1

vigRabov war todmüde und Zoran putzmunter. Der Junge sprudelte über vor Redebedürfnis, während Rabov ein ums andere Mal gähnte, dass ihm die Kiefergelenke knackten.

Sein rechtes Augenlid zuckte noch immer und in seinem Nackenwirbel klopfte Stunde um Stunde dieselbe sanfte Melodie.

Ich fange an, mich in meine Einzelteile aufzulösen, dachte Rabov. Wenn auch nicht ganz so arg wie Professor Hergo.

Alles um ihn herum schwankte, so als würde sein Hinterzimmer mitsamt allen Möbeln, Zoran und ihm selbst zum Grund des Grünen Ozeans hinuntersinken.

»Das war kein Traum, Sammo«, sagte Calin in seinem Kopf, »das war eine hochkarätige Vision.«

»Um Linglus willen«, rief er aus und meinte Calin drinnen so gut wie Zoran draußen, »gönn mir erst mal ein paar Stunden Schlaf.«

»Aber du hast versprochen, dass wir miteinander reden, wenn du zurück bist, Sam!« Der Junge schwenkte anklagend den Zettel, den Rabov ihm am Vorabend in die starre Hand gedrückt hatte.

»Und du hast versprochen, dass du dich nicht gleich wieder der nächstbesten Schlange zum Fraß vorwirfst!« Er bereute seine Worte, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Entschuldige, Zoran, das war ungerecht von mir.«

Der Junge stand mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern vor ihm, ein Sinnbild schlechten Gewissens. »Du hast ja recht, Sam. Mittlerweile ist mir alles wieder eingefallen. Ich habe zufällig mitbekommen, wie dieser Priester mit so einem riesengroßen Schlangenkorb nebenan zu Meister Miceo reingegangen ist. Und da ist in mir einfach irgendwas außer Kontrolle geraten, verstehst du, und ich bin hinter ihm her und hab mir die Nase am Schaufenster da drüben platt gedrückt, bis mich der Meister endlich zu sich hereingewunken hat. Er hat überhaupt keine Schuld an dem, was dann passiert ist. Oder eben nicht passiert ist, weil du …«

Er brach ab, seine Schultern zuckten. Als er den Kopf hob, schwammen seine Augen in Tränen. »Weil du mir schon wieder das Leben gerettet hast, verdammt noch mal!« Er schrie es Rabov regelrecht ins Gesicht und dann flog er ihm in die Arme und riss ihn nach hinten um.

Glücklicherweise hatten sie gerade neben dem Bett gestanden und so fiel Rabov zumindest weich. Zoran knallte allerdings auf ihn drauf und das hörte sich an, als ob zwei Bündel mit trockenem Herdholz gegeneinandergeschlagen würden. Und für Rabov fühlte es sich auch nicht sehr viel besser an.

»Das ist mein Bett«, sagte er und versuchte sich an einem Grinsen. »Du hattest es lange genug mit Beschlag belegt – jetzt bin ich mal wieder dran.«

Zoran kletterte von ihm herunter und Rabov nestelte sich im Liegen seinen Überwurf, Schuhe und Hose vom Körper, wobei er sich so wenig wie möglich bewegte.

»Du riechst nach Schlange«, sagte Zoran.

»Und du erst.« Er kämpfte halbherzig gegen eine Ohnmacht an. »Schwöre mir, dass du wenigstens in den nächsten Stunden nichts Dummes anstellst.«

»Nur wenn du mir verrätst, wie das mit dem Leute-Starrsicheln geht.«

»Auch wenn ich es wüsste – dir würde ich es bestimmt nicht verraten«, murmelte Rabov im Halbschlaf. »Aber das ist sowieso das bestgehütete Geheimnis von ganz Dunibien – wahrscheinlich weiß nicht mal der König darüber Bescheid.«

»Nicht mal der König?«, staunte Zoran.

»Hüten Sie Ihre Zunge, Agent!«, rief Horch Milar in Rabovs Traum.

Als er gegen sechs Uhr früh wieder zu sich kam, fühlte er sich frisch wie nach vier Wochen Urlaub in den norddunibischen Bergen. Ein Geruch nach heißem Tee und kross gebackenen Pfannkuchen kitzelte ihn in der Nase. In der Küchenecke hantierte Zoran mit Pfanne und Wasserkessel gleichzeitig – mit der einen Hand warf er Pfannkuchen in die Luft, mit der anderen goss er Wasser in Rabovs beste Flutgedenktags-Kanne (hauchdünnes Bakus-Porzellan mit Silberrand).

»Da guckst du, was?«, rief der Junge aus, als er sah, dass Rabov aufgewacht war. »Linglu noch mal – was hätte ich drum gegeben, wenn ich ein einziges Mal so mit meinem Vater hätte frühstücken können.«

Rabov konnte gut nachempfinden, wie Zoran zumute war. Aber er hatte überhaupt keine Lust, den Tag mit Sentimentalitäten zu beginnen. Rührei ja, Rührseligkeiten nein – erst recht an einem Tag wie diesem. Er war voller Pläne und während er sich unter seiner Zisternenbrause im Hinterhof endlich mal den Schlangengestank von der Haut spülte, überlegte er, in welcher Reihenfolge er alles am besten angehen sollte, was er heute erledigen wollte.

Als erstes würde er Lona Markan auf den Zahn fühlen, soweit das bei ihrem Du-verdunkelten Geist noch möglich war. Zumindest musste er ihr entlocken, wo sie seit ihrem Auszug aus dem Archäologischen Institut hauste, und dann ihre Wohnung und ihre Habseligkeiten durchsuchen. Aber wenn du ehrlich bist, Sam, nahm sich Rabov selbst ins Verhör, während das Wasser auf ihn herunterprasselte, dann ist dir schon heute Nacht in der VIPERN-BAR klargeworden, dass du wohl hinter der Falschen hergehechtet bist. Wie jemand, der Transformationsmagie dritten Grades beherrschte, sah Magistra Markan ganz bestimmt nicht aus – solche Wunderleute hatten ihr Dunkeldu absolut unter Kontrolle. Und bei der »Formel«, die Lona Markan dem unglücklichen Vorführer abpressen wollte (oder demjenigen, mit dem sie ihn in ihrem Lakori-Dusel verwechselte), handelte es sich ja höchstwahrscheinlich um die Glyphenschrift auf den Bildtafeln von Naxoda. Woraus folgte, dass die Archäologin auch Professor Hergos lakorische Zerfleischung nicht angezettelt haben konnte.

Schlechte Nachrichten für die Maschinenbrüder, sagte sich Rabov – wer auch immer die Gittermakuba durch Velissa Labianos Eingeweide geschickt hatte, war vermutlich noch immer auf freiem Fuß. Und was Professor Hergo anging: Der hatte die Schlange in seinem Innern offensichtlich selbst geweckt, indem er die Anweisungen auf den Bildtafeln entschlüsselt und ausgeführt hatte. Ob der Naxoda-Spuk damit vorbei war oder ob der entwichene widerwärtig weiße Wurm weitere Wirren anrichten würde, musste sich erst noch erweisen. Rabov rechnete eher mit Letzterem – aus Gespür und aus Prinzip.

Die Zisternenbrause spie ein paar letzte Tropfen auf ihn herab und versiegte. Rabov trocknete sich flüchtig ab und fuhr in seine vorletzte Garnitur frischer Kleidungsstücke. Es war ziemlich ungewohnt für ihn, sich hier draußen im Hinterhof anzuziehen, vor neugierigen Nachbarsblicken nur durch ein paar schüttere Bastwandschirme geschützt. Aber vielleicht würde er sowieso nicht mehr lange hier wohnen müssen – in dieser schäbigen Kreuzung aus Junggesellenbude, Trödelladen und Agentenbüro. Alles schien ihm nun wieder möglich, nachdem Calin sich letzte Nacht an ihn gedrückt, seine Umarmung geduldet, ihn sogar mehrfach Sammo genannt hatte. Wie früher, schwärmte Rabov – nein, viel besser, viel vertrauensvoller. Und ein Hauptquell dieser neuen Innigkeit war allem Anschein nach sein Traum von der Fahrt zum Meeresgrund, der laut Calin eine hochkarätige Vision gewesen war, ja mehr noch – die Wiederholung einer Vision aus vorflutlicher Zeit.

Ihm wurde ein wenig flau zumute, wie jedes Mal, wenn ihm dieser Traum – oder eben die Vision – in den Sinn kam, sein Hinabsinken in das Maul des subphoräischen Seeungeheuers. Aber auf jeden Fall würde er gleich nach dem Frühstück Calin anrufen, sie zu einem weiteren Treffen überreden – zu einem Dinner zu zweit im PLATINPARDER mit Panoramablick auf den nächtlichen Smaragdbusen. Er musste unbedingt von ihr erfahren, was es mit der Vision auf sich hatte – und überhaupt mit den Membranen …

Überquellend von Plänen und guten Vorsätzen, nahm Rabov am Frühstückstisch Platz – in seinem Lesesessel mit den Alligatorlederpolstern, den ihm Zoran eigens herangerückt hatte. »Köstlich«, lobte er und schlang mit Todesverachtung hinunter, was immer ihm vor den Mund kam. Der Pfannkuchen schmeckte ziemlich seltsam, so als ob Zoran abwechselnd mit Sacu und Salz nachgewürzt hätte. Dafür hatte er den Syrassentee offenbar mit einem Schuss noïlitischem Butischnaps abgeschmeckt.

Doch Zoran beobachtete jede seiner Regungen mit argwöhnischem Stolz. So blieb Rabov keine andere Wahl, als Teller und Becher bis auf die letzte Krume und den allerletzten Tropfen mit mustergültigem Behagen zu leeren. »Wunderbar«, sagte er schließlich, »so ein Frühstück mit meinem Vater habe ich mir als Junge auch oft gewünscht.«

Daraufhin sah ihn Zoran nur umso erwartungsvoller an. Also gab Rabov auch noch die wenigen Erinnerungsfetzen zum Besten, die ihm von seinem Vater geblieben waren: Im vielfach geflickten Anzug aus Sumpfbüffelleder, Armbrust und Flinte kreuzweise umgehängt, so war Haro Rabov meist lange vor Tagesanbruch in die nibräischen Sümpfe hinausgezogen. »Ich weiß noch, dass ich wahnsinnig stolz auf ihn war – meinen Vater, den königlichen Sumpfwildjäger«, sagte Rabov. »Für mich war er der stärkste und mächtigste Mann auf der Welt. Aber dann eines Tages, da war ich noch nicht mal fünf Jahre alt, haben meine Mutter und ich vergeblich auf ihn gewartet. Sie hatte für ihn gekocht und alles hübsch hergerichtet, wie immer, wenn wir ihn von einer Pirsch zurückerwarteten – aber er kam einfach nicht. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten und überhaupt nicht mehr.«

Wie immer an dieser Stelle ließ er den Kopf ein wenig hängen und seufzte. Zoran fasste scheu nach seiner Hand und seufzte gleichfalls. Rabov war gerührt – von seinen eigenen Erinnerungen und beinahe mehr noch, weil der Junge so zutraulich und mitfühlend war.

»Und heute Nachmittag gehen wir beide zum Sarissentempel«, sagte er in munterem Tonfall.

»Zu meiner Mutter? Pfff«, machte Zoran.

»Wieso pfff? Nein, wir gehen hin und Punktum.« Rabov holte tief Luft. »Was ich dir die ganze Zeit schon sagen wollte, Junge – hör gut zu, denn jetzt kommt es.«

Zoran strich sich eine Locke aus der Stirn und kniff die Augen zusammen. In seiner Altertumswildererweste sah er beunruhigend abenteuerlustig aus.

»Ich habe dir zweimal das Leben gerettet«, sagte Rabov, »und wenn es unbedingt sein muss, rette ich dich auch noch ein drittes Mal. Ich bin für dich da, Zoran, wann immer du mich brauchst – mein Ehrenwort. Aber hier in meiner Höhle kannst du nicht bleiben.« Er deutete auf sein Bett. »Wir können nicht auf Dauer immer abwechselnd da drin schlafen, verstehst du?«

»Warum denn nicht, Sam?«, protestierte Zoran. »Was soll daran denn so schwierig sein? Ich kann ja auch vorne bei deinem Trödel schlafen. Oder hast du vielleicht eine – du weißt schon – ein Mädchen? Dann kann ich ja ab und zu mal von hier verschwinden, wenn es unbedingt sein muss.« Er grinste halb unverschämt und halb ahnungslos. »Im übrigen hat es tausend Vorteile für dich, wenn du mich bei dir wohnen lässt«, redete er eifrig weiter. »Ich kann für dich kochen und sauber machen und das Kostümzeug vorne im Laden verkau…«

Er verstummte mitten im Wort. Wahrscheinlich war ihm gerade wieder eingefallen, dass Rabov in Wirklichkeit gar kein Kostüm- und Maskentrödler war. »Ich versteh schon, Sam, du kannst mich hier nicht gebrauchen«, sagte er und sah auf einmal sehr niedergeschlagen aus.

Rabov lehnte sich in seinen Alligatorpolstern zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wie ein fürsorglicher und entschlussstarker Familienvater das seiner Ansicht nach machen würde. »Ich will, dass du auf eine Schule gehst«, sagte er. »Du musst etwas Ordentliches lernen, verstehst du? Damit du niemals gezwungen sein wirst, dich mit gefährlicher oder sogar verbotener Arbeit in den Sümpfen durchzuschlagen. Was glaubst du, wie viele dunibische Männer jedes Jahr in den Gesperrten Sümpfen ums Leben kommen!«

»Aber ich will ja gar nicht in die Sümpfe«, wandte Zoran ein. »Ich will irgendwas mit Schlangen lernen – Schlangenbeschwörer oder so was.«

»Kommt überhaupt nicht infrage. Heute Nachmittag gehen wir zu deiner Mutter – und dann entscheiden wir zu dritt, was mit dir werden soll.« Ganz kurz erwog Rabov, Zoran von dem Priester im sonnengelben Umhang zu erzählen, der bei den Sieben Vipern nach ihm gesucht hatte. Aber er ließ es sein – in der Verfassung, in der sich der Junge befand, würde es ihn nur auf dumme Gedanken bringen. Auf noch dümmere als sowieso schon.

