20

 

Bernard Theroux«, hatte Sergeant Ducharme gesagt. »Die zweite Telefonnummer gehört Bernard Theroux. 1970 war er neunzehn Jahre alt. Mitglied der Chénier-Zelle, er hat für die Entführung von Raoul Duquette genau wie Daniel Lemoyne zwölf Jahre abgebüßt. Verheiratet mit einer Françoise Coutrelle, einer unbedeutenden Mitläuferin der FLQ, eher Sympathisantin als aktive Terroristin. Sie kam nie vor Gericht. Sie standen lose mit einer gewissen Simone Rouault in Verbindung – aber zu Simone kommen wir noch.

Soweit wir wissen, haben Bernard und Françoise Theroux keinerlei Verbindung mehr zu irgendwelchen terroristischen Aktivitäten. Aber das hier ist eindeutig ihre Telefonnummer, und es stellt sich die Frage, wieso dieser Amerikaner drei Wochen, bevor er tot aufgefunden wird, die beiden anruft.«

 

Die Frage stellt sich in der Tat, dachte Delorme eine halbe Stunde später. Sie versuchte, heil durchs Zentrum von Montreal zu kommen, ohne in einen Auffahrunfall zu geraten. Der Regen war nicht mehr stark, aber offenbar stark genug, um bei den hiesigen Fahrern Verwirrung zu stiften.

An der nächsten Ampel rief sie auf dem Handy Szelagy an.

»Was haben Sie über Dr. Choquette rausgefunden? War er Montagnacht bei diesem Bridgeabend, wie er behauptet?«

»Also, der Typ, sag ich Ihnen, sollte einen Kurs an der Alibischule geben«, sagte Szelagy. »Er hat nicht nur drei Zeugen, die mit ihm gezockt haben, sondern die drei sind sozusagen vergoldet. Einer ist der Leiter des Ontario Hospital, einer ist Kurator bei der Schulbehörde, und der andere ist der hiesige Leiter des Kinderhilfswerks. Packen Sie die in einen Raum, und Sie haben einen ganzen Vorstand zusammen.«

»Sie haben mit jedem von denen einzeln gesprochen?«

»Mit allen dreien. Und die waren auch noch so höflich! Ich wünschte, meine Freunde hätten solche Manieren.«

»Das können Sie vergessen. Ihre Freunde sind Cops.«

Delormes Handy klingelte, bevor sie es weggesteckt hatte. Malcolm Musgrave.

»Sind Sie damit fertig, meine Abteilung zu schikanieren, Sergeant Delorme? Oder haben Sie vor, uns alle zu verhören?«

»Machen Sie mir wegen Simmons nicht das Leben schwer. Sie wissen so gut wie ich, dass ich ihn überprüfen musste.«

»Und – nein, sagen Sie nichts, lassen Sie mich raten – es hat sich herausgestellt, dass er weder ein Entführer noch ein Mörder ist, hab ich recht? Ich meine, ich versuch schon, Kidnapper und Killer aus meinem Team rauszuhalten, wenn es sich irgendwie machen lässt.«

»Craig Simmons gehört nicht mehr zu den Verdächtigen in diesem Fall«, sagte Delorme. »Lassen wir es dabei bewenden.«

»Und wir werden in Zukunft sehr behutsam mit dem Privatleben eines RCMP-Beamten umgehen, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe.«

Ein Mann in einem schwarzen Saab schoss an ihr vorbei nach vorne und hatte auch noch die Stirn, ihr ein paar Flüche zuzurufen. Für einen Moment wollte sie ihn rauswinken, auch wenn sie in Montreal nicht zuständig war.

»Ich glaube, Sie wissen ganz genau, was ich meine«, sagte Musgrave. »Mir ist noch kein Polizist untergekommen, dem es gefallen würde, wenn man sein Privatleben ans Licht der Öffentlichkeit zerrt, ich nicht, Ihr Partner nicht und Craig Simmons nicht – oder sind Sie vielleicht eine fromme Ausnahme?«

»Heißt das, Sie wissen Bescheid? Ich meine, Sie wissen, dass der Corporal –«

»Machen Sie genau da einen Punkt, Delorme. Ich weiß alles über meine Männer – und Frauen –, was ich über sie wissen muss. Ich möchte nur noch einmal ein gegenseitiges Einvernehmen unterstreichen, das doch hoffentlich zwischen uns besteht? Muss ich mehr sagen?«

»Nein«, sagte Delorme. »Sie haben sich wie immer klar und deutlich ausgedrückt.«

»Viel Spaß in Montreal«, sagte Musgrave. »Hübsche Stadt.«

Die Theroux-Adresse war auf der Rue St-Hubert in Villeray, fast genau in der Mitte von Montreal. Obwohl die Gegend vorwiegend französisch war, bemerkte Delorme auch Schilder auf Italienisch, Portugiesisch und Arabisch. Die Fußgänger schienen eine Mischung aus Studenten und Arbeiterklasse zu sein. Verstaubte alte Stoffgeschäfte wechselten sich mit neuen Boutiquen und winzigen Cafés ab.

