Der Grenzweg an den Gesperrten
Sümpfen zählte zu den unheimlichsten Orten in ganz Phora –
jedenfalls für jemanden wie Samu Rabov, dessen Beziehung zu
Schlangen ein wenig heikel war. Als Mysto-Ermittler war er schon
ein paarmal hier draußen gewesen und jedes Mal hatte er sich dabei
recht beklommen gefühlt.
Der Grenzweg war im Grunde kaum mehr als ein schlammiger Pfad. Rechter Hand wurde er von baufälligen Lehmhütten gesäumt, während zur Linken des Weges, hinter einer schütteren Schilfkulisse, bereits die Sümpfe glucksten. Wer hier draußen wohnte, hatte naturgemäß sehr viel mehr Sumpfgetier als zivilisierte Zweibeiner zur Nachbarschaft. Lehmrote Nibrakröten, Speilurche, Faulfrösche und anderes unappetitliches Gequaddel. Auch Sumpfammern oder Goravögel, deren Keckern und Krächzen von früh bis spät aus allen Baumwipfeln schallte. Vor allem aber Schlangen jeder Art und Größe, einheimische und eingeschleppte, furchtsame und raubgierige, laubbraune oder schimmelgrüne, mit Gitter- oder Tupfenmusterung. Mengen von Makubas und Kadoras hausten dort in den Sümpfen und angeblich sogar ein paar waschechte Lyrissen – bakusische Riesenschlangen, die mühelos eine Länge von dreißig Metern erreichen konnten.
So wie die Lyrissa gigante, die im Tempelzelt von Radschi Varusa zweifellos noch immer darauf wartete, dass ihr entflohenes Opfer zwischen ihre mütterlichen Muskelwülste zurückkehrte. Einen Moment lang erwog Rabov, Zoran auf dem Gedankenweg zu fragen, ob bei ihm alles im Lot war. Aber der Junge würde sich schon melden, wenn er irgendwie in der Klemme steckte. Und höchstwahrscheinlich würde er selbst es von sich aus spüren, wenn Zoran seine Hilfe bräuchte.
So wie Rabov auch bereits im Voraus wusste, dass Magistra Markan in der allerletzten Hütte ganz am Ende des Grenzwegs gehaust hatte. Diese Erleuchtung war ihm zugeflogen, gerade als er sich aus der Wolkendroschke ins Freie gekämpft hatte. Und er ahnte sogar schon, was er dort so ungefähr vorfinden würde – doch was er da verschwommen vor sich sah, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Unaufhaltsam wuchs in ihm das Dunkeldu. Er sah regelrecht vor sich, wie es in seinem Innern immer mehr Raum einnahm. Bis es eines Tages aus ihm hervorbrechen würde – nicht viel anders als vorhin der widerwärtig weiße Wurm durch das Dach der Tempelhalle gebrochen war.
Was für ein abwegiger Vergleich, tadelte sich Rabov. Als ob seine Verstandeskräfte oder seine Selbstkontrolle kurz vor dem Zusammenbruch stünden – das Gegenteil traf ja zu. Sein Lichtich war mächtiger und strahlender denn je. Bislang hatte er seine dunkle Seite fast vollständig unter dem Deckel gehalten, doch nun, da er ihr erlaubte, sich genauso wie ihr lichter Zwilling zu entfalten, würde seine Persönlichkeit nur umso stärker und vielfältiger werden.
Jedenfalls legte Rabov sich das alles so zurecht, während er mit krampfhafter Hast den Grenzweg entlangmarschierte, seinen längst wieder schweißnassen Überwurf in der linken Hand. Gleich vorn bei der Abzweigung vom Boulevard der Morgenröte hatte er sich von einem Sumpfrohrstrauch einen kräftig aussehenden Ast abgebrochen, der allerdings hohl war und ganz bestimmt keine angriffslustigen Kriechbestien im Zaum halten konnte.
Doch ein solcher Angriff war auch nicht allzu wahrscheinlich. Trotz der engen Nachbarschaft von Sumpf- und Hüttenbewohnern kam es hier im Grenzweg nur selten zu ernsteren Zusammenstößen. Den hellen Tag verschliefen die Schlangen ohnehin möglichst in ihren Nestern, und umgekehrt vermieden es die Anwohner im Allgemeinen, ihre Behausungen nach Anbruch der Dunkelheit zu verlassen. Und wer von ihnen doch einmal am späteren Abend oder gar bei Nacht erst nach Hause kam, wappnete sich mit Fackeln und Rasseln vor Begegnungen mit der kriechenden Nachbarschaft. Vom Boulevard der Morgenröte aus hörte man abends zuweilen lautes Geklapper und Getröte herübertönen. Wer mit den Verhältnissen nicht vertraut war, mochte annehmen, dass da drüben im Hüttenidyll gerade ein ausgelassenes Kinderfest stattfand. Aber Kinder wohnten kaum einmal im Grenzweg, und wenn doch, dann nur für kurze Zeit.
Selbst jetzt, am helllichten Tag, ließ sich in den Gärten entlang des Weges oder hinter den schartenschmalen Hüttenfenstern kein menschliches Wesen blicken. Dabei stand die Sonne hoch am Himmel und weit und breit war kein Kriechgetier zu sehen. Gleichwohl hielt sich Rabov so nah an der Hüttenseite des Weges, wie es Schlammfurchen und Pfützen erlaubten. Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich und unter seinem Haarzopf klopfte es im gleichen Takt.
Er behielt das Schilfdickicht zu seiner Linken scharf im Auge. Die Absperrung dahinter bestand bloß aus einem eher symbolischen Holzzaun, den jeder Lausejunge im Nu überklettern konnte. Allerdings hatten die Grenzwächter alle paar Meter Warnschilder mit drastischen Aufschriften an den Zaunpfosten befestigt: »Gesperrt! Todesgefahr!«, hieß es dort beispielsweise, oder »Todessumpf! Betreten verboten!« Von jedem Schild grinste überdies ein stilisierter Totenkopf und die Schriftzüge sahen auf den ersten Blick wie zufällig verstreute Skelettknochen aus. Darunter prangte jeweils das Königlich-Dunibische Wappen – ein gewaltiges Schwert, blitzend und gleißend wie Linglus Lichtzunge, das vom Himmel herabfuhr und den Nacken eines enormen Seeungeheuers durchbohrte. Rabov fragte sich, ob König Sorno beim nächsten Flutgedenktag vielleicht auch ein neues Reichswappen enthüllen würde – mit Linglu und der Urschlange der Urmeere beim urgemütlichen Plausch.
Doch es war wieder einmal der falsche Zeitpunkt für solcherlei Gedanken. Rabov ließ sie fallen und konzentrierte sich stattdessen auf seine Umgebung. Auch die Vorgärten rechter Hand machten ihm einigen Kummer – die meisten waren so verwildert, dass ganze Makuba-Sippen darin Unterschlupf gefunden hätten.
»Meine Nachbarn sind armlos, nicht harmlos«, hatte der Odemmagier Maruk gescherzt, den Rabov letztes Jahr ein paarmal hier draußen aufgesucht hatte. Odemmagier besaßen die Fähigkeit, unverkörperte Lebensenergie, die frei in der Gegend herumschwebte, wahrzunehmen und einzufangen. Dabei handelte es sich um Seelenfetzen oder -fäden, die abgetrennt wurden, wenn die betreffenden Lebewesen eines gewaltsamen Todes starben. Der Odem-Lakori vermengte diese Fetzen mit ein wenig Materie – ein paar Krumen Lehm, einem Klümpchen Schlamm, ein paar Tropfen Blut –, wirkte einen Zauber und schuf auf diese Weise absonderliche neue Kreaturen.
Diese Geschöpfe waren immer missgestaltet und humpelten oder krochen nur mühselig umher. Denn die Seelenfetzen, die dem Odemmagier zur Verfügung standen, waren viel zu schwach, um ein Wesen ausreichend zu beseelen. In Maruks Hütte war Rabov damals auf die erstaunlichsten Geschöpfe gestoßen – Zwergenwesen, kaum größer als sein Daumen, die auf knotigen Pfoten über den Küchentisch krochen, oder kleine Krabbelkinder von gewöhnlicher Statur und Größe, durch die man jedoch hindurchsehen konnte, als ob sie aus Nebelschwaden geformt wären.
Maruk pflegte sich die mißratensten Kreaturen vom Hals zu schaffen, indem er sie an die Sumpfschlangen verfütterte – eine herzlose Angewohnheit, die ihn bei den Makubas und Kadoras beliebt machte, nicht aber bei seinen zweibeinigen Nachbarn. Rabov hatte damals stundenlang auf den Odemmagier eingeredet und er empfand es noch heute als persönliche Niederlage, dass es ihm nicht geglückt war, ihn zu überzeugen. Maruk war im Grunde kein schlechter Bursche gewesen, er hatte sich sogar zum lingluzielischen Glauben bekannt und an den vorgeschriebenen Tagen das Bethaus besucht. Aber er hatte argumentiert, dass die Kreaturen, die er da aus Dreck und Seelenfetzen zusammenbuk, eben keine Geschöpfe Linglus seien, sondern letzten Endes nicht sehr viel mehr als Spielzeugpuppen mit Dampfantrieb oder mechanischem Federwerk – und die warf man schließlich auch auf den Kehricht oder versenkte sie in den Sümpfen, sobald sie unbrauchbar geworden waren.
Irgendwann hatte Rabov es aufgegeben – und nur wenig später war der Odem-Lakori von einem aufgebrachten Nachbarn erschlagen worden. Der Mann hatte behauptet, dass Maruk ein Hexer sei, der künstliche Kinder erschaffe und die wilden Tiere mit ihnen mäste, aber Hauptermittler Ralla und die königliche Halsgerichtsbarkeit hatten ihm natürlich kein Wort geglaubt. Der Nachbar war als »heimtückischer Raubmörder« verurteilt und mit der Dampfhacke hingerichtet worden.
