubt.
Ich versuchte, Jean-Paul wehzutun, als ich ihm Bericht erstattete. Erzählte ihm, was für ein außergewöhnlicher Liebhaber Hibert war, gut ausgestattet und so rücksichtsvoll. Nichts davon entsprach übrigens der Wahrheit.
Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte Jean-Paul: ›Beschränk dich aufs Wesentliche, Simone.‹
In taktischer Hinsicht erwies es sich als ein guter Schachzug, mit Hibert zu schlafen. Hibert hatte jetzt die Wahl, entweder mit einer Informantin zu schlafen oder mir vollkommen zu vertrauen. Er entschied sich dafür, mir zu vertrauen, und eine Woche später hatte ich einen Stapel von ihrem Briefpapier und drei Kisten Dynamit.
Mit den Briefköpfen schickte ich Kommuniqués raus und erfand im Lauf der Zeit neue Zellennamen. Ich kündigte zum Beispiel einen ›größeren Schlag‹ an, und dann platzierten wir das Dynamit. Der Höhepunkt meiner Karriere kam, als ich auf einen Schlag acht Neuzugänge in meiner Wohnung hatte. In einem Zimmer tippen wir Kommuniqués, und zwei von ihnen basteln in meiner Badewanne eine Bombe.«
Cardinal setzte sich auf. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass die Mounties und die Polizei von Montreal Sie in Ihrer Wohnung Bomben herstellen ließen? Das kann ich nicht glauben.«
»Sie manipulierten die Sprengkörper so, dass sie nicht hochgingen. Manchmal tauschten sie das Dynamit heimlich aus, nachdem wir die Bomben gelegt hatten – in den Fällen, wo sie wollten, dass es tatsächlich zu einer Explosion kam.
Dann wiederum ließen sie uns Blindgänger legen. Zum Beispiel ließen sie uns einen Schienenstrang auf der Canadian Pacific Railway sprengen, aber sie tauschten unseren Blindgänger gegen eine kleine Menge Dynamit aus, die sehr wenig Schaden anrichtete. Auf diese Weise konnte ich meine Glaubwürdigkeit wahren. Danach verhafteten sie vier Jungs.«
»Alles Leute, die Sie angeworben hatten?«
»Alle von mir, ja. Sie bekamen vier Jahre.«
Cardinal sah Delorme an, aber Delorme starrte nur auf Simone, die Augenbrauen in der Luft.
»Sehen Sie mich nicht so an. Meinen Sie, das waren Unschuldslämmer? Das waren Leute, die, wenn sie zu einer echten Zelle gekommen wären, Leute getötet hätten. Wir haben sie rausgeholt, bevor sie richtigen Schaden anrichten konnten. Hören Sie, ich habe siebenundzwanzig Leute ins Gefängnis gebracht, und davon waren wahrscheinlich höchstens drei schon FLQ-Mitglieder, bevor ich sie traf. Und vermutlich habe ich ihnen allen einen Gefallen getan.«
Klar doch, dachte Cardinal, wir alle müssen uns zuweilen in die Tasche lügen. Bei ihm kam auch einiges zusammen. Er zog noch einmal das Foto von Shackley heraus. »Erkennen Sie diesen Mann?«
»Shackley«, sagte sie, ohne zu zögern. »Er hieß Miles Shackley. Er arbeitete mit Jean-Paul zusammen. Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Er war Amerikaner, CIA, nahm ich an, aber ich war zu höflich, um zu fragen. Sie waren eigentlich Partner, aber Shackley benahm sich immer, als wäre er Jean-Pauls Lehrer. Sicher, er hatte mehr Erfahrung, und ich hatte den Eindruck, dass er in einer der FLQ-Zellen seinen eigenen Informanten in einer guten Position sitzen hatte. Ein äußerst kalter Mann, wie eine Maschine, es machte Klick, wenn er lief. Ich konnte ihn nicht ausstehen, und als er von Bord ging, habe ich ihm keine Träne nachgeweint.«
»Von Bord ging?«, fragte Cardinal nach.