Delorme parkte das Zivilfahrzeug der RCMP vor einem Kurzwarenladen. Nummer 7540, die Adresse, nach der sie suchte, befand sich einen halben Block weiter südlich, inmitten einer Brut kleiner, quadratischer Häuschen, die sich wie zum Schutz hinter einer griechisch-orthodoxen Kirche aufreihten. Sie klingelte an der Tür, nachdem sie die zwei Messingschilder daneben gelesen hatte. Auf dem einen stand Theroux, auf dem anderen Beau Soleil. Während sie wartete, fing es zu regnen an.

Die Tür wurde von einer rundlichen Frau im mittleren Alter geöffnet, das Gesicht von dunklen Locken gerahmt. »Oui?«

»Madame Theroux?«

»Oui?«

Delorme erklärte ihr auf Französisch, sie sei eine Polizistin aus Nordontario und bei einem Fall dringend auf Unterstützung angewiesen und sie glaube, dass Mr. Theroux ihr weiterhelfen könne. Aus dem Hintergrund drang das Geschnatter und Geschrei von Kindern. Auf ein krachendes Geräusch folgte das Brüllen eines zornigen Kleinkinds.

»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Aber mein Mann redet nicht mit der Polizei.«

Ein kleiner, geschmeidiger Mann mit dunklen Augen und dunklem, leicht angegrautem Haar erschien hinter ihr und schlüpfte in seine Jacke. »Hauen Sie ab«, fauchte er Delorme an, »Sie haben doch gehört, was meine Frau gesagt hat.«

»Niemand will Ihnen was«, sagte Delorme. »Ich brauche nur ein paar Auskünfte.«

»Ach ja? Nur ein paar Auskünfte? Ist das alles?« Der Mann schob sie zur Seite und ging die Eingangstreppe hinunter. »Auskünfte haben was Tödliches an sich.«

Er sprang in seinen Lkw und fuhr davon.

»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Aber ich sagte ja bereits …«

»Ja, das haben Sie«, erwiderte Delorme. »Darf ich vielleicht Ihr Telefon benutzen, um mir ein Taxi zu rufen? Mein Partner hat den Wagen.«

Die Frau machte die Tür weiter auf. Delorme trat in eine Eingangsdiele, in der ein Klavier und ein paar Plastikstühle standen. Rechts, hinter einer Flügeltür, führte eine junge Frau in sehr engen Jeans eine Gruppe Vorschulkinder in einem Reigen zu »Bonhomme, Bonhomme« an.

»Das Telefon ist in der Küche. Hier lang.«

Delorme trennte die Verbindung in dem Moment, in dem sie wählte. Als das Freizeichen kam, bestellte sie ein Taxi. »Wie lange? Schneller geht es nicht? Ja, ich weiß auch, dass es regnet. Na schön. Danke.«

Mrs. Theroux machte ein Tablett mit Apfelsaft und Pfeilwurzkeksen fertig, das sie ins angrenzende Esszimmer brachte. Überall hingen Kinderzeichnungen an den Wänden. Einige davon enthielten kindliche Liebeserklärungen – »Je t’aime, Françoise!«, »Ma deuxième mère« und Ähnliches mehr – mit den entsprechenden Rechtschreibfehlern. Im ganzen Haus roch es nach Suppe und Gebäck. Es war kaum vorstellbar, dass hier ein Terrorist wohnte, selbst ein ehemaliger Terrorist.

»Das Taxi braucht leider eine halbe Stunde«, sagte Delorme.

»Immer das Gleiche, wenn es regnet. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Oh, nein, nicht nötig. Bitte tun Sie, als wäre ich nicht da.«

»Das kann ich nicht, Sie sind nun mal in meinem Haus. Nehmen Sie einen Kaffee.«

»Danke. Sehr freundlich von Ihnen.«

So, wie sie den Kaffee einschenkte, die Milch dazugoss, war Françoise Theroux der Inbegriff von Häuslichkeit – rundlich, beinahe matronenhaft, die Art von Frau, die Reporter auf der Straße interviewen würden, wenn sie wissen wollen, wie eine Mutter die örtliche Schulbehörde findet. Der Kaffee war dunkel und aromatisch, ohne jeden bitteren Beigeschmack. Delorme fühlte, wie das Koffein an ihren Nervensträngen die Lichter aufgehen ließ.