»Ich hasse den Sarissentempel und diesen ganzen Göttin-Sabra-Kram«, sagte Zoran. »Ich geh da nicht mit hin.«

»O doch, wir gehen da zusammen hin, und zwar heute Nachmittag«, beharrte Rabov. »Ich gebe dir Bescheid, wann und wo wir uns treffen.«

Gerade in diesem Moment gongte das Telefon. Zoran schreckte zusammen. Rabov trat zu dem Apparat, der zwischen seinem Bett und der Kochecke mit kinderfaustgroßen Schrauben an der Wand befestigt war. »Mysto – Kostüme & Kulissen«, meldete er sich vorschriftsmäßig, »Geschäftsführer Rabov am Apparat.«

Und dann sagte er erst einmal gar nichts mehr. Glücklicherweise befand er sich nahe bei seinem Bett und während er zuhörte, ließ er sich darauf sacken. »Habe ich das richtig verstanden, Port? Sie rufen vom Zolltor aus an und Sie haben …«

»Ich weiß nicht, was Sie verstanden haben, Chef«, fiel ihm der Assistent munter ins Wort. »Deshalb sage ich es am besten noch einmal: Lona Markan hat gezwitschert, dass sie einen Giftmordanschlag auf ihre Rivalin Velissa Labiano verübt hat. Und sie hat außerdem zugegeben, dass sie den Professor umgebracht und alles so arrangiert hat, dass es aussah, als hätte Hergo selbst diesen Schlangenzauber von den Bildtafeln in Gang gesetzt. Wir können die Akten jedenfalls schließen, Sam. Herzlichen Glückwunsch.«

Darauf fiel Rabov nicht gleich eine Antwort ein. Jedenfalls keine, durch die er nicht noch üblere Schwierigkeiten bekommen hätte als sowieso schon. Sie sind gefeuert, Port, hätte er am liebsten in die Sprechmuschel gebrüllt, dann den Hörer auf die Gabel geknallt und am besten schon mal seine Siebensachen zusammengepackt. Denn was dann käme, konnte man auch ohne jede prophetische Lakori voraussehen: Die Maschinenbrüder würden ihn abschießen. Auch Milar und die anderen Horchs von der Schlangenmänner-Fraktion würden ihn fallenlassen, weil er sich von Sola hatte ausmanövrieren lassen und ihnen folglich zu nichts mehr nutze war. Für einen Moment liebäugelte Rabov mit der Idee, einfach alles hinzuschmeißen. Auf- und davonzugehen, zurück nach Raginor, die Stelle suchen, an der er damals falsch abgezweigt war.

Aber es gab kein Zurück. Und ohne Calin leben? Unmöglich. Nur die Gewissheit, dass er sie mindestens einmal die Woche sehen würde, sich mit ihr treffen könnte, wenn auch nur dienstlich – nur das hatte es ihm in den letzten Jahren überhaupt möglich gemacht, den Kopf über Wasser zu halten.

Ohne Calin würde er auf der Stelle ertrinken, dachte Rabov und hob die Sprechmuschel an seinen Mund. »Sie hatten keinerlei Anweisung, zum Zolltor zu fahren und Lona Markan zu verhören«, sagte er mit sehr ruhiger Stimme. »Sie haben schon wieder eigenmächtig gehandelt, Port.«

Sola schnaufte. »Das ist nicht Ihr Ernst, Chef, oder? Diesmal haben Sie aber wirklich keinen Grund, auf mich sauer zu sein. Ich wollte nur alles so gut wie möglich machen. Gestern hab ich ja mitbekommen, dass Sie mit Calin ins VIVA gehen wollten, um die Magistra festzunehmen. Und letzte Nacht hab ich … also, ich wollte Ihnen beiden nicht nachspionieren, Sam – glauben Sie um Linglus willen nur nicht, dass ich eifersüchtig wäre oder so etwas. Aber als Calin Sie um zwei Uhr früh mit dem Dampfmobil nach Hause gebracht hat, da hat es natürlich einen ziemlichen Krach gegeben. Ich bin aufgewacht und zum Fenster und da hab ich gesehen – na ja, Sie beide kamen mir ziemlich gut gelaunt vor.«

Der Assistent redete wie ein Wasserfall und in Gedanken verweilte Rabov kurz bei der Szene, die Sola heraufbeschworen hatte. Calin und er waren wirklich in allerbester Stimmung gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sie gefragt, ob sie nicht noch zu ihm herunterkommen wollte. Aber er hatte sich dann letzten Endes doch nicht getraut und das war wohl auch besser so gewesen, schon allein wegen Zoran.

»Da brauchte ich doch nur noch zwei und zwei zusammenzählen, Sam«, schwadronierte der Assistent weiter. »Offenbar hatten Sie den Vogel eingefangen und ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Also habe ich mir gesagt – wenn Sam sich schon mit erstklassiger Agentenarbeit die halbe Nacht um die Ohren gehauen hat, dann will ich mich heute früh auch mal nützlich machen. Ich hab Sie ausschlafen lassen, Chef, und das bisschen Verhörkram allein gemacht – das ist alles. Kein Grund, mir auf Knien zu danken. Aber auch kein Grund, schon wieder auf mich sauer zu sein. Ich finde wirklich, jetzt wäre aber mal ein kleines Lob fällig.«

»Sehr gut, Port«, lobte Rabov. »Sehr gut, dass Sie mich auch mal zu Wort kommen lassen. Also hören Sie zu. Sie kommen jetzt sofort hierher und holen mich ab. Kein Wort mehr zu Magistra Markan, kein Wort über unsere beiden Fälle zu Ralla oder irgendeinem seiner Wachtmeister. Haben Sie das verstanden?«

»Voll und ganz«, versicherte der Assistent. »Ich bin gleich bei Ihnen, Chef.«

2

vigNeben Sola im donnernden Dienstmobil überflog Rabov wieder und wieder das handschriftliche Geständnis der Archäologin. »Ich, Magistra Lona Markan, geboren am 3. 4. 678 n. Z. in Bogat (Zentraldunibien), zuletzt wohnhaft im Archäologischen Institut, Lanfastraße, Phora, erkläre hiermit aus freien Stücken und im hinlänglichen Besitz meiner geistigen Kräfte …«

Es war die summarischste Beichte eines Doppelmordes, die ihm jemals untergekommen war. Sie war offenkundig von vorne bis hinten erdichtet, aber es war eine kunstfertige Fälschung, das hatte Rabov gleich beim ersten Durchlesen erkannt. Und das machte ihm noch mehr Angst, als sowieso schon seit Tagen in ihm rumorte, und ließ ihn zugleich innerlich kochen vor Zorn. Doch nach außen hin blieb er ruhig.

Nach den Worten des Assistenten war das Geständnis der Markan »vollkommen wasserdicht«. Sola platzte vor Selbstzufriedenheit beinahe aus seiner Halbkutte und er schien sich keinerlei Schuld bewusst zu sein. Ganz im Gegenteil – er pfiff vor sich hin, bediente Steuerrad und Gestänge mit übertriebenen Gebärden und spähte alle paar Atemzüge zu Rabov herüber.

Vollkommen wasserdicht? Eine aufschlussreiche Metapher, dachte Rabov, und zweifellos von Ralla inspiriert. Wenn nicht sogar eingetrichtert wie das gesamte sogenannte Geständnis auch. Der Hauptermittler und seine Horch-Brüder schienen allen Ernstes anzunehmen, dass sich die Große Flut mit vorschriftsmäßig abgestempelten Protokollen eindeichen ließe. Und entsprechend erwartete Sola nun offenkundig, dass Rabov sich endlich einmal mit seiner Arbeit zufrieden zeigte. Keine Schlangenmorde – keine verstörenden Schlagzeilen – keine Panik in der Öffentlichkeit. Was wollte man mehr? Und in der Tat: Diese Sichtweise hatte einiges für sich.

Dagegen sprach lediglich, dass sie gerade dabei waren, eine Frau wegen zweier Morde hinrichten zu lassen, die sie beide nicht begangen hatte, während der Mörder von Velissa Labiano – oder der Transformator, genauer gesagt – ungestraft davonkommen würde. Und selbst wenn einen die moralische Seite der Angelegenheit kaltließ, dann sprach gegen diese Lösung à la Ralla immer noch, dass die Person, die Velissa Labiano transformiert hatte, auf diese Weise weiterhin auf freiem Fuß bleiben würde. Und bei dieser Person handelte es sich nun mal um den mit Abstand gefährlichsten Dunkelmann, der je in Phora sein Unwesen getrieben hatte. Um einen höchstgradig befähigten Transformationsmagier, einen Menschen mit den magischen Kräften eines Heiligen, eines Wundertäters – nur dass er seine ungeheure Lakori in den Dienst der Finsternis gestellt hatte. Er konnte jederzeit wieder zuschlagen, und wenn sie ihn nicht zur Strecke brachten, würde er (oder sie, denn natürlich konnte es sich ebenso gut um eine Dunkelfrau handeln) auch genau das tun.

Auf einmal fühlte sich Rabov unendlich müde. Zermürbt und ausgeglüht. Hatte er nicht eben noch hoffnungsvolle Pläne für diesen Tag geschmiedet? Nun, die bestanden schon jetzt, eine Viertelstunde nach dem Frühstück, fast nur noch aus nutzlosen Trümmern. Von zu Hause aus hatte er noch bei Calin im Innenministerium angerufen, doch an ihrem Schreibtisch hatte er lediglich den Gardisten Kurb erreicht. »Die Rätin befindet sich in einer langwierigen Besprechung« – mehr war dem Leibwächter nicht zu entlocken. »Versuchen Sie es am späteren Nachmittag noch einmal, Agent«, hatte Kurb ihm in herablassendem Tonfall geraten – beinahe so, als hätte Calin ihn entsprechend instruiert.

Aber das bildete er sich bestimmt nur ein. Erneut beugte sich Rabov über die Abschrift des Verhörprotokolls.

»… erkläre hiermit aus freien Stücken und im hinlänglichen Besitz meiner geistigen Kräfte:

1. Vor acht Tagen, am 21. 7. 713 n.Z., habe ich mir Zutritt zur Wohnung von Dr. Velissa Labiano in der Lanfastraße in Phora verschafft und das Sacupulver, das sie dortselbst in einer Streudose aufbewahrte, mit einem tödlichen Gift vermengt. Bis es wegen der Naxoda-Expedition Anfang letzten Jahres zwischen uns zum Bruch kam, waren Dr. Labiano und ich gut befreundet gewesen, und so kannte ich ihre Vorliebe für noïlitisches Sacu, mit dem sie ihren Tee und auch die meisten Speisen reichlich zu süßen liebte. Bei dem Pulver, das ich hinzumischte, handelte es sich um gemahlene Sporen des zaketumesischen Lokapilzes, ein Gift, das im Moliat traditionell verabreicht wird, um missliebige Personen möglichst qualvoll zu Tode zu bringen. Ich hatte mir das Lokapulver während der Expedition besorgt, da ich damals bereits den Plan gefasst hatte, Velissa Labiano zu ermorden. Sie hat mich im Jahr 707 mit Prof. Hergo bekannt gemacht und dadurch in sein Naxoda-Wahngespinst verstrickt und dafür hat sie den Tod hundertfach verdient.

Der Lokapilz selbst ist vollkommen ungiftig, doch seine Sporen verbreiten sich rasch im Organismus des peinvoll erstickenden Opfers. Die Haut des lokaverseuchten Leichnams nimmt ein sprödes, rindenähnliches Aussehen an, weshalb Loka unter den abergläubischen Moliat auch als »Zaubermittel« gilt, das Menschen »in Bäume verwandelt«. Tatsächlich aber werden die Betreffenden lediglich massiv verpilzt.

2. In den Morgenstunden des gestrigen 28.7. verschaffte ich mir Zutritt zur Außenstelle des Archäologischen Instituts der Königlich-Phoräischen Universität am Boulevard der Morgenröte. Mir war bekannt, dass in diesem Anwesen Professor Gol Hergo allein lebte und dass er seit unserer Rückkehr aus Zaketumesien fieberhaft an der Entschlüsselung des vermeintlichen »Naxoda-Codes« arbeitete. Im Gegensatz zu mir glaubte er noch immer, dass die verfluchten Bildtafeln ein Mysterium in sich bergen würden, das es wert sei, enträtselt zu werden. Mir jedoch war bereits während der Expedition klargeworden, dass es sich bei der angeblichen Schöpfungsmagie der alten Moliat-Kultur um eine Wahnidee von Prof. Hergo handelte, eine unheilvolle Verrücktheit, mit der er sein und mein Leben ruiniert hat.