Rabov seufzte mitfühlend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte sein Ziel erreicht, die allerletzte Hütte am Ende des Grenzwegs. Das kümmerliche Häuschen war von Sumpf und Wildnis nahezu umschlossen, denn auch die Behausung rechts daneben war allem Anschein nach seit längerem unbewohnt. Der kleine Garten, der sich um das Nachbargemäuer herumzog, war so vollständig mit Schilf und Sumpfrohr überwuchert, als gehöre er bereits zur gesperrten Wildnis. Die Fenster waren leere Höhlen, durch das löchrige Dach flogen Vögel aus und ein. Und das Lehmhäuschen linker Hand, in dem Lona Markan das letzte Jahr ihres Lebens verbracht hatte, sah nicht sehr viel weniger baufällig aus.
Mit dem hohlen Ast, den er die ganze Zeit über wie einen Schlagstock in der rechten Hand gehalten hatte, drückte Rabov das Gartentor auf. Die Scharniere protestierten mit einem so schmerzlichen Stöhnen, dass er beinahe aufgelacht hätte. Aber wirklich nur fast. Denn gleichzeitig jagte ihm ein Schauder nach dem anderen den Rücken hinunter – überdeutlich spürte Rabov, dass er da drinnen etwas ungemein Grauenvolles vorfinden würde.
2
Die Hüttentür war in den Rahmen
gelehnt, so als ob die Hausherrin nur eben für einen kleinen
Spaziergang nach draußen gegangen wäre. Mit seinem Stock schob
Rabov sie auf und spähte ins Innere.
Ein düsteres Zimmerchen, nicht viel größer als ein geräumiger Schrank. Rechts ein rostiger Eisenherd, überhäuft mit schmutzigen Töpfen. Das Fenster links war mit Holzläden verrammelt, darunter befand sich ein notdürftiges Bett – eigentlich nur ein paar Strohsäcke auf dem nackten Lehmboden, mit einer bunt gemusterten Leinendecke darauf, in die sich Lona Markan eingewickelt hatte, wenn sie versucht hatte zu schlafen.
Was ihr höchstwahrscheinlich immer seltener gelungen war. Das Dunkeldu vergiftete die Träume, wenn es erst einmal übermächtig geworden war. Es hetzte das Lichtich durch Landschaften, die aus schierer Angst erschaffen waren. Berge des Grauens hinauf und in Schluchten des Entsetzens hinunter, so dass man schreiend aus dem Schlaf fuhr und noch Minuten später die Krallen und Reißzähne zu spüren meinte, die sich einem ins Fleisch gegraben hatten. Oder die Makubawülste, die sich einem um die Brust geschlungen hatten. Oder die Fluten, in denen man um sein Überleben kämpfte, während eine brüllende Welle nach der anderen, jede einzelne höher als die Gurkentürme der bakusischen Botschaft, auf einen zugedonnert kam. Scheinbar, gewiss nur scheinbar, alles nur in Traum und Wahn – aber wenn das Lichtich erst einmal die Kontrolle verloren hatte, begannen Wahn und Wirklichkeit ineinanderzustürzen, und aus den Trümmern entstand etwas ganz und gar grauenvolles Drittes – die Welt des Dunkeldu.
Rabov warf sich seinen zusammengeknüllten Überwurf über eine Schulter und fasste den Stock fester. In diesem ebenerdigen Kämmerchen rechnete er eigentlich mit nichts Ärgerem als allenfalls einer Sumpfnatter, die sich in der verwaisten Hütte eingenistet haben mochte. Aber der Schmerz in seinem Nacken klopfte dennoch so heftig, dass ihm für einen kurzen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Behutsam rieb er sich über sein Genick und das Klopfen verklang zu einem sanften Pulsieren. Er trat über die Schwelle, war mit zwei Schritten beim Fenster, hob abermals den Stock und drückte die knarrenden Läden auf.
Sonnenlicht strömte herein und ließ das Streifenmuster der Decke auf Lona Markans Bettstatt aufleuchten – kräftige Farben (rostrot, moosgrün, nachthimmelblau), die Rabov an das Kleid erinnerten, das Calin unlängst im Bufo getragen hatte. Leuchtend und doch düster, wie es für die Moliat-Kultur typisch war. Höchstwahrscheinlich hatte Lona Markan diese Decke von der Naxoda-Expedition mitgebracht, und so wie bei Professor Hergo war es keineswegs das einzige Souvenir aus dem Nebelwald gewesen.
Rabov musterte die abgetretene Schilfmatte, die die Bodenluke in der Mitte des Zimmers weniger verdeckte als hervorhob. Die wirklich wichtigen Mitbringsel befanden sich auch hier unter der Erde. Mit der Fußspitze schob er die Matte beiseite und darunter kam eine behelfsmäßig gezimmerte Falltür zum Vorschein. Knorrige Äste, zu einem ungefähr quadratischen Rahmen zusammengenagelt und mit ein paar alten Brettern beschlagen, die reichlich morsch aussahen. Rabov kauerte sich neben der Luke auf den Boden und versuchte durch die fast fingerbreiten Ritzen zwischen den Brettern hinabzuspähen. Ein fauliger Geruch quoll ihm entgegen, wie von vermodernden Kadavern, aber da spielte ihm vielleicht auch seine Einbildungskraft einen Streich. Jedenfalls war es da unten so stockfinster, dass er nicht einmal Schemen ausmachen konnte.
Er legte den Stock zur Seite und begann in seinen Taschen nach einem Schwefelholz zu graben. Gleichzeitig sah er sich in der Hütte nach einer Kerze oder Lampe um, mit der er sich für seinen Abstieg in die Unterwelt rüsten könnte. Was er stattdessen entdeckte, war ein äußerst sonderbares Werkzeug. Allem Anschein nach hatte Lona Markan es eigenhändig gebastelt. Es lag neben dem Herd an der Hüttenwand, auf eine zusammengerollte Strickleiter wie in ein Nest gebettet. Eigentlich war es weniger ein Werkzeug als eine Waffe – ein armdickes Stahlrohr, in dessen einem Ende eine Pechfackel steckte und im anderen eine Kampfaxt.
Rabov erhob sich, ging zum Herd hinüber und nahm das bizarre Instrument zur Hand. Es wog mindestens dreißig Pfund und schon allein mit dem Eisenrohr konnte man sich gegen Angreifer wirkungsvoll wehren. Mit dem daraufgepfropften Axtkopf, der auf der einen Seite eine gezahnte Klinge und auf der anderen eine Art Spitzhacke aufwies, war es eine furchtbare Waffe, mächtig genug, um selbst eine ausgewachsene Makuba in die Flucht zu schlagen.
Aber nicht deshalb hatte sich Lona Markan dieses Vielzweckgerät zusammengebaut. Nicht um sich gegen gewöhnliche Schlangen zu wehren.
Auf dem Herd fand Rabov ein Bündel Schwefelhölzer, riss eines davon an und setzte die Fackel in Brand. Mit dem Eisenrohr und der Strickleiter kehrte er zur Luke zurück, kauerte sich abermals daneben und leuchtete durch die Ritzen hinab.
Daraufhin brach da unten ein greuliches Geheule los, ein Kreischen und Schreien, als würde diese Falltür geradewegs in die Unterwelt der von Linglu verdammten Sünder führen. Rabov blieb vor Schreck fast das Herz stehen – dabei war er auf so etwas sogar im Großen und Ganzen gefasst gewesen, wenn auch nicht annähernd auf ein derart vielkehliges Geheule.
Wenn der Odemmagier Maruk mit seinen Geschöpfen herzlos verfahren war – wie sollte man dann bezeichnen, was Lona Markan den Kreaturen dort unten widerfahren ließ?
Rabov hüllte sich in seinen Überwurf, ohne die Fackelaxt (oder Beillampe, oder wie auch immer) aus der Hand zu legen. Die königliche Sichel nestelte er unter seiner Achsel hervor und schob sie sich in die Hosentasche, damit er sie notfalls zur Hand hatte. Aber eigentlich glaubte er nicht, dass er dort unten auf diese – oder überhaupt auf irgendeine – Waffe würde zurückgreifen müssen.
Er rammte das Eisenrohr mit der Axtseite in eine der Bretterritzen und hebelte die Falltür aus dem Bodenloch heraus. Das Geheule in der Tiefe ebbte zu einem verängstigten Wimmern ab. Rabov drehte das Eisenrohr herum und hielt die Fackelseite in den Schacht hinein – doch außer glitschig feuchtem Lehmboden und ein paar undefinierbaren Schatten an der Peripherie des unregelmäßig ausgefransten Lichtovals konnte er noch immer nichts erkennen.
Die Strickleiter hatte Lona Markan anscheinend einfach an den Scharnieren der Bodenluke festgezurrt, um sich dort hinunterzubegeben. Jedenfalls konnte Rabov keine andere Vorrichtung finden und so wand er mit einem stillen Seufzer das eine Seilende um einen rostigen Eisenhaken und warf das andere Ende in die Unterwelt hinab.
Das Wimmern war mittlerweile zu einem kaum mehr hörbaren Winseln abgeklungen. Am liebsten hätte Rabov in das erbärmliche Fiepen eingestimmt, aber dafür war er schließlich nicht zum königlichen Spezialagenten ausgebildet worden. Er nahm das Eisenrohr mit der Fackelseite nach unten zur Hand und machte sich an den Abstieg.
Die unterirdische Kammer war geräumiger, als er erwartet hatte, und doch war es bloß ein elendes Erdloch. Nicht anders als in dem Verlies unter Hergos Tempel-Nachbildung waren auch hier die Wände mit den Naxoda-Motiven bemalt. Aber Lona Markan hatte die Lehmmauern nur mit einer dünnen Kalkschicht beworfen und auf dem klammen Untergrund begannen die Kohlezeichnungen bereits wieder zu verlaufen. Die majestätischen Flügelwesen auf den Bildtafeln schienen schmutziggraue Tränen zu weinen, die Pyramiden sahen regelrecht aufgequollen aus und die Glyphenschrift war zu unkenntlichen Schlieren verschwommen.