»Wann dürfte ich wohl am besten wiederkommen?«, sagte sie. »Ich fürchte, es ist äußerst wichtig, dass ich mit Ihrem Mann rede.«

»Bitte kommen Sie nicht wieder.« Ein Schatten huschte über das Gesicht der Frau. »Bernard hat dreißig Jahre lang nichts mit irgendwelchen kriminellen Machenschaften zu tun gehabt.«

»Ich weiß. Das, worüber ich mit ihm sprechen will, liegt dreißig Jahre zurück. Die FLQ, die Oktoberkrise.«

»Sie dürfen nicht wiederkommen. Bernard wird wahnsinnig, wenn er die Polizei nur von weitem riecht. Das erinnert ihn an damals, und er möchte das alles einfach vergessen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Vermutlich wissen Sie, dass ich auch bei der FLQ war.«

»Aber Sie wurden niemals angeklagt.«

»Nein. Bernard hat mich immer aus den gefährlicheren Unternehmungen rausgehalten.«

»Ich wüsste gerne, ob Sie für mich die Leute auf diesen Bildern identifizieren könnten.« Delorme zeigte ihr Miles Shackleys Foto von seinem gefälschten Führerschein und das Aktenfoto, das Musgrave ihr zur Verfügung gestellt hatte. »Können Sie mir sagen, wer dieser Mann ist?«

»Nein. Der kommt mir nicht bekannt vor. Wer ist das?«

»Ich komm drauf zurück. Und die hier?«

Mrs. Theroux nahm das Gruppenfoto in die Hand. »Ach, sehen die jung aus! Sie waren ja auch jung! Der hier vorne ist Bernard – er muss damals neunzehn gewesen sein. Mein Gott, wie mager er da ist. Der an der Seite, mein Gott, das ist Yves Grenelle.«

»Yves Grenelle?«

Mrs. Theroux hatte unwillkürlich die Hand vor den Mund gelegt.

»Wer ist Yves Grenelle?«

»Nein, das ist er nicht. Ich muss mich vertan haben.«

»Aber Sie waren sich sicher, dass es Yves Grenelle ist. Wollen Sie mir nicht einfach erzählen, was Sie von ihm wissen?«

»Das kann ich nicht. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Nein. Ich muss Sie über diesen Mann befragen.« Delorme hielt Miles Shackleys Bild von 1970 hoch. »Sagt Ihnen der Name Miles Shackley etwas?«

»Nein, und ich erkenne den Mann auch nicht wieder.«

»Es gibt zweierlei, das Sie wissen sollten, bevor Sie mir antworten, Mrs. Theroux. Zum einen, dass dieser Mann vor weniger als einem Monat bei Ihnen angerufen hat. Zum anderen, dass er ermordet wurde.«

Mrs. Theroux sah eine Weile lang zur Decke hoch und atmete schwer. Sie stand auf und ging nach nebenan, um die Tassen und Kekse wegzubringen. Kinderstimmen riefen ihren Namen, bettelten, sie solle zu ihnen kommen und mit ihnen zeichnen. Sie kam in die Küche zurück und stellte energisch das Tablett auf die Arbeitsplatte.

»Bernard hat nie jemanden umgebracht«, sagte sie. »Er hatte nichts mit einem Mord zu tun.«

»Entschuldigen Sie, aber Ihr Mann wurde im Mordfall Raoul Duquette verurteilt. Und er hat ein Geständnis abgelegt.«

»Er wurde wegen Menschenraubs verurteilt, nicht wegen Mordes. Und sein Geständnis wurde nicht vor Gericht verwendet.«

»Mrs. Theroux. Ein Mann, von dem bekannt ist, dass er in die Oktoberkrise verwickelt war, hat letzten Monat bei Ihnen angerufen. Dieser Mann ist jetzt tot. Ihr Mann war schon einmal in einen Mordfall verwickelt. Es wäre möglich, dass er auch diesmal etwas damit zu tun hat.«

»Hören Sie: Mein Mann hat niemals irgendjemanden ermordet. Ich sag’s noch einmal. Bitte notieren Sie sich das. Schreiben Sie’s in Ihr Notizbuch, in Ihren Computer, meißeln Sie es irgendwo ein – irgendwo, wo Sie es nicht vergessen können, denn das ist die reine Wahrheit: Mein Mann hat niemals jemanden getötet.«

»Sie beziehen sich auf Raoul Duquette?«

Mrs. Theroux gab einen langen Seufzer von sich und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ja. Ich meine Raoul Duquette.«

»Die Gerichtsmedizin hat nachgewiesen, dass er erdrosselt wurde. Ihr Mann hat ausgesagt, dass er Duquette zu Boden gehalten habe, während Daniel Lemoyne ihn erdrosselte.«

»Sie haben ein Bild von Bernard. Er war neunzehn. Er wog 120 Pfund. Wissen Sie, wie groß Duquette war? Er war eins achtundneunzig, wog 190 Pfund, ein ehemaliger Football-Spieler. Mein Mann hat ihn nicht zu Boden gedrückt.«

»Mrs. Theroux, dem Minister waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er war bereits eine Woche in Gefangenschaft.«

Ein kleiner Junge kam in die Küche marschiert und hielt ein Stück Zeichenpapier wie ein Geschenk vor sich. »Françoise, ich hab ein Bild für dich.«

»Oh, das ist wunderschön, Michel«, sagte Mrs. Theroux und neigte sich vor, um das verschwommen blaue Wasserfarbengemälde besser zu sehen. »Wer ist das auf dem Bild?«

»Das ist mein Vater. Er ist Polizist.«

»Dann musst du es Officer Delorme hier zeigen – sie ist auch bei der Polizei.«

Der Junge staunte Bauklötze. »Du bist bei der Polizei?«

»Ja, ich bin Polizistin.«

»Vermutlich hat er noch nie eine Polizistin gesehen. Michel, willst du Officer Delorme dein Bild auch mal zeigen?«

Der Junge drehte sich langsam zu Delorme um und hielt unsicher das Bild hoch. Es bestand aus zwei blauen Farbklecksen und einem kräftigen schwarzen Strich.