Tatsächlich fand ich ihn in der Nachbildung eines Moliattempels, die er mit studentischer Hilfe auf dem Gelände errichtet hatte. Dort saß er in einer originalgetreuen Kopie der Felskammer mit den Bildtafeln, wie wir sie in Naxoda vorgefunden hatten, und murmelte Moliat-Formeln. Bei diesem Anblick überkam mich unbändiger Zorn und ich beschloss, ihn auf die gleiche Weise sterben zu lassen, die auf den Bildtafeln dargestellt ist: Nachdem ich ihn mit einem Hammer bewusstlos geschlagen hatte, grub ich ihm mit einem Hackmesser die Wirbelsäule vom Steißbein bis zum Hirnstamm (einschließlich) aus dem Leib. Diese herausgetrennten Körperteile sowie die verwendeten Mordwerkzeuge, die ich beide in der Felskammer vorgefunden hatte, wickelte ich in ein Leintuch, nahm den Packen mit mir und warf ihn einige Hundert Meter von dem Anwesen entfernt in ein Sumpfloch, in dem er unwiederbringlich versank.

Ich schwöre beim allmächtigen Linglu, dass ich dieses Geständnis eigenhändig und wahrheitsgemäß niedergeschrieben habe. Mir ist bewusst, dass ich unverzeihliche Verbrechen begangen habe, aber ich konnte an nichts anderes mehr denken, bis ich die beiden Menschen getötet hatte, die mich selbst, mein Lebensglück und meine berufliche Laufbahn zerstört haben. Ich bekenne mich in vollem Umfang schuldig und flehe meine Richter an, nach alter oder neuer Weise meinen Kopf von meinem Hals zu trennen und meine Überreste sorgfältig zu verbrennen.

Phora, den 29. 7. 713 n. Z.

Gezeichnet: Ma. Lona Markan

Gegengezeichnet: Horch Ralla, Hauptermittler; Port Sola, Spezialagent; Lis Hommi, Harmonikerin«

Ralla hatte wirklich an alles gedacht, das musste Rabov anerkennen, ob er wollte oder nicht. Der Hauptermittler war offenbar beauftragt worden, diese leidige Naxoda-Schlangenmagie-Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, und er hatte im Großen und Ganzen gute Arbeit geleistet. Solide korrupte Fälschungsarbeit, sogar durch eine Harmonika abgesichert. Rabov konnte sich den Ablauf mühelos vorstellen. Die königlich-diplomierte Harmonikerin hatte Lona Markan diesen ganzen Sermon eingetrichtert und sie dann auch noch dazu gebracht, alles eigenhändig niederzuschreiben, wie es bei Mordgeständnissen nun einmal ratsam war. Und die Harmonika würde notfalls auch vor dem Hohen Gericht beschwören, dass die Angeklagte die ihr zur Last gelegten Verbrechen tatsächlich bei hinlänglichem Besitz ihrer Geisteskräfte gestanden hatte. Kein Richter war versessen darauf, Tatverdächtige mit lakoriverdunkeltem Geist persönlich zu befragen, sich mit ihrem Gefasel und den sprunghaft wechselnden Launen herumzuschlagen. Also würde sich das Gericht auch in diesem Fall damit begnügen, das Geständnis zu verlesen, und darüber hinaus höchstens noch ein paar Experten anhören: die Harmonika Hommi, den Hauptermittler Ralla – und vielleicht auch noch den Leichenbeschauer Dobiu? Aber ja, sagte sich Rabov, auch den hatte Ralla sicher längst wieder auf seine Seite gebracht.

»Wir sind da.« Sola schaltete den Motor des Dampfmobils aus und das unablässige Zischen und Stampfen erstarb. »Aber was wollen wir hier eigentlich noch, Chef?«

Rabov faltete das Verhörprotokoll zusammen und schob es in seinen Umhang. Tatsächlich standen sie bereits wieder vor der Zolltorwache, ziemlich genau an derselben Stelle, an der Calin letzte Nacht ihren Wagen gestoppt und er selbst mit dem Gedanken gespielt hatte, sie zu küssen.

Zauderer, schalt er sich – warum hatte er es nicht getan? Sie einfach in den Arm genommen und seinen Mund auf ihren gedrückt? Immerhin hatte sich Calin nur wenig vorher in der Vipern-Bar an ihn gepresst und ihm ihren heißen Atem ins Ohr gehaucht.

»Sie haben recht, Port«, sagte er. »Für Sie gibt es hier wirklich nichts zu tun. Aber ich habe einen Auftrag für Sie.« Und er wies den Assistenten an, sich zum Hafentorplatz zu begeben. In der Spelunke Zum Lotsengrab würde er eine Trancemagierin namens Chidda treffen und die gute alte Chidda würde ihn als Novizen in den Schlangenkult Makuba occulta einführen.

»Eine Trancemagierin?«, wiederholte Sola in angeekeltem Tonfall. »Und bei den Okkulten Makubisten soll ich mich einschleichen – ist das eine Strafaktion oder so etwas?«

»Alltag in der Mysto, Port – es wird höchste Zeit, dass Sie unsere Routinearbeit kennenlernen.« Rabov grinste seinen Assistenten aufmunternd an. »Zufällig zelebrieren die Makubisten gerade heute wieder eine ihrer schockierenden Dunklen Messen. Chidda ist besorgt und verärgert, weil die Sekte seit Wochen von Konvertiten geradezu überrannt wird. Früher war das ein exklusiver Kult, dem gerade mal ein paar Dutzend Phoräer etwas abgewinnen konnten. Kein Wunder übrigens – was diese Serpentisten da draußen treiben, ist wirklich ziemlich widerwärtig.«

Solas Gesicht versteinerte bei jeder weiteren Erläuterung noch ein wenig mehr. »Und diese Chidda«, sagte er, »warum schwärzt die ihre eigenen Leute an?«

Unvermittelt wurde Rabov von Heiterkeit gepackt. »Das ist eine Ralla-Frage«, sagte er und lachte dem Assistenten ins Gesicht. »Wirklich, Port – genau so würde ein Zolltor-Mann die Sache angehen. Aber Sie sind nun mal ein Flötenmachergassen-Mann – schon vergessen? Unsere Klienten schwärzen niemanden an, sondern sie geben uns Hinweise oder bitten uns um Hilfe, damit die Lichte und die Dunkle Seite in harmonischem Gleichgewicht bleiben. Oder damit diese Balance wiederhergestellt wird – bei ihnen selbst und in der ganzen Stadt. Verstanden?«

Sola starrte mürrisch vor sich hin. »Ja. Vielleicht«, sagte er. »Und was machen Sie währenddessen da drin?« Er deutete auf das einschüchternd dimensionierte Portal der Zolltorwache.

»Ich?« Rabov zuckte mit den Schultern. »Ich frage Ralla, ob er Sie sich mit mir teilen will.« Er stieß seine Tür auf und schwang seine Füße aufs Trottoir hinaus. »Und wenn ja, welche Hälfte von Ihnen er bevorzugt.«

Als er bereits auf der Straße stand und die Beifahrertür schon hinter sich zugeworfen hatte, wandte sich Rabov noch einmal um. Die Dunkle Messe der Makubisten findet in einer ehemaligen Lagerhalle am Alten Osthafen statt, teilte er dem Assistenten noch mit. Wenn Sie dort sind und es losgeht, lassen Sie es mich auf diesem Weg wissen. Er tippte sich gegen die Stirn und deutete dann durch das Wagenfenster hindurch auf Solas Kopf. Damit ich Ihnen zu Hilfe eilen kann – falls es für einen zartfühlenden Nachwuchsagenten dort zu gefährlich und ekelhaft wird.

3

vigDie Zelle war düster, verwahrlost und selbst als vorübergehender Aufenthaltsort für vier Personen eigentlich viel zu eng, aber Lona Markan schien nichts davon zu bemerken. Eine Pritsche mit rostigem Eisengestell, daneben ein kleiner Holzschemel. Die Wände in Schattierungen von Schimmelgrün gestrichen, das Rabov in den Augen und mehr noch in der Seele wehtat. Doch die Magistra blieb ganz für sich, in ihrer Innenwelt so vollständig eingeschlossen, dass sie keine äußeren Mauern mehr wahrnahm. Im grauen Gefängniskittel saß sie steif aufgerichtet auf der Pritsche und ihr Gesicht war ausdruckslos wie das einer Puppe. Nur ihre blassblauen Augen bewegten sich rastlos umher.

Rabov hatte Ralla gebeten, ihn ein paar Minuten allein mit der Archäologin sprechen zu lassen. Aber der Hauptermittler hatte so heftig den Kopf geschüttelt, dass seine Gesichtsfrisur ins Flattern geriet. »Sie sind draußen, Rabov, aus beiden Fällen. Ohne meine Zustimmung dürfen Sie Lona Markan nicht einmal vom Mond aus zuwinken.«

Das hatte Rabov allerdings auch nicht vor. Doch so oder so blieb ihm keine andere Wahl, als sich Rallas Bedingungen zu beugen. Drei Minuten hatte ihm der Zolltor-Chef zugestanden und außer einer Wärterin würde auch der Hauptermittler höchstpersönlich vom ersten bis zum letzten Augenblick dabei sein.

Wahrscheinlich wollte Ralla seinen Triumph auskosten, sagte sich Rabov. Oder hatte er Angst, dass Lona Markan ihr Geständnis doch noch widerrufen könnte? Dazu bestand offensichtlich kein Anlass – diese puppenhaft starre Person würde überhaupt nichts mehr widerrufen. Weil sie sich an das Geständnis, das sie heute Vormittag mit fachkundiger Hilfe abgelegt hatte, zweifellos schon jetzt nicht mehr erinnerte.

Rabov kannte die Symptome nur zu genau: Lona Markan hatte leichtfertig mit ihrer Lakori herumgespielt und so die lichte Seite ihrer Persönlichkeit zerstört. Sie war ein Opfer ihrer eigenen, gewiss nur schwachen magischen Kräfte geworden und in eine Dunkelheit hinabgesunken, aus der es für sie kein Auftauchen mehr gab.

Die Wärterin hatte die Zellentür von innen geschlossen und sich breitbeinig davor aufgepflanzt. Ralla lehnte neben ihr, die Daumen in seinen Gürtel eingehängt, und sah mit nachsichtigem Grinsen zu, wie sich Rabov vor der Gefangenen in den Gang zwischen Wand und Pritsche kauerte.

»Lona«, sagte er leise.

Die Zelle war so schmal, dass er mit seinen Knien beinahe an die Schienbeine der Magistra stieß. Rastlos schweiften ihre Augen umher, blieben jedoch nirgendwo länger haften. Auch über Rabov glitten sie gleichgültig hinweg. Noch mehrfach rief er sie beim Namen, mal gebieterisch, mal raunend, doch sie schien ihn überhaupt nicht zu bemerken. Ihre Füße steckten in klobigen Gefängnispantinen und ihre einzige Reaktion bestand darin, dass sie mit den Holzschuhen auf dem Steinboden herumklapperte.

Das Klappern erinnerte ihn an die Parogiere gestern in Hergos Dschungelbüro. Die zaketumesischen Vögel hatten missmutig mit ihren Schnäbeln geklappert und es hatte sich fast genauso angehört wie die Geräusche, die Lona Markan mit ihren Holzsohlen hervorrief.

»Die Parogiere, Lona«, sagte er, ohne zu wissen, worauf er hinauswollte. Wie so häufig in heiklen Situationen überließ er sich seinem Gespür. »Weißt du noch«, fuhr er fort, »was für einen Lärm diese Vögel im Moliatdschungel immer veranstaltet haben?«

Ihr Blick wurde flackernd wie Laternenlichter bei Sturmflut. Wieder sah sie ihn an und dann gleichgültig von ihm fort.

An der Tür räusperte sich Ralla, aber Rabov ignorierte ihn. In ihm reifte ein Plan, den er möglicherweise sehr bereuen würde. Sogar höchstwahrscheinlich, dachte er – aber da war es zur Umkehr bereits zu spät.

Ich werde enden wie Tarek, dachte Rabov. Er selbst spürte, wie er sich zu verwandeln begann, wenn auch nur für Lona Markan. Wie seine Schultern breiter, seine Arme muskulöser wurden. Sein Haar schütter, während sich sein Gesicht mit grauen Bartstoppeln bedeckte und zuletzt mit einem melancholischen Ausdruck überzog.

»Gol«, flüsterte Lona Markan. Ihre Augen waren groß geworden, ihr bisher so steinernes Gesicht verzog sich zu einem scheuen Lächeln. »Wie reizend von dir, dass du mich besuchst.« Sie sah um sich, ihr Blick fiel auf Ralla und ihre Miene wurde düster. Doch gleich schon schaute sie wieder Rabov an, der für sie in diesem Moment gerade so wie Gol Hergo aussah.

Er spürte es ganz genau. Dabei hätte er noch vor kurzem nicht einmal im Traum geglaubt, dass er jemals zu Transformationsmagie ersten Grades befähigt sein würde. Noch viel weniger hatte er allerdings geahnt, wie viel Energie man aufwenden musste, um eine so geringfügige Täuschung für einen kurzen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Die Kräfte schwanden ihm bereits. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Und dann fiel ihm Lona Markan mit einem halb erstickten Jauchzer um den Hals, und er ließ es mehr aus Schwäche als aus Vorbedacht geschehen.

»Das reicht aber jetzt«, blaffte Ralla von der Tür her. »Oder was kommt als Nächstes zwischen Ihnen beiden – vielleicht ein Zungenkuss?«

»Wie konnte es nur geschehen, Liebster«, flüsterte Lona Markan in Rabovs Schulterbeuge, »dass wir uns so zerstritten haben? Was hat uns nur auseinandergebracht?«

»Sei ganz ruhig, Liebling, jetzt kann uns nichts mehr trennen«, wisperte Rabov und kam sich wie ein Schurke vor. »Ich wäre schon viel früher zu dir gekommen – aber ich wusste ja nicht, wo du wohnst! Sag mir doch, Lona, wo hattest du dich nur vor mir versteckt?«

Sie erstarrte in seinen Armen. Einen Moment lang schien es Rabov, als ob sie vollends in ihre innere Dunkelheit zurückgetaumelt wäre. Doch dann vernahm er aufs Neue die wispernde Stimme an seinem Ohr. »Dummkopf, du lieber Dummkopf«, hauchte die Magistra. »Ich war ja die ganze Zeit in deiner Nähe – im Grenzweg an den Sümpfen, nur ein paar Steinwürfe von dir entfernt.«

Nur vage bekam er mit, wie ihn die Wärterin unter den Achseln packte. Draußen im Gang lehnte sie ihn gegen die Wand und Rabov wartete mit flattrigem Herzschlag, dass er wieder zu Kräften käme. Vorher aber kam Ralla.