In einer Mauernische in der rechten Schmalwand der Kammer hatte Lona Markan einen Schemel aufgestellt – dort hatte sie zweifellos viele Stunden lang gesessen und mehr oder weniger falsch oder unvollständig entschlüsselte Moliat-Formeln geschrien. Neben dem Schemel stand eine Trommel und auf der abgewetzten Bespannung lagen Knochenflöten in unterschiedlichen Größen – offenbar hatte Lona Markan aus eigener Kraft jene beschwörenden Tonfolgen erzeugt, die Professor Hergo mit dem Dampfmelodophon hervorgebracht hatte.
Rabov sackte auf den Schemel. Doch was er von dieser Position aus zu sehen bekam, war alles andere als geeignet, um ihm neue Kraft und Zuversicht einzuflößen.
Vier Augenpaare starrten ihn an. Lona Markan hatte es vorgezogen, die Verwandlungskraft der uralten Zauberformeln nicht an ihrem eigenen Leib, sondern an den Körpern ihrer unschuldigen Gefangenen zu erproben. Sie mussten unsägliche Qualen durchlitten haben und weiterhin erleiden, denn offenbar waren alle vier noch am Leben.
Rabov empfand tiefes Grauen und untröstliches Mitgefühl. Mitleid mit den Kreaturen, die Lona Markan an der Wand dort drüben mit Eisenringen und -ketten angeschirrt hatte, so weit voneinander entfernt, dass sie sich nicht gegenseitig die Kehlen durchbeißen konnten. Und Grauen vor dem, was unter dem aufgeplatzten Fell, der zerfetzten Haut, dem aufgerissenen Fleisch mehr zu ahnen als wirklich zu sehen war.
In der einen Ecke lagen zwei große Katzen, die eine mit schwarzem Fell, die zweite grau-weiß getigert. In der anderen Ecke waren zwei kleine gelbe Hunde eng zusammengedrängt. Bei allen vier Tieren war der Rücken in der ganzen Länge aufgebrochen, vom Schwanz bis in den Nacken hinauf. Und was in den grässlich zerfaserten Furchen teils fahlweiß schimmerte, teils in blutigen Blasen pulsierte, hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem Rückgrat eines Säugetiers. Doch genauso wenig ähnelte es dem widerwärtig weißen Wurm, der aus Hergos Kammer (und Körper) hervorgebrochen war.
Es war einfach ein mehlfarbener Schleim, es sah aus wie nasse Asche, wie erbrochene Galle. Die sterbenden Tiere zitterten und zuckten unablässig und bei jeder ihrer Bewegungen erbebte der Gallert in der Furche, der einmal ihr Rückgrat gewesen war.
Rabov weinte. Die Tränen quollen ihm nur so aus den Augen und er machte keinerlei Anstalten, sie zu trocknen oder sich auf andere Gedanken zu bringen.
Die Katzen und Hunde sahen ihn unverwandt an. Flehentlich, bittend und bettelnd, und er hatte ja längst begriffen, was sie von ihm wollten. Er brauchte nur noch ein paar Augenblicke, bis er sich stark genug fühlte, um sich von diesem Schemel wieder aufzurappeln.
Er hatte nicht die geringste Chance, ihre Leben zu retten. Ihm blieb nur die Wahl, ihre einzigartigen Qualen noch weiter zu verlängern – oder mit einem Schlag zu beenden. Mit vier Schlägen, genauer gesagt.
Rabov wischte sich die Augen trocken, nahm das Eisenrohr mit der Axtseite nach oben zur Hand und stemmte sich von Lona Markans Schemel hoch.
3
Also, Port,
hier bin ich wieder – was haben Sie da draußen gefunden?
Rabov schob sich die letzte Gabel mit Sumpfammergulasch in den
Mund, kaute genüsslich und spülte mit Nibrawein nach.
Nichts, was uns weiterhelfen würde, Sam. Verlassene Hallen. Schuppen voll modrigem Plunder. Aber nirgendwo eine stinkende Höhle mit einer Riesenschlange drin.
Dann suchen Sie weiter. Nach den Schrecknissen dieses Tages hatte sich Rabov in einem Weingarten am Boulevard der Morgenröte eine Verschnaufpause genehmigt. Obwohl die Sonne bereits hoch am Himmel stand, saßen nur wenige Gäste an den einfachen Holztischen, die kreuz und quer auf der buckligen Wiese verteilt standen. Aber es war auch nicht gerade eine Gegend, die Ausflügler oder Handelsreisende angezogen hätte. Von der anderen Straßenseite hörte man die Gesperrten Sümpfe herübergurgeln wie ein hungriges Ungeheuer, und doch fühlte sich Rabov in dem kleinen Weingarten heimelig. Mit seiner Mischung aus Syrassen, wilden Weinstöcken und Sumpfrohrsträuchern erinnerte ihn dieser Ort an gewisse Bauerngärten am Nibra-Ufer in Raginor, wo er sich mit Odea einst zu zärtlichen Schäferstündchen getroffen hatte.
Vor zwanzig Jahren, du sentimentaler Schwachkopf, schalt sich Rabov.
Wissen Sie eigentlich, wie groß dieser verdammte ehemalige Osthafen ist?, empörte sich derweil der Assistent. Das ist ja die reinste Geisterstadt hier!
Sie haben mein Mitgefühl, Port. Aber suchen Sie trotzdem weiter. Was sagt Calin zu unserem neuen Schlangenfall?
Solas Gedankenstimme verkam zu verdruckstem Gemurmel. Ich hab sie noch nicht erreicht. Kurb sagt, sie ist in einer äußerst wichtigen Besprechung.
Und daraufhin haben Sie sich wieder mal vertrauensvoll an Ralla gewandt?
Sola zögerte kurz. Ich hatte keine andere Wahl, verkündete er dann. Wir brauchen schließlich Unterstützung, um dieses Schlangenvieh aufzuspüren, bevor es noch weitere Menschenleben fordert.
Sie meinen – Unterstützung, um diese Sache genauso zu vertuschen wie die beiden anderen Fälle vorher?
Der Assistent stöhnte auf. Niemand will irgendetwas vertuschen, Sam. Irgendwo hier draußen ist eine raubgierige Riesenschlange unterwegs – und glücklicherweise hat mir Horch Ralla ein halbes Dutzend seiner Leute geschickt, um das Vieh so schnell wie möglich unschädlich zu machen.
Das ist keine gewöhnliche Schlange, erinnerte ihn Rabov. Schon vergessen, Port? Mir jedenfalls ist niemals vorher ein Lebewesen untergekommen, dem der Sichelblitz nichts anhaben konnte – und laut sämtlichen Lehrbüchern kann es so eine Kreatur auch nicht geben.
Darauf antwortete Sola nichts. Rabov beschloss, auf diesem Punkt im Moment nicht weiter herumzuhacken – schließlich hatte er selbst noch nicht mal ansatzweise eine Erklärung für dieses weitere beunruhigende Rätsel gefunden. Geschweige denn dafür, wie der Wurm in so kurzer Zeit so furchterregend wachsen und dabei auch noch die halbe Stadt durchqueren konnte. Oder für die Frage, warum er sich gerade an diesen entlegenen Ort begeben hatte.
Wir suchen weiter. Sie hören von mir, Chef. Ohne eine Antwort abzuwarten, brach Sola die lakorische Verbindung ab.
Rabov hatte auch gar nicht vorgehabt, ihm zu antworten. In Gedanken war er noch bei dem greulichen Wurm aus dem Makubistentempel. Eigentlich sprach so gut wie gar nichts dafür, dass es sich um ein und dasselbe Biest handelte, das Sola tags zuvor aus Hergos Urwaldbüro hatte entkommen lassen – aber wenn das Ungeheuer nicht aus dem Rumpf des Professors entschlüpft war, woher um Linglus willen stammte es dann? Die einzige Person außer Hergo, die aus Naxoda lebend zurückgekehrt und darüber hinaus imstande war, die Schriftzeichen auf den Bildtafeln zu entschlüsseln, war Lona Markan gewesen – und die Archäologin hatte ihre Experimente nicht irgendwo im Alten Osthafen, sondern da drüben im Grenzweg angestellt. Und vor einer halben Stunde erst hatte sich Rabov mit seinen eigenen Augen davon überzeugt, dass Lona Markan den Schlangenzauber von Naxoda nur sehr unvollständig beherrscht hatte – gerade mal gut genug, um die »versklavte und verzauberte Schlange« in den Körpern hilfloser Kreaturen zu Gallert zu verwandeln.
O ja, ich werde von dir hören, Port, dachte Rabov – und zwar schneller, als du es dir vorstellen kannst. Überdeutlich spürte er, dass der Assistent und die von Ralla ausgesandten Wachtmeister kurz davor waren, in einem der verlassenen Schuppen da draußen an den alten Ostkais eine schockierende und ekelerregende, aber jedenfalls auch aufschlussreiche Entdeckung zu machen. Doch Rabov konnte sich im Moment nicht dazu ermuntern, aufs Neue in Solas Bewusstsein hinüberzugleiten.
Zumal es in diesem Weingarten so unerhört schwülheiß war, dass zwischen Bäumen und Sträuchern feine Nebelfäden schwebten – beinahe wie im zaketumesischen Nebelwald. Unter einer üppig blühenden Syrasse döste die junge Kellnerin in einem Liegestuhl vor sich hin. Rabov beobachtete sie eine Weile lang und fragte sich, was in ihr vorgehen mochte. Ob sie vielleicht gerade von ihrem Geliebten träumte, den sie heute Abend in einer Bar am Donarberg treffen würde. Oder ob sie womöglich eine Archäologiestudentin aus der Instituts-Außenstelle war, die sich als Aushilfskellnerin ein wenig Geld dazuverdiente.
Er war versucht, mit einem dezenten lakorischen Piksen in ihr Bewusstsein vorzudringen, um sich über diesen Punkt kurzerhand Klarheit zu verschaffen. Aber er ließ es dann doch lieber sein. Es wäre streng genommen gegen seine Dienstvorschriften – vor allem aber musste er wirklich vorsichtiger mit seiner Lakori sein. Sonst würde sein Dunkeldu über kurz oder lang doch noch die Kontrolle über seine Persönlichkeit übernehmen.
