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„Man nennt es das Uhuru-Massiv“, sagte Kiril. „Eigentlich müßte es hier einige kleine Städte und Forts geben, aber ich sehe keine.“
„Sie könnten längs der Kammlinien und in den Tälern verborgen sein“, sagte Bar-Woten. „Ich sehe keinerlei Straßen. Keine Pfade.“
„Der Handelsverkehr von Mediwewa kommt hier nicht durch. Vielleicht gibt es keine.“
„Habt Ihr Euch je mit Lucifanern unterhalten?“ fragte der Ibisier.
„Nicht oft. Ich war sehr jung, als wir zur Westgrenze reisten. Sie trauen Obelisken-Nationen nicht sehr.“
„Sie fühlen sich benachteiligt, hm?“
Barthel widersprach dem heftig. „Vielleicht glauben sie, daß wir irregeleitet sind. Es gibt auf den Obelisken viel, was zweifelhaft ist.“
Bar-Woten nickte und schürzte die Lippen. „Möglicherweise werden wir dort auf etwaige Empfangskomitees treffen, wo die beiden Plateaus sich teilen, in dem Spalt dazwischen. Wenn Ihr sagt, sie seien für gewöhnlich nicht feindselig, sollten wir sie auch nicht mit gezogenen Waffen begrüßen. Aber keine höfliche Gesellschaft wird etwas dagegen haben, wenn wir unsere Hände auf den Griffen behalten.“
Kiril ging neben dem Pferd des Ibisiers, als sie sich der Kluft näherten. Ein schmales Flüßchen rieselte schlammig in der Mitte des Wadis, aber grotesk geformte Grate und Rinnen, die parallel dazu verliefen, ließen vermuten, daß es sich in einen mächtigen Wasserlauf verwandelte, wenn Regenfälle kaskadenartig von den Gebirgsflanken herabstürzten. Die Pferde suchten sich vorsichtig ihren Weg über den zerschründeten Grund. Bar-Woten ließ den Blick nicht von den Säulen aus blankgescheuertem, weichem Stein, die mauergleich den Paß zu beiden Seiten säumten. Sie waren kurz vor dem Felsenanstieg unter den Plateauflächen, als Stimmen aufklangen. Ihre Besitzer waren nicht zu sehen.
„Ua hight thee?“ fragte eine.
Kiril runzelte angestrengt die Stirn, als er versuchte, den Dialekt, ausgehend von seinen Studien des Obelisken-Englisch, zu verstehen. Er kannte das Wort hight, eine Frage nach dem Namen, den jemand führte. Davon ausgehend erschloß er den Rest. „Wir sind drei aus Mediwewa“, antwortete er. „Trithi de Mediwewa!“
Sie setzten ihren Aufstieg fort, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Plateau waren. Hinter einem Felsgrat vor ihnen konnten sie drei Gesichter sehen, die ihnen entgegenspähten. „Euer Ansinnen!“ begehrte eines davon zu wissen.
„Durch Mundus Lucifa zu reisen. Wir sind Gelehrte.“
„Eure Studiengebiete?“
„Volksbräuche“, sagte Bar-Woten mit gedämpfter Stimme, indem er den Blick auf seine Satteltaschen senkte und sie lässig umordnete.
„Volksbräuche und Mythen!“ antwortete Kiril.
„Was könnten Obelisker von einem unwissenden Land begehren?“
„Natürlich Wahrheit“, antwortete er und hoffte inständig, die richtige Erwiderung auf die formelhafte Rede gefunden zu haben. Sie hatten es hier nicht mit schlichten Barbaren zu tun. Die Grenzwächter von Mundus Lucifa waren besonders geschult und unterwiesen.
„Kommt näher. Ihr habt Beglaubigungsschreiben?“
Des Lucifaners Beherrschung der mediwewanischen Sprache war vollendet. Er hatte nicht den geringsten Akzent.