Der Hauptermittler trat aus der Zelle und baute sich vor ihm auf. »Was hat die Gefangene zu Ihnen gesagt?«

»Sie hat sich über Ihre Manieren beschwert.« Rabov rieb sich über Stirn und Wangen. »Und sie wünscht sich Sacu-Pudding zum Nachtisch.«

»Verschonen Sie mich mit Ihrem Humor, Linglu noch mal – wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«

»Sie haben mir gar nichts zu sagen.«

Ralla striegelte seinen Schnauzbart. »Aber einer Bitte würden Sie sich doch nicht verschließen? Kommen Sie noch mal kurz mit – wenn ich bitten darf.« Ohne weitere Umschweife stampfte er den Gang entlang.

Rabov blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzutrotten. Er fühlte sich immer noch ein wenig schwindlig und außer Atem, so als hätte er den Donarberg zu Fuß erklommen. Er hatte eine Grenze überschritten, das spürte er nur allzu klar. Vielleicht gerade eben, als ihm ein Transformations-Lakori ersten Grades gelungen war, vielleicht auch bereits in den Tagen davor. Jedenfalls hatte sich die Balance zwischen den Kräften in seinem Innern in möglicherweise dramatischem Ausmaß verschoben. Niemals hatte er sein Dunkeldu deutlicher gefühlt. Er fragte sich, ob ihn diese Entwicklung nicht sehr viel mehr beunruhigen sollte. Ob seine Gelassenheit, das Gefühl stiller Stärke, das ihn erfüllte, nicht auf einer Täuschung beruhte, mit der ihn sein Dunkeldu einzulullen versuchte.

»Hier entlang, Agent – wenn ich bitten darf.« Der Hauptermittler stieß eine Tür auf und machte eine übertrieben einladende Gebärde.

Rabov spähte argwöhnisch über die Schwelle. Er selbst hätte nicht sagen können, wen oder was er dort drinnen zu sehen erwartet hatte. Vielleicht Calin in Fesseln oder eine Lyrissa, die der Hauptermittler mit Agentenfleisch zu füttern gedachte.

Aber es war lediglich einer der erbärmlichen Verhörräume, von denen es hier im Gefängnistrakt unzählige gab. Eine enge Kammer, die Wände aschgrau, die Decke im Verhältnis viel zu hoch, so dass man sich schon beim Eintreten beklommen und kleinwüchsig fühlte.

Ralla schob ihn hinein und schloss hinter ihnen die Tür.

»Was soll dieses Theater?«, fragte Rabov. »Glauben Sie im Ernst, dass Sie mich einschüchtern können?« Er deutete auf die dicken Teppiche, mit denen das Türblatt von innen bedeckt war. Sie befanden sich offenbar in einer Zelle für verschärfte Verhöre, die bei Ralla »moderne Polizeitechnik« hießen – sozusagen die Dampfmaschinenversion der guten alten Vernehmung.

»Setzen wir uns.« Ralla nahm seinerseits auf einem der beiden wackligen Holzstühle Platz und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch.

Rabov ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen. Das Klappern der Holzpantinen von Lona Markan echote noch in seinem Kopf.

»Ihr Assistent hat mich heute früh großartig unterstützt – herzlichen Glückwunsch zu einem so tüchtigen Gehilfen, Rabov.« Ralla warf sich auf seinem Stuhl nach hinten, dass sämtliche Nuten ächzten.

»Danke. Wollen Sie ihn haben? Ich könnte bei Calin Stingard ein Wort für Sie einlegen. Oder Sie nehmen ihn mir wenigstens halbtags ab – das könnten wir auch unter der Hand vereinbaren.«

Der Hauptermittler wurde blaurot im Gesicht, aber diesmal nur ganz kurz. »Also kommen wir zur Sache. Was halten Sie von dem Geständnis der Tatverdächtigen?«

»Oh, ein sehr schönes Geständnis«, lobte Rabov. »Sie sollten es beim königlichen Poesiewettbewerb einreichen.«

Ralla schnaufte und striegelte. »Die Akten Labiano und Hergo sind geschlossen«, sagte er so langsam und betont, als ob er sich einem fremdländischen Kleinkriminellen mit geringen Grundkenntnissen der Landessprache verständlich machen wollte. »Sind wir uns in diesem Punkt einig? Sagen Sie einfach ja – und lassen Sie uns wieder an unsere Arbeit gehen.«

»Ja«, sagte Rabov und schickte sich an aufzustehen.

»Ja? Sie teilen also meine Überzeugung, dass beide Mordfälle aufgeklärt sind und die Täterin überführt ist?«

»Nein«, sagte Rabov und ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. »Die Akten sind geschlossen, das ist offensichtlich, und darin bin ich mir also mit Ihnen einig, Ralla – aber das ist auch schon alles, was ich an Übereinstimmung entdecken kann. Magistra Markan hat weder Doktor Labiano noch Professor Hergo ermordet. Aber sie hat die Schuld für beide Todesfälle auf sich genommen und damit ist die Sache auch für mich vorläufig erledigt.« Er machte abermals Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben.

»Einen Moment noch, Rabov.« Ralla fletschte zwei Reihen erstaunlich gelber Zähne. »Was meinen Sie mit ›vorläufig‹?«

»Damit meine ich ›fürs Erste‹ oder ›bis auf weiteres‹, Hauptermittler. Lassen Sie mich überlegen, ob mir noch weitere Synonyme einfallen.« Er rieb sich sinnend den Nacken. Sein oberster Halswirbel wölbte sich mindestens drei Zoll weit unter seiner Haut hervor, es fühlte sich wahrhaftig fast wie ein Kleiderhaken an. Ein knöcherner Kleiderhaken, vibrierend vor sanftem Schmerz. »Ich könnte auch sagen: erledigt, bis der dunkle Wundermann, der Velissa Labiano in einen Yasnabaum verwandelt hat, wieder zuschlägt«, fuhr er fort. »Und erledigt, bis das bleiche Kriechwesen, das aus Hergos Rücken geschlüpft ist, sein nächstes Opfer fordert. Aber mit diesen kleinen Einschränkungen sind wir uns wirklich einig, Hauptermittler: Die Akten sind geschlossen.«

Wieder machte er einen halbherzigen Versuch, sich zu verabschieden. Doch Ralla schien es nicht zu bemerken – er starrte auf die Wand hinter Rabov, als ob dort alle dunklen Schrecken versammelt wären, deren Existenz er sonst immer so rauhbeinig verneinte.

»Es gibt keinen Wundermann, der Frauen in Bäume verwandeln könnte«, sagte Ralla in beschwörendem Tonfall, »und es gibt erst recht keine Schlangen, die aus dem Rumpf dunibischer Wissenschaftler hervorkriechen! Was es aber allerdings und in beunruhigend großer Zahl in unserem Königreich gibt – das sind nichtswürdige Subjekte, die ein höchst eigennütziges Interesse daran haben, den Aberglauben an solchen Unfug lebendig zu halten. Aber ich warne Sie.«

Ralla richtete sich zu seiner vollen Größe auf und Rabov tat es ihm gleich. »Wagen Sie es nicht, das Pressegewürm mit Ihren abwegigen Verdächtigungen zu füttern, sonst …«

»Sonst was?«, fiel ihm Rabov ins Wort. »Wenn Sie einen guten Rat von mir annehmen möchten – hüten Sie Ihre Zunge, Hauptermittler.«

Ohne dass er es im Voraus gewusst oder gar gebilligt hätte, ging neuerlich eine Verwandlung mit ihm vor. Wenn auch nur äußerlich und in den Augen des Hauptermittlers, die sich in ungläubigem Erschrecken weiteten. Rabovs Gestalt richtete sich stocksteif auf, seine Wangen wurden schlaff, das Haupthaar schwand ihm bis auf einen schütteren Kranz in ehrfurchtgebietendem Schneeweiß. Anstelle seines schlammfarbenen Überwurfs schien er auf einmal einen königsgrünen Umhang zu tragen, knöchellang und so unförmig weit, dass sich das majestätische Textil wie ein Segel blähte, als er um den Tisch herum und zur Tür des Verhörraums ging.

Die linke Hand schon auf der Klinke, sah er über die Schulter noch einmal zu Ralla zurück. »Es ist Ihre Entscheidung«, sagte Rabov mit Horch Milars Stimme. »Aber an Ihrer Stelle würde ich den Yasnabaum einschließlich der Liane verbrennen und die Kammer mit den Bildtafeln zuschütten lassen. Oder noch besser: das Gebäude darüber sprengen und die Kammer unter den Trümmern begraben.« Er ballte seine Rechte zur Faust und drückte sie an sein Herz. »Es lebe der König.«

Das Letzte, was er erblickte, während er die Tür hinter sich zuzog, war die Angst in Rallas Augen.

Gütiger Linglu, dachte Rabov – noch gestern hätte er seinen Haarzopf verwettet, dass der Hauptermittler außerstande war, etwas anderes zu empfinden als Selbstgewissheit und Zorn.

4

vigAls Rabov aus der Wolkendroschke stieg, lag die Lanfastraße im tiefen Schatten des Archäologischen Instituts. Dabei war der Vormittag weit vorangeschritten, aber das kolossale Bauwerk war wie eine zweite Nacht, die alles in ihrem Umkreis verdunkelte.

Er wies den Fahrer an, vor Velissa Labianos Haustür zu warten. Der hasenzahnige Kerl nickte ihm mit übertrieben beflissener Miene zu und Rabov fragte sich, wie er in den Augen des Chauffeurs gerade aussehen mochte – entschieden ehrfurchtgebietender jedenfalls, als er selbst sich fühlte.

Er überquerte die Straße und glaubte den Blick von Direktor Barott auf sich zu spüren. Aber er wagte es nicht, zu dessen Fenster im ersten Obergeschoss emporzusehen, sondern zog im Gegenteil die Schultern hoch und drückte sein Kinn brustwärts, während er auf das schwarze Flügeltor des Instituts zueilte.

Unterwegs im Dampfmobil hatte er seine heutige Agenda in groben Umrissen den neuen Gegebenheiten angepasst. Als erstes würde er hier in der Lanfastraße zwei Blitzbesuche absolvieren. Sodann würde er Lona Markans Behausung im Grenzweg bei den Gesperrten Sümpfen durchsuchen. Mit etwas Glück würde er dort den einen oder anderen Hinweis finden, um wen es sich bei den beiden Personen handelte, die kurz vor Velissa Labianos Tod so auffälliges Interesse am Schicksal der Archäologin gezeigt hatten.

Vor drei Tagen (genauer Nächten) hatte in der Vipern-Bar am Tresen neben Tarek ein Kerl gestanden, der offenbar ganz genau wusste, welche grausige Verwandlung da bereits mit der Labiano vorgegangen war. Aus den Gedankenbildern dieses Burschen hatte Tarek aufgeschnappt, dass die Archäologin durch eine Art »lebendiges Seil« in ihrem Mund und Rachen erstickt worden war und »starr wie ein Holzklotz« in ihrem Zimmer lag. Diese Bilderfetzen kamen dem, was sich tatsächlich ereignet hatte, so nahe, dass eigentlich nur derjenige davon wissen konnte, der Velissa Labiano höchstpersönlich in einen Yasnabaum verwandelt hatte. Der Transformationsmagier mit der Lakori eines Heiligen – oder eben eines Dunkelmannes.

Und da gab es außerdem noch jene junge Frau, deren Identität die Wahrsagerin Selda nicht preisgeben wollte – »ein Mädchen fast noch«, wie sich die kraternasige Alte ausgedrückt hatte, »allenfalls Mitte zwanzig«. Sie hatte Selda beauftragt, auf magischem Weg zu erforschen, ob die Archäologin »noch unter den Lebenden weilte« – genau einen Tag nach Velissa Labianos Tod.

Wenn Rabov die Wahrsagerin nur ordentlich unter Druck setzte, würde Selda über kurz oder lang höchstwahrscheinlich mit allem herausrücken, was sie über diese Klientin wusste. Aber mit etwas Glück konnte er dasselbe Ziel rascher und sicherer erreichen, indem er ganz einfach Lasse Duban befragte.

Er ließ den eisernen Klopfer auf den Torbeschlag niedersausen. Wie bei seinem letzten Besuch verging geraume Zeit, bis drinnen Schritte näherkamen. Doch schließlich schwang die Luke auf und dahinter erschien das Gesicht des jungen Torwächters – noch bleicher und abgehärmter als beim letzten Mal.