Also begnügte er sich damit, sich vernehmlich zu räuspern. Die junge Frau blinzelte. Mit Daumen und Zeigefinger bedeutete ihr Rabov, dass er seine Zeche begleichen wollte – es wurde Zeit, dass er sich aufmachte, um den Studenten auf dem Gelände der Instituts-Außenstelle auf den Zahn zu fühlen. Schließlich hatte er Zoran – und vor allem sich selbst – versprochen, dass sie nachher zusammen in den Sarissentempel gehen würden, und er war wild entschlossen, sein Versprechen diesmal auch einzuhalten. Egal, was heute sonst noch passieren würde – wie viele widerliche Riesenwürmer sich vor ihm aufbäumen würden, um ihm den Weg zu versperren.
Grundgütiger Linglu. Gerade als die Kellnerin über die schmatzend nasse Wiese auf ihn zukam, wobei sie mit lautlosen Lippenbewegungen zusammenrechnete, was er ihr für Wein und Gulasch schuldig war – gerade da meldete sich Solas Gedankenstimme. Ich fürchte, Sam, wir haben das Nest von diesem Biest gefunden. Der Assistent klang, als ob er gewürgt würde und dabei schreien wollte.
Sie fürchten, Port? Rasch versetzte sich Rabov abermals in lakorische Trance und glitt in das Bewusstsein des Assistenten hinüber.
Sola stand allem Anschein nach vor
der Tür eines heruntergekommenen Holzschuppens, die er gerade eben
mit einem Stemmeisen aufgebrochen hatte. Das stählerne Werkzeug
hielt er noch in der Hand, doch anstatt in den Schuppen
hineinzumarschieren, verharrte er wie angewurzelt vor der
Schwelle.
Wer ist das hinter Ihnen, Port?
Der Assistent wandte kurz den Kopf und Rabov erkannte zwei Männer in Zolltor-Uniformen, die einen Schritt hinter Sola auf der Mole standen, die entsicherten Gewehre im Anschlag. Der eine von ihnen musste der junge Wachtmeister sein, der unlängst vor dem Haus von Velissa Labiano mit mulmigem Gesichtsausdruck Wache geschoben hatte.
Dann kann ja nichts schiefgehen, höhnte Rabov. Woraus schließen Sie eigentlich, dass Sie die Höhle des Ungeheuers gefunden haben?
Hier stinkt es wie auf dem Schlachthof – nein, tausendmal widerlicher. Riechen Sie das nicht, Sam? Wenn Sie schon so großzügig von meinen Sinnesorganen Gebrauch machen – gönnen Sie sich ruhig auch eine Prise Faulgas.
Ich mache nicht von Ihren Sinnesorganen Gebrauch, verwahrte sich Rabov. Aber Sola hatte recht – nun, da er sich darauf konzentrierte, roch auch er den Gestank nach Verwesung, der aus der Schuppentür hervorquoll. Unwillkürlich hielt er sich die Nase zu.
Die Kellnerin sah ihn verwundert an. »Was haben Sie denn?« Sie zog ihre strichdünnen Augenbrauen zusammen. »Riecht’s hier irgendwie komisch, oder was?«
Er ließ seine Nase los und schüttelte den Kopf, drückte der jungen Frau ein paar Münzen in die Hand und schüttelte noch einmal – diesmal, damit sie das Wechselgeld behielt. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sein Verhalten sie in Verwirrung stürzte, doch anstatt sein Benehmen zu enträtseln, wedelte Rabov sie beidhändig von seinem Tisch wieder fort.
Weg mit den Gewehren, Port, befahl er. Was Sie brauchen, sind Äxte – und Fackeln, ergänzte er in Erinnerung an die praktische Waffe, die Lona Markan sich gebastelt hatte.
Anstatt zu protestieren, wie Rabov erwartet hatte, wies der Assistent die beiden Polizisten leise an, sich mit Hackwaffen und Fackeln auszurüsten und schleunigst zu ihm zurückzukehren. Das Stemmeisen in der schlagbereit erhobenen Hand, behielt er derweil die aufgebrochene Tür im Auge. Vielleicht sollten wir den Schuppen einfach niederbrennen, schlug er vor, was halten Sie davon?
Kommt nicht infrage, gab Rabov zurück. Wir brauchen die Bestie – tot oder lebendig. Ich will, dass der Wurm von den besten Schlangenkennern des Königreichs begutachtet wird – damit Ralla und Konsorten nie mehr behaupten können, wir hätten es hier mit gewöhnlichen Schlangen und Todesfällen zu tun.
Die beiden Polizisten kehrten zurück, mit Beilen und Fackeln bewaffnet. Sola beugte sich zur Seite und ließ das Stemmeisen lautlos zu Boden gleiten. Dann nahm er von den Polizisten ein langstieliges Beil und eine brennende Fackel entgegen.
Also los, befahl Rabov. Sie gehen voran, Port, wie es sich für selbstlose Truppenführer gehört. Er gab sich entschieden forscher, als ihm zumute war, aber auf der anderen Seite schien ihm ein offener Kampf mit dem widerlich weißen Wurm auch weit weniger grausig als die Vorstellung, dem Kriechbiest hilflos ausgeliefert zu sein. So wie damals den Kadoras am Agoschkreuz. Versuchen Sie den Wurm in die Enge zu treiben, fuhr er fort. Sie müssen nah genug herankommen, um ihn mit Ihrem Beil in Stücke zu hacken. Viel Glück.
Das können wir brauchen. Sola stieß die Tür auf und machte einen Schritt in den Schuppen hinein, die Fackel weit vorausgereckt. In der Rechten hielt er hiebbereit das Beil. Die beiden Polizisten traten hinter ihm ein und der jüngere Zolltor-Mann drückte die Tür in den Rahmen.
Im Schuppen war es jetzt so düster wie im dicksten Wald. Der Fackelschein erhellte immer nur zuckende Ausschnitte, umgeben von umso dichterer Dunkelheit. Übereinandergestapelte Seekisten längs der Wände. Davor gelagert Säcke, Holzkoffer, ungefüges Gerümpel.
Der Gestank wurde immer ekelerregender, je tiefer Sola in den Schuppen vordrang. Fortgeschrittene Verwesung, mit einer deutlichen Beimischung von Schlange und einem unerwarteten weiteren Unterton. Wie von einer Raubkatze, dachte Rabov, während er mit Solas Nase links und rechts schnüffelte – zuletzt hatte er ähnliche Gerüche bei Radschi Varusa wahrgenommen, auf dem alten Richtplatz hinter dem Schiffstor.
Sola machte einige weitere Schritte in Richtung der rechten Schuppenwand, dann blieb er so unvermittelt stehen, als ob er gegen eine Glaswand gelaufen wäre. »Bei allen Himmelsboten«, murmelte er, »sehen Sie das, Sam?«
Diesmal war es der Assistent, der sich verwunderte Blicke einfing. Doch gleich darauf hatten die Polizisten ihre Verblüffung wieder vergessen. Stumm und starr schauten sie alle vier auf das Liebespaar zu ihren Füßen, das sich auf den Überresten einer Strohmatratze umschlungen hielt.
Ein Mädchen und ein junger Bursche. Sie lag auf dem Rücken, er auf ihr. Obwohl ihre Körper bereits stark verwest waren, hatte Rabov keinen Zweifel, dass sie einander im Liebesspiel umarmt hatten, als der greuliche Zauber sie traf.
Wo einmal die Wirbelsäule des Liebhabers gewesen war, klaffte eine kleinfingertiefe Furche – vom Steiß bis in den Nacken hinauf. Am Kopf des Burschen klebten nur noch ein paar Haarbüschel, darunter sahen die blanken Gebeine hervor. So konnte Rabov deutlich die fächerförmigen Risse in den Schädelknochen erkennen. Gerade über dem Nacken, dort wo das Rückgrat in den Hirnstamm überging, war die Schädelschale regelrecht zerborsten – wie bei einem Vogelei, dachte er, wenn das Küken die Schale aufgehackt hat, um daraus hervorzuschlüpfen.
Nicht weniger grässlich war der Anblick, den die Überreste der jungen Frau boten. Sie hielt ihren Liebsten mit einem Arm und einem Bein umschlungen. Die beiden anderen Gliedmaßen waren ihr regelrecht vom Leib heruntergefressen worden – als Sola sich mit angehaltenem Atem tiefer herabbeugte, konnte Rabov die Abdrücke nadelspitzer Zahnreihen in den schwarz-violetten Wundrändern sehen. Sehr viel deutlicher, als ihm lieb war.
Schauen Sie woanders hin, befahl er.
Niemals vorher hatte Sola einen Befehl rascher ausgeführt. Er fuhr auf dem Absatz herum und die beiden Polizisten, die ihm über die Schultern geschielt hatten, prallten zurück. Zwischen ihnen hindurch ging der Assistent mit schnellen Schritten auf die linke Längswand des Schuppens zu. Im wild auf- und abtanzenden Fackellicht wurde ein Gegenstand sichtbar, den Rabov an diesem Ort nicht unbedingt erwartet hatte.
Ein Käfig aus armdicken Steinholzstäben, in unverkennbar zaketumesischem Stil. Zu klein, um Sklaven darin zu transportieren – doch geräumig genug, um beispielsweise als Transportzelle für einen Nachtparder zu dienen.
Daher der Raubtiergeruch, dachte Rabov und tastete behutsam über seinen pochenden Nackenwirbel. Nachher sehen Sie sich die Kisten und das andere Gerümpel genauer an, befahl er dem Assistenten. Ich gehe jede Wette ein, dass das ganze Zeug da aus Naxoda oder jedenfalls von der Expedition stammt. Treiben Sie die Frachtpapiere auf und finden Sie heraus, was für ein Raubtier in dem Käfig transportiert wurde.
