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vigIm Obergeschoss der Institutsaußenstelle sah es noch wüster aus, als Rabov nach Solas Ankündigung erwartet hatte. In den Gängen und Zimmern lagen Papiere und Bücher, bemalte Tonscherben und Knochen unklarer Herkunft verstreut. Von der Mumie im Badezuber ging ein betäubender Fäulnisgeruch aus und in der Bibliothek stank es nach Schimmel. Aus unbegreiflichen Gründen hatte Professor Hergo an jeder freien Stelle Pflanzkübel mit Yasnaschößlingen aufstellen lassen und die für ihr rapides Wachstum bekannten Bäume hatten an einem halben Dutzend Stellen die Dachschräge durchbrochen und die Schieferschindeln abgesprengt. Gerade eben setzte einer der sturzflutartigen Regengüsse ein, für die Phora das ganze Jahr über berüchtigt war, und gleich darauf hörte man an verschiedenen Stellen Wasser auf Teppiche, Regale und Pulte platschen.

Notgedrungen wich die »größere Runde«, die Milar geheimnisvoll angekündigt hatte, in Hergos ehemaliges Büro aus. Es lag am Ende des Flurs, der das Obergeschoss durchzog, und an der Tür stand in goldenen Schnörkellettern:

PROF. DR. GOL HERGO

AUSSENSTELLE DES ARCHÄOLOGISCHEN INSTITUTS

DER KÖNIGLICH-DUNIBISCHEN UNIVERSITÄT ZU PHORA

LEHRSTUHL FÜR VOR- UND URZEITLICHE
MYTHENFORSCHUNG

SPRECHSTUNDE: DIENSTAGS, 10–12 UHR

Als Rabov hinter Horch Milar eintrat, blieb ihm beinahe der Mund offen stehen: Das hier war ein Dschungel, kein Büro. Den Boden bedeckte eine federnd dicke Schicht aus jadegrünem Moos. Yasna- und Steinholzbäume sprossen aus unzähligen Kübeln. Lianen woben ein lindgrünes Muster in die Luft. Goravögel und sogar etliche Parogiere flogen krächzend umher. Hinter Schling- und Blattwerk zeichneten sich die Umrisse einer Tempelruine ab. Auch über diesem Raum wies das Dach eine enorme Leckstelle auf, aber das hereinströmende Regenwasser ergoss sich sinnreich in einen kleinen Tümpel weiter hinten im Zimmer, von dem Rinnsale in alle Himmelsrichtungen ausgingen.

Zumindest der lichtungsartige Platz inmitten des Dschungelbüros schien jedoch einigermaßen trocken zu sein. Hängematten, bemooste Baumstümpfe und Schilfmatten am Boden luden zum Verweilen ein. Hinter einer Steinsäule trat eine schlanke Gestalt mit silberblondem Haar hervor – Calin. Augenblicklich fühlte sich Rabov in seine süßesten Träume versetzt.

Sie lächelte in seine Richtung – zu ihm und Milar, der unweit der Tür stocksteif stehengeblieben war und die bizarre Szenerie in sich aufnahm. Rabov verharrte an seiner Seite und sah still und andächtig zu Calin hinüber. Sie trug wieder jenes luftig weiße Kleid mit dem Moliat-Streifenmuster, das ungeachtet der kräftigen Farben (blutrot, froschgrün, nachthimmelblau) so ungemein düster wirkte. Einige Schritte hinter ihr erkannte er nun zwei weitere Gestalten – Ralla in regem Wortwechsel mit Professor Barott. Weshalb nahm auch der Direktor des Archäologischen Instituts an diesem Treffen teil? Während Rabov noch überlegte, bemerkte er eine weitere Person im Schlepptau von Ralla und Barott.

Rabov blinzelte ungläubig. Was um Linglus willen hatte Port Sola da drüben hinter den beiden Herren herzuscharwenzeln? Nun, sagte er sich dann, das war eigentlich leicht zu erraten: Wenn sein Assistent die Chance bekam, sich bei einem Horch anzubiedern, dann war er eben zur Stelle. Und in diesem Nebelwaldbüro wimmelte es ja förmlich von Horchs – Milar, Ralla, Barott. Falls sich nicht sogar noch weitere Exemplare ihrer würdevollen Art hinter Bäumen und Ruinensäulen verbargen.

»Aber bitte sehr, die Herren, Frau Rätin.« Barott trat auf die Lichtung und klatschte in die Hände. »Nehmen Sie doch Platz, damit wir anfangen können.« Einige Goravögel protestierten mit griesgrämigem Krächzen und der hünenhafte Altertumskundler drohte ihnen mit der erhobenen Faust. Offenbar gedachte er auch in dieser Außenstelle seines Instituts den Hausherrn zu spielen, obwohl er sich hier offenkundig nicht allzu heimisch fühlte.

Calin und die drei Horchs setzten sich auf bemooste Baumstümpfe. Rabov hockte sich neben Calin auf eine Schilfmatte, während Sola mit elegantem Rückwärtssprung ihnen gegenüber in einer Hängematte zu sitzen kam.

Professor Barott räusperte sich. »Geehrte Herren, Frau Rätin, Agenten. Ein trauriges, wenn auch keineswegs gänzlich unerwartetes Ereignis hat uns hier zusammengeführt – mein unglücklicher Kollege Professor Hergo ist allem Anschein nach durch die dunklen Kräfte umgekommen, die er selbst so beharrlich heraufbeschworen hat.«

Rabov sah ihn verblüfft an und schaute dann zu Calin auf, doch die Geheime Rätin sah ihrerseits so aufmerksam zu Milar, dass sie Rabovs fragenden Blick nicht zu bemerken schien.

»Horch Milar, bitte.« Barott machte eine Handbewegung zum Geheimen Oberrat, dessen königsgrüner Umhang mit dem Moosgrün seiner Sitzgelegenheit nahezu perfekt harmonierte.

»Die dunklen Kräfte, ja.« Milars Blick haftete noch immer auf Calin Stingard. Nun riss er sich regelrecht von ihr los und sah stattdessen den Hauptermittler auffordernd an. Ralla jedoch schien noch mit einer Entscheidung zu ringen: Vornübergebeugt saß er auf seinem Baumstumpf, das Kinn auf eine seiner gewaltigen Fäuste gestützt. Doch schließlich hob er sein Haupt und nickte Milar zu.