»Schön, dich wiederzusehen, Lasse«, sagte Rabov betont freundlich. »Du siehst aus, als könntest du noch eine Mahlzeit im Wirtshaus vertragen.«

Der junge Mann zog das Lumpenhemd über seiner knochigen Brust zusammen. »Oh, jetzt erkenne ich Sie wieder, Herr. Ich bin Ihnen überaus dankbar, aber …«

»… aber du hast dir für meine Münzen nichts zu essen gekauft«, vollendete Rabov an seiner Stelle. »Jedenfalls kann ich deine Rippen immer noch durch dein Hemd hindurch abzählen.«

»Leider, Herr.« Lasse Duban senkte den Kopf. »Zu viele Schulden – und zu ungeduldige Gläubiger.« Mit nach oben verdrehten Augen sah er zu Rabov auf. »Aber nicht das wollte ich sagen, sondern …« Er gab sich einen sichtbaren Ruck. »Der Herr Direktor hat befohlen – ich darf Sie nicht mehr zu ihm vorlassen. Jedenfalls nicht einfach so. Wenn Sie noch einmal mit ihm sprechen möchten, Herr, sollen Sie sich telefonisch anmelden.«

Rabov hob eine Augenbraue. Erstaunlich, wie rasch und reibungslos diese Maschinenbrüder vorgingen. Die Tinte auf dem Geständnis von Lona Markan war noch nicht trocken, da hatte Ralla seinen Horch-Kumpanen offenbar bereits Vollzug gemeldet. Und Direktor Barott hatte nicht einen Augenblick gezögert, die Anweisungen für seinen Torwächter der neuen Lage anzupassen.

Rabov beschloss, es als amüsante Arabeske anzusehen. Schließlich hatte er ja kaum etwas anderes erwarten dürfen. »Keine Sorge«, sagte er zu Lasse. »Ich wollte sowieso zu dir.«

Das hagere Gesicht in der Luke wurde noch bleicher. »Wieso zu mir?«

»Um dir noch ein paar Kupferstücke zu geben«, sagte Rabov mit einem Lächeln. »Wenn du mir verspricht, dass du dir diesmal ein Gulasch dafür kaufst.« Er klaubte einige Münzen aus seinem Umhang und ließ sie in seiner Linken klimpern.

»Versprochen.« Lasse leckte sich die Lippen.

»Und wenn du mir«, ergänzte Rabov, »ein paar Namen nennst.«

»Namen, Herr?«

»Kaum der Rede wert. Du weißt doch sicher auch, dass einige deiner Studienkollegen Professor Hergo geholfen haben, draußen in der Forschungsstätte bei den Sümpfen diese Tempel-Nachbildung zu bauen.«

Der junge Mann nickte kaum merklich.

»Wo finde ich diese Kommilitonen? Meines Wissens gehört auch eine junge Frau dazu, so in deinem Alter – du weißt doch, wie sie heißt?«

Lasse Duban hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Mit diesen Leuten habe ich nichts zu tun«, sagte er in wegwerfendem Tonfall. »Zaketumesisches Altertum, du meine Güte. Ja, ich glaube, dass auch ein paar Mädels dabei sind. Aber wie die heißen? Keine Ahnung.« Er schob eine Hand durch die Luke nach draußen, mit der Handfläche nach oben. »Warum schauen Sie nicht einfach selbst nach?« Er dämpfte seine Stimme zu einem argwöhnischen Wispern. »Wenn ich mich nicht furchtbar täusche, wohnt die ganze Bande auf dem Gelände der Außenstelle – in einem Gartenschuppen oder etwas dieser Art.« Er ließ seine Hand auf- und zuschnappen. »Mehr weiß ich wirklich nicht – und jetzt muss ich gehen.«

Rabov drückte ihm alle Münzen, die er aus seiner Tasche gefischt hatte, in die Hand, ohne nachzusehen, wie viel es war. Er fühlte sich ein wenig schuldig, nicht weil er Lasse heute ausgehorcht hatte, sondern weil er demnächst zurückkommen würde, um weit heiklere Hilfsdienste von dem Jungen zu verlangen. Allerdings konnte er nur hoffen, dass sich Lasse Duban diesmal ein paar Happen gönnen würde – sonst wäre er bald schon zu geschwächt, um auch nur diese Torwärter-Luke zu öffnen. Geschweige denn das Tor selbst, durch das er Rabov bald schon noch einmal einlassen würde.

Der Student beteuerte stammelnd seine Dankbarkeit – anscheinend waren es doch ein paar Münzen zu viel gewesen. Aber Rabov sagte nur: »Kein Wort mehr – zu niemandem, hörst du?« Und nachdem Lasse Duban unter heftigem Kopfnicken verstummt war, winkte Rabov ihm zu und ging über die Straße hinüber zu Velissa Labianos Haus. In seinem Rücken spürte er die Blicke von Lasse und Professor Barott, aber er ließ sich nichts anmerken, sondern machte nur im Vorbeigehen seinem Dampfchauffeur ein Zeichen – drei Minuten, länger würde er nicht mehr brauchen.

Der Kerl bleckte die Hasenzähne und nickte pflichteifrig, um sich gleich darauf wieder in den Phoräischen Nachtboten zu versenken. »Naxoda-Forscher tot aufgefunden – Selbstmord aus Liebeskummer?«, lautete die Schlagzeile, die beinahe die ganze Frontseite des beliebten Schundblattes füllte.

Immerhin hatte die Zeitung gar nicht so weit danebengetippt, dachte Rabov – oder vielleicht hatte Ralla sogar in schlauer Voraussicht einen Köder ausgelegt, den die Sensationspresse und ihre Leserschaft garantiert schlucken würden. Jedenfalls konnten sie die heutige Schlagzeile morgen größtenteils noch einmal verwenden – sie mussten nur vorher »Selbstmord« durch »Mord« ersetzen. Wer würde, wenn diese lebenspralle Version erst einmal aufgetischt worden war, noch daran glauben, dass Hergo durch einen archaischen Schöpfungszauber umgekommen war, der alles, was Menschen jemals gedacht und geglaubt hatten, als Gespinst aus jämmerlichen Lügen und Täuschungen erscheinen ließ? Wer die Schriftzeichen von den Bildtafeln entschlüsselt, hatte Hergo notiert, »stürzt Linglu vom Himmelsthron«.

In derlei Grübeleien versunken, betrat Rabov das Haus, in dem die Labiano gelebt hatte. Er versetzte sich in Agosch-Trance und glitt durch die verrammelte und zusätzlich lakorisch gesperrte Tür in ihre Wohnung. Gerade in dem Moment, als er an den Schreibtisch der Archäologin treten wollte, vernahm er direkt hinter sich ein leises Rascheln (– die Schlange?). Er fuhr herum und genau wie gestern in der Tempelkammer durchzuckte ihn im Nacken ein heftiger Schmerz.

Rabov biss die Zähne zusammen, um nicht lauthals aufzuschreien. Er tastete nach seinem Genick und massierte mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der der Schmerz zuckte wie eine eigenwillige, in seinem Fleisch nistende Kreatur.

Doch auf dem Boden gerade vor seinen Füßen lag lediglich sein Haarband, das war alles – es hatte sich gelöst und war hinter ihm zu Boden getrudelt. Keine Schlange, kein widerwärtig weißer Wurm – nur das Band aus noïlitischem Echsenleder, das sonst immer seinen Haarzopf zusammenhielt.

Beschämt klaubte er den Riemen vom Dielenboden auf, fasste mit der anderen Hand seine Haare zum rattenschwanzartigen Zopf zusammen und schlang das Band darum. Der Wirbel darunter … Er betastete die Wölbung. Der Schmerz klang bereits wieder zu dem sanften Klopfen ab, das seit gestern unaufhörlich in ihm pulsierte. Aber nicht deshalb war er hierhergekommen.

Er drehte sich wieder um und begann, in dem Durcheinander auf dem Schreibtisch von Velissa Labiano herumzuwühlen. Direktor Barott sah ihm von seinem Bürofenster aus dabei zu und Rabov war versucht, ihm zuzuwinken oder auf andere Weise anzudeuten, dass er ihn längst bemerkt hatte.

Scheinbar gemächlich durchpflügte er längere Zeit das Zettelchaos der Archäologin, aber er fand keinerlei Notizen, die auf irgendwelche Verbindungen zwischen der Labiano und den mysteriösen Unbekannten (oder zumindest einem der beiden) hingedeutet hätten. Sie hatte Seite um Seite mit Mutmaßungen über Naxoda vollgekritzelt – das »Phantom im Nebelwald«, die »arglistige Fälschung«, die »seit Jahrhunderten dunibische Trottel und Betrüger anlockt«. Aber offenbar hatte sie keinerlei Beweise dafür gefunden, dass sich auch Hergo und Lona Markan in diese blamable Tradition der betrogenen oder betrügerischen Naxoda-Entdecker eingereiht hatten. Zumindest konnte Rabov in dem Durcheinander ihrer Manuskripte, Bücher und Notizen nichts dergleichen entdecken – was allerdings auch bedeuten konnte, dass jemand vor ihm nach diesen Schriftstücken gesucht und sie beiseitegeschafft hatte.

Falls es diesen Jemand tatsächlich gab, lag die Folgerung nahe, dass er (oder sie) kein anderer als jener höchstgradig befähigte Magier war, der Velissa Labiano transformiert hatte. Auch seine Beweggründe lägen dann einigermaßen klar zutage: Er wollte unbedingt verhindern, dass die Polizei oder wer auch immer Wind davon bekamen, was letztes Jahr im Moliatdschungel tatsächlich passiert war. Vielleicht wollte er überdies Velissa Labiano dafür bestrafen, dass sie es gewagt hatte, ihre Nase in Geheimnisse zu stecken, die nach Ansicht dieses großmächtigen Lakori ungelüftet bleiben sollten. Und offenkundig wollte er jedem, der mit dem Gedanken spielte, in ihre Fußstapfen zu treten, eine unmissverständliche Warnung senden: Er besaß nahezu grenzenlose Macht und wer auch immer sich ihm in den Weg stellte, würde wie Velissa Labiano enden.

Damit stellte sich allerdings eine weitere Frage: Wenn es bei Hergos Naxoda-Expedition tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugegangen war – wer konnte überhaupt ein so brennendes Interesse daran haben, dass dieser Betrug nicht aufgedeckt wurde? Aus Doktor Labianos Nachforschungen ging hervor, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte Dutzende solcher Betrügereien ereignet hatten – aber in keinem einzigen Fall war ein Magier auf den Plan getreten, um mit aller Macht die Aufklärung der Hintergründe zu verhindern.

Rabov grübelte über diesen Rätseln, doch schließlich gestand er sich ein, dass er hier fürs Erste nicht weiterkommen würde. Allem Anschein nach gab es einen direkten Zusammenhang zwischen der Naxoda-Expedition und dem Verbrechen, dem Doktor Labiano zum Opfer gefallen war – aber falls die Forscherin wirklich einem gefährlichen Geheimnis auf die Spur gekommen war, konnte es sich dabei um alles Mögliche handeln. Fest stand gegenwärtig eigentlich nur, dass weder Professor Hergo noch Magistra Markan zu einem drittgradigen Verwandlungs-Lakori imstande gewesen wären.

Aber nach ihrem Ausscheiden aus dem Institut hatte Velissa Labiano allem Anschein nach keinerlei Beziehungen mehr zu irgendeiner Menschenseele unterhalten. Weder zu Forscherkollegen oder Studenten ihrer einstigen Fakultät noch zu magisch begabten Personen aus dem Lakori-Untergrund. Und aus keiner einzigen ihrer zahllosen Notizen ließ sich ableiten, dass sie in den letzten Monaten ihres Lebens auf einen Magier gestoßen wäre, der in irgendeinem Zusammenhang mit der Naxoda-Expedition gestanden hätte – und der außerdem zu Verwandlungs-Lakori dritten Grades imstande war.

Rabov wandte sich dem Hinterzimmer zu. Ihm war die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass er sich um diesen Abschiedsbesuch nicht herumdrücken konnte, aber er hatte es so lange wie irgend möglich vor sich hergeschoben, daran zu denken, was (oder wen) er im einstigen Schlafzimmer von Velissa Labiano vorfinden würde. In welcher Verwandlungsphase sich die beiden Lebewesen dort drinnen befinden mochten – noch Liane und Baum oder schon wieder jemand (oder etwas) ganz anderes.

Er fischte ein Schwefelholz aus seiner Hosentasche, riss es am Türpfosten an und glitt in den Transformationsraum hinüber, der gleichfalls »auf die übliche Weise« gesperrt worden war. Das brennende Hölzchen in der Hand, wünschte er sich im nächsten Moment nur noch, weit, weit entfernt zu sein.

In Bakus, auf den Noïli-Inseln oder sogar im zaketumesischen Nebelwald. Alles lieber, als gerade hier, auf engstem Raum mit … mit einem Dingwesen, für das es keinen Namen gab. Nicht auf Dunibisch, nicht auf Bakusisch oder Zaketumesisch, soweit Rabov wusste. Vielleicht in der Sprache der Naxoda-Bildtafeln, aber sogar das kam ihm in diesem Moment unwahrscheinlich vor.

Das Schwefelholz erlosch. Er ließ es fallen, lutschte an seiner angesengten Fingerspitze und wühlte fahrig nach weiteren Brennhölzchen. Nur um sich dann, als er endlich eines gefunden hatte, ängstlich zu fragen, ob es wirklich klug sei, sich diesem Anblick abermals auszusetzen.

Lieber ein Leben lang mit einem verräterischen Assistenten zusammenarbeiten als das.

Sogar lieber noch einmal ans Agoschkreuz gefesselt werden wie damals – ja, fast sogar lieber das.

Aber er war ein königlicher Spezialagent, sorgsam ausgebildet, um in jeder Lage die Kontrolle zu bewahren. Selbst dann noch, wenn er wie in den zurückliegenden Tagen sein Dunkeldu leichtfertig gestärkt hatte. Und sein Lichtich fahrlässig lädiert.

Sogar dann, Sam.

Und dann hörte er sie stöhnen. Unsagbar angstvoll und schmerzerfüllt stöhnen. Auf eine Weise stöhnen, als ob sie jede Hoffnung verloren hätte und doch nicht umhin könnte, dem Entsetzen und dem Schmerz in ihrem Innern Ausdruck zu verleihen.