Eine Schlange bestimmt nicht, gab Sola zurück. Die wäre zwischen den Stäben …
Er unterbrach sich mitten im Satz. Von weiter rechts, wo die beiden Polizisten zwischen übermannshohen Seekistenstapeln herumstöberten, drang ein dumpfer Stöhnlaut herüber. »Agent«, stieß der jüngere Wachtmeister mit mehr oder weniger erstickter Stimme hervor. »Würden Sie bitte mal …?«
Auch er brachte seinen Satz nicht zu Ende. Die beiden Polizisten standen nebeneinander in der linken hinteren Schuppenecke, vor einer höhlenartigen Nische zwischen den gestapelten Kisten. Sie wandten Sola den Rücken zu und auch der jüngere Zolltor-Mann, der den Assistenten gerade gerufen hatte, konnte seinen Blick anscheinend nicht von dem abwenden, was sich in der Nische befand. Die ganze erstarrte Haltung der beiden Polizisten in ihren königsgrünen Uniformen drückte Entsetzen aus. Die Fackeln hielten sie so weit wie möglich in die Nische hineingereckt, als hofften sie, dass sich alles, was sie dort drinnen erblickten, bei hinlänglicher Beleuchtung als Augentrug erweisen würde.
Noch ehe Sola bei ihnen war, wandte sich der jüngere Polizist mit einer krampfhaften Bewegung ab. Er presste sich die Faust, mit der er den Beilstiel umklammert hielt, auf den Mund und sah Sola aus weit aufgerissenen Augen an.
»Na, na«, brummte der Assistent, »was kann denn da so Schlimmes …?«
Auch diese Bemerkung blieb unvollendet. Sola trat neben den älteren Polizisten und leuchtete mit seiner Fackel in die Nische hinein. »Bei allen Himmelsboten«, murmelte er.
»Das sind Menschenknochen, Agent«, sagte der Polizist zu seiner Linken. »So viele Knochen auf einem Haufen hab ich seit dem Krieg gegen Bakus nicht mehr gesehen.«
Und ich überhaupt noch nie, kommentierte Sola. Sie vielleicht, Sam?
Rabov gab ihm keine Antwort. Angespannt sah er sich in der düsteren Nische zwischen den Seekisten um. Sie war vielleicht zwei Meter breit und ebenso tief. Mitten darin lagen die Knochen aufgehäuft, Dutzende oder wahrscheinlich sogar Hunderte Knochen. Sie füllten mehr als die Hälfte der Nische aus und stapelten sich zu einem Haufen auf, der den Männern fast bis zum Gürtel reichte. Reste halb verwester Fleischfetzen klebten daran und jeder einzelne Knochen war mit einem schmierigen Film überzogen, der den ganzen makabren Stapel im Fackellicht schimmern ließ. Knochengrau und fäulnisviolett, hier und dort gelblich grundiert. Und irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, Rabov spürte es überdeutlich – aber er kam einfach nicht darauf, was es war.
»Ich sehe gar keine Totenschädel«, beklagte sich der ältere Polizist in nörglerischem Tonfall, so als hätten die königlichen Ermittler ein Anrecht darauf, vollständige Skelette vorzufinden. »Ich sehe auch keine Fuß- oder Beinknochen. Wenn Sie mich fragen, Agent – das sind alles nur Schulterknochen, Arme und Hände. Aber vielleicht, wenn wir in dem Haufen herumstochern …?« Er beugte sich vor und machte Anstalten, mit seinem Beil in den Knochen zu wühlen.
Gerade da wurde Rabov klar, was ihm an diesen säuberlich aufgehäuften Gebeinen so sehr missfiel. Sagen Sie ihm, er soll das lassen, befahl er, und Sola gab das Kommando auch unverzüglich weiter.
Aber zu spät – der Polizist stieß sein Beil in die Gebeine hinein, und ein butinussförmiger Riesenschädel schoss darunter hervor, in einem Schauer aus Armknochen, Fingergliedern, Schulterkugeln.
Mit dem Kopf voran warf sich das Ungeheuer gegen den älteren Polizisten und schleuderte ihn mehrere Meter nach hinten. Wulst um Wulst ringelte sich die Riesenbestie aus ihrem unterirdischen Nest hervor, so rasend rasch, dass sich vor Rabovs Augen alles zu drehen begann. Die Waffe und die Fackel des Zolltor-Mannes flogen davon, während er selbst rücklings auf den Boden fiel. Zischend walzte der widerlich weiße Wurm über den Polizisten hinweg. Rabov sah mit Solas Augen, wie das Blut des Zolltor-Mannes unter der Bestie hervorspritzte, wie sein zerplatztes Fleisch unter den mehlfahlen Wülsten hervorquoll. Selbst in der kurzen Zeit, seit das Ungeheuer aus der Tempelhalle entkommen war, hatte es weiter an Länge und Umfang zugelegt – es füllte schon beinahe den ganzen Schuppen aus und dabei ringelten sich immer noch weitere Wülste aus dem Knochenhaufen hervor.
Das Beil – na los, kommandierte Rabov.
Wie ein tosender Gebirgsfluss, so schoss der Riesenwurm in dem Schuppen umher. Sein Schweif zerpeitschte Kistenstapel zu Lawinen aus Kleinholz. Der ungeheure Leib walzte über das Liebespaar am Boden, über aufgehäufte Koffer und Bündel hinweg und zermalmte alles zu Staub und Brei.
Hacken Sie das Biest in Fetzen, Sola – das ist ein Befehl!
Der jüngere Wachtmeister kauerte zusammengeduckt hinter dem Steinholzkäfig und plärrte wie ein zu Tode verängstigtes Kind. Nur wenn die eitergelben Augen über ihn hinwegglitten, hielt er kurz inne – um danach umso erbärmlicher aufzuheulen.
Sola rammte seine Fackel in den Knochenhaufen und umfasste mit beiden Händen den Griff seines Beils. Sagen Sie Calin, dass ich sie … Nein, sagen Sie ihr nichts.
Es war die Stunde der unvollendeten Sätze. Sola schwang das Beil hoch in die Luft und schmetterte es auf den wulstigen Riesenleib hinab. Doch die Klinge prallte von den Muskelwülsten des Ungeheuers ab und federte mit solcher Wucht zurück, dass der Assistent beinahe umgerissen wurde.
Der Wurm fuhr herum und starrte den Angreifer an. Sein abstoßendes Riesenhaupt war mindestens fünf Meter von Sola entfernt, an der gegenüberliegenden Schuppenseite. Die Bestie schien es kaum fassen zu können, dass eine so viel kleinere Kreatur es wagte, sie anzugreifen.
Gut gemacht, Port, feuerte ihn Rabov an. Da läuft Saft raus – hauen Sie noch mal drauf!
»Ja, verdammt«, japste Sola. »Und du Jammerlappen«, fuhr er den jüngeren Polizisten an, »hilf gefälligst mit!«
Unaufhörlich raste der Riesenwurm umher, warf sich gegen Wände und Kistenstapel. Sein Zischen, seine Augen, das Splittern und Krachen machten es völlig unmöglich, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
Der Polizist rappelte sich auf. Seine Gesichtsfarbe war käsig, auch seine Beine schienen aus Weichkäse geformt. Die lodernde Fackel lag neben ihm auf dem Boden, vor einem Stapel aus unförmigen Bündeln, die anscheinend Kleidungsstücke oder Tuchrollen enthielten. Mit flattrigen Händen hob er sein Beil und da fiel der gelbe Eiterblick abermals auf ihn und bannte ihn fest.
Wie versteinert stand der junge Zolltor-Mann da, das Beil beidhändig bis zur Brust erhoben. Schon war die Bestie bei ihm und schlug ihre Zähne in seinen Rumpf. Der Polizist wurde emporgerissen, das Ungeheuer schüttelte ihn hoch in der Luft hin und her. Das Beil glitt ihm aus den Händen und fiel scheppernd zu Boden. Im nächsten Moment stürzte er selbst hinterher – oder das, was von ihm noch übrig war. Der abgerissene Arm verschwand ruckweise im Rachen der Bestie. Und schon stieß der monströse Rachen abermals auf den Polizisten hinab – die Bestie grub ihre Zähne erneut in sein Fleisch und riss ihm auch noch den zweiten Arm ab.
Die aufgestapelten Bündel begannen zu brennen. Wie ein weiterer verheerender Wurm fraßen sich die Flammen in die Tuchrollen hinein und in rasendem Zickzack an dem Stapel empor, während Sola wild zu schreien begann und wie rasend auf die Bestie einschlug. Das Vieh schluckte und schlang an dem Arm des unseligen Polizisten herum, und dadurch bekam Sola doch noch eine Chance.
Eigentlich war der Kampf für ihn schon verloren gewesen, doch der Arm des jüngeren Polizisten steckte der Bestie quer in der Kehle. Sie keuchte und schüttelte sich, um den Happen doch noch hinabzuschlingen, aber er saß wie ein Riegel in ihrem Hals. Und während der widerlich weiße Wurm würgte und schlang und schnaubte, sprang Sola tollkühn auf die Bestie hinauf und rannte auf ihrem Rücken entlang, dem übergroßen Schädel entgegen. Der Wurm bäumte und krümmte und wand sich, aber der Assistent hielt das langstielige Beil mit beiden Händen wie eine Balancierstange vor sich und so gelangte er schlingernd und taumelnd bis an sein Ziel. Dort hockte er sich rittlings ins Genick der Riesenschlange, hob die Hackwaffe hoch über seinen Kopf und ließ sie mit all seiner Kraft zwischen die Augen der Bestie niederkrachen.
Blattschuss!, jubilierte Rabov.
Ein Zittern überlief den Riesenleib. Schwarzer Saft spritzte aus der Kopfwunde und mit ihm quoll ein unsäglich widerwärtiger Gestank hervor.
Dem Wurm schwanden die Kräfte. Schlaff sackte er ganz langsam zu Boden, zu schwach, um auch nur seinen Kopf noch zu heben. Die Augen waren nur noch dünne blassgelbe Striche. Nur hin und wieder lief noch ein mattes Zucken durch den monströsen Leib.