„Keine Beglaubigungsschreiben“, sagte Kiril. „Unsere Studien finden keine Gnade in Mediwewa. Wir benutzen nicht die Obelisken-Texte.“
Zwei Abteilungen zu je drei Berittenen galoppierten von beiden Seiten heran, um eine Eskorte zu bilden. Die drei hinter dem Grat traten hervor und kamen näher, um sich zu den Fremden zu gesellen. Die Wächter trugen sorgsam mit Perlen verzierte Halbstiefel, hohe Gamaschen aus Lederflickwerk, beschlagene Felltaschen mit grobem Schottenkaro und metallene Käppis, auf denen zur Verzierung Muster in einem Alphabet eingraviert waren, das Kiril nicht erkannte. Ihre Hemden waren khakifarben mit viereckigen, gebauschten Taschen. Bandeliere hingen von ihren Schultern und hielten Beutel und Scheiden an ihren Hüften.
„Ihr seid weit gereist?“ erkundigte sich der Anführer. Er war ein kurzer, stämmiger Mann mit einer dröhnenden Stimme.
„Über den Abgrund“, sagte Kiril und wies hinter sich. Die Männer waren groß und dunkel, von ihrem Anführer abgesehen; nahezu olivfarben. Ihre Haut glänzte wie altes Leder. Ihre Augen waren weiß wie Talkum, mit enormen blauen oder grünen Pupillen. Alles in allem, entschied Bar-Woten, stellten sie wohl die bestaussehende Gruppe von Männern dar, der er auf dem langen Marsch begegnet war.
„Ah“, sagte der Anführer, mit dem Kopfe nickend. „Dann saht Ihr das Ding auf dem Grund. Habt gedacht, wir hätten das gebaut?“
„Nein“, sagte Kiril.
Der Wächter schaute beleidigt drein, grinste aber schließlich und zuckte die Achseln. „Die Mediwewaner waren’s auch nicht?“
„Ich bezweifle es“, sagte Kiril lachend.
„Die alten Gelehrten trieben Euch also aus dem Land, hmm?“ Er wechselte den Gegenstand, ohne auch nur zu blinzeln.
„Gewissermaßen.“
Die Wächter flüsterten miteinander. Die sechs Männer zu Pferde behielten die Eindringlinge schweigend im Auge. Kiril spürte, wie sich auf seinem Rücken Schweiß bildete. „Hört“, sagte der Anführer, „nicht viele Leute kommen diesen Weg entlang, und wir fragen uns, warum Ihr es tut. Ihr habt einen Grund angegeben, aber in Eurem Land gibt es derzeit Ärger. Also werden wir Euch zur nächsten Stadt bringen, und unsere Vorgesetzten werden entscheiden, was mit Euch geschehen soll. Folgt meinen Fähnrichen, bitte.“ Sie querten das Plateau und nahmen einen alten Pfad um einen Steilabbruch von verwittertem Granitgestein herum.
Jeder Begleitreiter trug ein anderes Zeichen auf dem Band, das sein Käppi hielt. Einer führte eine Schlange, die sich um ein Gelege von Eiern ringelte; ein anderer einen Falken mit ausgebreiteten Flügeln; und ein dritter eine Rosette mit ährentragenden roten Blütenblättern. Drei der Berittenen verließen sie auf der Kammhöhe und ritten nach Westen. Die verbleibenden Fähnriche unterhielten sich angeregt miteinander, während sie dahinsprengten; den Eindringlingen schenkten sie weiter keine Beachtung.
Der Lucifaner mit der Rosette deutete die säuberlich gepflasterte Straße entlang und verkündete: „Ubidharm.“ Und als sie um einen sandigen, mit dornigen Büschen bestandenen Hügel bogen, wurden sie erstmals einer lucifanischen Stadt ansichtig.
Sie war klein, aber beeindruckend. Die Bauten bestanden überwiegend aus Stein, was angesichts der Landschaft zu erwarten war. Wälle, dreimal so hoch wie ein Mann, krümmten und schlängelten sich rings um die innere Stadt, die sich auf zahlreichen Hügeln erhob wie eine Auslage mit steinernen Trinkgefäßen und Stundengläsern. Bar-Woten bemerkte einen Aquädukt, der in gerader Linie von einem schneegekrönten Gipfel herunterführte. Er war groß genug, die ganze Stadt zu versorgen – und noch einige mehr wie sie. Das Wasser strömte über Ablenkplatten in der Steinrinne und glitzerte vor weißem Schaum.