Der Geheime Oberrat war sichtlich erleichtert. »Agenten«, sagte er und sah nun abwechselnd Rabov und Sola an. »Diese kleine Versammlung dient hauptsächlich dazu, Sie in einige Grundzüge der neueren königlichen Politik einzuweihen – strikt vertraulich und nur gerade so weit, wie dies für Ihre Ermittlungen erforderlich ist.« Er hielt inne und sank für einen Moment regelrecht in sich zusammen. »Also kurz und gut«, sagte er dann, »Horch Barott, Horch Ralla und ich selbst gehören einem Kreis an, der in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist – der Horch-Loge Phoras Erwachen, die Seine Majestät Sorno I. bei Entscheidungen von besonderer nationaler Bedeutung berät.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah abermals von Rabov zu Sola. »Können Sie mir folgen, Agenten?«

»Mühelos, Herr Oberrat«, antwortete Rabov rasch, ehe Sola das Wort ergreifen konnte. »Eine Horch-Loge«, fuhr er fort, »das erklärt einiges.«

Milar schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Hören Sie lieber unsere Erklärungen an, Agent«, sagte er und seine Stimme klang nun eisenhart. »Anstatt unsere Geduld mit unpassenden Kommentaren zu strapazieren.«

»Bitte um Nachsicht, Herr Oberrat. Ich werde zuhören.« Rabov nickte Milar zu und wieder kam es ihm vor, als ob zwischen ihnen beiden ein geheimes Einverständnis herrschte – was allerdings die Folgerung nahelegte, dass Horch Milar mit seinen Logenbrüdern in irgendeinem Punkt überkreuz lag.

»Unter dem Vorsitz von König Sorno«, fuhr Milar fort, »hat Phoras Erwachen vor drei Jahren beschlossen, die Herstellung und den Verkauf von selbstbewegten Maschinen in Dunibien zuzulassen und zur gleichen Zeit den Priestern und Anhängern von Schlangenkulten Religionsfreiheit zu gewähren. Die erdrückende Mehrheit der Logenversammlung ist damals zu dem Schluss gelangt, dass dies beides unvermeidliche und sogar überfällige Korrekturen seien.«

Die erdrückende Mehrheit …? Rabov rieb sich behutsam seinen Nacken. Möglicherweise hatte Milar damals zur erdrückten Minderheit gehört. »Wieso unvermeidlich?«, fragte er.

»Hören Sie einfach weiter zu.« Milar machte Professor Barott ein Zeichen.

Der großwüchsige Archäologe erhob sich von seinem Baumstumpf. Mit seiner goldfarbenen Robe, die er auch in der dampfenden Schwüle nicht abgestreift hatte, erinnerte er Rabov an die altdunibischen Ritter, die im Jahr 1488 v.d.F. Zaketumesien erobert hatten. »Gerne hätte ich schon heute früh im Institut offen mit Ihnen gesprochen, Agenten«, sagte Barott und warf Port Sola einen wohlwollenden Blick zu. »Aber zu diesem Zeitpunkt war ich noch an die Schweigepflicht gebunden, die allen Angehörigen der Horch-Loge auferlegt ist. Nur weil der König höchstpersönlich uns soeben sein Einverständnis erteilt hat, können wir nunmehr den Schleier ein wenig lüften.« Sein Blick schweifte in die rückwärtigen Bereiche des erstaunlich geräumigen Nebelwaldbüros. Halb hinter einem Steinholzbaum verborgen, meinte Rabov dort ein Telefon zu erkennen, das an der Seitenwand der Tempelruine angebracht war.

»Letzten Endes sind es die Gesperrten Sümpfe«, hob Barott zu dozieren an, »die uns zu dieser Kurskorrektur gezwungen haben. Denn der Zugang zu den Sümpfen ist Zivilisten zwar bekanntermaßen untersagt, aber in der Praxis ist es ganz und gar unmöglich, zwei Drittel des dunibischen Staatsgebiets vollständig abzuriegeln. Auf einem Gewirr aus Knüppelwegen und Gräben, die sich mit Einbäumen durchaus befahren lassen, sind Tausende Altertumswilderer unablässig in den Sümpfen unterwegs – auf der Suche nach Fundstücken aus dem Alten Reich, die auf den Schwarzmärkten in Dunibien oder Bakus teilweise abenteuerliche Preise erzielen.«

Gedankenverloren zauste er seine Gesichtsfrisur. »Wir Archäologen«, fuhr er fort, »haben im Verlauf der letzten Jahrhunderte nahezu das gesamte Sumpfgebiet kartografiert und durch Probegrabungen zumindest im Groben die Gebiete abgesteckt, in denen sich zu altdunibischer Zeit Siedlungen und Produktionsstätten befanden. Diese Gebiete wurden mit den bewährten Mitteln vollständig gesperrt. Aber das Problem, Agenten« – wieder sah er nur Sola an – »sind die unablässigen Bewegungen in der Tiefe der Sümpfe: Durch Wasserströmung und tektonische Einbrüche kommt es vor allem im Südteil der Gesperrten Sümpfe seit Jahren verstärkt zu Verschiebungen unter der Schlammoberfläche. Dadurch wurden und werden ungeheure Mengen altdunibischer Trümmer aus den wirksam abgesperrten Gebieten herausgedrückt und in angrenzende Sumpfabschnitte verschoben, die von den königlichen Sumpfwächtern nur sehr unzulänglich überwacht werden können. Wir beobachten diese Entwicklung seit ungefähr fünf Jahren: Damals wurden die Schwarzmärkte ganz plötzlich mit altdunibischen Fundstücken regelrecht überschwemmt und die Altertumshehler hatten mit einem Mal vielerlei Apparate, Maschinenteile und sogar vollständige Baupläne aus der Endzeit des Alten Reichs im Angebot.« Unvermittelt begann er in den Taschen seiner Goldrobe zu wühlen. »Zu Anschauungszwecken habe ich einige dieser Apparate mitgebracht.«

Er wühlte noch eine Weile weiter und brachte ein insektenhaftes Gewirr aus Metallarmen, Drähten und fragilen Blechleibern zum Vorschein. Behutsam häufte er alles auf seinen Moossitz, wählte eine winzige Apparatur aus und setzte sie auf seine linke Hand. »Aufgepasst, Agenten«, rief Barott in Solas Richtung, während er mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten einen fühlerartig zarten Schlüssel am Heck der Apparatur drehte. »Sie bekommen gleich Besuch aus dem Alten Reich.«

2

vigProfessor Barott ließ das Maschinchen los und mit rasendem Flügelschlag begann es durch die Luft zu taumeln, quer über die Lichtung in Richtung Sola. Es hatte die ungefähre Größe und Form einer Sumpflibelle und seine hauchzarten Schwingen bewegten sich mit hellem Sirren auf und ab. Doch durch seine stumpfgraue Färbung wirkte das Flugmaschinchen bei aller Zerbrechlichkeit plump, ja bedrohlich.

»Wir nehmen an«, erklärte Barott, »dass es sich um ein Spielzeug handelt, mit dem sich heranwachsende Knaben im letzten Jahrhundert vor der Flut die Zeit vertrieben haben. Genauso wie diese kleinen Kostbarkeiten.« Er nahm ein weiteres Maschinchen zur Hand, präparierte es auf die gleiche Weise und setzte es auf den Moosboden vor seinen Füßen.