Noch einmal hob Sola seine Waffe und ließ sie auf das Ungeheuer niedersausen. Bis zum Schaft fuhr die Klinge in den Kopf der Bestie hinein. Fontänen aus schwärzlichem Schleim spritzten aus der Wunde – und gerade in diesem Moment krachten die brennenden Tuchstapel an der hinteren Schuppenwand in sich zusammen. Hunderttausend Funken flogen umher, Flammen sprangen ihnen wie eigensinnige Dämonen hinterher – und nur ein paar Wimpernschläge später brannte der ganze Schuppen lichterloh.
Machen Sie, dass Sie da rauskommen, Port, befahl Rabov, aber das hätte er sich wirklich sparen können – der Assistent warf sich bereits seitwärts von dem Wurm, zerrte sich im Fallen seine Kapuze über den Kopf und landete auf dem Boden. Die Arme angewinkelt, den Rumpf vorgebeugt, rannte er in Richtung Schuppentür. Just in dieser Rennläuferpose hatte er sich Rabov bei ihrer ersten Begegnung präsentiert, doch damals war es nur eine spöttische Parodie gewesen, ganz im Gegensatz zu heute: Von Flammen gejagt, durch zähen Schleim glitschend, setzte Sola mit unbekümmerten Sprüngen über Wülste, Trümmer, Leichenüberreste und hechtete gerade in dem Moment auf die Mole hinaus, als der Dachstuhl herunterdonnerte und sich der Schuppen mit allem, was darin war, in ein heulendes Flammenmeer verwandelte.
5
Das war
wirklich gut, Port, lobte Rabov. In den
Frühzeiten des Alten Reichs hätten Sie einen passablen Ritter
abgegeben – Sie wissen doch, diese Burschen in Kettenhemden, die
ins wüste Gebürg zur Drachenjagd ausgezogen sind.
Der Assistent reagierte nicht. Apathisch saß er am Rand der Mole und ließ die Beine ins ehemalige Hafenbecken hängen. Dabei gab es da unten außer Schlick und Fischkadavern nichts Erhebliches zu sehen.
Wenn ich jetzt noch glauben könnte, fuhr Rabov fort, dass Sie Ralla sagen werden, was hier draußen wirklich passiert ist – Sie würden geradezu anfangen, mir ans Herz zu wachsen.
Sola fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sein Gesicht war mit Ruß gesprenkelt, seine Hand mit zähem schwarzem Wurmsaft verklebt. Aber er schien nichts davon wahrzunehmen.
Ich kann nicht, Sam. Er senkte sogar seine Gedankenstimme zu einem Flüstern. Dabei hätten die verbliebenen vier Zolltor-Männer da drüben bei der Feuersbrunst ihn allenfalls gehört, wenn er aus Leibeskräften geschrien hätte. Die Flammen fauchten und prasselten. Die Polizisten hatten alle Hände voll zu tun, um das Feuer zumindest einzudämmen. Sie hatten Wannen und Eimer herbeigeschafft und kippten Unmengen trübgrünen Hafenwassers in die Flammen, damit das Feuer nicht auf die Nachbarschuppen übersprang. Verstehen Sie doch endlich, wisperte Sola, das hat überhaupt nichts mit Ihnen zu tun.
Auch Rabov fühlte sich mitgenommen nach dem furchtbaren Kampf. Doch immerhin – der Wurm war besiegt, wenn auch unter schrecklichen Opfern. Nein, das verstehe ich nicht, bekundete er. Wer um Linglus willen kann Sie denn zwingen, andauernd zu Ralla zu rennen? Sie sind ein Mysto-Agent und kein Zolltor-Mann, also sind Sie nur mir und unseren Vorgesetzten im Innenministerium Rechenschaft schuldig. Oder habe ich da irgendetwas Wichtiges übersehen?
Nein, Sam. Nicht übersehen. Sie wollen es nur nicht … Sola schüttelte den Kopf. Wenn ich geahnt hätte, wie schäbig ich mich in dieser Rolle fühlen würde – glauben Sie mir, ich hätte von vornherein … Er brach unvermittelt ab.
Sie meinen, als schäbiger Doppelagent? Der vorgibt, für Calin und mich zu arbeiten – während er in Wahrheit für Ralla und seine Horch-Brüder schnüffelt?
»Verdammt noch mal – nein, das meine ich nicht!« Sola schrie es so laut auf das alte Hafenbecken hinaus, dass die Polizisten hinter ihm nun doch aufmerksam wurden.
Einer von ihnen kam zu Sola herübergelaufen und salutierte. »Was befehlen Sie, Agent?«
Sola rang sich ein Lächeln ab. »Ich musste mir nur mal kurz Luft verschaffen – immerhin haben wir gerade zwei von Ihren Kameraden verloren. Und das bedrückt mich natürlich – auch wenn ich mir nichts vorzuwerfen habe. Mit dem, was wir da drinnen vorgefunden haben, konnte wirklich niemand rechnen.«
»Was denn, ich meine …« Der Polizist runzelte die Stirn. »Was ist denn eigentlich da drin passiert?«
Sola hielt ihm eine Hand hin und ließ sich von dem Zolltor-Mann auf die Füße hieven. »Ein ausgewachsener Nachtparder«, sagte er. »Keine Ahnung, wie die Bestie über das Meer hierhergekommen ist. Das verdammte Biest hat jedenfalls Ihre beiden Kameraden zerfleischt, Polizist, bevor ich es in Stücke hacken konnte. Und im Kampfgetümmel hat dann auch noch so ein Tuchstapel Feuer gefangen – es tut mir aufrichtig leid. Es waren gute Männer.« Er legte dem Polizisten seine Rechte auf den Arm und bemerkte, dass sie über und über mit schwarzem Wurmsaft verklebt war. Hastig zog er die Hand zurück. »Bewachen Sie mit Ihren Männern weiter die Gefahrenstelle«, wies er den Polizisten an. »Ich werde dem Hauptermittler Bericht erstatten.«
Der Zolltor-Mann salutierte. »Es lebe der König.«
»Beten Sie für ihn, Wachtmeister«, antwortete der Assistent.
Er wandte sich nach links, wo in einiger Entfernung zwei schwarze Dampfmobile an der Mole standen. Aber Rabov war überhaupt nicht mit diesem Plan einverstanden. Wenn Sie Gewissensbisse haben, Port, dann hören Sie doch einfach auf, zu verfälschen und zu lügen, dass sich die Balken biegen. Was halten Sie davon?
Sola zuckte mit den Schultern.
Dachte ich’s mir doch, kommentierte Rabov. Und deshalb muss der ehrenwerte Ralla auch noch ein Weilchen auf Sie warten. Denn Sie traben jetzt munter den Kai entlang – immer hübsch Richtung See.
Und warum sollte ich das Ihrer Meinung nach tun?
Weil Sie mein Untergebener sind und meine Befehle zumindest dem Schein halber ausführen müssen – ob Ihnen das passt oder nicht.
Mürrisch setzte sich Sola in Bewegung.
Und weil es Sie doch bestimmt auch brennend interessiert, ergänzte Rabov, in welchen Jagdgründen unser Wurm bisher gewildert hat – bevor er sich entschlossen hat, den Okkulten Makubisten einen Besuch abzustatten.
Abrupt blieb Sola wieder stehen. Sie meinen, Sam …?
Allerdings meine ich das. So wie ich unseren Wurm und seine Nahrungsvorlieben kenne – unseren »Nachtparder«, wie Sie ihn nennen –, werden Sie irgendwo da draußen noch ein paar unschöne Entdeckungen machen.
Sola beschirmte mit klebriger Hand seine Augen. Aber wo denn da draußen, bei allen Himmelsboten? Der Kai hört nach ein paar Dutzend Schritten auf und dahinter kommt nur noch die alte Hafenbucht.
Gut beobachtet, lobte Rabov. Die alte Bucht, die für die Schifffahrt nichts mehr taugt, weil sie im Lauf der Zeit hoffnungslos versandet ist. Aber was glauben Sie wohl, was Sie bei den Sandbänken da draußen so alles finden werden? Sie werden staunen, Port. Und wenn Sie durchs seichte Wasser rüberwaten, werden Sie auch gleichzeitig diese Wurmschmiere los. Nennen Sie es meinetwegen Parderblut oder wie Sie wollen – aber runter muss das Zeug auf jeden Fall, sonst rümpfen Ihre Horchs noch über Sie die noblen Nasen.
Der Assistent stöhnte auf. Ich hasse Sie, Sam. Er ließ es sich einen Moment durch den Kopf gehen. Aber auch nicht viel mehr als mich selbst.
6
Auf dem Gelände der
Institutsaußenstelle am Boulevard der Morgenröte machten sich
bereits etliche Uniformierte zu schaffen – eine Handvoll Polizisten
in königsgrünen Umhängen und mindestens ein halbes Dutzend weiterer
Männer mit den schwarzen Helmen der phoräischen Feuerwehr.
Ralla hatte also ausnahmsweise mal einen Ratschlag von ihm beherzigt, sagte sich Rabov. Die Feuerwache war sinnigerweise auch für behördlich angeordnete Sprengungen zuständig – so konnte sie den Brand gleich wieder löschen, falls bei der Explosion versehentlich etwas in Flammen aufging.
Bevor ihn eine der Amtspersonen zur Rede stellen konnte, schlug sich Rabov in die Büsche. Das Gelände der Forschungsstelle war sehr viel weitläufiger, als er nach seinem ersten Besuch erwartet hatte. Ein ausgewachsener kleiner Dschungel mit einem Wirrwarr aus Yasna- und Butinussbäumen, Syrassen, Lianen und Sumpfrohrsträuchern, die sich wenige Handbreit über seinem Kopf zu einem flirrend grünen Dach verflochten. Ein Trampelpfad führte rechter Hand vom Haupthaus fort und Rabov folgte dem schmalen Weg, nicht ohne die Lianen über ihm alle paar Schritte besorgt zu mustern. Und ebenso aufmerksam nach Kriechtieren Ausschau zu halten, die sich vor oder neben ihm durchs knöchelhohe Gras schlängeln mochten.