Im Stockdunkeln beugte sich Rabov vor und ratschte, ohne darüber nachzudenken, was er da eigentlich machte, das Schwefelholz an ihrem Baumkörper an. Das Flämmchen flackerte auf und erhellte für wenige Augenblicke den schief aufgerichteten Yasnabaum und ganz oben, unter der Krone, inmitten sprießender Zweige, das Gesicht von Velissa Labiano. Es war mit grauer Borke überzogen und doch unverkennbar ein lebendiges Menschengesicht. Die Augen waren weit geöffnet, ihr Gesicht in namenlosem Grauen verzerrt. So sah sie durch Rabov hindurch, durch alle Wände, Räume, Zeiten hindurch in das schwarze Herz allen Schmerzes und Entsetzens dieser Welt.

Sie bemerkte ihn nicht und doch spürte er untrüglich, dass sie am Leben war und schrecklicher litt, als vielleicht jemals ein Mensch gelitten hatte. Sogar ärger als Agosch am Spreizkreuz vor siebenhundert Jahren.

Auch die Liane, die sich durch ihren Baumkörper wand, hatte begonnen, sich abermals zu verwandeln. An ihrem vorderen Ende bildete sich aufs Neue ein Schlangenkopf heraus, die moosgrüne Haut war mit einem roten Netzmuster überzogen. Die Enden der zweigeteilten Zunge standen aus dem fingerbreit geöffneten Maul hervor, und als Rabov das Flämmchen näher heranführte, sah er ganz deutlich, dass auf jedem Zungenende ein ebensolcher winziger Schlangenkopf saß. Das Maul ein wenig geöffnet, die Zähne winzige schimmernde Spitzen, genau wie auf der Zeichnung in Edar Fostus Buch. Dies alles sah ungeheuer kunstvoll aus, denn so wie das Gesicht von Velissa Labiano aus dem Holz des Stammes herausgeschnitzt schien, so war der Schlangenkopf scheinbar aus den Fasern der Liane gezwirnt und geformt. Und doch hatte Rabov schon im ersten Moment gespürt, dass es sich um weit mehr als eine kunstvoll gearbeitete Skulptur handelte.

Die Lianenschlange lebte, so wie auch die Baumfrau am Leben war. Auf eine grässliche, unsagbar unheilvolle Weise am Leben.

Rabov bereute zutiefst, dass er Hauptermittler Ralla aufgefordert hatte, den Yasnabaum, der einmal Velissa Labiano gewesen war, zu verbrennen. Doch im nächsten Moment spürte er den fast übermächtigen Impuls, die grauenvoll lebendige Baumskulptur eigenhändig in Brand zu setzen.

Glücklicherweise erlosch gerade da das Schwefelholz. Und Rabov kehrte in das Schreibzimmer der Verlorenen zurück und riss nur wenige Augenblicke später die Fondtür der Wolkendroschke auf und erschreckte den hasenzahnigen Fahrer fast zu Tode.

»Fahr los, Kerl«, sagte er in einem Tonfall, der ihm selbst Schauder über Nacken und Rücken jagte. »Zum Grenzweg bei den Gesperrten Sümpfen.« Er schwang sich auf den Rücksitz und knallte die Tür zu. »Und wage es nicht, mich unterwegs anzusprechen – was auch passieren mag.«

5

vigHat die Dunkle Messe schon angefangen, Port?

Ah, Sie, Chef – ja, gerade eben. Solas Gedankenstimme klang einigermaßen entnervt.

Sie hatten Anweisung, sich bei mir zu melden, wenn es losgeht.

Wollte ich gerade in diesem Moment machen, Sam.

Sehr gut, lobte Rabov, Sie können ja sogar lügen, ohne den Mund aufzumachen. Aber wissen Sie, was ich gerade in diesem Moment merke?

Sagen Sie’s mir, verlangte Sola und klang noch eine Spur genervter.

Passen Sie gut auf, denn jetzt kommt es: Ich habe keine Geduld mehr mit Ihnen. Ich habe nicht mehr die geringste Lust auf Ihre Lügen und falschen Spielchen, Port. War das nicht ein bisschen sehr dick aufgetragen – so zu tun, als ob Sie Horch für einen lustigen Vornamen hielten? Oder war es Ihnen egal, dass ich Ihnen früher oder später auf die Schliche kommen würde, dass Sie als mieser kleiner Spitzel für Ralla und seine Horch-Brüder arbeiten?

Gütiger Linglu, ich kann das erklären. Solas Gedankenstimme kippte beinahe über. Das ist alles ein riesengroßes Missverständnis, Sam. Aber vielleicht sollten wir darüber ein anderes Mal …? Ich meine, hier geht es gerade ziemlich … ach, du meine Güte … das ist hier ja das reinste …

Bemühen Sie sich nicht weiter, Port. Lassen Sie mich einfach miterleben, was da bei Ihnen gerade passiert. Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, vertiefte Rabov seine Agosch-Trance und glitt in das Bewusstsein des Assistenten hinüber.

Was er mit Port Solas Augen zu sehen bekam, verschlug auch ihm zunächst einmal die Sprache. Dabei hatte er erst letztes Jahr an einer Makubisten-Messe teilgenommen – doch um so mehr erstaunte ihn, was sich um Sola herum abspielte.

Damals hatten sich die Anhänger der Schlangengottheit Makuba Occulta in bescheidenen Katakomben unter einer Hafenspelunke versammelt – nur ein paar Blocks von der Bar Zum Lotsengrab entfernt, wo Port Sola sich vorhin mit der Trancemagierin Chidda getroffen hatte. Ihre Vorliebe für das Hafenviertel hatte sich die Sekte offenkundig bewahrt – als Tempel diente ihnen nun eine ehemalige Lagerhalle an einem stillgelegten Kai im Alten Osthafen. Aber letztes Jahr hatten sich gerade mal zwei Dutzend Makubisten zusammengefunden, um ihre göttliche Geistschlange zu beschwören, diesmal jedoch mussten es mindestens fünfhundert sein. Die Halle war gedrängt voll mit Schlangenjüngerinnen und -jüngern, und Rabov spürte die Erregung, die sie alle das Podest in der Mitte des Bauwerks immer rastloser umkreisen ließ.

Die meisten von ihnen hatten ihre Kleidung bereits von sich geworfen, wie es das Ritual der Makubisten vorsah. Ihre Haut war mit allen erdenklichen Schlangenmusterungen tätowiert und viele Kultanhänger trugen überdies lebende Makubas um den Hals oder in offenen Körben mit sich.

Port Sola war ein wenig übel. Sein Herzschlag war stark beschleunigt und er schwitzte, gleichwohl machte er keine Anstalten, auch nur seine Halbkutte abzustreifen. Wahrscheinlich hätte der Assistent längst wieder die Flucht ergriffen, wenn ihm nicht die Trancemagierin zur Seite gestanden hätte. Chidda war eine robuste Person mittleren Alters, dem äußeren Anschein nach eher ein Marktweib als eine überdurchschnittlich begabte Lakori, die ganze Säle voll nichtsahnender Menschen handkehrum in Zauberschlaf versetzen konnte. Rabov fühlte mit Sola und empfand zugleich stille Schadenfreude. Vor allem aber war er heilfroh, dass nicht er selbst dort im Getümmel der Schlangen und Schlangenanbeter steckte. Den Geruch von Schlangen und schwitzenden Menschenkörpern, das Gebrodel aus Angst und Erregung durch Solas Sinne mitzuerleben, war schon beinahe mehr, als er gerade ertragen konnte.

Entgegen dem, was der Assistent behauptet hatte, schien die Messe schon seit geraumer Zeit im Gang zu sein. Träge Trommelrhythmen, kontrastiert durch schreiartiges Pfeifen aus noïlitischen Knochenflöten, lullten die Kultanhänger ein und peitschten sie gleichzeitig immer weiter auf. Mannshohe Fackeln tauchten alles in zuckendes, orangerotes Licht.

Der Sockel, den die Makubisten umkreisten, war gut zwei Meter hoch und wies die Umrisse eines ungeheuren Baumstumpfs auf. Wurzelwülste so dick wie die Oberschenkel bakusischer Gewichtheber wölbten sich ringsum aus dem Stumpf hervor, der täuschend echt aussah. Tatsächlich handelte es sich aber um einen kunstvoll behauenen und bemalten Felsblock, auch wenn die Makubisten schworen, dass es die Überreste jenes Baumes seien, in dessen Astwerk sich die göttliche Geistschlange einst den allerersten Menschen gezeigt habe – nur sei der Baumstumpf seit damals entweder durch ein Wunder oder (hier gingen die Meinungen wieder auseinander) einfach durch natürliche Alterung versteinert.

Oben auf dem Stumpf jedenfalls standen der Hohepriester und die Hohepriesterin dieses bizarren Schlangenkultes, beide von Kopf bis Fuß mit Makubamusterung tätowiert. Wurmhaft winzige Vipern ringelten sich im Haarschopf der Schlangenpriesterin und eine halbwüchsige Makuba hing ihr wie ein schillernder Schal um die Schultern. Der männliche Hohepriester trug eine stämmige Gittermakuba um seine Hüften geschlungen, als ob es ein Patronengurt aus Schlangenleder wäre – mit dem unablässig umherzuckenden Kopf und dem züngelnden Maul eine Handbreit unter seinem Nabel.

Auf der ovalen Oberfläche des Baumstumpfs oder Felssockels – dem »Altar der Offenbarung« im Sprachgebrauch der Makubisten – hätte sicher ein Dutzend Priester und Schlangenjünger Platz gefunden. Aber bei dem ganzen Ritual kam es letzten Endes darauf an, die eine und einzige Person zu finden, der es beschieden war, bei dieser Messe »mit der Geistschlange zu tanzen«.

Zu diesem Zweck bearbeiteten die Trommler auf der Balustrade an der hinteren Hallenwand ihre Instrumente mit Stöcken und Händen, und deshalb bliesen die Flötenspieler mit aller Kraft in ihre Knochenrohre. »Spürt ihr, wie eure Schlangenkräfte wachsen?«, rief das Hohepriesterpaar auf dem Sockel, und die taumelnde, tanzende Menge antwortete mit einem gestöhnten, gekrächzten, geschrienen: »Wir spüren es, jaaa!« Sie schwenkten die Schlangen über ihren Köpfen und Männer wie Frauen streckten ihre Zungen heraus, die allesamt zwiegespalten waren. »Wir spüren es, jaaa!« Sie umschmeichelten die Schlangen und küssten sie auf ihre kalten Mäuler und dazu riefen und sangen sie aus Hunderten Kehlen: »Göttliche Makuba, komm zu uns herab! Wir spüren es, jaaa! Heilige Geistschlange, wir flehen dich an – zeige dich deinen demütigen Dienern!«

Von der Trancemagierin fürsorglich geleitet, war Port Sola auf einen Mauervorsprung nahe dem Halleneingang gesackt. »Ich glaub, ich muss kotzen«, murmelte er und ließ den Kopf hängen.

Chidda setzte sich neben ihn und stieß ihn mit der Schulter aufmunternd an. »Nimm dir ein Beispiel an deinem Kumpel Samu«, sagte sie. »Der hat das hier schon zweimal durchgestanden, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.« Sie schien ihren eigenen Worten nachzusinnen. »Ich will nicht übertreiben«, sagte sie dann, »ziemlich gezuckt und geseufzt hat er schon. Aber dass ihm irgendwelches Gejammer über die Lippen gekommen wäre, geschweige denn sein halbverdautes Mittagessen – niemals.«

»Ist ja schon gut«, murmelte Sola. »Keine Sorge, das schaff ich auch.« Doch dabei fühlte er sich noch sehr viel weniger zuversichtlich, als seine Beteuerungen klangen.

»Komm jetzt mit nach vorn, Port«, sagte Chidda in gurrendem Tonfall. »Sonst fallen wir noch auf. Außerdem willst du doch auch sehen, wie die göttliche Schlange erscheint, oder etwa nicht?«

»Na klar doch«, murmelte Sola und blieb sitzen, wo er saß.

»Meine Güte, wofür haben sie dich denn überhaupt hergeschickt, du Blindschleiche!« Auch die Trancemagierin verlor nun anscheinend die Geduld mit dem apathischen Kultnovizen. Sie packte ihn unter der Achsel und zerrte ihn mit sich.

Die Makubisten umkreisten den »Altar der Offenbarung« mittlerweile im Laufschritt. Sie keuchten und japsten und ihre Gesichter und Körper glitzerten vor Schweiß. Rücksichtslos bohrte sich Chidda mit dem Assistenten im Schlepptau in die rotierende Kultgemeinde hinein. »Göttliche Makuba, komm zu uns herab!«, rief sie mit unerwartet melodischer Stimme.

Port Sola konnte sich nicht erklären, wann und wie sich die Trancemagierin ihrer Kleidung entledigt hatte, doch unzweifelhaft trug auch sie keinen Fetzen mehr auf der kunstvoll tätowierten Makubahaut. Unverändert umklammerte sie seinen rechten Arm unterhalb der Achsel und zerrte ihn mit sich im Kreis. »Heilige Geistschlange, wir flehen dich an«, jubilierte Chidda, »zeige dich deinen demütigen Dienern!«

Nur noch mit mattem Erstaunen nahm der Assistent zur Kenntnis, dass er in die Anrufung der okkulten Geistschlange eingestimmt hatte. Als die Hohepriester auf dem Sockel ihre rituelle Frage wiederholten, schrie er schon wie alle anderen: »Wir spüren es, jaaa!« – das »jaaa!« so langgezogen, dass es wie ein unterirdisches Echo nur ganz langsam verhallte. Und als Port Sola eine ungewisse Zeitspanne später zufällig an sich herunterschaute, da war er so wie alle anderen Ritualteilnehmer ganz und gar nackt.