»Das ist sehr gut«, sagte Delorme. »Man sieht, dass er ein ausgezeichneter Officer ist.«

Der Junge wandte sich wieder zu Mrs. Theroux um, das Bild hatte er vergessen. »Françoise, liest du uns jetzt was vor?«

»Gleich, Michel.« Mrs. Theroux schloss die Tür hinter ihm. Sie bot Delorme noch Kaffee an und schenkte sich, als ihr Gast dankend ablehnte, selbst noch einmal ein. Sie setzte sich wieder an den Tisch und rührte langsam in ihrer Tasse. »Ich will nicht, dass Sie noch mal wiederkommen«, sagte sie endlich. »Unser Frieden hier ist zu brüchig, zu schwer erkauft. Gewisse Erinnerungen sind wie Erdbeben, sie können jederzeit wieder hervorbrechen. Also, ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß, und ich will nicht, dass Sie meinen Mann damit quälen. Und dann will ich Sie nie wiedersehen.«

»Ich weiß nicht, was Sie mir erzählen werden. Ich kann Ihnen nichts versprechen.«

»Ich hätte Ihnen auch nicht geglaubt, wenn Sie mir Versprechungen gemacht hätten. Aber ich werde Ihnen erzählen, was damals wirklich passiert ist, und dann brauchen Sie nicht wiederzukommen. Falls Sie es doch tun, werden Sie kein Wort mehr aus mir herausbekommen. Niemand kennt die wahre Geschichte. Es war, als ob sie sich bereits auf eine Version verständigt hätten, bevor überhaupt jemand verhaftet wurde. Aber hören Sie mir gut zu, ich erzähle Ihnen, wie es wirklich war.

Zuallererst mal müssen Sie begreifen, dass wir alle zueinander absolut loyal waren. Das galt für jeden von uns in der FLQ, wir waren absolut und unerschütterlich loyal, aber Bernard und Daniel Lemoyne ganz besonders. Sie lernten sich damals bei einer Demo kennen. Bei einer davon – vielleicht war es die für die Seven-Up-Arbeiter, ich weiß nicht, oder vielleicht die Taxifahrer – jedenfalls wurde Bernard verletzt und blutete am Kopf, wo so ein Bastard von Polizist ihn mit dem Gummiknüppel getroffen hatte. Tut mir leid, aber –«

»Schon in Ordnung. Ich habe keinerlei Sympathie für gewalttätige Cops.«

»Jedenfalls, da sitzt er nun blutig geschlagen in einem Gefangenenwagen. Daniel Lemoyne hat sein eigenes Hemd zerrissen, um daraus einen Verband für ihn zu machen.«

»Waffenbrüder«, sagte Delorme.

»Waffenbrüder, ganz richtig.« Sie hielt zwei gekreuzte Finger in die Luft. »Sie wurden unzertrennlich. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wünschte, sie wären sich nie begegnet. Ich kann nicht sagen, wie es bei Lemoyne wäre – ich glaube, er wäre immer gleich gewesen, egal, mit wem er zusammen war –, aber ich bin sicher, dass Bernard niemals jemanden entführt hätte, wenn er Lemoyne nicht begegnet wäre. Bernard war immer für Gemeinschaftsaktionen, er wollte Leute mobilisieren. Geheime Verschwörungen waren seine Sache nicht. Aber irgendwie wurde es eine gemeinsame Obsession, dieses Kidnapping.«

»Eine Obsession, die sie mit Yves Grenelle teilten, nicht wahr? Wieso ist sein Name bisher nie aufgetaucht?«

»Yves Grenelle wurde nie geschnappt, nie für irgendetwas vor Gericht gestellt.« Die Frau nahm plötzlich einen anderen Gesichtsausdruck an. Sie blickte auf ihre Hände herab, als ob sie darin einen zerbrechlichen Bildschirm hielt, auf dem die Ereignisse aus ihrer Jugend abgespielt wurden. »Das war Teil der Abmachung, verstehen Sie.«

»Abmachung?«

»Unter den Mitgliedern der Zelle. Es war wie Blutsbrüderschaft. Die Abmachung war, dass jemand, der der Polizei entwischte, niemals erwähnt wurde – nicht gegenüber den Cops, nicht gegenüber der Presse, gegenüber niemandem. Es sollte so sein, als hätte er oder sie nie existiert.

