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Der Innenraum des Hofes war mit Fliesen ausgelegt, und in seiner Mitte erhob sich ein Springbrunnen, eine bronzene Schale, gehalten von Steinlöwen, so alt, daß sie nahezu formlos waren. Lampenschein drang aus den oberen Fenstern des Hauses an der rückwärtigen Hofseite. Ein gezackter Riß verlief vom gerundeten Kopfstück der Türeinfassung zu einem Fenster darüber. Alles wirkte ebenso alt wie der Brunnen. Daneben war Ual so frisch und jung wie eine Blume.
Sie schritten durch die Tür und kamen in eine Eingangshalle, die quer über die ganze Front des Hauses verlief. Zu beiden Enden führten Türen tiefer ins Innere des Hauses. Kiril fragte, warum die Diele keine Tür in der Mitte habe, und Ual sagte, das sei, die Gingerii draußen zu halten – die Dämonen. Dämonen konnten sich nur in einer geraden Linie fortbewegen. Rasch demonstrierte sie ihm, daß es keine Möglichkeit für einen Dämon gab, von der Pforte zum Ende der Diele zu gelangen, nicht in der einen und nicht in der anderen Richtung. Kiril nickte. Sie geleitete ihn nach rechts und öffnete die Tür mit einem eisernen Schlüssel, den sie ums Handgelenk gebunden trug.
In einem kleinen, kahlen Raum mit einem Fenster in Augenhöhe in der Außenwand hieß sie ihn allein warten. Er nahm auf einer glattpolierten hölzernen Bank Platz und schlug die Beine übereinander. Elena kam ihm in den Sinn, und seine Stirn legte sich in Falten. Er drehte und wendete seine Schuldgefühle so lange, bis sie sich in eine Art Zorn auf Elena verwandelt hatten; sie hatte kein Recht, von ihm zu erwarten, unmenschlich keusch zu sein.
„Dies ist der Haushalt meines Bruders Hualao“, erklärte sie ihm, als sie zurückkehrte. „Er starb in den Wellen.“ Kiril sagte, es tue ihm leid, und sie blickte ihn verwundert an.
„Du hattest nichts damit zu tun.“
Er begriff, daß sie seine Beileidsbekundung für eine Entschuldigung genommen hatte. „Ich wollte sagen, es grämt mich, daß er tot ist.“
„Wäre er nicht tot, würdest du nicht hier sein. Dein Schiff wäre weggesegelt, und ich wäre nie auch nur auf den Gedanken gekommen, dich zu erwählen.“
Kiril nickte, obwohl er nicht verstand. Er folgte ihr in einen Raum mit hoher Decke, der von einer gemauerten Feuerstelle, einem schweren Plüschteppich und bequem gepolsterten Rohrmöbeln ausgefüllt wurde.
„Ich bin Jungfrau“, sagte sie. Er nickte einverständig, bis ihm klar wurde, was sie gesagt hatte. Er kam sich dümmlich und tolpatschig vor. Das war doch ein sinnenfrohes Eiland im Ozean – waren denn die Mädchen hier nicht alle schon frühzeitig erfahren? Seine Nervosität verdreifachte sich.
„Aber du wirst nicht imstande sein –“ setzte er an, nur um festzustellen, daß er nicht wußte, wie weiter.
„Hm?“
„Tut mir leid“, sagte er.
„Dir tut die ganze Zeit irgend etwas sehr leid.“
„Ich werde hier draußen schlafen“, sagte er. In Mediwewa schliefen die Ehemänner die ersten Nächte getrennt von ihren Frauen. Angeblich vergrößerte das ihre Freundschaft und ihr Vertrauen zueinander und befestigte die Verbindung in den Augen Gottes.