»Göttliche Makuba, komm zu uns herab!«, schrie er in fiebriger Ekstase und in einem Hintertreppenwinkel seines Bewusstseins kam er gleichzeitig beinahe um vor Beschämung. »Heilige Geistschlange, wir flehen dich an«, kreischte er, und dann geschah mehrerlei zur gleichen Zeit.

Um sie herum fielen sämtliche Kultanhänger einander umschlingend zu Boden, und Chidda drückte das Gesicht des Assistenten zwischen ihre Brüste, wo es sehr dunkel und schwül war, und riss ihn mit sich hinunter. Rabov lachte in Solas Kopf leise auf, wenn auch mehr vor Schrecken als aus Schadenfreude, und eine einzige Schlangenjüngerin blieb aufrecht auf ihren Füßen stehen, die Hände himmelwärts gereckt und das in Verzückung verzerrte Gesicht gleichfalls zur Hallendecke gewandt. Sie schrie: »Hier bin ich, nimm mich! Hier bin ich, nimm mich, göttliche Makuba!« Unablässig nur immer wieder diese rituelle Formel. »Hier bin ich, nimm mich! Hier bin ich, nimm mich, göttliche Makuba!«, und erst nachdem Sola seinen Kopf mühevoll ein wenig zur Seite gewendet hatte, konnten er und Rabov die Auserwählte dieser Dunklen Messe sehen.

Es war eine junge Frau, Anfang oder allenfalls Mitte zwanzig. Sie war schlank und hochgewachsen und mit den silberblonden Haaren, die ihr offen über die Schultern fielen, hätte sie eine jüngere Schwester von Calin sein können. Aber das dachte Rabov eigentlich immer, wenn er einer jungen Frau von diesem Typus begegnete, und so fiel ihm erst mit einiger Verzögerung auf, worin sich die Verzückte von nahezu allen anderen Makubisten um sie herum unterschied.

Sie hatte ihren Körper nicht mit Nadeln und eingeträufelten Farben tätowiert, sondern bloß oberflächlich mit Schlangenmustern bemalt. Doch in der schweißtreibenden Hitze hatten sich die Farben wieder verflüssigt, und deshalb rannen Hunderte schillernd bunter Tropfen an ihren Wangen, ihrer Brust, ihrem Rücken hinab. Es sah aus, als ob sie sich häuten würde oder als ob sie mit ihrem ganzen Körper farbige Tränen weinte. In diesem Tempel voller Menschen, die allesamt keinen Fetzen Kleidung am Körper trugen, schien sie die einzige wahrhaft Nackte zu sein – selbst Port Sola, der quer über die Brust einen Nachtparder eintätowiert hatte, war weniger entblößt als sie.

Das Hohepriesterpaar auf dem Sockel beugte sich hinab, fasste die Verzückte bei den emporgereckten Händen und zog sie zu sich herauf. Im selben Augenblick wechselten die Trommler und Flötisten auf der Balustrade zu einer Tonfolge über, die wie Entsetzen und Ekstase in einem klang. Wie Jubel und Panik, wie Lust- und Todesschreie, wie allerhöchstes Glück und allertiefste Verzweiflung – das alles zugleich.

Unterdessen waren die beiden Hohepriester von dem Baumstumpf gesprungen, Hand in Hand in die Menge hinab. Viele Kultanhänger lagen noch immer, zu zweien oder dreien umschlungen, am Boden, während andere eng zusammengedrängt vor dem Sockel saßen, die Schlangen wie Schals um ihre Schultern geschlungen und die Köpfe weit zurückgelegt, um zu sehen, was auf dem »Altar der Offenbarung« geschah.

Mit den Armen rudernd wie ein Nichtschwimmer in Seenot, war es schließlich auch Port Sola gelungen, sich aus Chiddas Umarmung ans feste Land zu retten. Auf der Kippe zwischen Ekstase und Panik saß er neben der Trancemagierin und starrte mit großen Augen zum Altar hinauf.

Und so konnte auch Rabov klar und deutlich sehen, wie die göttliche Geistschlange zu der Verzückten hinabgefahren kam. Ein blendend heller Pfeil, der von der Hallendecke niederschoss, ein ungeheurer Leib aus Licht, der sich im Herabstürzen in der Luft schlängelte und ringelte und im nächsten Moment die Verzückte mit einem gleißenden Spiralwirbel umschloss. Mit aberwitziger Geschwindigkeit jagte die Geistschlange um die junge Frau herum, die wie in Schleier aus schierem Licht gehüllt auf dem Sockel stand, die Arme emporgereckt und das Gesicht mit strahlendem Lächeln himmelwärts gewandt.

»Göttliche Makuba, wir preisen dich!«, jubelten die Makubisten. Taumelnd rappelten sie sich allesamt wieder auf, neuerlich von fiebriger Erregung ergriffen, während das Hohepriesterpaar schreiend die Botschaft der Geistschlange verkündete. Denn nach der Lehre der Makubisten waren die wirbelnden Bewegungen des Schlangengeistes okkulte Schriftzeichen, die einzig die Hohepriester entziffern konnten.

»Linglus Priester lügen«, verkündeten sie, »nicht ihr Gott war es, der alles erschaffen hat – sondern Wir allein, die göttliche Makuba.«

»Du allein, göttliche Makuba!«, jauchzte die Menge und auch dieser einleitende Teil der Verkündigung gehörte noch zum Ritual.

Doch dann geschah etwas ganz und gar Unerhörtes. Etwas, das sich gewiss niemals zuvor bei einer Messe der Okkulten Makubisten ereignet hatte. Ab und an kam es vor, dass die göttliche Schlange ihr Erscheinen verweigerte, so flehentlich die Hohepriester und die Gemeinde ihre Herabkunft auch erflehten. Doch wer hätte jemals davon gehört, dass die Geistschlange sich zwar gnädig offenbarte und ganz richtig begann, ihre Botschaft in wirbelnden Spiralzeichen um die Verzückte zu malen – dass diese Botschaft aber mit einem Mal unleserlich überkritzelt wurde?

Und doch geschah genau das vor den Augen der entgeisterten Gemeinde: Ein Gekrakel mischte sich in die kühnen Lichtspiralen, die die Schlangengottheit um den Leib der Verzückten tanzte. Die Hohepriester stockten, setzten aufs Neue an und verstummten dann gänzlich. Denn das widerwärtig anzusehende Gekritzel entstellte die Botschaft der Gottheit – weiße, geschwungene Zeichen ähnlich den Lichtwirbeln der Geistschlange, doch nicht gleißend wie diese, sondern abstoßend fahl.

Die Menge war ebenso verstummt wie ihre Priester. Auch die Trommler und Flötenspieler ließen ihre Stöcke und Instrumente ruhen. Eine grässliche Stille senkte sich auf die Tempelhalle hinab. Von Entsetzen erfasst, starrten alle zum »Altar der Offenbarung« empor, wo die Geistschlange unaufhörlich um den Leib der Verzückten wirbelte, ihre Botschaft wie rasend in die Luft schrieb und die Zeichen genauso schnell durch das fahle Gekrakel übermalt wurden.

Auch Rabov war zunächst viel zu verblüfft, um zu begreifen, was da oben vor sich ging. Und als er es verstanden hatte, zwar schneller als jeder andere in der Tempelhalle, da war es zu spät.

Port, rief er, machen Sie, dass Sie da hochkommen, Mann!

Der Assistent sah benommen um sich.

Das Gekritzel da oben, schrie Rabov, das ist keine zweite Geistschlange oder so etwas – das ist der weiße Wurm aus Hergos Kellerkammer. Nur viermal so groß wie gestern – so machen Sie doch was, Linglu noch mal!

Sola sprang auf.

Na los jetzt, Port!, feuerte ihn Rabov an.

Widerstrebend begann der Assistent, sich einen Weg zum Sockel zu bahnen. Doch schon nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. Sie haben recht, Sam – aber wie grauenvoll groß … Linglu, steh mir bei.

Der Wurm hatte den Umfang eines kräftigen Männeroberschenkels und eine Länge von wenigstens vier Metern. Kopfüber hing er vom Dachgebälk der Halle herunter und sein Schädel, gut zweimal so groß wie der Kopf der Verzückten, pendelte über ihrem Scheitel hin und her. Vor dem halb geöffneten Maul der Bestie tänzelte die zweigespaltene Zunge und die senkrechten Augenschlitze glitzerten eitergelb. Doch die junge Frau schien überhaupt nicht zu bemerken, in welcher Gefahr sie schwebte. Unaufhörlich wirbelte die Geistschlange um sie herum und hüllte sie von den Schultern bis hinab zu den Fußknöcheln ein.

Port, na los – hoch mit Ihnen auf den Sockel!, kommandierte Rabov.

Und just in diesem Moment stieß das Biest auf die Verzückte hinab. Überdeutlich im gleißenden Spirallicht sah Rabov durch Solas Augen, wie der Wurm seine Zähne in die rechte Schulter des Mädchens schlug und ihren Arm ganz einfach aus dem Rumpf herausriss. Er hörte ein greuliches Knirschen und Knacken, die junge Frau schrie auf und Port Sola stöhnte beinahe genauso laut und kniff die Augen zu.

Verdammt, Port, schimpfte Rabov, machen Sie Ihre Augen auf. Dabei war ihm selber sterbensübel – aber jetzt galt es, den widerlichen Wurm zu erlegen. Na, machen Sie schon, Agent!

Sola hob widerstrebend seine Lider. Die Geistschlange war zu einem zitternden Schemen verblasst. Sie bewegte sich noch immer in Spiralen über dem Sockel, doch die junge Frau, die von ihr eingehüllt worden war, lag nun zusammengekrümmt auf dem Altar und aus ihrem Schulterstumpf spritzte Blut in einem daumendicken Strahl.

Der widerwärtige Wurm pendelte noch immer kopfüber vom Dachgebälk herab und seine Augen funkelten vor boshaftem Behagen – jedenfalls kam es Rabov so vor. Das Mädchen hatte anscheinend das Bewusstsein verloren. Die Augen geschlossen, eine Wange in ihr eigenes Blut gebettet, lag sie auf dem Altar der Offenbarung und wimmerte nur leise. Von ihrem abgefressenen Arm hingen noch ein paar Überreste aus dem Rachen des Ungeheuers heraus – ihre bunt betupfte Hand und ein Stück von ihrer Elle, die der Wurm nun mit einem abscheulichen Saugschmatzen vollends in sich hineinschlang.

Sie wollen mich in den Tod schicken, Sam. Die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf weit zurückgelegt, stand Sola vor dem steinernen Baumstumpf und spähte zu dem Wurm und seinem Opfer hinauf. Aber ich geh da nicht hoch.

Gerade in diesem Augenblick schlug das Ungeheuer aufs Neue zu. Es riss seinen Rachen auf, stieß seinen Kopf auf die Liegende hinab und fetzte ihren zweiten Arm mitsamt der Schulter aus dem Leib. Die Menge stöhnte auf. Abermals kniff Sola vor Entsetzen seine Augen zu und Rabov war ihm beinahe dankbar dafür. Aber nur beinahe.

Als der Assistent seine Lider wieder hob, war es vollends für jede Gegenwehr zu spät. Sie konnten nur eben noch sehen, wie sich die Bestie aufbäumte, zur Hallendecke emporkrümmte, ihre bluttriefende Beute im Maul. Im nächsten Moment war der greuliche Riesenwurm vom Dunkel des Dachgebälks verschluckt.

»Heilig, heilig«, murmelte das Hohepriesterpaar. »Heilig, heilig, o göttliche Makuba.«

»Heilig, heilig«, stimmte die Kultgemeinde in den rituellen Singsang ein.

Auf dem Altar lag reglos die junge Frau, mit starren Augen, in einer leuchtend roten Lache, die von grünen und gelben Schlieren durchzogen war.

Und Rabov begriff, dass die Tote in den Augen der Makubisten eine Märtyrerin war.

6

vigVerschwinden Sie aus meinem Kopf, Sam, schimpfte Sola. Lassen Sie mich die Sache auf meine Art regeln. Sie machen mich noch ganz verrückt mit Ihren Lakori-Kommandos – und sich selbst genauso. Denken Sie doch mal an die Warnungen in den Lehrbüchern, Chef – Sie pumpen Ihr Dunkeldu immer weiter auf, während Ihr Lichtich …

Geben Sie sich keine Mühe, schnitt ihm Rabov die Gedankenrede ab. Was dabei herauskommt, wenn Sie Sachen auf Ihre Art regeln, habe ich jetzt zweimal erlebt. Und ein drittes Mal wird es nicht geben – Punktum. Also machen Sie, dass Sie in Ihre Hosen kommen, klemmen Sie sich die Sichel zwischen die Zähne – und dann dem miesen Biest hinterher. Keine Widerrede, Port. Und ich behalte Sie die ganze Zeit im Auge.

Während dieses stillen Zwiegesprächs saß Rabov noch immer im Fond der Wolkendroschke, die dem Boulevard der Morgenröte entgegendampfte. Ab und an fing er im Rückspiegel verhuschte Blicke seines hasenzahnigen Fahrers auf, aber der wagte es nach wie vor nicht, sich auch nur zu räuspern.

Sola schloss den Gürtel mit der Nachtparderschnalle über seinen Hüften. Das reicht, kommandierte Rabov in seinem Kopf und Sola ließ sein Hemd auf den Mauersockel zurückfallen. Fügsam fischte er nur noch die Silbersichel aus seiner Halbkutte, klemmte sie sich allerdings nicht zwischen die Zähne, sondern verstaute die furchtbare Waffe in seiner Hosentasche.

