10

 

Lise Delorme ärgerte sich darüber, wie sie im Fall Matlock kaltgestellt worden war. Was Cardinal gesagt hatte, entsprach durchaus der Wahrheit: Sie hatte schon mit Musgrave zusammengearbeitet, und sie kamen gut miteinander aus, auch wenn er ein chauvinistischer Albtraum war. Aber nein, Chouinard wollte Cardinal, und Cardinal bekam den Fall, basta. Und solange Cardinal bis über beide Ohren im interessantesten Fall des Jahres steckte, würde Delorme sich um den üblichen Kram kümmern, der so anfiel.

Sie hatte gerade an ihrem Schreibtisch gegessen, als aus dem St.-Francis-Krankenhaus ein Anruf mit einer Vermisstenmeldung hereinkam. Delorme hatte sich ein paar Einzelheiten notiert und versprochen, in zwanzig Minuten da zu sein.

Vermisstenanzeige. Das Dumme an diesen Meldungen war, dass die Leute meistens überhaupt nicht verschwunden waren. Zumindest die Erwachsenen. In den meisten Fällen haben sie nur die Nase voll – von ihrem Partner, ihrem Job, ihrem Leben –, und dann kommt ihnen ein Wundermittel in den Sinn. Eine spontane Auszeit. Doch bei dieser Vermisstenanzeige gab es ein paar Anhaltspunkte, die eine unverzügliche Untersuchung nahe legten, obwohl die Vermisste – eine unverheiratete Frau in ihren Dreißigern – noch keine vierundzwanzig Stunden unauffindbar war.

»Ich würde gerne Dr. Nita Perry sprechen«, sagte Delorme zu der Dienst habenden Schwester. »Könnten Sie sie wohl für mich anpiepen?«

Delorme setzte sich in einen Aufenthaltsraum und wartete. Im Fernseher, der in der Ecke stand, erklärte Geoffrey Mantis, Premierminister von Ontario, gerade, warum die Lehrer künftig länger arbeiten müssten.

»Klar doch«, sagte Delorme Richtung Mattscheibe. »Als ob du vorhättest, länger zu arbeiten.« Mantis schien nichts anderes zu tun, als für die eigene Gehaltserhöhung zu sorgen und in Urlaub zu gehen. Delorme hatte nie gedacht, dass Golf ein Sport rund ums Jahr sein könnte. Aber sie hatte gelernt, im Kommissariat ihre politischen Überzeugungen für sich zu behalten. Eindeutig Tory-Terrain, mit Ausnahme von Cardinal. Soweit sie wusste, waren sie beide die einzigen Cops, für die Mantis nicht der große Lokalmatador war.

Eine junge Frau in OP-Handschuhen kam herein. Sie war klein – gut sechs Zentimeter kleiner als Delorme. Ihr rotes Haar hielt sie sich mit zwei schlichten Haarklämmerchen aus dem Gesicht. »Ich hab nur einen Moment Zeit«, sagte Dr. Perry. »Ich bin gerade auf dem Weg zu einer OP.«

»Sie sind Chirurgin?«, fragte Delorme.

»Anästhesistin. Sie können nicht ohne mich anfangen.«

»Haben Sie Dr. Winter Cates als vermisst gemeldet?«

»Ja. Ich hab das Foto, um das Sie baten. Ich hab’s unserem Sicherheitsdienst abgeluchst.«

Auf dem Bild war eine hübsche Frau Anfang dreißig, mit lockigem schwarzem Haar und einem schiefen Grinsen, das ihr einen etwas süffisanten Ausdruck verlieh.

»Sie ist nur schlecht getroffen, glauben Sie mir.«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit Dr. Cates gesprochen?«

»Gestern Abend, etwa um halb zwölf. Ich hab sie angerufen, um ihr zu sagen, dass gleich ›Der Vollstrecker‹ im Fernsehen kommen würde. Sie ist ein ausgesprochener Mel-Gibson-Fan – wir beide, genauer gesagt. Aber sie hatte sich ein Video ausgeliehen, das sie sich ansehen wollte. Da klang sie auf jeden Fall noch völlig normal. Vollkommen unbesorgt.«

»Halb zwölf ist ziemlich spät, um jemanden anzurufen. Selbst für eine gute Freundin.«

»Nein, ganz und gar nicht. Winter ist ein Nachtlicht, so wie ich. Ich glaube, ich würde sie nach eins nicht mehr anrufen, aber bis dahin jederzeit. Wir telefonieren oft noch spätabends. Wir haben noch darüber gewitzelt, Ferien auf der Farm zu machen, das ist unser Code für ›Fernsehen und dabei eine Tüte Pepperidge runterfuttern‹. Winter war gerade dabei, eine Tüte aufzumachen, als ich anrief.«