„Du wirst frieren. Du willst doch nicht wirklich hier draußen schlafen.“
„Warum hast du mich erwählt? Ich kann nicht in Golumbine bleiben. Ich würde einen recht armseligen Gatten abgeben.“
„Du magst mich nicht?“ fragte sie. „Ich bin sehr liebenswert. Viele Männer begehren mich.“
„Ich mag dich – ich begehre dich sehr.“
„Du klingst, als seist du dir nicht sicher.“
„Wie alt bist du, Ual?“
„Im Heiratsalter.“
„Ich meine, wie viele Jahre?“
„Das ist ein Wort, das ich nie habe begreifen können.“
Sie ließen sich nebeneinander auf einem Diwan mit Baumwollpolstern nieder. Kiril erklärte ihr, was ein Jahr war, und sie lachte. Ohne Obelisken-Texte, die die Menschen beeinflußten, war Hegira praktisch zeitlos, unterteilt nur in Tag und Nacht. Jahreszeiten waren nicht wichtig, wenn die vorherrschenden Winde warm waren und die Strömungen tagaus, tagein tropische Brandung brachten.
„Ich bin viele, viele Tage alt“, sagte sie. „Ich muß viele Jahre alt sein, vielleicht fünfzig.“
„Nein“, sagte er. „Du kannst keine fünfzig sein. Ich würde eher schätzen, daß du um die zwanzig bist. Zweiundzwanzig vielleicht.“
„Das muß dein Alter sein.“
„So ungefähr“, sagte er. „Ich bin einundzwanzig, sehr jung.“
„Im Heiratsalter.“
„Aber ich kann nicht bleiben.“
„Mach’ dir nichts draus. Ich werde viele andere Gatten haben, vielleicht schon, bevor du gehst.“
Er krampfte die Hände zwischen den Knien zusammen und schluckte. Das hatte er beinahe vergessen. Etwas schmerzte tief in ihm, und es waren nicht seine verheilenden Rippen.
„Ich bin das nicht gewöhnt, Ual“, sagte er. „Da, wo ich herkomme, kann ein Mann nur eine Frau haben.“
„Hier auch, manchmal“, sagte sie.
„Aber eine Frau kann ebenfalls nur einen Gatten haben.“
„Oh.“ Sie blickte auf seine Hände und legte ihre Hand darauf. „Hör zu. Ich bin hier eine bedeutende Frau. Viele Männer wollen mich heiraten. Aber ich bin bedeutend genug, daß ich keine weiteren Ehemänner annehmen muß, falls du sie nicht willst – nicht bis nach deiner Abreise. Das Schiff bleibt bestimmt noch …“ Sie hielt inne. „Dreißig oder vierzig Tage. Den Teil eines Jahres. Ich kann warten. Ich mag dich gern genug, um zu warten.“
Er wußte nicht, was er machen sollte. Aber jemand in seinem Inneren wußte es. Er hob ihre Hand an seinen Mund und drückte einen Kuß darauf. Es erinnerte ihn daran, wie er Elenas Hand geküßt hatte, aber nicht auf unangenehme Art. Es war, als wären alle Frauen auf gleiche Weise wunderbar, als geböten sie über die gleiche Befähigung, zu besänftigen und zu trösten, anzuziehen … und schrecklich wehzutun, wenn er die Dinge nicht richtig handhabte. Wenn er etwas Falsches tat. Er fühlte sich ganz durcheinander, aber wundervoll. „Ich bin geehrt“, flüsterte er.
„So ist’s genau richtig“, sagte sie. „Jetzt weiß ich, warum ich dich ausgesucht habe. Du bist auch noch Jungfrau!“
Kiril öffnete und schloß seinen Mund wie ein Fisch. Er ärgerte sich über ihre Folgerung um so mehr, da sie wahr war. Er blickte sie unverwandt an. „Warum solltest du dir eine Jungfrau aussuchen wollen? Wir werden beide im Dunkeln herumstolpern.“
„Keiner wird dem anderen etwas voraus haben … Beide werden lernen.“
Sie war nicht näher an ihn herangerückt, aber die Wärme ihres Körpers und ihr zartes Parfüm bedrängten ihn nichtsdestotrotz. Auf den Obelisken fanden sich viele Texte, die intime Details der Liebesgewohnheiten der Erstgeborenen preisgaben. Es bestand keinerlei Grund zu der Annahme, daß die Dinge auf der fernen Insel Golumbine irgendwie anders waren. Aber küßten sie hier mit den Lippen?