Der greuliche Wurm beispielsweise, der aus Hergos Keller (und Körper) entkommen war. Konnte es wirklich sein, dass das Biest innerhalb weniger Tage zu einem Monstrum von mehreren Metern Länge gewachsen und dazu noch unbemerkt durch die halbe Stadt gekrochen war? Rabov glaubte immer weniger daran. Auch wenn er andererseits ziemlich sicher war, dass der Plunder in diesem Ostkai-Schuppen von der Naxoda-Expedition stammte. Nach seiner Rückkehr aus Zaketumesien konnte Professor Hergo aus hunderterlei Gründen angeordnet haben, alles, was sie aus dem Nebelwald mitgebracht hatten, zunächst einmal da draußen einzulagern. Und vielleicht hatte der Altertumsforscher irgendwann im Verlauf des letzten Jahres in diesen Fundstücken aus dem Moliat herumgestöbert, weil ihm noch ein paar Mosaiksteinchen für seine Entschlüsselung der Bildtafeln fehlten. Genauso gut konnte sich natürlich auch Lona Markan dort im Schuppen zu schaffen gemacht haben.
Aber um wen handelte es sich bei dem Liebespärchen, auf dessen modrige Überreste Sola gestoßen war? Wie hatte es die beiden gerade in diesen Schuppen verschlagen – und auch noch zu einem Zeitpunkt, als Hergo (oder Lona Markan) dort aufgetaucht war und möglicherweise die Gelegenheit genutzt hatte, um den Schlangenzauber an den beiden auszuprobieren?
Eine Weile lang grübelte er vor sich hin. Aber er kam zu keinem Ergebnis, das ihn wirklich überzeugt hätte – gut möglich, dass sich alles ganz anders abgespielt hatte.
Mit einem stillen Seufzer wischte sich Rabov den Schweiß von der Stirn. Wofür schleppte er eigentlich von früh bis spät seinen schlammfarbenen Überwurf mit sich herum? Es war so unerhört heiß in diesem Miniaturdschungel, dass er sich am liebsten auch noch sein Hemd heruntergerissen hätte. Ein Lendenschurz, sagte sich Rabov, so ein Tuchfetzen, wie ihn die Trommler von den Noïli-Inseln immer um die Hüften trugen – das wäre jetzt gerade das Richtige für ihn gewesen. Aber ein königlicher Spezialagent im Lendenschurz? Das ging leider überhaupt nicht.
Er seufzte noch hingebungsvoller. Warum war er nicht Kunstmaler geworden, wie er es sich früher einmal erträumt hatte? Dann hätte er jetzt eine hübsch verlotterte kleine Wohnung am Donarberg und eine noch hübscher verlotterte kleine Gefährtin, die er abwechselnd liebkosen und zeichnen könnte. Oder – und da wurde ihm noch sehr viel trüber zumute – warum hatte er damals, als Jüngling von 19 Jahren, überhaupt Raginor und vor allem Odea verlassen? Er hatte ihr geschworen, dass er bald schon zurückkehren würde, dass sie heiraten und für den Rest ihres Lebens zusammen in Raginor leben würden, in der prachtvollen Villa, die Odeas Familie gehörte – auf dem höchsten Hügel im Nibratal. Aber das Leben in Phora, die unzähligen Eindrücke, die hier auf ihn niedergeprasselt waren, die prachtvollen Plätze und Paläste, die sirrende Betriebsamkeit der Hauptstadt – das alles hatte den Provinzjungen, der Samu Rabov damals gewesen war, ungemein beeindruckt. Er hatte sich angewöhnt, mit Herablassung auf seine Vergangenheit zurückzublicken, auf Raginor, überhaupt auf alles, was nicht phoräisch war. Anfangs hatte er sich bemüht, Odea ebenso wie seine Mutter von dieser Herablassung auszunehmen, aber es war ihm immer schlechter gelungen. Sie hatten sich noch ein paarmal geschrieben, die Mutter hatte ihn angefleht und auch Odea hatte ihn bedrängt, so schnell wie möglich nach Raginor zurückzukommen. Aber er hatte ihnen nur noch selten und ausweichend geantwortet, in immer größeren Abständen – und dann eines Tages gar nicht mehr.
Wie immer, wenn er an diese weit zurückliegenden Ereignisse dachte, wurde Rabov ein wenig schwindlig – so als ob er in einen Brunnenschacht hinabschauen würde. Oder beinahe schon hinunterfallen, Ewigkeiten lang kopfüber in diese Unterwelt hineinstürzen, wie es ihm in seinen Träumen so häufig geschah. Tatsächlich war er nie mehr nach Raginor zurückgekehrt und hatte weder seine Mutter noch Odea jemals mehr leibhaftig gesehen. Die Mutter war bald darauf gestorben und Odea hatte einen jungen Mann aus einer angesehenen Familie geheiratet, den Erben eines der »besten Namen« von Raginor. Tagsüber dachte Rabov immer seltener an jene Gestalten und Geschehnisse aus dem Gestern, doch in seinen Träumen hatte er Raginor eigentlich nie verlassen. Beinahe jede Nacht ging er mit Odea am Nibra-Ufer spazieren, und der grässliche, ganz und gar unerträgliche Schmerz durchbohrte ihn immer wieder aufs neue, so dass er laufen, laufen, immer nur laufen musste, die Nibra hinab, bis der Fresspriester ihn ans Agoschkreuz band – und dies alles nahezu Nacht für Nacht. Und wenn er dann aus dem Schlaf auffuhr, mit klopfendem Herzen, verängstigt und doch seltsam beseligt, dann fragte er sich immer wieder, weshalb er nicht auf der Stelle alles hinwarf und einfach dorthin zurückging, wo er von seinem Weg abgekommen war. Zurück nach Raginor.
Wie hatte Calin ihn genannt? Einen sentimentalen Kindskopf? Wie recht sie hatte – und wie sehr allerdings auch er.
Ohne es richtig zu bemerken, hatte Rabov sein Hemd fast bis zum Gürtel geöffnet. Der Schweiß troff ihm nur so aus den Poren. In dem kunstvoll angelegten kleinen Dschungel wurde es immer düsterer, der Himmel überzog sich mit pechschwarzen Wolken. Nicht mehr lange, dann würde es ein gewaltiges Gewitter geben, mit Donner und Wolkenbrüchen beinahe wie zu Zeiten der Großen Flut. Gut für Ralla und sein Sprengkommando, sagte sich Rabov – der Donner würde die Explosion übertönen und der Regen würde die Flammen löschen.
Hatte er überhaupt noch eine Chance, diese mysteriöse Schlangen-Sache aufzuklären? Obwohl Ralla und sein eigener Assistent nach Kräften gegen ihn arbeiteten und obwohl die Schauplätze der Mysteriösen Verbrechen einer nach dem anderen mitsamt allen Beweisstücken der Vernichtung anheimfielen – erst der Schuppen am Ostkai, dann Hergos Forschungsstätte und als Nächstes Velissa Labianos Wohnung mit allem, was sich darin befand?
Die Kehle zog sich Rabov zusammen, als er an die Verlorene im Yasnabaum dachte. Und doch, und doch, sagte er sich dann wieder – bei diesen verfluchten Naxoda-Fällen war es wohl wirklich besser, alles und jedes zu vernichten, Orte, Dinge, notfalls auch Lebewesen – alles, was in den Bann des Schlangenzaubers geraten war.
Behutsam rieb er sich über seinen Nacken. Die Schwüle brachte ihn beinahe um. Und der verdammte Trampelpfad schien ihn für alle Ewigkeiten durch diese arrangierte Pseudowildnis zu führen.
Endlich lichtete sich vor ihm das Dickicht. Der Pfad führte noch einige Schritte aus dem Wald und endete am Rand einer weiten Wiese. Mitten darauf stand ein eingeschossiges Haus, das gewiss schon bessere Tage erlebt hatte. Der Putz blätterte von der Fassade, die Holzläden hingen schief vor den Fenstern und doch sah das Bauwerk noch immer stattlich, ja geradezu herrschaftlich aus. Erkertürmchen flankierten die Vorderfront und geschwungene Masalithstufen führten zum Portal hinauf, das von einem Säulendach überwölbt wurde.
Rabov blieb einen Moment lang stehen und blinzelte zu dem Haus hinüber. Er hatte erwartet, dass die Archäologiestudenten in einer sehr viel bescheideneren Unterkunft hausen würden – wenn auch vielleicht nicht in einem »Gartenschuppen«, wie Lasse Duban abschätzig angekündigt hatte. Aber das hier war ein kleiner Palast, reichlich heruntergekommen, doch so aufwendig und kunstvoll erbaut, dass sich Rabov geradezu an das Schlösschen in Raginor erinnert fühlte, in dem Odea mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt hatte. Und wo sie mittlerweile wohl ihrerseits als Gattin und Mutter einer mehr oder weniger reizenden Kinderschar residierte.
Aber nicht allein – und nicht einmal vorwiegend – aus all diesen Gründen stand er so unbeweglich am Wiesenrand und blinzelte zu dem kleinen Waldpalast hinüber.
Ein gutes Dutzend Schritte vor dem Haus ragten zwei gewaltige Bäume empor. Sie waren gewiss schon über hundert Jahre alt – eine üppig blühende Syrasse und ihr zur Rechten ein Purpurbaum, dessen Äste sich unter der Last überreifer Purpurinen bogen. Rabov lief das Wasser im Mund zusammen. Purpurinen waren die süßesten Früchte überhaupt. Angeblich waren die ersten Menschen, die Linglu einst erschaffen hatte, unter Purpurbäumen gewandelt.
Doch auch nicht deshalb stand Rabov da und blinzelte und leckte sich die Lippen.
Zwischen den Bäumen war eine Hängematte ausgespannt. Und darin lag schlummernd die schönste Frau, die er jemals erblickt hatte.
Schöner als Odea? Schöner sogar als Calin Stingard?
Linglu helfe mir, sagte sich Rabov, so wahr ich hier stehe, ja, sogar schöner als sie.