Und genau das passierte mit Yves Grenelle. Er wurde nicht zusammen mit den anderen geschnappt. Nachdem Raoul Duquette ermordet worden war, war er wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem hat nie wieder jemand von ihm gehört. Wahrscheinlich hat er sich nach Frankreich abgesetzt – das haben viele getan, als ihnen der Boden hier zu heiß unter den Füßen wurde. Meistens kamen sie zurück. Aber von Grenelle hat man nie wieder etwas gesehen.«

»Wie kam er in die Zelle, dieser Grenelle? War er ein Freund Ihres Mannes? Von Lemoyne?«

»Er muss ein Freund von Lemoyne gewesen sein. Bernard kannte ihn nicht. Ich glaube, Simone Rouault hatte ihn ein, zwei Jahre davor mit Lemoyne bekannt gemacht. Mit der sollten Sie reden, wenn Sie was über Mitgliederwerbung wissen wollen. Sie war so schön, sie hätten Poster von ihr machen können, und die Mitgliederzahlen hätten sich über Nacht verdreifacht. Sie brachte eine Menge junge Männer rein. Sie gab der Revolution ein hübsches Gesicht, einen schönen Mund. Und natürlich ist sie mit jedem ins Bett gegangen.«

»Den Namen hab ich schon gehört. Haben Sie ihr nahe gestanden?«

»Wir kamen ganz gut miteinander aus. Aber wir sind uns nicht oft über den Weg gelaufen, weil wir immer darauf geachtet haben, nicht zusammen gesehen zu werden. Aber die war schon was, ein richtiges Original.« Bei der Erinnerung schüttelte Mrs. Theroux den Kopf. »Sie trank grundsätzlich nichts anderes als Champagner. Französischen Champagner – Veuve Cliquot, darunter tat sie’s nicht. Und sie rauchte unentwegt Gitanes. Ich hasse die Dinger. Sie stinken wie Zigarren. Ich sag Ihnen was, wenn Sie mit Simone reden wollen, nehmen Sie ihr eine Flasche Veuve Cliquot mit, und sie erzählt Ihnen ihre Lebensgeschichte.«

»Aber Simone war bei der Befreiungs-Zelle, bei der, die Hawthorne entführt hat, nicht wahr? Da kann sie Grenelle doch eigentlich nicht begegnet sein.«

»Oh, und ob sie das konnte. Grenelle war der Verbindungsmann zwischen den Zellen. Er ging zwischen ihnen hin und her. Ein Großmaul, dieser Grenelle, hatte den Kopf immer voller Ideen, wollte ständig Action, wollte, dass es voranging. Bernard und sogar Lemoyne waren, ich weiß nicht, besonnener.«

»Und wie hat Grenelle es geschafft, nicht geschnappt zu werden?«

»Zum Teil durch meinen Mann. Bernard ist Zimmermann, wie sein Vater. Bevor sie Duquette entführt haben, hatten sie sich ein anderes Haus als sicheres Versteck besorgt. Irgendwo am Südufer. Bernard hat in einen Kleiderschrank eine zweite Wand eingebaut. Das war ihr ganzer Fluchtplan. Aus heutiger Sicht wirkt es ziemlich jämmerlich, aber, sehen Sie, sie hatten niemals vor, jemanden zu töten, und so haben sie auch keinen detaillierten Fluchtplan entwickelt.«

»In den Kommuniqués stand was anderes. Sie haben vom ersten Tag an gedroht, Duquette umzubringen.«

»Sie haben verhandelt. Ihre Geisel als Druckmittel eingesetzt. Sie glauben mir nicht, aber es ist die Wahrheit – dreißig Jahre danach habe ich keinen Grund zu lügen. Sie waren über die Reaktion der Regierung vollkommen bestürzt. Dass sie die Bürgerrechte außer Kraft setzen. Die Armee rufen. Das hatte niemand kommen sehen. Bernard und Daniel dachten, sie hätten ziemlich gute Chancen, ein paar der politischen Gefangenen rauszubekommen. Niemand hätte gedacht, dass die Regierung die Geiseln sterben lassen würde. Schlimmstenfalls, dachten sie, würden sie selber freies Geleit nach Kuba oder Algerien oder sonst wohin bekommen.«

»Wären Sie mit Ihrem Mann nach Kuba gegangen?«

»Ja, natürlich. Oder Algerien. Egal, wohin.« Mrs. Theroux zuckte die Achseln. »Ich war jung.«

»Und Sie gingen nie davon aus, dass sie jemanden töten würden. Nicht einmal, als sie einen Provinzminister wie Duquette entführten?«

»Nein, das hätte ich nie für möglich gehalten. Keine Sekunde lang.« Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich nur, um ihr den Rücken kehren zu können. »Das Taxi braucht aber lange.«