Kiril hatte ähnliche Bauten Jahre zuvor als Kind auf seiner kurzen Reise zur westlichen Grenze von Mundus Lucifa gesehen. Aber im Vergleich mit denen hier waren sie schäbig und unordentlich gewesen. Die Wälle waren in vielfältigem Braun und Erdgrün mit verschlungenen Mandalas bemalt, mit Spitzlichtern aus Halbkugeln von weißem Marmor, so groß wie eines Mannes Kopf. Rote Sandsteinzinnen, kappengleich bedeckt mit fachmännisch behauenen und polierten Kugeln aus grauem Granit, krönten die Mauern. Die Stadt war ein vollendeter Gegensatz zu den rauchfleckigen Bauwerken von Madreghb. Strahlend weiß getünchtes Mauerwerk und Stuck fingen wolkengedämpftes, grünliches Gebirgslicht und traten leuchtend wie Schnee gegen den schwarzen vulkanischen Fels hervor. Das Gleißen und Funkeln blendete schier. Jenseits der Mauern verbargen zu jeder Seite hin natürliche Steinvorsprünge allen außer den höchsten Gipfeln den Anblick Ubidharms.
Barthel ließ seinen Blick mit staunäugigem Entzücken darauf ruhen. „Einige Städte in Khem waren wie diese“, verriet er Kiril mit gedämpfter Stimme. „Heilige Orte, wo Propheten lebten.“
Die Tore Ubidharms standen offen, nur leicht bewacht von ein paar wie die Fähnriche gekleideten Männern. Sie ritten durch die äußere Stadt, ein hundert Meter tiefer Streifen von niedrigen Schlamm- und Ziegelgebäuden, schwärzlichbraun getönt und adrett gepflegt, aber wenig beeindruckend; dann unter dem Kragstein des Torbogens hindurch. Sie hielten an einem roten Ziegelbauwerk, das Kiril sofort als Zollhäuschen oder Wachlokal oder beides zugleich erkannte.
Man bedeutete ihnen, abzusteigen und die Wache zu betreten. Das Innere war schlicht und sauber, mit einem blankgescheuerten Schieferboden und Möbeln, die aus runzeligem Holz und Rohrgeflecht verfertigt waren. Der diensthabende Offizier – ohne Käppi, aber dafür mit einer grünen Schärpe, die er um den Hals trug wie ein Prälat – musterte sie ausdruckslos und unterhielt sich mit ihrer Begleitmannschaft. Er nahm den Wächter mit der Rosette mit sich in einen gesonderten Raum.
Einen Moment später kamen sie wieder zurück, und der Offizier streckte Barthel seine Rechte entgegen; offensichtlich begann er mit dem Dunkelhäutigsten, um sich dann abwärts vorzuarbeiten. „Willkommen im Lande des Lichts“, sagte er. Er war hochgewachsen und schwarz, mit einem sich borstig sträubenden Schnurrbart und einem Kopf, der kahlgeschoren war bis auf drei eng geflochtene Streifen, die sich vom Nacken bis zum Scheitel hinzogen. „Wer führt diese Gruppe?“ Er blickte erwartungsvoll auf Barthel. Der junge Mann stotterte und wollte schon auf Bar-Woten deuten.