»Wann haben Sie angefangen, sich Sorgen zu machen?«

»Heute Morgen. Wir hatten einen Eingriff, der auf acht Uhr angesetzt war, und sie ist nicht erschienen. Das wäre bei jedem ein Grund zur Besorgnis, aber ganz bestimmt bei jemandem, der so gewissenhaft ist wie Winter. Auf sie ist einfach hundert Prozent Verlass – wie auf kaum jemanden sonst.« Ein Schatten huschte über die lebhaften blauen Augen der Ärztin, als ob sie die zahllosen Leute Revue passieren ließe, auf die kein Verlass war. »Außerdem sind Winter und ich gute Freundinnen geworden, wissen Sie. Enge Freundinnen. Es passt einfach überhaupt nicht zu ihr, mir nicht Bescheid zu geben, was los ist. Ich hab ein paarmal bei ihr angerufen, aber sie hat nicht zurückgerufen. Sie hat, wie’s aussieht, nicht einmal den Anrufbeantworter abgehört. Passt genauso wenig zu ihr.«

»Haben Sie sonst irgendetwas unternommen, um sie zu finden?«

»Nach der Operation hab ich bei ihr in der Praxis angerufen, aber ihre Sprechstundenhilfe hatte auch nichts von ihr gehört. Und ich hab ihre Eltern angerufen. Sie wohnen in Sudbury, und Winter ist oft am Wochenende bei ihnen, aber die hatten auch nichts von ihr gehört. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst noch wenden sollte. Sie ist erst seit ungefähr einem halben Jahr in der Stadt. Sie kennt hier noch nicht viele. Ich wollte noch mal in ihrer Praxis anrufen, aber ich wollte denen auch nicht auf den Wecker fallen.«

»Also, ihre Sekretärin hat uns kurz nach Ihnen angerufen.«

»Oh, nein.« Dr. Perry hielt sich die Hand vor den Mund.

»Im Moment besteht noch kein Grund zur Aufregung. Vorerst müssen wir noch nicht an ein Verbrechen denken.«

»Also, ich will Ihnen sagen, was mir wirklich Angst macht«, sagte Dr. Perry. »Ich bin heute Mittag zu ihr rübergefahren, und ihr Wagen war noch da. Wenn sie also nicht nach Hause gefahren ist, wo ist sie dann hingegangen? Und wieso hat sie niemandem Bescheid gegeben?«

»Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass irgendjemand ihr Schaden zufügen könnte? Hatte sie Ihres Wissens irgendwelche Feinde?«

»Ich kann nicht glauben, dass irgendjemand den geringsten Grund hätte, Winter etwas antun zu wollen. Sie hatte überhaupt keine Feinde. Sie ist einfach der netteste Mensch, den Sie sich denken können. Intelligent, witzig, zuverlässig – großartige Ärztin. Fragen Sie jeden, der mit ihr zusammenarbeitet. Es gibt keinen, den sie lieber im OP dabeihaben wollen.«

»Wir werden selbstverständlich noch mit ihren anderen Kollegen sprechen«, sagte Delorme. »Aber was ist mit einem Freund? Ist sie mit jemandem zusammen, den Sie kennen?«

Dr. Perry sah zu Boden. Ihre OP-Haube verrutschte, und sie zupfte sie geistesabwesend wieder zurecht. »Winter hat einen Freund von früher, der, na ja, problematisch ist. Aus Sudbury. Craig Soundso. Ich hab ihn einmal kennen gelernt. Ich glaube, sie hat mir seinen Nachnamen nie genannt. Ich war einmal bei ihr zu Hause – wir wollten gerade essen gehen und danach ins Kino –, und dieser Craig steht auf einmal in der Tür. ›Ich kann jetzt nicht‹, sagt Winter zu ihm. ›Ich gehe aus.‹ ›Kein Problem‹, sagt er, ›ich fahr euch!‹ Es war wirklich schwer für sie, ihn loszuwerden.«

»Kam er Ihnen gefährlich vor?«

»Oh, nein. Ich fand es nur ein bisschen seltsam, dass er einfach so aufkreuzt. Winter sagte, das sei typisch für ihn. Offenbar hatte sie ihm schon längst gesagt, dass es vorbei ist, aber er tut beharrlich so, als wär nichts gewesen. Er hat immer gehofft, dass sie nach Sudbury zurückkommt, wenn sie mit dem Studium fertig ist. Aber sie wollte nicht zurück.«

»Wegen ihm?«, fragte Delorme.