»Ja, wenn sie nicht innerhalb der nächsten paar Minuten kommen, werde ich noch einmal anrufen.«

Die Tür ging auf, und ein kleines Mädchen kam herein, das Gesicht untröstlich. »Sasha hat schon wieder Farbe über mein ganzes Bild geschüttet.«

»Also, das ist wirklich schlimm, Monique.« Mrs. Theroux lehnte sich vor und legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, dass er es nicht absichtlich getan hat.«

»Hat er doch! Sasha ist gemein!«

»Also, jetzt gehst du bitte zurück und sprichst mit Danielle. Du weißt, du kannst jederzeit ein neues Bild malen.«

»Will ich aber nicht!«

»Na ja, aber rede mit Danielle.«

Mrs. Theroux hielt ihr die Tür auf, und aus dem Zimmer nebenan drang ein Schwall Kinderlärm herein. Sie setzte sich wieder Delorme gegenüber und rührte so lange in ihrem Kaffee herum, dass Delorme meinte, er müsse gänzlich verdampfen.

»Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass Bernard in einen Mord verstrickt werden könnte. Ich kenne meinen Mann. Ich kenne ihn jetzt, und ich kannte ihn damals. Statuen in die Luft jagen, ja. Unternehmen angreifen, ja – mitten in der Nacht, wenn niemand drin war und alle vorgewarnt waren. Aber jemanden kaltblütig umbringen, niemals. Das steckt einfach nicht in ihm.« Sie runzelte die Stirn und rieb sie sich, als könne sie so die Erinnerungen wegwischen.

»Nach vier oder fünf Tagen standen alle wirklich unter größtem Druck. Die Armee und die Polizei waren allgegenwärtig. Die drei Männer versuchen, einen Entschluss zu fassen, was sie tun sollen. Grenelle, der Angeber, ist ganz und gar dafür, Duquette zu töten, aber Lemoyne und Bernard brauchen Zeit zum Nachdenken. Sie gehen zu einem Freund, einem von den Sympathisanten, um sich zu beratschlagen, nur die beiden, während Grenelle zurückbleibt, um den Minister zu bewachen. Nach einer langen, hitzigen Debatte kommen sie zu dem Schluss, dass ihnen die Ermordung ihrer Geisel nichts einbringt. Die Armee war überall, die Regierung lehnte alle Verhandlungen ab, es sah so aus, als stünden sie auf verlorenem Posten, verstehen Sie? Sie beschlossen, Duquette nicht zu töten.

Sie gehen zu dem Haus zurück, um Grenelle ihre Entscheidung mitzuteilen. Sie kommen rein, sie finden ihn in der Küche. Er starrt aus dem Fenster, sagt kein einziges Wort – was für ihn ungewöhnlich war, dieses Großmaul. Und da sitzt er nun und starrt aus dem Fenster, hat Bernard mir erzählt, als ob ihm jemand mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen hätte.

Sie sagen ihm, sie hätten beschlossen, Duquette nicht zu töten. Sie sagen ihm auch, warum. Sie legen ihm das Für und Wider dar. Sie sagen ihm, dass es eine schwere Entscheidung war, aber dass sie sie für die einzig richtige halten. Die ganze Zeit sagt Grenelle nichts. Nicht ein Wort. Er starrt nur weiter aus dem Fenster.

Endlich dreht er sich zu ihnen um. Mustert sie von oben bis unten und schüttelt den Kopf.

›Was hast du?‹, fragen sie. ›Was ist los? Wenn du anderer Meinung bist, dann sag’s. Hör nur endlich auf, wie ein stummes Kalb aus dem Fenster zu starren. Spuck’s aus.‹

›Ihr kommt zu spät‹, sagt er.

›Zu spät‹, sagen sie, ›was willst du damit sagen?‹

›Ich hab ihn getötet‹, sagt Grenelle und bricht in Tränen aus. Dieser große, starke Kerl, Mr. Action, heult wie ein kleines Kind. Bernard und Lemoyne stürzen ins andere Zimmer und sehen, dass es wahr ist. Duquette liegt zusammengekrümmt unter dem Fenster – kein Atem, kein Puls, und dieser schreckliche Bluterguss am Hals. Das Fenster ist zerbrochen, und das Zimmer ist durcheinander, als ob es einen Kampf gegeben hätte.

Sie gehen in die Küche zurück, wo Grenelle immer noch schluchzt. Irgendwann können sie ihn beruhigen.