Es war eine Art Eisenkäfer, mit voranschaukelnden Fühlern und angelegten Flügeln, die entweder mit Tupfen gemustert oder mit Rostflecken übersät waren. Mit scharrenden Lauten tappte das Insekt auf Port Sola zu. Horch Barotts sämtliche Erklärungen und Vorführungen schienen einzig ihm zu gelten und der Assistent genoss diese Bevorzugung unverhohlen: Mit verzücktem Lächeln schaute er mal zu der Blechlibelle, die im Zickzackflug auf ihn zutorkelte, dann wieder zu dem emsig durchs Moos scharrenden Eisenkäfer.

»Die Apparate, die die Altertumswilderer damals aus den Sümpfen fischten«, fuhr der Archäologe fort, »waren natürlich nicht funktionstüchtig wie diese Exemplare, sondern allesamt verrostet, schad- und bruchstückhaft. Trotzdem erkannten wir sofort, dass wir drauf und dran waren, die Kontrolle über eine folgenreiche Entwicklung zu verlieren.«

Abermals hielt er inne, griff erneut hinter sich und erweckte ein weiteres Miniaturmaschinchen zu zitterndem Leben. Er setzte es gleichfalls auf den Boden und es machte sich sogleich an die Verfolgung des Käfers – eine winzige Nachbildung des Dampfmobils, in dem sich Rabov neuerdings umherchauffieren ließ. Es kam ungleich schneller vorwärts als der unbeholfen vorantapsende Eisenkäfer, und wenn alles nach Barotts Plan verlief, würde das Krabbelwesen als Letzter des wettkämpfenden Trios ins Ziel gelangen.

Wenn alles nach seinem Plan verlief.

Welche Position Barott innerhalb der Horch-Loge vertrat, schien Rabov jedenfalls klar: Mit jungenhafter Begeisterung führte der Altertumsforscher seine Fundstücke vor, die er zudem nicht ohne Vorbedacht ausgewählt hatte: Welcher vernünftige Mensch konnte schon behaupten, dass Linglu sie alle in einer neuen Großen Flut ersäufen würde – nur weil der König seinen Untertanen erlaubt hatte, mit Blechlibellen zu spielen?

Unterdessen war Sola aus der Hängematte geglitten und hatte sich auf den Boden gekauert, um das schnarrende Terzett gebührend in Empfang zu nehmen. Die flache Rechte reckte er der Libelle als Landeplatz entgegen, mit der Linken bildete er für die Wettkämpfer am Boden einen Triumphbogen im Moos. Seine Wangen waren gerötet, zweifellos vor Stolz und Entzücken, und Rabovs Geduld ging nun vollends zur Neige.

»In der Horch-Loge haben wir uns damals lange beraten«, fuhr Barott fort, »und sind zu dem Schluss gelangt, dass es unerschrockenen Tüftlern über kurz oder lang gelingen würde, die meisten alten Apparate zum Laufen zu bringen oder sogar nachzubauen – königliches Verbot hin oder her. Und so rieten wir Seiner Majestät, sich an die Spitze einer Bewegung zu setzen, die sich ohnehin nicht mehr aufhalten ließ. Und die doch offenbar von Linglu höchstselbst so gewollt und vorgebahnt worden war – denn so wie der Allmächtige einst ganze Städte hatte von der Flut verschlingen lassen, so ließ er ihre Überreste nun aus dem Schlamm wieder auftauchen.«

Diesen Ausführungen hörte Rabov nur noch mit einem Ohr zu. Während seiner Ausbildung zum Spezialagenten hatte er ein paarmal trainiert, kleinere Gegenstände mit lakorischer Kraft zu bewegen. Im Unterschied zu den Telekinetikern in Radschi Varusas heiligem Zirkus wäre er bestimmt nicht imstande, tonnenschwere Masalith-Quader einzig mit seiner Lakori durch die Luft zu schleudern, aber für ein paar Gramm Blech würde es reichen.

Er versetzte sich in Agosch-Trance und konzentrierte sich zugleich auf die Eisenlibelle. Sie war nur noch wenige Zentimeter von der Hand entfernt, die ihr der kniende Assistent entgegenreckte, als sie unvermittelt nach rechts abdrehte. Rabov spürte Solas Verblüffung, die nach einer kurzen Verzögerung auch Professor Barott erfasste. Aber er verkniff es sich, in die Gesichter der beiden zu sehen, und konzentrierte sich weiter auf die Entführung des Blechgeflügels. Das Federwerk in Innern der Libelle war unterdessen verstummt, die hauchzarten Blechschwingen hingen reglos herab. Aber Rabov schaffte es, das Maschinchen allein mit seiner Lakori genau dorthin zu lenken, wo er es landen sehen wollte – in Calin Stingards Schoß.

Die Rätin gab ein geheimes Japsen oder vielleicht sogar Jauchzen von sich und sah starr auf das Eisentier in ihrem Schoß hinab. Niemand achtete mehr auf das Miniaturmobil, das mit klarem Vorsprung vor dem Blechkäfer unter Solas emporgewölbte Hand tuckerte. Aller Augen, selbst die des Assistenten, waren auf Calin Stingard und Rabov gerichtet, der sich behutsam seinen Nacken rieb.

»Wozu war das denn gut, Samu?«, zischte Calin.

Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Ehe er antworten konnte, ergriff Hauptermittler Ralla das Wort.

»Das reicht, Rabov. Verschonen Sie uns mit weiteren Proben Ihrer magischen Kräfte und – vor allem – Ihres sogenannten Humors. Mit Ihrem kleinen Kunststück wollten Sie uns ja zweifellos darauf hinweisen, dass es neben den physikalischen Kräften dunkle Gegenkräfte gibt, die wir angeblich nicht kontrollieren können – ja, die wir ihrer Meinung nach überhaupt erst heraufbeschwören, wenn wir den Bau selbstbewegter Maschinen erlauben. Aber das sind abergläubische Irrtümer aus der Frühzeit des Neuen Reichs. Wir haben uns in der Horch-Loge gründlich beraten und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es zwischen Maschinen und Flut nicht den geringsten Zusammenhang gibt. Deshalb haben wir König Sorno auch empfohlen, nicht nur den Bau selbstbewegter Maschinen, sondern gleichzeitig die Ausübung von Schlangenkulten auf dunibischem Boden zu erlauben. So kann sich nun jedermann mit seinen eigenen Augen davon überzeugen, dass die Schlangen durchaus nicht zuhauf aus den Sümpfen hervorgeschnellt kommen und auch die Schlangentempel keinen irgendwie besorgniserregenden Zulauf erleben – egal, wie viele Dampfmobile auf unseren Straßen fahren und wie viele Melodophone ihre Besitzer mit unerschöpflicher Musizierkraft erfreuen.«

Rabov hörte auf, seinen Nacken zu betasten, und rappelte sich von seiner Schilfmatte auf. Rallas Position kannte er seit langem und sie war so einfach zu verstehen wie ein Abzählreim: Lakori ist Humbug, und Punktum.