Mit Chiddas Hilfe war es dem Hohepriesterpaar währenddessen gelungen, die Tempelhalle zu räumen. Gerade eben trotteten die letzten Kultanhänger auf den Kai hinaus, an dem seit Jahren kein Schiff mehr angelegt hatte.

Der Alte Osthafen war ein einziges Geistergelände. Mit verwahrlosten Schuppen und Hallen an unkrautüberwucherten Molen, an denen seit Jahr und Tag keine Fracht mehr gelöscht worden war. Linglu allein mochte wissen, was sich in all diesen halb zusammengekrachten Baracken befand. Verlorene Schätze von vergessenen Expeditionen nach Bakus, den Noïli-Inseln oder wohin auch immer.

Sagen Sie Chidda, kommandierte Rabov, dass sie das Tor schließen soll.

Nicht nötig, Chef – sie macht die Schotten gerade dicht. Und wenn Sie schon unbedingt in meinem Kopf bleiben müssen, tun Sie mir wenigstens einen Gefallen – wenn ich jetzt da hochgehe, reden Sie nicht pausenlos auf mich ein.

Versprochen, Port.

Sola machte sich auf den Weg zur hinteren Hallenwand. Er umrundete den steinernen Baumstumpf in weitem Bogen und achtete darauf, dass sein Blick nicht versehentlich auf das tote Mädchen fiel. »Sie ist nicht einfach gestorben«, hatte Chidda ihm vorhin zu erklären versucht. »Zur Schlange verwandelt ist die Verzückte – begreifst du das nicht?« Sie hatte ihn bei den Schultern gepackt und geschüttelt und er war beinahe umgefallen – auf einem Bein stehend, mit dem anderen erst halbwegs in seinen Hosen. »Es war eine weitere Botschaft der göttlichen Geistschlange, nur anders als sonst übermittelt: Wir alle sind ihre Geschöpfe. In unserem Innersten sind wir alle Schlangen, erschaffen nach ihrem Bild.«

Doch Sola hatte nichts davon wissen wollen. »Du glaubst doch nicht im Ernst, du durchgedrehtes Fischweib, dass eure Gottheit euch diesen Wurm geschickt hat? Damit die Bestie an dem Mädchen herumfrisst, bis sie mehr wie eine Schlange aussieht? Gütiger Linglu.«

Waren diese Schlangenleute nicht allesamt Verrückte? Er begriff jedenfalls nicht im Geringsten, was in Leuten wie Chidda oder ihren Hohepriestern vorging. Die Trancemagierin schien regelrecht beglückt über den blutrünstigen Zwischenfall, und wenn er das Hohepriesterpaar halbwegs richtig verstanden hatte, sahen sie es genauso: Der widerliche weiße Wurm war ein Zeichen, das ihre Gottheit, die Geistschlange, ihnen gesandt hatte. Die Priester hatten sich sogar schon murmelnd beraten, wie sie fortan die Zeremonie abändern sollten, um den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

An der hinteren Hallenwand lehnte eine Leiter, die zur Balustrade emporführte. Sola begann ohne übertriebenen Eifer hinaufzuklettern. Sam will mich in den Tod schicken, dachte er wieder und hoffte nur, dass Rabov nicht jeden einzelnen seiner Gedanken mitlesen konnte. Und wenn doch, dass er sich zumindest mit Kommentaren zurückhalten würde – jetzt und bitte sehr auch später, wenn er von dieser halsbrecherischen Kletterpartie zurück wäre.

Falls er halbwegs heil von da oben zurückkommen würde.

Auf der schmalen Holzbalustrade saßen noch immer die Tempelmusiker aufgereiht – fünf Trommler, die mit Häuten bespannten Trommeln zwischen ihren Knien, daneben ebenso viele Flötenspieler, denen die Knochenrohre an Muschelketten vor der Brust hingen. Allesamt Noïli-Männer, nackt bis auf den Lendenschurz mit dem Fledermausschrumpfkopf, der ihnen zwischen den Beinen herunterbaumelte.

Halbwegs war Sola darauf gefasst, dass sie versuchen würden, ihn aufzuhalten – immerhin machte er Jagd auf eine Kreatur, die ihnen angeblich von ihrer Gottheit geschickt worden war. Aber die elf Musikanten blieben reglos auf ihren Schemeln sitzen und sahen nicht einmal zu ihm auf, als Sola über ihre Knie und Trommeln hinweg zum linken Rand der Balustrade kletterte.

Rabov kamen die Musiker beinahe wie hölzerne Skulpturen vor und für einen Moment musste er wieder an Velissa Labiano denken – ihr Gesicht in der Yasnabaumrinde, vor Angst und Grauen verzerrt.

Am Ende der Balustrade gab es eine weitere Leiter, die hinauf ins Dachgebälk führte – eigentlich nur ein wulstiger Strick, mit Knoten versehen, die als Fußstützen dienten. Sola spuckte in die Hände und warf einen Blick nach unten – was er allerdings besser nicht getan hätte, denn von der Balustrade aus hatte man einen idealen Blick auf den Altar der Offenbarung. Dort unten kniete die Hohepriesterin neben der Toten und übergoss sie mit ihrem eigenen Blut. »Heilig, heilig, o göttliche Makuba.« Ein ums andere Mal tauchte sie die zur Schale gewölbten Hände in die schillernde Lache und ließ den Inhalt über das Gesicht der jungen Frau rinnen.

Sie erinnerte den Assistenten überhaupt nicht an eine Schlange oder ein Kriechwesen gleich welcher Art. Sondern sehr viel eher an Linglus geflügelte Himmelsboten, von denen ihm seine Mutter erzählt hatte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Die geflügelten Boten kamen zur Erde hinabgeschwebt, um den Menschen irgendwelche Botschaften zu überbringen, an deren Inhalt oder auch nur Tendenz sich Sola allerdings nicht mehr erinnerte. Und was die junge Botin dort unten anging – sie würde nirgendwo mehr hinfliegen, denn sie hatte keine Flügel mehr.

Von der Balustrade bis hinauf zum untersten Dachbalken waren es allenfalls zwei Meter. Normalerweise hätte er nur ein paar Sekunden gebraucht, um eine so geringe Strecke an einem soliden Seil emporzuklettern, ob mit oder ohne hilfreiche Knoten. Jetzt aber ließ er es mit jeder Knotenstufe noch mehr an Eifer fehlen, auch wenn Rabov ihn in seinem Kopf wie einen lethargischen Fährmann anfeuerte. Seine Beine fühlten sich schwer, seine Arme kraftlos an. Unablässig schweiften seine Augen umher, auf der Suche nach dem Wurm, der irgendwo da oben im Gebälk auf der Lauer liegen musste.

Falls die Bestie nicht längst die Flucht ergriffen hatte. Aber das war leider nicht sehr wahrscheinlich. Sola spürte, dass der Wurm ganz in seiner Nähe war.

Schließlich hatte er die Strickleiter hinter sich und hievte sich auf den Balken. Der war gerade breit genug, dass man darauf entlangbalancieren konnte. Langsam ansteigend verlief er diagonal auf die Hallenmitte zu. Dort trafen gut ein Dutzend solcher Balken sternförmig zusammen und gerade im Zentrum des Sterns lag der widerwärtig weiße Wurm.

Sola stockte der Atem, als er die Bestie bemerkte. Behaglich zusammengeringelt lag sie auf dem Balkenstern, die Augenschlitze wie zu einem Verdauungsschläfchen geschlossen.

Sie müssen näher ran, befahl Rabov. Also machen Sie schon, bevor das Biest zu sich kommt. Aus dieser Entfernung ist die Sichel für ein solches Monstrum zu schwach.

Doch Sola blieb, wo er war – am Anfang des vielleicht zwanzig Meter langen Balkens, der ihn schnurgerade in den Rachen des Ungeheuers führen würde. Sie schicken mich in den Tod, Sam, wiederholte er. Dabei bin ich an dem, was hier passiert ist, sowenig schuld wie Sie. Diese Bestie kann unmöglich dasselbe Vieh sein, das gestern aus Hergos Dschungelkontor abgehauen ist. Überlegen Sie doch mal, Chef – das Ungeheuer da drüben ist mindestens viermal so groß! Wie soll der Wurm denn in so kurzer Zeit dermaßen gewachsen sein – und dann noch durch die halbe Stadt gekrochen, von den Gesperrten Sümpfen bis hierher!

Ich schicke Sie nicht in den Tod, gab Rabov zurück.

Verdammt noch mal, Sam, wenn Sie an meiner Stelle wären – Sie würden ganz bestimmt nicht über diesen Balken gehen!

O doch, ich würde gehen. Und ich würde das Ungeheuer besiegen, das schwöre ich Ihnen. Also holen Sie jetzt endlich Ihre Sichel raus und machen Sie sich auf den Weg. Das ist ein Befehl, Agent.

Sola gab sich geschlagen. Ohne ein weiteres Widerwort fischte er das königliche Zeichen aus seiner Hosentasche. Dann rannte er so flink den Balken entlang, dass Rabov es seinerseits mit der Angst zu tun bekam.

Langsam, mahnte er. Und nicht so trampeln – Sie wollen das Vieh doch nicht aus seinem Schönheitsschlaf reißen.

Damit ich die Bestie in die Starre schicken kann, argumentierte Sola, muss sie ihre Augen … Er unterbrach sich mitten im Satz. Was er hatte sagen wollen, wurde in diesem Moment Wirklichkeit.

Der Riesenwurm sperrte seine Augenschlitze auf. Sola war sich vollkommen bewusst, dass er nur noch die Sichel hochbekommen musste, um die Bestie außer Gefecht zu setzen, aber das war sehr viel leichter gesagt als getan. Der starre Blick aus giftig gelben Augen begann bereits seinen Willen zu lähmen. Mit der allergrößten Mühe gelang es ihm, seine rechte Hand zollweise anzuheben, die Vorderseite der Sichel dem widerlichen Kriechvieh zugewandt.

In diesem Moment schnellte es mit einer einzigen, irrsinnig raschen Fließbewegung dem Angreifer entgegen – das Maul weit aufgerissen, so dass Sola die verheerenden Zahnreihen erblickte. Der Riesenwurm warf sich ihm entgegen, er raste durch die flirrend heiße Luft unter dem Hallendach auf Sola zu wie eine flugtaugliche Dampftram, nur dass das Vieh noch tausendmal lauter fauchte und zischte. Zumindest kam es Sola und Rabov so vor.

Im buchstäblich allerletzten Moment bekam der Assistent endlich seine Sichel hoch und das furchtbare Blitzen traf genau in die kaum weniger furchtbaren Augenschlitze. Das Ungeheuer prallte wie von einem kolossalen Stiefeltritt getroffen zurück. Noch mal die Sichel, noch mal!, kommandierte Rabov, doch da hatte sich die Bestie bereits hoch aufgebäumt, brach mit dem Kopf voran durch das Dach und schoss durch die Bresche davon, während Kaskaden zertrümmerter Schindeln auf Sola niedergingen.

Sicheln Sie doch selbst, Linglu noch mal! Sola verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen, aber es half nichts – er stürzte. Gerade noch so bekam er den verdammten Balken zu fassen und krallte sich mit den Fingerspitzen ins Holz. Haben Sie das mitgekriegt, Sie Alleswisser – das verfluchte Vieh hat die Sichel weggesteckt wie nichts. Das königliche Silber zwischen den Zähnen, begann er sich am Balken zurückzuhangeln, dem Knotenstrick entgegen. Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass es Ihnen leid tut oder so etwas, Sam – das glaube ich Ihnen sowieso nicht.

Es tut mir aber leid, erwiderte Rabov, und zwar mehr, als ich in Worte fassen könnte.

Er machte dem Fahrer ein Zeichen, an der Straßenecke zu halten. Hier zweigte der Grenzweg in spitzem Winkel vom Boulevard der Morgenröte ab, eine schmale ungepflasterte Straße, die von heruntergekommenen Hütten gesäumt wurde und nach ein paar Dutzend Schritten vor den Gesperrten Sümpfen endete.

Nicht, dass ich Ihnen diesen Einsatz befohlen habe, fügte er auf dem Gedankenweg hinzu. Wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, wäre ich das gleiche Risiko auch selbst eingegangen. Aber etwas anderes tut mir verdammt leid – dass uns das Vieh schon wieder entwischt ist. Der widerwärtig weiße Riesenwurm.

Danke, dass Sie zumindest wir gesagt haben, Sam.

Keine Ursache, Sie haben sich diesmal ganz passabel geschlagen.

Der hasenzahnige Fahrer beobachtete ihn verstohlen im Spiegel, aber Rabov kümmerte sich nicht um ihn.

Sola kletterte die letzten Knotenstufen hinunter und sprang auf die Balustrade zurück. Die Musiker saßen noch ganz genau wie vorhin da und diesmal fragte sich auch der atemlose Assistent, ob sie möglicherweise in Holzstatuen verzaubert worden waren. Aber warum haben Sie gesagt, dass uns das Biest schon wieder entwischt wäre?, fragte er. Dieses feiste Riesenvieh kann unmöglich der magere Wurm von gestern sein.

Keine Ahnung, Port. Und noch weniger weiß ich, was ich uns wünschen soll – dass es so schnell wachsen konnte oder dass es noch mehr von seiner Sorte gibt. Damit zog er sich aus Solas Bewusstsein zurück. Erstatten Sie Calin Meldung. Und sehen Sie sich in der Umgebung um – aber Obacht. Sie hören von mir.

Er drückte dem Chauffeur ein paar Münzen in die Hand und stieg aus.