„Keiner“, antwortete der Ibisier. „Wir reisen als Gleiche. Wir wissen Euer Willkommen zu schätzen.“
„Ich höre, Ihr seid Obeliskengelehrte – Leser, nehme ich an.“
Kiril entschied, daß eine leicht abgewandelte Art von Wahrheit am besten war. „Ich bin ein Leser“, sagte er. „Eigentlich sogar ein Scrittori. Aber wir sind nicht hierhergekommen, um zu predigen.“
„Nein.“ Der Offizier ging zu einem schweren hölzernen Kabinett mit flachen, waagerechten Schubladen und öffnete eine davon. Er zog einen niedrigen Stapel von Formularen heraus und nahm eine Schilfrohrfeder aus einem Faß auf dem Pult. „Ich muß den Grund Eures Aufenthalts im Lande des Lichts wissen. Eure Namen, woher Ihr kommt – Pashkesh, habe ich recht?“ fragte er Barthel. Der Khemite nickte. „Und wohin Ihr innerhalb des Landes reisen wollt. Wenige Mediwewaner überschreiten diesen Abschnitt der Grenze. Kein einziger seit fünf Jahren. Und einige – äh – Ibisier sind kürzlich hierher geflüchtet. Dreißig oder vierzig, um genau zu sein.“
Bar-Woten nickte beiläufig. „Wir hörten von der endgültigen Ausmerzung dieses Übels“, sagte er. „Wo ein Fluß im Boden versickert, müssen einige Tropfen übrigbleiben.“
„Ein besonders schmutziger und widerwärtiger Fluß, was das betrifft.“ Die Augen des Offiziers musterten ihn aufmerksam. „Was wart Ihr in Mediwewa, mein Herr?“
„Ballonbauer. Ich ging in Minora in die Lehre, ganz in der Nähe von Madreghb, und ich ging mit meinen Gefährten fort, um einer drohenden …“ Er stockte und räusperte sich, „Erstarrung meines Denkens zu entkommen.“
„Wir haben Mitgefühl mit den Obeliskern“, sagte der Offizier, während er geschwind etwas auf eines der Formulare kritzelte. „Kein Verständnis für sie vielleicht, aber Mitgefühl. Oh, wir fürchten ihre Prediger hier keineswegs! Für gewöhnlich sind sie diejenigen, die etwas zu fürchten haben. Die Menschen von Ubidharm sind Bergbewohner, meine Herren, ein stolzer, eigensinniger Menschenschlag. Missionare, die sich unbeliebt machen, halten sich nicht lange. Oft müssen wir uns bei ihren Heimatländern entschuldigen.“
Die Formulare waren bereits übersetzt, und es dauerte nur wenige Minuten, die verlangten Informationen einzutragen. Der offizielle Papierkram war erfreulich kurz. Als das erledigt war, wurde ihnen ein kurzer Eid abgenommen – zuerst im örtlichen Dialekt, dann in einer Übersetzung –, und man händigte ihnen ihre Pässe aus.
„Ihr werdet Euch bei der Torwache einer jeden Stadt und eines jeden Dorfes melden, die Ihr besucht. Hier gibt es ja nicht viele, aber wenn Ihr weiter nach Westen kommt, werdet Ihr die Papiere benötigen. Falls Ihr vorhabt, die Berge zu überqueren und in den Norden zu reisen, werdet Ihr Euch vielleicht neuerlich registrieren lassen müssen – ich weiß es nicht. Das nördliche Land des Lichts unterscheidet sich sehr vom Süden. Und ich würde Euch nicht empfehlen, jetzt über die Berge zu gehen. Um diese Jahreszeit ist’s eine rauhe Reise. Wir lassen Euch nicht verfolgen, aber wir haben ein gutes Semaphoren-System. Irgendwelchen Ärger, und wir schicken die Miliz, mit nicht immer angenehmen Folgen. Wir vertrauen jedoch darauf, daß Ihr ehrenwerte Männer seid. Seid zurückhaltend – ich wiederhole, wir sind ein eigensinniger Menschenschlag – und befolgt bitte die hier üblichen Reinlichkeitsgebote. Ich bin sicher, der Pashkesher wird Euch darüber belehren können, welche das sind.“ Barthel nickte heftig.