»Das haben Sie schön gesagt, Hauptermittler«, lobte er, »vor allem das mit der unerschöpflichen Musizierkraft. Aber eins verstehe ich immer noch nicht, meine Herren.« Er sah von einem Horch zum nächsten. »Wenn sich alles so harmlos verhält, wie Sie es uns eben auseinandergesetzt haben – wozu dann die Geheimniskrämerei? Doktor Labiano und Professor Hergo sind beide einem mysteriösen Schlangenzauber zum Opfer gefallen, aber nach Ihrer Überzeugung hat das ja weiter nichts zu besagen. Warum also wollen Sie der Öffentlichkeit unbedingt verschweigen, wie die beiden umgekommen sind? Schließlich haben Sie doch beschlossen, dass derlei Zwischenfälle mit dem Dampfmaschinenbau oder gar mit einer drohenden neuen Flut nichts zu tun haben.«

»Nun spielen Sie doch nicht auch noch den Idioten, Rabov!« Hinter der wogenden Gesichtsfrisur begann sich Rallas Gesicht blaurot zu verfärben. »Als oberster Linglu-Betherr wird der König beim nächsten Gedenken an die Große Flut feierlich erklären, wie Linglus Sieben Gesetze fortan auszulegen sind. Aber das abergläubische Volk …« Seine Ausführungen wurde durch einen Hustenanfall abgewürgt.

Oberrat Milar nutzte die Gelegenheit für eine weitere Anmerkung. »Wir alle fürchten die Schlange«, sagte er und sah Rabov bedeutungsvoll an, »so wie auch unsere Altvordern dieses Vorzeichen gefürchtet haben – die hunderttausendköpfige Schlange, das dunibische Volk in seiner abergläubischen Furcht. Ich sage Ihnen da bestimmt nichts Neues«, sprach er Rabov nun direkt an, »in einigen Provinzen unseres Königreichs ist die Lage derzeit recht angespannt. Die Leute stehen eben erst mit einem Fuß im Dampfzeitalter und mit dem anderen, wie man so sagt, noch in der Dunkelheit.« Er hob fast unmerklich eine eisfarbene Augenbraue, eben genug, um sich von dieser fortschrittsfrohen Floskel zu distanzieren.

»Dampfmobilfahrer wurden in verschiedenen Städten bedroht«, fuhr er fort, »und in einigen Fällen von der aufgebrachten Menge halbtotgeschlagen. Jede harmlose Schlange, die irgendwo im Nibratal oder in den norddunibischen Bergen zufällig über eine Dorfstraße kriecht, muss derzeit bei Abergläubischen und Aufwieglern als Vorzeichen der neuen Flut herhalten – da könnten die beiden Mysteriösen Verbrechen, die uns hier beschäftigen, wie der Tropfen wirken, der die Dämme zum Bersten bringt. Und aus diesem Grund, Agent Rabov, muss der dunibischen Öffentlichkeit in der Tat verschwiegen werden, dass Schlangen in den gegenwärtigen beiden Fällen eine beunruhigende Rolle zu spielen scheinen.«

»Zu spielen scheinen, Horch Milar, Sie sagen es!«, schrie Ralla, noch heiser vom Husten. »Bisher haben unsere Untersuchungen kaum erst angefangen, und wie oft schon hat sich bei genauerer Prüfung herausgestellt, dass Magie …«

»… nur ein anderes Wort für schludrige Ermittlungen ist«, vollendete Rabov mit einer kleinen Verbeugung in Richtung des Hauptermittlers.

Ralla grollte stumm. Calin sah starr auf die Blechlibelle in ihrem Schoß. Sola kniete noch immer im Moos, eine Hand über das siegreiche Miniaturmobil gewölbt.

»Ich maße mir beileibe nicht an, die Entscheidungen des Königs und der Horch-Loge zu kritisieren«, sagte Rabov und sah nun abwechselnd Milar und Barott an. »Aber wäre es rückblickend betrachtet nicht klüger gewesen, zunächst einmal nur den Bau von selbstbewegten Maschinen zu erlauben – und die Schlangenkulte vielleicht erst ein paar Jahre später, wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben? Denn auch wenn Hauptermittler Ralla offenbar nichts davon wissen will – Schlangensekten wie die Okkulten Makubisten oder der Ragadhani-Kult erleben seit Monaten einen regelrechten Ansturm. In einigen Altstadtvierteln kann man schon kaum mehr einen Schritt machen, ohne bakusischen oder zaketumesischen Priestern mit ihren gewaltigen Schlangenkörben zu begegnen.«

»Natürlich war unsere Entscheidung richtig«, beharrte Ralla. »Den Aberglauben besiegt man, indem man ihn zwingt, sich vor aller Augen selbst zu widerlegen.«

Professor Barott kramte abermals in seinen Taschen. »Das eine zu erlauben und das andere weiter zu verbieten, kam für uns nicht infrage«, erklärte auch er. »Man hätte dem König sonst nur vorgeworfen, dass er die Folgen seiner neuen Maschinenpolitik verschleiern will.« Er zog weitere Blechmaschinchen hervor, geformt wie Zigarren und mit zahlreichen Propellern versehen. »Dabei gibt es nicht das Geringste zu verschleiern«, fuhr er fort. »Die gegenwärtig grassierende Begeisterung für Schlangenkulte ist eine bloße Modetorheit, meine Herren – spätestens in ein paar Monaten wird die Meute nach einem neuen Nervenkitzel suchen.«

Das hatte Rabov bis vor kurzem auch geglaubt, aber mittlerweile war er sich da nicht mehr so sicher. Auch wenn sich in ihm nach wie vor nahezu alles dagegen sträubte, die furchterregende Alternative sogar nur in Gedanken zu umschleichen.

Auch von Milar erhielt Rabov Antwort auf seine Frage, doch das bekam außer ihnen beiden niemand mit. Der Oberrat hob nur abermals eine Braue und Rabov verstand: Dass gleichzeitig mit dem Maschinenbau auch die Ausübung von Schlangenkulten erlaubt worden war, ging maßgeblich auf Milar zurück. Mochten seine Logenbrüder Barott und Ralla glauben, dass sie auf diese Weise den Aberglauben besiegen würden – Oberrat Milar hatte offenbar einen anderen Punkt im Blick. Sollte sich nämlich herausstellen, dass Linglu mit der neuen königlichen Maschinenpolitik doch nicht einverstanden war, so hatte man mit den Schlangen zumindest ein altbewährtes Alarmsystem zur Hand.

Damit war eigentlich alles Nötige gesagt.

Und gerade in diesem Moment erschien die Schlange.