›Sag, was passiert ist‹, fordert Bernard ihn auf. ›Er hat versucht zu fliehen?‹

Grenelle sagt ihnen, dass Duquette es irgendwie geschafft hat, die Stricke loszubekommen. Grenelle ist in der Küche und hört die Nachrichten. Plötzlich hört er, wie etwas kracht. Er rennt ins Schlafzimmer und sieht, wie Duquette schon halb aus dem Fenster ist. Grenelle zieht ihn wieder rein, doch Duquette kämpft wie ein wildes Tier, schlägt hysterisch um sich. Grenelle zeigt ihnen sein Auge, das gerade anfängt blau anzulaufen. Jedenfalls kämpfen er und Duquette, und irgendwann schafft es Grenelle, ihn flach auf den Bauch zu legen. Er zieht wie wahnsinnig an Duquettes Pullover. Er will den Mann nur zur Ruhe bringen, außer Gefecht setzen. Er lockert seinen Griff, und Duquette wehrt sich erneut. Also zieht er wieder den Pullover nach hinten. Diesmal ist er entschlossen, mit dem Kerl fertig zu werden. Er lehnt sich mit seinem ganzen Gewicht zurück, so dass der Halsausschnitt Duquette die Kehle zuschnürt. Das war’s. Duquette wird bewusstlos, Grenelle schnappt sich den Strick und bindet ihm wieder die Hände zusammen. Das einzige Problem ist, dass Duquette nicht bewusstlos ist – er ist tot.

Grenelle erzählt ihnen das alles und fängt wieder an zu heulen. Der hartgesottene Revolutionär, plötzlich ist er Mamas Söhnchen. Die anderen beiden sind furchtbar aufgeregt, aber sie verstehen andererseits, wie es hatte passieren können. Sie müssen alles neu überdenken.«

»Das können Sie laut sagen«, warf Delorme ein. »Erklären sie nun Duquettes Tod zu einem Unfall, so dass sie als Tollpatsche und Dilettanten dastehen? Oder stellen sie es als eine Hinrichtung dar, so dass sie skrupellos erscheinen – grausam, aber Revolutionäre?«

»Genau. Sie beschlossen, als Revolutionäre dazustehen. Sie würden sich an den ursprünglichen Plan halten. Die ganze Zelle übernimmt die kollektive Verantwortung, egal, wer geschnappt wird und wer entwischt. Sie wollen sagen, dass es eine Gruppenaktion war.

Also schaffen sie die Leiche in den Kofferraum eines Autos und fahren zum St.-Hubert-Flughafen. Sie sagen den Medien, wo sie sie finden. Dann flüchten sie zu ihrem sicheren Haus am Südufer. Drei Wochen später findet die Polizei das Haus, und alle drei schaffen es, sich hinter die falsche Rückwand des Schranks zu zwängen. Sie waren die ganze Zeit da drin, während die Polizei das Haus durchsuchte, und hörten jedes Wort mit an. Irgendwann rückte der Trupp wieder ab, sie warteten noch einmal zwölf Stunden und türmten mitten in der Nacht. Die Polizei hatte keine Wachposten zurückgelassen, und so konnten sie einfach durch die Hintertür verschwinden.

Bernard und Lemoyne wurden innerhalb einer Woche geschnappt, als sie sich wie Penner in einer Scheune versteckt hielten. Grenelle entkam.« Mrs. Theroux seufzte tief und biss sich auf die Lippen.

Delorme sprach leise. »Wieso haben Sie das bis jetzt niemandem erzählt?«

»Zunächst einmal wegen des Treueschwurs. Und Bernard wollte, dass ich es niemandem erzähle. Er wollte die Geschichte so lassen, wie sie war.« Aus dem angrenzenden Zimmer war das wütende Gebrüll von Kindern zu hören. »Nicht so laut da drüben, Sasha! Andere Leute wollen sich unterhalten!«

»Ist einer von Ihnen je auf den Gedanken gekommen, dass Grenelle vielleicht gelogen hat? Vielleicht ahnte er, dass seine Waffenbrüder schwankten – in seinen Augen Schwäche zeigten –, und um die Revolution zu retten, nahm er die Sache selbst in die Hand und tötete Duquette.«

»O ja. Das ist jedem in den Sinn gekommen, ungeachtet seiner Tränen. Grenelle war immer der größte Hitzkopf. Derjenige, der mehr Aktionen wollte, größere Explosionen, mehr Schlagzeilen. Ich hab das sogar während des Prozesses bei Bernard angeschnitten. Zuerst wollte er nicht einmal an die Möglichkeit denken, und später, im Gefängnis, meinte er, dass es keine Rolle mehr spielte. Sie dürfen nicht vergessen, dass mein Mann nur wegen Kidnappings, nicht wegen Mordes verurteilt worden war.«

»Da ist noch etwas anderes«, sagte Delorme. »Wenn Grenelle ein solcher Heißsporn war, so ein Revolutionär, wieso hat er es nicht an die große Glocke gehängt, dass er die Geisel getötet hat? Wieso gibt er sich damit zufrieden, es als Unfall hinzustellen? Schließlich ist es in seinen Augen eine Kriegshandlung, nicht wahr? Ist er nicht schließlich ein Held?«

»Ja, sicher, er hat immer mit seinen Heldentaten geprahlt, den Bomben und alldem. Er hat immer gerne für alle gewalttätigen Aktionen der Zelle selber den Ruhm eingestrichen. Ich meine, er hat sie auch meistens dazu angestachelt, warum also auch nicht?«

»Statt sich genauso mit der Ermordung Duquettes zu brüsten, bricht er in Tränen aus. Nach allem, was Sie sagen, passt das nicht zu ihm.«

Mrs. Theroux zuckte die Achseln. »Vielleicht ist das eine normale Reaktion. Ich kann das nicht beurteilen, ich habe nie jemanden getötet.«

Delorme ja. Eine Serienkillerin namens Edie Soames. Noch Wochen danach war sie den Tränen nahe gewesen und hatte unter Depressionen gelitten.