»Oh, keine Ahnung. Ich will den Kerl nicht zu einem Ganoven hochstilisieren. Ich glaube, sie hatte einfach keine Lust, in ihrer Heimatstadt zu bleiben. Das können Sie sicher nachvollziehen?«

Eigentlich hatte Delorme nie woanders leben wollen als in ihrer Heimatstadt. Selbst als sie an die Uni in Ottawa ging – und danach auf die Polizeiakademie in Aylmer –, hatte ihr Algonquin Bay gefehlt. Es war etwas Besonderes, wenn man in der Stadt leben konnte, die einen geprägt hatte – dieses Gefühl von Rückhalt und Kontinuität –, das keine andere Stadt, wie reizvoll oder kosmopolitisch sie auch sein mochte, ersetzen konnte. Aber sie wusste auch, dass andere das anders sahen.

»Gibt es noch irgendjemanden, mit dem Dr. Cates Probleme hat? Hat sie irgendetwas erwähnt?«

»Na ja, sie hatte so was wie eine Auseinandersetzung mit Dr. Choquette, aber nichts Ernstes.«

»Was für eine Auseinandersetzung? Worüber?«

»Winter hat Ray Choquettes Praxis übernommen, als er sich zur Ruhe setzte, und es gab ein paar Missverständnisse über ihre Abmachungen.«

»Er hat ihr die Praxis verkauft?«

»Nein, eine Arztpraxis können Sie nicht verkaufen, nicht in Ontario. Wahrscheinlich ging es um die Ausstattung oder etwas in der Art. Jedenfalls hat sie sich darüber geärgert.« Dr. Perry sah auf die Uhr und stand auf. »Ich muss jetzt wirklich. Hören Sie, Winter ist ein feiner Kerl. Ich meine, sie ist wirklich etwas Besonderes. Sie macht Menschen glücklich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre.«

»Es sind noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen«, sagte Delorme in bester Krankenschwestermanier, »wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

 

Dr. Cates’ Wohnung lag in der Twickenham Mews, einer teuren Gruppe von niedrigen Häusern am Ende einer kurzen Straße hinter der Algonquin Mall. Delorme konnte sich noch an die Zeile weiß getünchter Bungalows erinnern, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, um für das Einkaufszentrum Platz zu schaffen. Mit seinen roten Backsteinhäusern und den Zedern gehörte Twickenham Mews zu den attraktivsten Ecken weit und breit. Es wirkte heimelig – für ein Appartementhaus, man bekam richtig Lust, hineinzugehen, besonders da der Nebel jetzt wieder in Regen überging.

Delorme klingelte bei der Hausmeisterin, einer Mrs. Yvonne Lefebvre. Sie erschien an der Tür, eine spindeldürre Frau in ihren Vierzigern mit rot geränderten Augen und einem Taschentuch vor dem Gesicht. »Allergie«, sagte sie. »Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ich weiß nicht, ob es vom Schimmel kommt oder was. Ich weiß nur, dass eine die andere jagt.« Sie unterstrich ihre Ausführungen mit einem Nieser.

Als Delorme erklärt hatte, wer sie sei und in welcher Angelegenheit sie komme, brauchte Mrs. Lefebvre gute zwei Minuten, um unter mehrfachem Niesen und Naseschnäuzen den Weg zum Ende des Flurs zurückzulegen und ein Schlüsselbund hervorzukramen, bevor sie wieder zur Tür zurückkam, wo Delorme wartete – ein Ausflug, von dem sie sich, an die Wand gelehnt, erst einmal erholen musste.

»Wie schaffen Sie denn alleine ein so großes Gebäude?«, fragte Delorme.

»Oh, damit hab ich gar nichts zu tun, meine Liebe. Mein Bruder erledigt alle Reparaturen und die Wartung. Ich ziehe nur die Miete ein. Hören Sie, macht es Ihnen was aus, wenn ich nicht mit hochkomme? Ich bin nicht ganz auf dem Posten.«

»Tut mir leid, aber es geht nicht ohne Sie. Wenn Dr. Cates zurückkommt und es fehlt etwas, möchte ich nicht, dass sie denkt, die Polizei hätte es weggenommen.«

Der Weg durch den Flur in den Fahrstuhl bis zur Wohnung der Ärztin dauerte fünfmal so lang wie normalerweise. Über den größeren Teil der Strecke suchte Mrs. Lefebvre an der Wand Halt.