3

vigEin fahles Schimmern im Lianengrün über ihren Köpfen – mehr hatte Rabov eigentlich nicht wahrgenommen, doch in seinem Geist formte sich blitzschnell ein furchterregendes Bild: der widerwärtig weiße Wurm, wie er da oben im Schlingwerk umherkroch. Und im nächsten Moment schoss er herab.

Die Schlange schnellte zwischen den Lianen hervor und in gestrecktem Flug auf Horch Milar zu. Dabei zischte sie auf eine Art, die das Blut gefrieren ließ, und bleckte zwei Reihen furchterregend spitzer Zähne. Ihr Kopf war viel größer, als Rabov das bei Schlangen jemals gesehen hatte, und wahrhaftig wie eine Buti-Nuss geformt. Aus senkrecht geschlitzten Augen blitzte es giftig gelb und während Rabov all diese Einzelheiten in sich aufnahm, riss er mit seiner Lakori die Libelle aus Calins Schoß empor und pfefferte das Blechgeschoss mit aller Kraft gegen die greuliche Kreatur.

Die Libelle krachte geradewegs zwischen die Augen der Schlange und das Kriechwesen bäumte sich in seinem Sturzflug auf. Da befand sich Rabov bereits seinerseits in der Luft über der federnd weich bemoosten Lichtung – er warf sich auf Oberrat Milar, bekam ihn irgendwie zu fassen und riss ihn mit sich. Beinahe wie ein von Leidenschaft überwältigtes Liebespaar gingen sie eng umschlungen zu Boden, doch Rabov löste sich im Moment des Aufpralls wieder und fuhr herum. Gerade in diesem Augenblick knallte die Schlange mit dem übergroßen Schädel voran auf die Lichtung und Rabov machte einen Hechtsprung und bekam sie mit beiden Händen um ihre Mitte zu fassen.

Das Biest war glitschig wie Seife, glibberig wie Gelatine, biegsam wie ein Nibra-Aal. Es wand sich zwischen Rabovs Fingern, krümmte sich zurück und schnellte dann wieder nach vorn und zischte und schnappte mit seinen verheerenden Zahnreihen nach Rabovs Händen, denen der widerlich weiße Wurm Zoll um Zoll entglitt.

»Port, verflucht – helfen Sie mir!«

Der Assistent hatte rote Flecken im Gesicht. Er war aufgesprungen und rannte sinnlos umher. »Ich suche ein Netz!«, rief er und das war recht gut gedacht, aber so rasch nicht auszuführen.

Noch einmal krümmte sich die Schlange zu Rabov zurück und die lotrecht geschlitzten eitergelben Augen blitzten ihn an. Die zwiegespaltene Zunge schoss hervor und Rabov bekam einen Atemschwall ab, der modrig stank, mit einer Beimischung würgender Süße. Dann warf sich der Wurm neuerlich nach vorn, glitschte endgültig zwischen Rabovs Händen hervor und verschwand in Dämmer und Dickicht des Nebelwaldbüros.

Dafür kehrte Sola nun tatsächlich mit einem Netz zurück – allerdings einem Exemplar mit langem Holzstiel und zartem Netzhäubchen oben dran, wie Naturforscher es für die Schmetterlingsjagd verwenden.

»Na los, Port – hinterher!«, schrie Rabov, noch aufgewühlt von seinem Kampf.

Die Blicke des Assistenten jagten zwischen Rabov und Dickicht hin und her, suchten dann Beistand bei Calin. Aber die Geheime Rätin saß reglos auf ihrem Baumstumpf, eine Hand vor den Mund gepresst, und starrte zu der Stelle, an der die Schlange im Dschungel verschwunden war.

Der widerlich weiße Wurm.

»Das war das Biest aus der Kellerkammer.« Rabov deutete auf den Boden vor seinen Füßen. »Was sagen Sie jetzt, Ralla? Wir brauchen Ihre Wachtmeister, und zwar sofort! Wir müssen die Kreatur fangen – lebend oder tot!«

Der Hauptermittler wechselte einen Blick mit Milar. Der Oberrat hatte sich recht mühsam wieder aufgerappelt und war noch damit beschäftigt, seinen Umhang zu glätten. Calin Stingard trat zu ihm und redete fieberhaft auf ihn ein, aber Milar schien ihr allenfalls mit einem Ohr zuzuhören. Er nickte Ralla zu.

»Na meinetwegen, Rabov«, brummte daraufhin der Hauptermittler. »Je eher wir die verdammte Schlange finden, umso besser. Dann hört jedenfalls endlich das blödsinnige Gerede auf – von wegen Schlangenzauber! Dass ich nicht lache! Haben Sie keine Augen im Kopf? Das war einfach eine Makuba.«

»Mit einem Kopf wie eine Buti-Nuss und einem schleimig weißen Körper? Wir werden ja sehen.« Rabov streckte dem Hauptermittler die Hände entgegen. »Und was ist das hier, Ihrer Meinung nach? Riechen Sie mal an dem Zeug.«

Seine Handflächen waren mit einer zähen, trüb durchsichtigen Schmiere bedeckt. Ein ekelhafter Geruch ging von diesem Schleim aus, süßliche Fäulnis mit einem Unterton von nassem Gestein. Rabov hielt dem Hauptermittler seine Rechte vor die Nase, aber Ralla wich mit einem Schnauben zurück. »Verschonen Sie mich mit Ihrem sonderbaren Humor – hatten wir das nicht schon geklärt, Rabov?«

»Dann rufen Sie jetzt Ihre Männer. Sie sollen den ganzen Raum – oder Wald – durchkämmen. Zusammen mit Ihnen, Port«, wandte er sich an seinen Assistenten. »Verstanden?«

Sola nickte, sichtlich lustlos.

»Ich sehe mich währenddessen vorne um«, erklärte Rabov. »Und alle Personen, die für solche Kämpfe nicht geschult sind«, fügte er in Milars und Calins Richtung hinzu, »sollten diesen Raum jetzt besser gleichfalls verlassen. Sie haben ja selbst erlebt, Herr Oberrat, wozu das Biest fähig ist.«

»Glücklicherweise nicht. Dank Ihres Einsatzes, Agent.« Milar trat zu Rabov und wollte ihm die Hand schütteln, ließ aber nach einem Blick auf Rabovs rotzige Pratzen von diesem Vorhaben ab. »Das werde ich nicht vergessen«, sagte er stattdessen und schenkte Rabov einen väterlichen Blick. »Aber Sie haben recht – Calin und ich sollten jetzt besser gehen.«

Er bot der Geheimen Rätin seinen Arm und Calin hakte sich bei ihm unter. Obwohl Oberrat Milar gut und gerne doppelt so alt wie Calin war, versetzte dieses Bild trauter Zweisamkeit Rabov einen Stich.