Sie verließen das Torhäuschen, und man gab ihnen ihre Pferde zurück. Bar-Woten sah sofort, daß die Satteltaschen durchsucht worden waren. Er hatte das erwartet – die Karte stak sicher in der Tasche seines Wamses. Vielleicht hätten sie sie gar nicht als solche erkannt – und wenn doch, so mochte es, da sie Nicht-Obelisker waren, keine hochherrschaftlichen Verbote hinsichtlich des Gebrauchs von Karten geben. Wie auch immer, er hatte kein Risiko eingehen wollen. Es überraschte ihn, festzustellen, daß man ihnen erlaubt hatte, ihre Pistolen zu behalten.
Die Stadt war hübsch anzuschauen mit ihren schmalen Gassen und ziegelgepflasterten und geteerten Straßen, den Bürgersteigen aus frisch geschrubbten Fliesen und den gerippten, in hellen, leuchtenden Farben gestrichenen Holzschlagläden der Erkerfenster. Sie war so verschieden von Madreghb, daß Bar-Woten unwillkürlich einen tiefen Atemzug tat, als sei er wieder auf freiem Land. „Ihr scheint die Mundart ein wenig zu beherrschen“, sagte er zu Kiril. „Wie sehr?“
„Nicht viel. Sie wurde in einer der höheren Klassen als Ableger einiger Obeliskensprachen erwähnt – hauptsächlich des Altfranzösischen und des East Midlands-Dialekts im Englischen. Sie haben die Obelisken vor unzähligen Generationen gelesen, in der Zeit des Beginns, sich dann aber später hier von der Außenwelt abgesondert.“
Bar-Woten war sichtlich beeindruckt. „Ihr wart fürwahr ein eifriger Scrittori, habe ich recht?“ sagte er. „Ihr könnt, so will mir scheinen, uns eine Menge lehren.“
Kiril lächelte vorsichtig, als würden sie scherzen, sagte aber nichts.
Das südliche Mundus Lucifa war kaum hundert Kilometer tief, das meiste davon Berge und Hochplateaus. Kiril hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele Städte es gab oder wo die leichteste Route verlief, die hindurchführte. „Vielleicht sollten wir uns erkundigen“, sagte er. Bar-Woten nickte, nahm Kirils Roß bei den Zügeln und führte sie die Torstraße entlang.
Ein schwacher Nieselregen kam herunter, vermischt mit Schneeflocken so groß wie Schmetterlinge. Die grünliche Luft zwischen den Bergen deutete an, daß die Nacht kommen würde, bevor noch eine Stunde verstrichen war. Aber Bar-Woten hielt nicht an den Gasthöfen beiderseits der Straße. Er schien nach etwas anderem Ausschau zu halten, und der Weg, den er einschlug, führte sie durch die verborgenen Winkel der Stadt.
Barthel wirkte steinern ruhig, aber dabei nicht unglücklich. Zugleich hielt er ein aufmerksames Auge auf Kiril, was den Mediwewaner unsicher machte, als ob seine Reaktionen abgeschätzt würden, ohne daß er jedoch gewußt hätte, auf was er reagieren sollte. Er konzentrierte sich auf die Steinmetzarbeiten und die bemalten Fliesen, die die Wände verzierten. Sie unterschieden sich nicht merklich von den entsprechenden Arbeiten in Madreghb. Die vorherrschenden Muster waren floral, mit Rosetten und ausgeklügelt ineinander verschlungenen Maßliebchenketten, die das geschlossene Auge in gleichsam sympathetischer Resonanz mitschwingen und -wirbeln ließen. In zunehmendem Maße jedoch waren die Mauern ebenso geweißelt wie die oberen Stockwerke oder aus erdfarbenen, mit einer wachsartigen Glasur versiegelten Schlammziegeln.
Bar-Woten beugte sich im Sattel vor und spähte mit seinem einen Auge die Straße hinab. Die Straße neigte sich in einem Zwanziggradwinkel einem Hof entgegen, der naß war von Regen und Matsch. Sie waren beinahe durchgeweicht, und Kiril wurde langsam zornig.
„Barthel?“ fragte der Ibisier.
„Das ist eins, Bei“, antwortete Barthel. Bar-Woten grunzte und nickte, sein Pferd vorwärtsspornend.