»Was für einen Wagen fährt Dr. Cates?«

»Einen PT Cruiser. Normalerweise wüsste ich das nicht auf Anhieb. Ich weiß es nur, weil es so ein schnuckeliges, kleines Auto ist und ich sie einmal gefragt hab, als sie gerade ihre Lebensmittel rausholte. Es steht noch auf ihrem Parkplatz hinter dem Haus.«

Mrs. Lefebvre lehnte sich mit puterrotem Gesicht gegen den Türpfosten, während Delorme die Wohnung aufmachte, und setzte sich drinnen auf den nächstbesten Holzstuhl. »Ich hau mich hier hin. Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie fertig sind.«

Die Lampen waren an, wie Delorme sofort bemerkte, als sie eintrat. Auch die Gardinen waren nicht zugezogen. Ein großes Flachglasfenster ging auf den Nipissing-See hinaus, der grau und trübe unter dem schräg einfallenden Regen lag.

Die Wohnung vermittelte den Eindruck behaglicher Unordnung. Die Möbel waren neu, im Landhausstil, wie Delorme sie nur aus Katalogen kannte. Eine bunte Wolldecke lag zusammengeknüllt am einen Ende des Sofas. Auf dem Couchtisch türmten sich Videos. Aus einem randvollen Papierkorb quollen Zeitschriften – The New Yorker, Maclean’s, Scientific America. Die Bücherregale bogen sich unter Thrillern im Taschenbuchformat, die kreuz und quer hineingestopft waren. Überall standen halb leere Kaffeetassen und Weingläser herum, und allenthalben fanden sich Gegenstände am falschen Fleck – ein Bügeleisen auf dem Couchtisch, ein Squashschläger im Esszimmerbereich, ein BH über einer Stuhllehne.

Nicht gerade eine Ordnungsfanatikerin, dachte Delorme. Das Entscheidende war, dass nichts zerbrochen, nichts umgeworfen war und somit auf einen Kampf hingedeutet hätte.

Sie ging langsam durchs Wohnzimmer, die Hände in den Hosentaschen, um nichts anzufassen. Über den Couchtisch gebeugt blieb sie stehen. Von einer Videohülle starrte ihr Mel Gibson entgegen: »Fletcher’s Visionen«. Auf dem Sofa lagen zwei Fernbedienungen, eine für den Fernseher und eine für den Videorekorder. Der Bildschirm war dunkel, doch das rote Lämpchen leuchtete.

Auf dem Tisch stand ein Teller mit Keksen, zwei Keksen, genau gesagt, neben einem fast vollen Henkelbecher Tee.

In der Küche war das Spülbecken ein einziger wackeliger Turm Kochgeschirr. Delorme hob den Deckel von einer kleinen braunen Teekanne. Sie war halb voll. Nicht weit davon lag eine Tüte Pepperidge Farm Cookies, in der die erste Reihe Kekse fehlte. Delorme pflegte selber ein ähnliches Ritual: ein Video, ein Glas Milch, ein Teller Kekse – das perfekte Beruhigungsmittel. Offenbar war die Ärztin mitten in ihrem Imbiss weggerufen worden. Ein Patient? Ein Verwandter? Dieser Freund?

»Haben Sie in den letzten Tagen Fremde im Haus gesehen?«

»Nee. Nur die üblichen. Nicht dass ich ne Liste führe. Ich bin der unvorwitzigste Mensch, den Sie sich vorstellen können – abgesehen davon, dass meine Wohnanlage mitten im Gebäude ist. Liegt ja nicht zur Straße oder zum Parkplatz raus.«

»Wer hat Dr. Cates regelmäßig besucht?«

Mrs. Lefebvre schniefte und betupfte ihre Augen. »Kann ich Ihnen nicht sagen. Sie ist ja erst seit ein paar Monaten hier. Zahlt pünktlich ihre Miete, beschwert sich nicht. Alles andere ist mir egal. Dass Sie mich nicht falsch verstehen. Meine Mieter sind mir natürlich nicht egal. Aber normalerweise lerne ich nur die auf meinem Stock kennen. Sie wissen schon, man läuft sich mal über den Weg, bringt ihnen die Post mit hoch und so was.«

»Haben Sie sie überhaupt mal mit irgendjemandem gesehen?«

»Ihre Eltern sind mal zu Besuch gekommen. Und ich hab sie ein paarmal mit ner rothaarigen Frau gesehen.«

»Klein? Strahlend blaue Augen?«

»Kann sein.«

Das konnte nur Dr. Perry gewesen sein.