»Calin«, sagte er so schnell, wie er es immer machte, wenn er seine eigenen Bedenken überspringen wollte. »Wir müssen miteinander sprechen – über diese Sache hier«, ergänzte er noch hastiger und machte eine vage Handbewegung in Richtung Dickicht und Tempelruine. »Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend treffen, um neun oder zehn Uhr – wie es dir am besten passt.«

Der Kampf mit der Schlange hatte ihn aufgepeitscht, und nachdem die erste Erregung abgeflaut war, war in ihm ein Gefühl angeregter Zuversicht zurückgeblieben. So als wäre für einen Mann, der einen so greulichen Wurm zurückschlagen konnte, auch in persönlichen Belangen nichts mehr unmöglich.

Calins Miene verriet indessen Skepsis. »Muss das denn sein, Sam? Können wir nicht einfach telefonieren?«

»Ich muss dir etwas zeigen«, konterte er sofort. »Bitte, Calin, es ist wirklich sehr wichtig.«

Sie wechselte einen Blick mit Milar und sah dann versonnen zu, wie Port Sola die beiden Zolltor-Männer in ihre Aufgabe einwies. »Also gut«, sagte sie. »Wenn es so wichtig ist – sagen wir, um neun. Wo treffen wir uns?«

»In den SIEBEN VIPERN«, antwortete er prompt. »Das ist eine – na ja – etwas zwielichtige Bar am Donarberg, aber wie ich aus sicherer Quelle weiß, ist sie seit kurzem weit mehr als das – ein Treffpunkt von Schlangenkultanhängern aller Art und Herkunft.«

Calin war drauf und dran, ihm doch noch einen Korb zu geben, das spürte Rabov nur zu genau. Aber heute würde ihm nichts mehr danebengehen – auch das fühlte er mit seltener Klarheit.

»Und was willst du mir dort zeigen?«, fragte sie.

Rabov ließ sein sonnigstes Lächeln erstrahlen. »Lona Markan«, sagte er.

4

vigVon Professor Barott auf Schritt und Tritt überwacht, untersuchte Rabov jeden einzelnen Wohn- und Lehrraum im Obergeschoss der Institutsaußenstelle und fand nicht den kleinsten brauchbaren Hinweis auf die Magistra. Überall lagen Zettel verstreut, auf denen sich der Verstorbene des Langen und Breiten über »die Mysterien von Naxoda«, den »Schöpfungszauber im Moliattal«, die »magische Götterstadt im Nebelwald« und so weiter und so fort ausließ. Aber kein Wort über Lona Markans Pläne, nachdem sie miteinander gebrochen hatten, oder über ihren jetzigen Aufenthaltsort. Auch Velissa Labiano spielte in Hergos Notizen nicht die kümmerlichste Nebenrolle – allem Anschein nach hatte der Altertumsforscher seine beiden ehemaligen Assistentinnen vollständig aus seinem Leben, seinem Gedächtnis, seinen Aufzeichnungen gelöscht.

Es war weit mehr als einer jener privaten Racheakte, zu denen sich manche Menschen hinreißen lassen, um die Schmach des Verlassenwerdens zu mildern oder sogar in einen imaginären Triumph umzukehren. Der berühmte Altertumsforscher war nicht einmal davor zurückgeschreckt, die wissenschaftlichen Aufsätze von Lona Markan aus allen Zeitschriften und Sammelbänden in seiner Bibliothek herauszureißen. Da Ralla ihm vorhin in der Kellerkammer einen ganzen Packen solcher Zeitschriften ausgehändigt hatte, konnte sich Rabov durch einige Stichproben davon überzeugen, dass Hergo auch hierbei mit beunruhigender Gründlichkeit vorgegangen war.

Er fragte sich, ob dieser Vernichtungsfeldzug wirklich ein Symptom der »geistigen Zerrüttung« war, an der Hergo angeblich seit seiner Rückkehr aus Naxoda litt. Für Professor Barott stand dieser Zusammenhang außer Frage, aber Rabov kam es mehr wie ein atavistischer Auslöschungszauber vor, ein Bündnis mit übernatürlichen Mächten, um die abtrünnige Assistentin in die ewige Nacht der Vergessenheit zu verbannen.

Aber vielleicht steigerte er sich da auch in etwas hinein – weil er seinerseits nichts lieber getan hätte, als seinen Assistenten mit vorflutlicher Unbarmherzigkeit aus seinem (und aus Calins) Leben zu verjagen.

In Rabov Nacken klopfte beharrlich ein flüsterleiser Schmerz und wenn er an das Schlangenwesen dachte, wurde das Pochen zum Hämmern. Sein oberster Halswirbel stand wie ein Kleiderhaken aus seinem Genick hervor, jedenfalls fühlte es sich unter seinen tastenden Fingerspitzen so an.

Hergos Aufzeichnungen kreisten ausschließlich um die Bildtafeln von Naxoda. Die stämmigen Arme vor seiner Goldrobe verschränkt, erklärte Professor Barott auch diese »wahnhafte Fixierung« seines Kollegen zu einem Symptom galoppierenden geistigen Zerfalls. Rabov war sich da weit weniger sicher, aber er hielt mit seinen Zweifeln hinterm Berg – schließlich hatte er Milars gezischte Warnung noch im Ohr.

Wenn man (wie die Horchs Barott und Ralla) die Geschehnisse auf den Bildtafeln schlechterdings für ein »abergläubisches Wahngespinst« hielt, dann konnte man auch Hergos beharrliche Versuche, der Schöpfungsmagie von Naxoda auf die Spur zu kommen, nur als Beweise fortgeschrittener Verrücktheit ansehen.

Wenn man jedoch (wie insgeheim Rabov und noch tiefer im Geheimen vielleicht sogar Horch Milar) zumindest die Möglichkeit in Betracht zog, dass die Bildtafeln so etwas wie einen Schöpfungsschlüssel darstellen könnten, dann fiel einem ganz im Gegenteil auf, wie planvoll und umsichtig Hergo vorgegangen war. Er hatte lange Listen mit den Glyphen oder Schriftzeichen angefertigt, die jede einzelne der acht Bildtafeln umrahmten. In mehreren Spalten hatte er diesen Glyphen Buchstaben, sonstige Schriftzeichen oder auch Silben aus anderen überlieferten Sprachen gegenübergestellt. Die Spalten trugen Namen wie Früh-Altdunibisch, Proto-Moliat, Ur-Noïli oder Prä-Alt-Hochbakusisch und Rabov neigte sehr zu der Ansicht, dass ein Geist, der eine solche Vielzahl unterschiedlichster Schriftsysteme in immer neuen Kombinationen einander gegenüberstellen konnte, schlechterdings nicht an Zerrüttung leiden konnte. Aber auch diesen Gedanken behielt er für sich.