»Eines Abends war er mit Jean-Paul und mir zum Essen verabredet. Als Jean-Paul alleine kam, fragte ich ihn, wo Shackley bliebe, und er sagte, ›Ich glaube nicht, dass wir Miles Shackley je wiedersehen.‹ Zwischen ihm und ein paar hohen Tieren war es zu einer politischen Auseinandersetzung gekommen.«
»Wann genau war das?«
»Am siebzehnten August 1970. Ich erinnere mich so genau, weil die FLQ genau an dem Tag quer über die Stadt verteilt vier Bomben hochgehen ließ. Ein Mann – ein Wachmann – wurde getötet, und es wimmelte von Polizei. Zum ersten Mal lag so etwas wie eine ernste Krise in der Luft.«
»Und haben Sie Shackley je wiedergesehen?«
»Nein, nie. Ich weiß, dass CAT nach ihm suchte, als Hawthorne entführt worden war. Nun ja, nach ihm suchte, ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck – sie haben die ganze Stadt nach ihm durchkämmt. Ich hatte die strikte Order, mich nicht mit ihm abzugeben. Falls er mit mir Kontakt aufnehmen würde, sollte ich umgehend die Zentrale anrufen. Ich weiß nicht, was er gemacht hatte, aber sie waren genauso hinter ihm her wie hinter der FLQ.«
»Und diese Leute hier? Können Sie die identifizieren?«
Rouault setzte das Glas ab und nahm das Foto in ihre zitternden Finger. »Du liebe Güte«, sagte sie. »Das ist ja Madeleine. Madeleine Ferrier. Ach, ich mochte sie so gern. Sie war die einzige felquiste, die ich wirklich ins Herz geschlossen hatte. Sie war so jung. Achtzehn, glaube ich, jedenfalls nicht älter als neunzehn. Ich hab ihren Namen nie in meinen Berichten erwähnt. Natürlich fiel sie den Beobachtern auf, und Jean-Paul fragte nach ihr, und ich hab ihm immer gesagt, sie sei niemand, die Kusine von jemandem, die ihnen nur das Essen macht. Und tatsächlich ging ihr Engagement auch kaum darüber hinaus. Sie war verrückt nach Yves Grenelle und mischte ganz offensichtlich nur in der Szene mit, um in seiner Nähe zu sein. Sie hing ihm an den Lippen. Aber sie war noch ein Kind. Sie hatte nie Zugang zu Sprengstoff, Schusswaffen oder dergleichen. Arme Madeleine. Sie wäre jetzt fünfzig.«
»Wäre? Ist sie gestorben?«
»Sie ist nicht gestorben, sie wurde ermordet. Nachdem die Hawthorne-Entführer geschnappt waren, bekam sie eine milde Strafe für Beihilfe und Begünstigung – nicht aufgrund irgendeiner meiner Aussagen – und ging für sechs Monate ins Gefängnis. Danach war sie vollkommen kuriert. Ging zur Uni, wurde Lehrerin und brachte es zu etwas. Vor zwölf Jahren zog sie nach Ontario. Wir standen uns nicht sehr nahe, aber wir blieben über die Jahre in Kontakt. Ich mochte sie so gern, dass sie die Einzige war, der ich am liebsten die Wahrheit über mich gesagt hätte, aber ich hatte nicht den Mut. Jedenfalls rief sie mal an, um mir zu erzählen, dass sie nach Ontario raufziehen wolle, ich weiß nicht mehr, wohin da, und das Nächste, was ich von ihr hörte, war, dass sie tot ist. Der Mörder wurde, soviel ich weiß, nie gefasst.«
»Wissen Sie noch, wo sie umgekommen ist?«
»Ich weiß nicht, irgendwo im Norden. Ontario, wer will da schon hin?«
»Und Sie sagen, sie stand auf Yves Grenelle?«
»Ja. Das da ist Grenelle.« Ein gekrümmter Finger tastete zu dem jungen Mann, der lachend am Rand des Fotos stand. Das kräftige, gelockte Haar und der Bart verliehen ihm das Aussehen eines Bandido aus einem zweitklassigen Film.
»Wie oft haben Sie Grenelle nach Ihrer ersten Eskapade noch gesehen?«
»Kaum einmal. Er war immer mit Lemoyne und Theroux zusammen, Leuten, die vom ersten Tag an dabei waren. Ich sag Ihnen, er wollte die Macht über Quebec, sobald es aus den Klauen Trudeaus befreit war. Er ist schnell die Stufenleiter aufgestiegen.«
»Haben Sie mal irgendwo gehört, dass er den Minister getötet hat? Raoul Duquette?«
»Er war zweifellos dazu fähig: gewalttätig, zornig, aktionswütig und machtlüstern. Ja, ganz sicher, er wäre dazu imstande gewesen. Aber Daniel Lemoyne und Bernard Theroux haben sich ja schuldig bekannt. Das da ist Lemoyne.« Der knochige Finger glitt zu dem kräftigeren jungen Mann auf der anderen Seite des Bildes hinüber. »Er und Grenelle waren, glaube ich, dicke Freunde. Hab mich immer gewundert, wieso Grenelle nicht zusammen mit ihm und Theroux geschnappt wurde. Soviel ich gehört habe, ist er nach Paris geflohen.«
Ihr Kopf fiel nach vorn, und es herrschte Schweigen. Cardinal und Delorme sahen sich an und warteten. Cardinal dachte, Ms. Rouault versuche, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, oder trauere ihrer alten Liebe nach. Doch dann war ein leises, flatterndes Geräusch zu hören, und er merkte, dass sie schnarchte.
»Ich glaube, wir sind hier fertig, nicht?«, sagte Delorme.
Cardinal griff hinüber, drückte die Zigarette aus und nahm das Champagnerglas aus den alten Fingern. Die Flasche auf dem Boden war leer.