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Die Küste von Weggismarche lag unter einem weißen Tuch fallenden Schnees. Schiffe passierten sie, liefen mit unterschiedlichen Kursen die Küste hinauf und hinab, aber keines davon war aus Pallasta oder Weggismarche. Alle sahen so aus, als kämen sie aus den Bleichen Meeren; schnell, unbekannt, bedrückend. Die Lufttemperatur fiel jetzt so rasch, daß sich Frost und See-Eis an Deck und in der Takelage bildeten. Gleichzeitig nahm die Luftfeuchtigkeit zu, bis sie schließlich durch einen gefrierenden Nebel trieben. Die ganze Mannschaft, ob zur Wache eingeteilt oder nicht, schuftete, um das Deck und die Takelage vom Eis zu befreien. Der Winter kam spät, aber mit trotziger Macht.

Der Nebel verbarg den größten Teil von Weggismarche vor ihrem Blick. Perverserweise wuchs gerade dadurch die Hoffnung in der Mannschaft, daß ihr Land auf irgendeine Weise von den schlimmsten Zerstörungen durch den Fall verschont geblieben war; daß es ihnen gelingen könnte, davonzuschlüpfen, wenn der Nebel dicht genug war, und in ihre Heimat zurückzukehren. Sicher würde es eine harte Schlacht mit diesen Männern von den Bleichen Meeren geben, sagten sie, aber das wäre immer noch besser, als nie die Wahrheit zu erfahren – besser, als im Angesicht Des Walls zu sterben, dort, wo die Welt endete.

Prekari blieb weiterhin zurückgezogen.

Kiril fertigte Zeichnungen des Unterseebootes und des Schiffsauf-Beinen an, wann immer es klar genug war, sie zu sichten. Nachdem er etliche Stunden durch dünner werdenden Nebel gestarrt und seine Augen in dem trüben Licht überanstrengt hatte, hatte er genügend Einzelheiten beisammen, um sich ein Bild davon zu machen, wie er glaubte, daß das Schiff-auf-Beinen von allen Seiten aussah.

Es hatte wenigstens vier kleine Geschütze an jeder Seite und zwei schwere an Bug und Heck. Rohrleitungen waren längs beider Seiten angebracht, und auf der Schwanzflosse kauerten Batterien von rechteckigen Kästen. Teller saßen dicht an dicht an einem Masten, der sich von der Brücke erhob. Es erzeugte ein abscheuliches Röhren, wenn es auf Höchstgeschwindigkeit war, und versprühte dünnen grauen Rauch aus Schlitzen in der Mitte des flachen Hecks.

Das Unterseeboot schien, so weit er es sehen konnte, ähnlich geformt zu sein wie ein Thunfisch, mit einer verdickten Finne direkt hinter dem Kopf. Diese Finne, oder Turm, war kanonenmetallgrau. Der Rücken des U-Boots war mit dunkel lackiertem Holz gedeckt.

Der zweite Tag ihrer Gefangenschaft führte sie an der nördlichen Halbinsel von Weggismarche vorbei, auf der einmal der Obelisk gestanden hatte. Er lag auf der Seite, so daß er den Isthmus überspannte wie eine Brücke, verankert in einer Bergkette auf der Halbinsel und einer auf dem Festland, die Hälfte seiner Spannweite verloren in massivem Fels. So weit sie erkennen konnten, schien er nicht gebrochen zu sein, aber der Horizont verschluckte seine ferneren Teile in grauen Wolken. Sie passierten den Fuß des Obelisken und sahen, daß er glatt war, wie mit einer unvorstellbaren Säge abgeschnitten. Der Fuß stand über die Bergkette auf der Halbinsel hinaus und ragte einen Kilometer hoch in die Luft, ein viereckiges Stück Kreide, das hinter dem Ohr eines Felsgiganten stak. Wo der Obelisk auf den Boden geprallt war, hatten sich Ströme geschmolzenen Gesteins zu gekräuselten grauen Wällen abgekühlt, von denen sich einige bis ins Meer erstreckten. Ringsumher war nichts als verbrannte Erde. Kiril betrachtete die Verwüstung ohne besondere Gefühlsregungen. Es war zu unglaublich, als daß es wahr sein konnte. Ihm wäre es wahrscheinlicher vorgekommen, wenn das Ding sich vollständig eingegraben hätte und zugedeckt worden wäre.