»Wer die Rahmentexte entschlüsseln kann, hält die Schöpfungsformel in Händen«, hieß es in einer Aufzeichnung von Hergo. »Aber die Schrift lässt sich ihr Geheimnis nicht entreißen.«

Auch wenn die Notizen nicht datiert waren und in wirrem Durcheinander verstreut lagen (in Hergos Hörsaal-Bett, auf und unter sämtlichen Tischen und Pulten, einige sogar neben dem Badezuber, so als wären sie der Mumie aus den modrigen Fingern geglitten), gelang es Rabov ohne größere Mühe, sie zumindest in eine ungefähre Reihenfolge zu bringen. Die längste Zeit hatte sich der Professor an den Schriftzeichen von Naxoda offenbar die Zähne ausgebissen. Er hatte erwogen, einen Kollegen vom Institut für Zaketumesische Sprachforschung ins Vertrauen zu ziehen, aber diese Idee bald wieder verworfen. »Wer den Schlüssel in Händen hält, stürzt Linglu vom Himmelsthron«, so begründete Hergo kurz und alarmierend, warum er niemandem trauen durfte.

Was während der Expedition im zaketumesischen Nebelwald zwischen ihm und Lona Markan vorgefallen war, ließ sich aus diesen Notizen nicht erschließen – auf die Expedition selbst, auf das »Desaster von Naxoda«, wie damals der Phoräische Nachtbote getitelt hatte, ging der Professor mit keiner Silbe ein. Und doch schwang in seinen Notizen stets die bittere Erfahrung mit, die er mit seiner Assistentin gemacht hatte.

Jedenfalls kam es Rabov so vor. Wann immer er an seinen Assistenten dachte, stieg schwarzer Groll in ihm empor. Wie Sola hinter den beiden Horchs hergeschlängelt war! Und wie er Professor Barott regelrecht angehimmelt hatte! Kaum zu glauben, dachte Rabov. Auch über den Assistenten musste er heute Abend unbedingt mit Calin sprechen.

Grundgütiger Linglu, durchfuhr es ihn – er war mit Calin verabredet! Heute Abend, nur sie und er. Wenn auch natürlich streng dienstlich.

Aber zunächst einmal galt es, sich weiter durch Hergos Aufzeichnungen zu wühlen. Rabov beschloss, sich zumindest in diesem Punkt ein Beispiel an dem Altertumsforscher zu nehmen, auch wenn es im Allgemeinen keine gute Idee war, ausgerechnet einem geistig verdunkelten Mordopfer nachzueifern. Aber Hergos Notizen ließen erahnen, dass der Professor immer zuversichtlicher geworden war, je länger er sich mit der Entschlüsselung der Glyphenschrift auf den Bildtafeln abgemüht hatte – und das immerhin war des Nacheiferns wert.

»Endlich habe ich die innere Logik dieser Schrift verstanden«, hieß es in einer Notiz, die Hergo wahrscheinlich nur wenige Tage vor seinem Tod angefertigt hatte. »Wieso bin ich nicht schon viel eher darauf gekommen? Dabei ist die Sache doch sonnenklar. Die Schrift der Zauberpriester von Naxoda funktioniert folgendermaßen …«

Unglücklicherweise brachen die Ausführungen jedoch gerade an dieser Stelle wieder ab. Stattdessen gefiel sich Hergo darin, eine halbe Seite lang Glyphen à la Naxoda aneinanderzureihen.

»Was soll das, Linglu noch mal«, schimpfte Rabov und schob die eng beschrifteten Blätter entnervt von sich.

Nachdem er alle anderen Räume im Obergeschoss durchforstet hatte, saß er mittlerweile in der schimmligen Bibliothek, an einem Tisch, dessen Holzplatte sich vor Feuchtigkeit wellte. Hinter ihm stand Professor Barott, der Zeile um Zeile mitgelesen hatte, schnaufend über Rabovs Schulter gebeugt.

»Er war eben nicht mehr bei Verstand«, sagte der Direktor im sanften Tonfall geheuchelten Mitgefühls.

Rabov zuckte mit den Schultern. Er war schon versucht, dem Institutsdirektor halbwegs recht zu geben – doch gerade da wurde ihm schlagartig klar, warum Hergo just an diesem Punkt seiner Aufzeichnungen in die Glyphenschrift von Naxoda übergewechselt war.

Weil es ihm tatsächlich gelungen war, die Texte auf den Bildtafeln zu entschlüsseln – und weil ihm dadurch vollends klargeworden war, dass er diese mächtigen Formeln unter allen Umständen geheimhalten musste.

Rabov zog den Zettel mit der Glyphenschrift nochmals zu sich heran. Mit ziemlicher Sicherheit war dies sogar die letzte Notiz, die Hergo vor seinem Tod noch zu Papier gebracht hatte. Bevor er sich, genauer gesagt, in das Allerheiligste unter dem Moliat-Tempel hinabbegeben hatte, um den entschlüsselten Schöpfungszauber an seinem eigenen Fleisch zu erproben.

Was immer der Professor zuletzt noch niedergeschrieben hatte – er musste es für so brisant gehalten haben, dass er es vorgezogen hatte, seine allerletzten Gedanken in einer Schrift zu notieren, die einzig er selbst (oder allenfalls noch der eine oder andere Nebelwaldmagier im fernen Moliat) zu lesen verstand.

5

vigWährend Sola ihr Dampfmobil zurück in die Innenstadt steuerte, starrte Rabov aus dem Seitenfenster, finster schweigend.

Der Assistent hatte die Schlangenjagd vermasselt, er hatte den widerlich weißen Wurm entwischen lassen, und das war noch nicht einmal das Schlimmste.

Er hatte Rabov angelogen. Ihm, seinem Vorgesetzten, ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht gelogen und dabei die Schultern unter seiner Halbkutte gerollt. So als wäre es reine Zeitverschwendung, sich von Rabov überhaupt ins Gebet nehmen zu lassen, wenn man währenddessen nicht zumindest irgendetwas Sinnvolles unternahm. Mit den Schultern rollen, in den Hüften kreisen, von Horch Barott und seinen Blechlibellen träumen.

»Keine Spur von dem Biest, Sam«, hatte Sola gemeldet und die beiden Zolltor-Wachtmeister hatten einträchtig dazu genickt. Alles hatten sie angeblich abgesucht, im gesamten Nebelwaldbüro jeden Stock und jeden Stein umgedreht, aber die Schlange hatte sich nicht blicken lassen.

Rabov hätte dem Assistenten die rührende Geschichte von ihrer aufopferungsvollen Pirsch auch beinahe abgekauft, aber dann war sein Blick auf Solas Hände gefallen. »Und was ist das da, Port?«

Derselbe zähe, trüb durchsichtige Rotz, den er selbst sich eine Stunde vorher in Hergos Küche mühselig von den Händen geschrubbt hatte. Als erstes hatte er Stapel verschimmelter Bücher aus dem Spülstein geräumt, als zweites sich Kernseife und Wurzelbürste besorgt und dann eine Viertelstunde lang die zähe Schmiere von sich heruntergehobelt. In dem kurzen Zeitraum, seit er mit der Schlange gerungen hatte, war das Zeug bereits deutlich härter und fester geworden und während Rabov rieb und schrubbte, war in ihm die Überzeugung gewachsen, dass es genau derselbe Schleim sein musste, den die Bildtafeln als emporwabernden Nebel darstellten. Daraufhin hatte er nur noch verbissener gebürstet, das Schicksal jener Kreaturen vor Augen, die auf den Bildtafeln von dem Nebelzeug umhüllt worden waren.