Das Gras dämpfte seine Schritte. Gleichwohl näherte er sich ihr auf Zehenspitzen und wagte kaum mehr zu atmen. Sie hatte schimmernd braune Haut und obwohl ihre Augen geschlossen waren, erkannte Rabov, dass sie ein wenig schräg geschnitten waren wie bei zaketumesischen Raubkatzen.
Zwei Schritte vor der Hängematte blieb er neuerlich stehen. Sie war allenfalls Mitte zwanzig und sie war offenkundig eine Dunimesierin – ein Halbblut mit einem dunibischen und einem zaketumesischen Elternteil. Rabov hatte häufig daherreden gehört, dass aus dieser Mischung die schönsten Menschenkinder hervorgingen, und nun sah er mit eigenen Augen, wie ganz und gar diese Redensart zutraf.
Ihr Haar, schwarz und üppig, funkelte im gewittrigen Zwielicht. Üppig waren auch ihre Lippen, rot wie Purpurinenschnitze und bestimmt nicht weniger süß.
Rabov ließ seinen Überwurf ins Gras fallen, fast ohne es zu bemerken. Er stellte das Atmen gänzlich ein und ging noch einen Schritt näher.
Sie trug lediglich ein leichtes Kleidchen. Einen Fetzen aus schwarzem Stoff, der eher nach hauchdünnem Leder als nach gewobenem Tuch oder Ähnlichem aussah. Rabov beugte sich über die Schlafende und sah sie an, als wolle er ihren Anblick in sich hineinschlürfen.
Aber nicht deshalb war er zum königlichen Agenten ausgebildet worden – und so weiter und so weiter, brachte er das Gewissensgeleier in seinem Innern zum Schweigen. Er hätte heulen mögen, jauchzen, sich die Haare raufen – dies alles auf einmal und noch einiges mehr. Vor Entzücken, weil die junge Dunimesierin so unerhört schön war und er sie betrachten und sich kühnen Träumereien hingeben durfte, während sie nichtsahnend vor seinen Augen schlief. Und vor Verzweiflung, weil er sie niemals in Wirklichkeit küssen, liebkosen, ihre Lippen auf seinen spüren würde, ihre Arme, wie sie ihn in feuriger Leidenschaft umschlangen.
Und dann schlug sie die Augen auf. Augen so glimmend grün, so schräg geschnitten wie bei einer Katze.
Rabov machte einen Satz rückwärts. In seinem Nacken begann es heftig zu pochen. »Ich … oh«, stammelte er, »ich wollte nicht …«
Sie lächelte und alles um sie herum erstrahlte. Als wäre ihr Lächeln eine zweite Sonne, die über dieser Waldlichtung aufging, nachdem die erste von dem schwarzen Himmel verschlungen worden war. Ihre Augen erinnerten Rabov an die Nachtparder, vor deren Gehege er im Königlich-Phoräischen Tiergarten früher fast täglich gestanden hatte, um sich an der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen zu weiden. Der gleichen anmutigen Trägheit, mit der die Dunimesierin nun aus ihrer Hängematte glitt.
»Sie wollten mich nicht ansehen?« Mit wiegenden Schritten und unergründlichem Lächeln kam sie auf ihn zu. »Das ist aber nicht sehr höflich, Herr …?«
»Rabov«, brachte er hervor. »Samu A. Rabov, königlicher Ordnungsbeamter.« Immerhin besann er sich eben noch rechtzeitig auf die kleine Legende, die er sich vorhin zurechtgelegt hatte. »Das Haupthaus wird gesprengt«, fuhr er mit Mühe fort. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen – Sie und ihre Kommilitonen müssen das Gelände sofort verlassen.«
Sie stand jetzt so nah vor ihm, dass er ihren Atem an seiner Brust spürte. Sein Hemd war bis zum Gürtel offen und seine Seele sogar bis zu Linglus Sieben Himmeln hinauf.
»Wenn die Sprengung vorbei ist«, fügte er fast krächzend hinzu, »dürfen Sie hierher zurückkehren.«
Sie lachte leise auf und es klang wie das Maunzen einer großen Katze. Samtweich, doch mit einem Unterton von Bedrohlichkeit. »Wenn das Haupthaus gesprengt ist«, sagte sie, »was sollen die Studenten dann noch hier?«
Sie sprach mit einem reizenden, kaum hörbaren Akzent. Der Andeutung eines Näselns bei hellen Vokalen, wie es für das Zaketumesische typisch war.
»Sie sagen das so«, gab er zurück, »als ob Sie selbst keine Studentin wären?«
»Nicht mehr, Samu – so heißt du doch? Schon lange nicht mehr.« Sie senkte ihre Lider, aber so, dass er das Pardergrün darunter noch hervorfunkeln sah. Zugleich hob sie ihm ihr Gesicht mit den schimmernd roten Purpurinenlippen entgegen und dazu kratzten ihre Finger sacht über seine Brust.
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben vergaß Rabov, wer und wo er war. Vergaß, dass er knochig und unbeholfen war, mit viel zu langen, viel zu hölzernen Armen ausgestattet und mit einem eifersüchtig überwachen Verstand.
Er küsste ihre Purpurlippen und ließ sich wiederküssen. Er berührte sie so, wie er es sich vorhin ausgemalt hatte, nur diesmal in Wirklichkeit. Sie summte und schnalzte und trillerte ihm seltsame Töne ins Ohr und dieses heisere Gekecker raubte ihm die allerletzten Überreste seiner sonst nahezu unerschütterlichen Kaltblütigkeit. In ihm begann es gleichfalls zu summen und zu pulsieren, sein Rückgrat hinauf und hinab und wieder hinauf. Niemals zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt, so ganz und gar Welle im wogenden Meer. Nicht einmal, wenn er Calin umarmt hatte. Nicht einmal, wenn er Odea geküsst hatte. Nein, Sam – nicht einmal dann.
Sie hieß Liki Meida und ihr Name entzückte ihn genauso wie die Süße ihrer Lippen. Oder wie ihr Lächeln, das ihn wie eine zweite Sonne beschien. So wie das Archäologische Institut in der Lanfastraße eine zweite Nacht war, steingewordene Schwärze, aber daran dachte Rabov in diesem Moment nicht. In der warmen weichen Wiese vor dem Archäologenschlösschen, wo Liki in der Hängematte geschlummert hatte, obwohl sie seit langem keine Studentin mehr war.
»Hergo war ein Verrückter«, sagte sie und näselte hinreißend. »Er wollte die alte Moliat-Kultur überhaupt nicht erforschen. Er wollte selbst ein mächtiger Magier werden – wie jene Zauberpriester, die angeblich vor zehntausend Jahren in Naxoda und was weiß ich wo gelebt haben. Aber in seinem Innersten verstand er überhaupt nichts von Magie«, sagte Liki, »und als mir das klar wurde, habe ich mein Archäologiestudium aufgegeben. Das war noch bevor er zu dieser Expedition nach Zaketumesien aufgebrochen ist.«
Was sie stattdessen heute mache, wollte Rabov wissen. Als Antwort gab sie ihm einen Schubs und beugte sich so weit nach vorn, dass ihre Lippen aufs Neue seinen Mund berührten. »Das hier zum Beispiel«, flüsterte sie.
Nachher erinnerte sich Rabov sehr genau, wie sie sich auf der Wiese unter dem Purpurbaum geliebt hatten. Er erinnerte sich an jede purpurinenrote Einzelheit und er wusste, dass er sie bis an sein Lebensende in seinem Gedächtnis bewahren würde. Dagegen erinnerte er sich überhaupt nicht daran, dass er irgendwann eingeschlafen war und unter welchen Umständen das passiert sein sollte – ob mit Liki im Arm oder allein.
Als er erwachte, war die Dunimesierin jedenfalls nicht mehr da. Über ihm zuckten Blitze und grollte der Donner so dröhnend, als hätte Linglu bereits seine himmlische Armee in Bewegung gesetzt. Und noch während sich Rabov aufrappelte und seine Siebensachen zusammenraffte, zerbarsten alle schwarzen Wolken auf einmal und es begann erbarmungslos zu gießen.
Von seinen üblichen Kleidungsstücken trug er nicht sehr viel mehr als seine Socken. Ungeachtet des Sturzregens wand er sich in seine Hosen und warf nach kurzem Bedenken auch sein Hemd über, beides triefend nass. Sein Überwurf lag einige Meter entfernt in Richtung Wald, wo er ihn vorhin hatte fallen lassen, besinnungslos vor Entzücken über die schlummernde Schöne.
Er trottete hin, klaubte den Lumpen auf und überzeugte sich mit geübten Handgriffen, dass seine Habseligkeiten noch vorhanden waren. Nichts fehlte, auch die königliche Sichel steckte genau dort im Futter seines Überwurfs, wo sie hingehörte.
Aber Liki war schließlich keine Diebin, das hatte er gleich gespürt. Doch was war sie sonst?
Liki Meida. Was für ein Name, was für eine Frau, dachte Rabov. Noch immer summte und pulsierte es in ihm, als ob hunderttausend Glühwürmchen in seinem Rückgrat auf- und abwärtsschwirrten.
Er fühlte sich schuldig, reuig, pflichtvergessen – aber von alledem nur ein ganz klein wenig. Natürlich, er hätte sie streng befragen müssen, anstatt sie zu küssen und all das. Jetzt wusste er nicht einmal, wo sie wohnte, und noch weniger, weshalb sie überhaupt hier gewesen war. Obwohl sie ihm doch selbst anvertraut hatte, dass sie vor über einem Jahr ihr Studium aufgegeben hatte.
Er warf sich seinen Überwurf über Kopf und Schultern und rannte auf das imposante Säulenportal zu. Die Tür über der Masalithtreppe war unverschlossen, die Halle dahinter lag im Dunkeln. Rabov machte ein paar Schritte hinein und blieb abrupt wieder stehen.
In diesem Haus war es nicht nur so düster wie vorhin in dem alten Lagerschuppen am Ostkai – es stank hier auch genauso nach Verwesung und hungrigem Wurm.