In seiner Vorstellungswelt waren die Obelisken nicht länger unwandelbare Bestandteile des Lebens auf Hegira. Der gefallene Turm war ein riesiges Ding, einem Stab gleich, der in einen Ameisenhaufen gestoßen wird, und sein einziger Zweck war es, das Leben der Menschen aufzuwühlen. Er verabscheute und haßte ihn und das, wofür er stand – Wissen, Zugewinn, statische Zivilisationen, endlose zyklopische Fortschritte – all das.

Auch Hegira war in seinen Augen gesunken. Die Welt war nicht länger ein Axiom, das man ohne weitere Fragen hinnehmen konnte. Sie mußte sich erst ganz von neuem beweisen, bevor sie ihre einstige Festigkeit zurückgewinnen konnte.

Das Unterseeboot führte sie in fortschreitend flacher werdende Gewässer, deren Farbe von tiefem Blaugrau zu Graugrün wechselte. Die Wellen nahmen einen milchig trüben Glanz an. Die Luft wurde trocken und sehr kalt, wie ein Hauch von Trockeneis. Und nirgends, von den Schiffen abgesehen, die sie eskortierten, sahen sie irgendwelche Zeichen von Leben. Sie waren in den Bleichen Meeren.

Am vierten Tage erschien an Backbord voraus Land. Es war eine schmale Landzunge mit sandigen Stränden, in Schleier aus weißem Bodennebel gehüllt. „Es ist ihr peinlich, sich offen zu zeigen“, kommentierte Bar-Woten. Gegen Mittag rückte sie hinters Heck. Staubige grüne Büsche tüpfelten ihre nördlichen Hänge. Gegen Abend endlich stiegen an Steuerbord schroffe Klippen aus rötlichem Stein aus der schlammigen See. Vögel kreisten in weißen Wölkchen an der Wasserlinie. Ihre Rufe klangen wie das Klagen kleiner Kinder. Eine mit einem Angelhaken und einem Köder bestückte Schnur, die man über die Seite herabließ, brachte einen kleinen, stintartigen Fisch fast ohne jedes besondere Merkmal herauf. Er war silbrig, als sie ihn zuerst aus dem Wasser zogen, aber milchweiß im Tode.

Das Unterseeboot lotste sie am achten Tage ihrer Gefangenschaft in einen öden, felsigen Hafen. Man befahl ihnen, den Anker auszuwerfen und weitere Anweisungen vom Schiff-auf-Beinen – das als ‚Tragflügelboot’ bezeichnet wurde – abzuwarten. Das Unterseeboot ging auf Tauchstation und stieß tiefer in den Hafen vor.

Der Kapitän befahl, dem Wasser eine Probe zu entnehmen, und sofort wurde ein Becher über Bord gelassen, mit dem man einen Liter schlammiger Flüssigkeit heraufholte. Zögernd stippte Prekari seinen Finger hinein und kostete einen Tropfen. „Hier ist es nicht mehr salzig“, sagte er. „Wir sind gar nicht in einem Meer. Wir müssen in einem Fluß sein.“

Teile des Puzzles, das die Bleichen Meere waren, begannen an den richtigen Platz zu fallen. Von einem Punkt einige hundert Kilometer nördlich von Weggismarche an waren die Bleichen Meere in Wirklichkeit ein gewaltiges Flußdelta, welches Schlamm und Schlick von Ländern herantrug, die sich Tausende von Kilometern dahinter erstreckten. Aber die Ausmaße des Flusses waren verblüffend – wo lag sein Ursprung? Am Weltenwall?

Barthel erfuhr von Avra, warum wenige Seeleute aus Weggismarche jemals in die Bleichen Meere gereist waren, und keine so weit wie sie jetzt. Er erzählte es Bar-Woten weiter. Zusätzlich zu den Legenden über unbekannte Gefahren wurden die Bleichen Meere in regelmäßigen Abständen von giftigen Schadstoffen durchflutet, und von diesen Strömungen stiegen gefürchtete Gase auf, die eine Durchfahrt unklug erscheinen ließen. Der Halbinsel-Obelisk, so wurde allgemein gemutmaßt, bezeichnete eine Grenze, weil nördlich davon keine weiteren Obelisken aufzufinden waren. Was sich daraus folgern ließ, so sagte Barthel, wußte keiner. Aber für die Einwohner Weggismarches, Pallastas und der umliegenden Länder war der Norden offenkundig wenig gastfreundlich. Und doch hatten sie jetzt den Beweis, daß dort Menschen lebten!