„Ich hatte gedacht, es gäbe sie überall, bis ich in Mediwewa keine finden konnte“, sagte er. „Ein seltsames Land, das Euer Volk führt, mein Freund.“
„Ein was?“ erkundigte sich Kiril.
Barthel lächelte und wies voraus. Die Fenster rings um den Hof waren geschlossen und in alterslosem Rot angestrichen. Ein in einen Poncho gehüllter, vor sich hindösender Stalljunge saß neben einer offenen Stalltür, aus der ein warmer Schimmer drang. Sie konnten Futter und Tiere riechen. Der Junge setzte sich bei ihrer Annäherung auf, rieb sich die Augen und musterte sie gleichmütig. Er begrüßte sie und nahm die beiden Pferde bei den Zügeln. Bar-Woten drückte ihm mediwewanisches Besatzungsgeld in die Hand, welches der Junge genau untersuchte, dann aber annahm.
„Wir werden heute nacht hierbleiben und uns entspannen“, verkündete der Ibisier Kiril. „Ich weiß nicht, was Euer Glaube zu solchen Dingen sagt, aber ein Land ohne eines von diesen Häusern ist kaum zivilisiert.“
„Eines von was für Häusern?“ Er schaute hoch zu den Fenstern im zweiten Stock und sah, wie sich ein vollbusiges Mädchen herauslehnte, dunkel wie die Stunde um Mitternacht. Ihr Haar war in kleine, zu Ringen gelegte Zöpfchen geflochten, und ihre Zähne schimmerten wie Laternen zwischen rosigen Lippen.
„Oh.“ Kiril zerrte erstaunt an den Zügeln seines Pferdes, wodurch er sie dem Griff des Stalljungen entwand. Das Tier bäumte sich auf. „O-o-oh! Eines von denen!“ Bei dem Versuch, das Tier unter Kontrolle zu bringen, riß er es auf der Stelle herum, und der Hof füllte sich mit Hufschlag und Gewieher. Der Stalljunge packte den Zaum und half ihm, abzusteigen. „Wir können hier nicht rasten“, sagte Kiril lautstark. „Warum sollten wir hier rasten?“
Bar-Woten stapfte mit schwerem Schritt zur mächtigen Holztür des Gasthofes, daß das Wasser nur so aufspritzte. „Ihr mögt bei den Pferden liegen, wenn Euch das lieber ist.“
Kiril war wütend. Auf seine Art war das hier schlimmer, als herausfinden zu müssen, daß seine Gefährten Diebe und Mörder waren. Sie waren Hurenböcke! Er rannte ihnen nach, verhielt jedoch im offenen Torbogen. Vor- und zurückschwankend versuchte er, sich zu einer Entscheidung durchzuringen, ob er ihnen folgen oder draußen bleiben sollte. Kälte und Nässe nahmen ihm die Entscheidung ab. Mit zuckendem, weit offenem Mund, aber ohne etwas zu sagen, trat er über die Schwelle, während er den Ibisier und den Khemiten einen mit dem Duft von allerlei Räucherwerk erfüllten Raum hinter einem runden Durchgang betreten sah. Dunkle Wandbehänge mit schlüpfrigen Bildern hingen in dem Vorraum. Hier wollte er nicht bleiben. „Wartet!“
Bar-Woten legte seinen Umhang ab und lächelte einer jungen Frau in einem einfachen schwarzen Kleid zu. Rote Blumenmuster schmückten Ärmel und Saum. Er schien sie zu kennen und auch ihre Sprache, obwohl er keines von beidem hätte kennen können – und doch vollzog sich die Verständigung zwischen ihnen ganz mühelos. Barthel trug seinen eigenen Mantel über dem Arm und ließ seine Blicke mit dem gleichen zurückhaltenden Lächeln durch den Raum schweifen, das er schon früher zur Schau getragen hatte. Kiril schloß sich ihnen widerstrebend an, unfähig, irgend etwas Geistvolles zu sagen, und voller Furcht, sich zum Narren zu machen. Aber er zitterte vor Nervosität.