Es war nötig für ihn, es herauszufinden.
Sie taten es, und offenkundig aus langer Tradition.
Er war immer noch unsicher, als sie seinen Nacken streichelte und an seiner Nase knabberte. Aber er vermerkte mit einigem Stolz, daß es keine schwächende und entkräftende Beklemmung war. Er wußte wenig darüber, wie man eine junge Frau entkleidete, aber die Gewänder Golumbines waren nicht annähernd so beschwerlich abzuziehen, wie jene Mediwewas es gewesen waren. Er erinnerte sich wehmütig daran, es zu verschiedenen Malen bei Elena versucht zu haben. Wären die Korsetts und Hüfthalter weniger hinderlich und im Zaume haltend gewesen, hätte sie vielleicht gar nachgegeben und eingewilligt! Aber er war plumpfingrig gewesen, in Unkenntnis der kniffligen Geduldsspiele, die, wenn gelöst, leichten Zugang gewährten. Voller Entmutigung hatten sie beide abgelassen.
Ual ließ nicht ab. Sie half. Langsam gewöhnte er sich an ihre Bereitwilligkeit, aber es dauerte einige Zeit, bis er ihre enervierende Vertrautheit mit seiner eigenen Bekleidung und seiner eigenen Person hinnehmen konnte.
Er dachte an Elena, nicht mit Schuldgefühlen, sondern mit scharfem, Kummer bereitendem Schmerz. Von Rechts wegen hätte dies ihre Nacht sein müssen, ihr Privileg – nein, ihr Privileg, Elenas und seines – und nicht die lächelnde, bereitwillige Wonne einer umberhäutigen Frau in einem Land, von dem Elena nie gehört hatte. Und obwohl er dies wußte und den jähen Stich verspürte, begriff er mit mehr als seinem Verstand, daß er keine Wahl hatte.
Das ganze Golumbine forderte eine Wiedergeburt. Wer war er, sich dagegen zu sträuben? Er ging mit ihr in einen mit kleinen Öllampen erhellten Raum, in dem eine dicke, weiche, aus Schilf und Baumwollgarn gewobene Matte mit einem Laken aus feinem Linnen darauf wartete. Das Laken war bedruckt mit Klötzchen und Kreisen in Purpur und Braun. Als sie ihr letztes Kleidungsstück ablegte, ein winziges Höschen mit einem Rock darum herum, fühlte er, wie sein gesamter Brustkorb abwechselnd im harten Gegentakt seines Herzens und seiner Lungen schwächer und stärker wurde. Es war ein nie zuvor verspürtes tumultuöses Flattern, eine dickflüssige Erregung, die eine Mixtur aus tödlichem Erschrecken und Stolz war.
Er hatte Angst, ihr wehzutun. Sie zog ihn nieder, und ihre Augen waren so dunkel im schwachen Schein der Lampe, daß er das Weiße nicht sehen konnte, nur schmale Klüfte von Braun, fast Schwarz. Ihr Mund war offen und ließ all ihre Zähne sehen.
Später, als ihre Lenden und Schenkel sich karmesinrotgefärbt hatten, ergriff sie seine Hand und zog ihn vom Bett herunter. Sie raffte das Leintuch zusammen und schnitt es mit einem scharfen Messer in dünne Streifen. Anschließend durchtränkte sie es im Wohnraum mit Öl und übergab es dem Feuer. Sie hockte sich davor nieder, ein furchtbares, jugendliches Götzenbild, und in ihren Augen spiegelten sich die Flammen wider.
Sie reinigte sich und ihn mit einem weichen, feuchten Lumpen und legte ein anderes Laken als das erste auf. Kiril hatte Mühe, gleich einzuschlafen. Eine Stunde oder mehr blieb er länger wach als Ual und starrte in das Dunkel.