Das Schiff-auf-Beinen rief sie am späten Nachmittag an und befahl ihnen, den Anker zu lichten. Man werde jetzt den Hafen verlassen und gegen die Strömung segeln. Zum Glück werde der Wind mit ihnen sein.

Gegen Abend sahen sie Rauch und Dunstschleier. Sie kämpften sich unter Volldampf gegen das unbarmherzige Wasser voran, die Segel gebläht von einer steifen Brise; Masten und Spieren knarrten unter der Belastung. Ein unangenehmer Geruch wehte ihnen wie zur Begrüßung entgegen, untergründiger, aber stechender als der Gestank der Methantanks allein. Er biß in der Nase und ließ die Augen tränen.

Von der fernen Küste stiegen Rauchfedern aus einer Kolonade von Schloten auf. Die Luft war gesättigt mit Schmiere und Ruß. Ein kurzer, unangenehmer Gedanke schoß Kiril durch den Kopf – sie waren schnurstracks unterwegs in die Hölle, und vor ihnen lag nichts als Feuer und Eis.

Die Nacht war unerfreulich und brachte keinen Schlaf. Während sie in einer kleinen Bucht außerhalb der wirbelnden Strömung vor Anker lagen, erfüllte sich die Dunkelheit mit dem Röhren von Maschinen und dem Brüllen von Hochöfen. Der Wind war abgeflaut, und der Rauch wallte jetzt zäh rings um sie herum, ein dunstiger Schleier, der sich langsam um sie schloß, sie zu ersticken. Barthel gestand, daß ihm das gar nicht gefiele. Das Trio hatte sich um Mitternacht auf dem Hauptdeck getroffen und unterhielt sich nun darüber, was sie tun würden, wenn sie das Schiff würden aufgeben müssen. Barthel widerstrebte es, auch nur darüber nachzudenken; Kiril hingegen war beinahe begierig darauf. „Ich sehe keine andere Chance“, sagte er. „Auf uns allein gestellt wären wir jetzt besser dran …“

„Wie das?“ fragte Bar-Woten. „Wir beherrschen die hiesige Sprache nicht, ja, wir wissen nicht einmal, was für ein Menschenschlag hier lebt, oder sonst etwas von dem, was wir wissen müssen, wenn wir unerkannt durchschlüpfen wollen. Diese Maschinen machen mir Angst – ich gebe das offen zu und lache jedem ins Gesicht, der sagt, ihm nicht.“

„Ihr habt den rechten Geist verloren. Es ist uns aufgegeben, voranzuschreiten, wann immer uns das möglich ist“, sagte Kiril.

Der Ibisier musterte Kiril beim gedämpften Schein ihrer abgedeckten Laterne. Der Mediwewaner starrte in die Dunkelheit.

„Nicht, wenn wir dadurch in ein offenes Feuer spazieren statt drumherum“, sagte Barthel, indem er sein Gewicht von seinem Sitz aus Tauen auf das hölzerne Deck verlagerte. Kiril schnaubte verächtlich.

„Hört her“, zischte Bar-Woten. „Falls dieses Schiff in eine Lage gerät, aus der niemand entkommen kann, dann sind auch wir gefangen, und das ist gar nicht gut, wie ich zugeben muß. Dazu dürfen wir es allerdings nicht kommen lassen. Aber für den Augenblick können wir nur abwarten und zusehen. Wenn die Leute, die die Maschinen betreiben, so weise sind, wie sie tüchtig sind, mögen wir besser dran sein, als wir glauben.“

Eine Pfeife schmetterte jenseits der Hügel, die die Bucht umgaben. Sie klang wie ein sterbender Saurier. Kiril brach der Schweiß aus, obwohl die Nachtluft beinahe frostig kalt war.

„Also tun wir nichts“, sagte er. „Wir setzen uns hin und warten, bis es uns erwischt, und geben alles auf.“

Die anderen sagten nichts. Bar-Woten wandte sich der schimmernden Nachtluft jenseits der Hügel zu und leckte seine trockenen Lippen. Er haßte es, nicht zu wissen, gegen was es zu kämpfen galt.