»Dieses Taxi – ich glaube beinahe, Sie haben gar keins gerufen.«

»Ich glaube, ich geh dann mal, der Regen lässt nach. Danke für den Kaffee.« Delorme zog ihren Mantel an. »Sie sagen, Ihr Mann wollte nicht darüber nachdenken, ob Grenelle Duquette vielleicht absichtlich umgebracht hatte. Haben Sie eine Ahnung, wieso? Ich könnte mir denken, dass es seiner Selbstachtung als Revolutionär gut getan hätte.«

Mrs. Theroux war zusammen mit Delorme aufgestanden. Jetzt wandte sie sich ein wenig ab und zerknüllte ihre Schürze in den Händen. Sie sah aus dem Fenster, an dessen oberem Rand die Eiszapfen tropften.

»Hat er nie mit Ihnen über andere Möglichkeiten gesprochen?«

Mrs. Theroux schüttelte energisch den Kopf.

»Hat er zum Beispiel – ich weiß nicht – hat er nie etwas über den Schauplatz erzählt? Das Schlafzimmer, als er und Lemoyne zurückkamen und Duquette tot vorfanden? Hat er nie erwähnt, wie es aussah? Ob es zu dem passte, was Grenelle ihnen über den Fluchtversuch erzählt hatte, das zerbrochene Fenster, den Kampf?«

»Mein Mann war neunzehn, er war Zimmermann, kein Gerichtsmediziner.«

»Sicher. Aber wenn man den Ernst der Situation berücksichtigt, was es für ihr persönliches Leben bedeutete – oder für die politische Situation –, müssen sie doch darauf gebrannt haben, ganz sicher zu wissen, was stimmte und was nicht. Schließlich sind Ihr Mann und Lemoyne für zwölf Jahre ins Gefängnis gegangen. Wenn Grenelle nicht gewesen wäre, wäre es vermutlich bei Kuba und ein paar Jährchen danach geblieben. Was ich daher wissen möchte, ist, ob es am Tatort irgendetwas gegeben hat, das Ihren Mann vielleicht misstrauisch gemacht hat, das Grenelle in einem anderen Licht erscheinen ließ?«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich glaube, das wissen Sie sehr gut. Ich glaube, das lässt Sie seit dreißig Jahren nicht los.«

»Sie gehen jetzt besser. Bernard hatte recht, wir haben nichts zu gewinnen, wenn wir mit Cops reden, aber alles zu verlieren.«

»Wieso hat Miles Shackley hier angerufen, Mrs. Theroux? Weniger als einen Monat bevor er ermordet wurde.«

»Ich sagte Ihnen bereits: Ich kenne keinen Miles Shackley. Aber irgendjemand hat tatsächlich vor einem Monat hier angerufen. Ein Fremder. Er hat sich als Yves Grenelles Cousin aus Trois-Rivières vorgestellt. Bernard sagt, Grenelle käme tatsächlich aus Trois-Rivières, ob er allerdings irgendwelche Cousins hatte oder nicht, wer weiß das schon? Jedenfalls sagte dieser Cousin, sein Vater sei gestorben und ein Teil des Grundbesitzes solle an Yves gehen, ob wir wüssten, wo er ihn finden kann. Wir waren sogar misstrauisch, aber wer würde jetzt noch nach ihm suchen? Die RCMP? Die wussten nicht mal von seiner Existenz.«

»Was haben Sie ihm gesagt, dem Fremden, der nach Grenelle suchte?«

»Bernard ist drangegangen. Er hat ihm gesagt, er hätte noch nie von einem Yves Grenelle gehört.«

Delorme warf einen letzten Blick auf die Küche, die Kinderzeichnungen und ließ noch einmal die Atmosphäre harmloser Häuslichkeit auf sich wirken. »Danke«, sagte sie. »Ganz herzlichen Dank.«

»Mein Mann wird niemals mit Ihnen sprechen, und jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Ich hoffe, Sie kommen nicht wieder.«

»Nein, das wird nicht nötig sein.«

Mrs. Theroux verschwand, auf Geheiß einer Abordnung von drei Kleinkindern, in einem anderen Zimmer, um ihre Pflicht als Chefvorleserin des Beau Soleil Centre zu erfüllen. Delorme zog die Haustür hinter sich zu.

Draußen hatte der Regen nachgelassen, und die Straßen von Montreal glänzten sauber und wie neu.