»Haben Sie sie jemals mit einem Mann zusammen gesehen?«

»Ja, hab ich, jetzt, wo Sie’s sagen. War nicht sonderlich groß. Ganz kurzes Haar und sehr höflich. Hat mir die Tür aufgehalten. Ich erinnere mich dran, weil ich dachte, Honey, den Kerl solltest du heiraten. Sie ist so hübsch, dass ich mich schon gefragt hab, warum sie keinen Kerl hat. Sicher, Ärzte haben immer so viel zu tun …«

Delorme ging ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch standen ein Telefon und ein Anrufbeantworter, auf dem eine Vier leuchtend rot blinkte. Delorme drückte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf die Abspieltaste. Die elektronische Stimme eines Computerchips kündigte die erste Nachricht von 10.15 Uhr morgens an. Es folgte die Stimme von Dr. Perry, die Winter fragte, wo sie geblieben sei und ob sie den OP-Termin vergessen habe.

Zweite Nachricht, gleichfalls Dr. Perry.

Die dritte Nachricht kam von jemandem namens Melissa, vermutlich der Sekretärin von Dr. Cates, die wissen wollte, wo sie sei, das Wartezimmer fülle sich allmählich.

Delorme drückte auf den Knopf für alte Nachrichten. Diese Aufnahmen hatten keine Uhrzeit und kein Datum mehr. Die Stimme eines jungen Mannes meldete sich. Winter, ich bin’s. Tut mir leid, wie ich mich neulich benommen habe, ich war nur so aufgeregt. Ich muss dich sehen. Ich kann nicht Monat für Monat so weitermachen wie du. Am Wochenende ist es am schlimmsten. Bitte ruf an – Gott, ich klinge, als würde ich dich anflehen. Ja, ich flehe dich an. Bitte ruf zurück. Ich liebe dich.

Der nächste Anruf mit derselben Stimme: Ich weiß, dass du da bist, Winter. Ich weiß, dass du deine Anrufe abhörst. Wieso kannst du mich nicht einfach zurückrufen? Weißt du, manchmal bekomme ich zwanzig oder dreißig Anrufe am Nachmittag – zum großen Teil von Leuten, die ich nicht kenne –, und ich rufe alle zurück. Du behandelst mich schlimmer, als ich einen Wildfremden behandeln würde. Ich würde niemandem antun, was du mir antust.

Dritte Nachricht: Inzwischen mit verzweifeltem Unterton: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Winter. Ich werd hier noch wahnsinnig. Ich schnapp einfach über. Ich kann nichts essen, ich kann nicht klar denken, ich krieg kaum Luft. Das tust du mir an. Ich weiß einfach – ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Bitte ruf an. Unter der Handynummer.

Dr. Perry hatte den Namen des Exfreunds erwähnt, Craig Soundso. »Klingt ganz danach, dass Craig Soundso total verknallt ist«, murmelte Delorme vor sich hin. »Klingt ganz danach, dass Craig Soundso bald durchdreht.«

Aber aus welchem Grund behielt eine Frau solche Anrufe auf dem Band? Warum löschte sie sie nicht sofort? Behielt sie sie als Beweis dafür, dass der Kerl sie belästigte, ihr nachstellte? Andererseits konnte es gut sein, dass sie nur vergessen hatte, sie zu löschen.

Delorme wandte sich dem Knäuel aus Steppbett, Kissen und Daunendecke zu. Sie schlug sie vorsichtig zurück; nichts deutete auf Sex hin.

Sie ging zum Wandschrank. Die Ärztin war kein Modepüppchen. Die Sachen auf den Bügeln schienen zur Hälfte aus Jeans zu bestehen, und die Fächer waren voll mit Sweatern. Es hing ein angenehmer Duft nach einem leichten Parfüm und Lederschuhen in der Luft.

Sie zog ein gerahmtes Foto unter den Sweatern hervor. Darauf war ein junges Paar – eine jüngere Ausgabe von Dr. Cates in den Armen eines jungen Mannes. Sie war für einen gesellschaftlichen Anlass gekleidet, doch was Delorme den Atem verschlug, war die Kleidung des Mannes: der hohe, steife Kragen, die Epauletten, der Kasack aus roter Serge.

Delorme ging ins Wohnzimmer und zeigte das Bild Mrs. Lefebvre. »Ist das der Mann, den Sie mit Dr. Cates zusammen gesehen haben?«

»Mensch Meier«, sagte Mrs. Lefebvre und putzte sich erst mal die Nase. »Und ob er das ist. Hätte nie gedacht, dass der bei den Mounties ist.«