Bar-Wotens Frau – hellhäutiger als jene, die sich über das Fensterbrett im Hof gelehnt hatte – nahm ihn beim Arm und führte ihn die Treppe hinauf ins Obergeschoß. Ein zweites Mädchen erschien aus einem anderen Zimmer und nahm Barthel zu sich. Für Kiril erschien keine. Er fühlte sich gleichzeitig übersehen und erleichtert; aber warum hatte man ihn ignoriert? Welchen Teil des Rituals hatte er zu beachten versäumt? Sein Gesicht brannte, und er hob die Hände, um seine Stirn zu fühlen. Er glühte, ganz so, als hätte er sich wieder in ein Fieber gepeitscht.
Er saß allein in dem abgedunkelten Raum und kochte vor sich hin. Schließlich tauchte hinter ihm ein kleines Kind auf – er konnte nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war – und setzte sich neben ihn auf die Bank. „Ama sol?“ fragte es. Er dachte darüber nach und entschied, daß das Kind fragte, ob er ein Zimmer wünsche. Er nickte. Das Kind nahm ihn bei der Hand und geleitete ihn die Treppe hinauf. Einen Augenblick lang fürchtete er, in etwas hineingezogen zu werden, das viel schlimmer war als das, was Bar-Woten und Barthel für sich erwählt hatten, aber er entspannte sich, als ihm ein schlichtes, behaglich wirkendes Zimmer gezeigt wurde, in dem keine wie auch immer geartete ‚Gesellschaft’ auf ihn wartete. Er dankte dem Kind und schritt zu dem schmalen, sauberen Bett, um sich hinzusetzen und nachzudenken.
Bar-Woten hockte in der Dunkelheit, sein Mädchen neben sich, und lauschte ihren Schnarchtönen. Das schwache Licht einer Feuertaube kam durch ein Fenster hoch in der Wand und warf ein bläuliches Rechteck auf den teppichbelegten und mit Kissen übersäten Boden. Er ließ seine Hand über die Schulter des Mädchens gleiten, und sie zischte im Schlaf. Einen Augenblick lang sträubten sich ihm die Haare, so fremdartig war die Reaktion – grunzen oder brummein, aber doch nicht zischen! Dann sank er zurück auf die harte, steinerne Nackenlehne. Seine Nase juckte und brannte vom Räucherwerk. Es war ein Jahr her, seit er zuletzt bei einer Frau gelegen hatte. Der Duft ihres Körpers, so süß (weil sie Vegetarierin war) wie der eines Pferdes, hatte ihn schier bis zum Wahnsinn erregt, und er hatte sie mehrere Male genommen, fast wütend, ihr ruhiges, beherrschtes Lächeln jedesmal mit einer breiten, einäugigen Grimasse beantwortend.
Der Regen kehrte zurück, um gegen das Fenster zu klopfen. Ein Scharmützel zwischen Vögeln wogte im Hof hin und her, Speere und Pfeile aus Gesang.
Er schlief ein.
In einem anderen Zimmer hielt Barthel sein Mädchen wach, indem er ihr den Glauben der Propheten erklärte. Sie hörte tapfer und mit unterdrücktem Gähnen bis zur Dämmerung zu, obwohl sie kein Wort verstand, legte dann ihre Hand über seinen Mund, stieß ihn sanft auf die Matratze zurück und schlief im Sitzen ein. Ihre Augen schlossen sich, ihr Körper sackte kaum merklich in sich zusammen, und ihr Atem wurde schwächer. Barthel sah’s mit großen Augen, betört und entzückt, plumpste dann zurück und kicherte im Dämmerschein. Allah, war das fein gewesen! Stunden mit Houris waren nie vergeudet. Besonders dann nicht, wenn sie sowieso schon so nahe daran waren, Momadaner zu sein, daß sich nur die Worte voneinander unterschieden.
Mochte Mundus Lucifa auch einen eigensinnigen Menschenschlag beherbergen – ein freundliches Land war es allemal.