Port Sola aber hatte sich ganz einfach dumm gestellt. Ihn nur treuherzig angeschaut, seine Hände hin und her gewendet, als ob die ihm zugelaufen wären, und dabei ein ums andere Mal beteuert: »Das hier? Keine Ahnung, wie das Zeug an mich drangekommen ist. Das ist ja ekelhaft! Vielleicht hab ich in irgend so ein Spinnennetz gelangt? Entschuldigen Sie, Sam. Das muss ich als erstes mal abwaschen gehen.«

Aber Rabov hatte ihn so einfach nicht davonkommen lassen. Er war so jäh von seinem Bibliotheksstuhl aufgesprungen, dass sich Professor Barott gerade noch mit einem Satz rückwärts in Sicherheit bringen musste. Sie hatten die Schlange zwischen den Fingern, warum geben Sie das nicht zu? Damit der Institutsdirektor ihren Streit nicht haarklein mitbekam, bezichtigte Rabov den Assistenten auf magischem Weg.

Sola sackte in sich zusammen. Na ja, weil es mir eben peinlich ist, Sam – ist doch klar.

Aber auch das war gelogen, der Assistent war eine einzige wandelnde, hüpfende, in den Hüften kreisende Lüge, und Rabov hatte sich gesagt, dass er sich von dem verdammten Kerl nicht länger nasführen lassen durfte. Keine einzige Sekunde länger, keine einzige Lüge, Ausflucht, treuherzige Heuchelei mehr! Und ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen war er mit einem wilden Lakori-Stoß in Port Solas Bewusstsein eingedrungen.

So eine lakorische Invasion schuf eine heikle Intimität und das Verhältnis zwischen zweien, die auf diese Weise aneinandergerieten, konnte nie wieder dasselbe sein wie zuvor. Die Lehrbücher machten in diesem Zusammenhang, was sie eigentlich in allen Zusammenhängen machten: Sie warnten vor Leichtfertigkeit, vor Missbrauch, vor den Folgen für das Lakori-Opfer wie auch für den magischen Angreifer, der mit einer solchen Attacke unweigerlich (und unumkehrbar) sein Dunkeldu stärkte.

Und sein Lichtich entsprechend beschädigte.

Aber das war Rabov in diesem Moment vollkommen gleichgültig gewesen – beunruhigenderweise, wie er sich nun im Dampfmobil sagte, denn gerade diese Gleichgültigkeit zeigte ja, wie viel Macht das Dunkeldu in seinem Innern schon an sich gerissen hatte.

Mit einem wilden Stoß also war er in Port Solas Bewusstsein eingedrungen. Der Assistent hatte zwar noch hastig versucht, seine Gedankenbilder zu verwischen, aber zu spät: Klar und deutlich hatte Rabov mitangesehen, wie Sola die entscheidende Szene im Dschungelbüro erlebt hatte.

Sola wirft seinen Kopf in den Nacken und starrt nach oben – in das Gewirr aus Ästen und Lianen, die um den kleinen Tümpel herum besonders dicht ineinander verschlungen sind.

Und da liegt das Biest auf einem Ast – langgestreckt, als ob es selbst bloß eine Liane wäre, allerdings schmutzig weiß wie vorjähriger Schnee auf norddunibischen Gipfeln, und sieht aus eitergelben Augenschlitzen zu, wie die Männer da unten nach ihm suchen.

Sola geht kurz in die Knie, springt mit einem respektablen Satz an dem Baum empor und kriegt die Schlange auch tatsächlich am Schwanz zu fassen. Im nächsten Moment aber, als wäre ihm plötzlich etwas in den Sinn gekommen, lässt er sie einfach so wieder los.

Das Biest ist gerade erst zu ihm herumgefahren, hat eben erst zu zischen, die Zähne zu blecken, seinen Moderatem auszustoßen begonnen – da ist es auch schon wieder vorbei. Solas Hände werden schlaff, die Schlange glitscht hindurch, schnellt in hohem Bogen durch das Dachleck über dem Tümpel und verschwindet aus dem Bild.

Kommentarlos hatte sich Rabov wieder aus Solas Bewusstsein zurückgezogen. Auch der Assistent hatte keinen Versuch unternommen, sich zu rechtfertigen, irgendetwas zu erklären oder gar, sich wegen der magischen Attacke zu beschweren.

Machen Sie Ihre Hände sauber, hatte Rabov lediglich befohlen. Das Biest musste längst über alle Berge sein. Und selbst wenn es sich irgendwo da unten in Hergos malerischer Gartenwildnis versteckt hielt – ohne einen zuverlässigen eigenen Suchtrupp hatte er keine Chance, den Wurm aufzuspüren. Also zurück in die Flötenmachergasse. Er hatte es nicht einmal mehr über sich gebracht, wir zu sagen.

Er kochte immer noch vor Zorn auf Sola. Aber das war keine Sache zwischen ihnen beiden, das war ihm nun endgültig klargeworden. Seine Eifersucht wegen Calin hatte ihm den Blick verstellt, doch hier ging es um sehr viel mehr.

Und Rabov bekam es mit der Angst zu tun – zum ersten Mal eigentlich, seit er die Mysto leitete, wurde ihm Himmelangst. Er schaute aus dem Seitenfenster des stadteinwärts zischenden Dienstmobils und sah immer wieder nur Calin vor sich, wie sie im Bufo um Fassung gerungen hatte. Und dann Oberrat Milar, wie er ihm vorhin in der Felsenkammer zugeflüstert hatte: »Wiederholen Sie das auch nur noch ein einziges Mal, dann sind Sie ein toter Mann.«

Sola hatte die Schlange absichtlich entkommen lassen, das hatte Rabov gerade eben mit eigenen Augen gesehen. Aber der Assistent hatte sich nicht einfach deshalb seiner Weisung widersetzt, weil er ihm schaden wollte oder weil Calin und er insgeheim ausgeheckt hatten, dass Sola seinen Posten übernehmen sollte.

Port Sola war ein Doppelagent. Wenn man es so betrachtete, ergab plötzlich alles einen atemberaubenden Sinn. Der Assistent hatte ganz offensichtlich den Auftrag erhalten, Rabovs Ermittlungen in diesen Schlangen-Fällen zu hintertreiben. Jedenfalls dann, wenn er bei seinen Untersuchungen auf Hinweise stieß, die irgendwem nicht in den Kram passten.

Hätten sie das greuliche Kriechwesen eingefangen, dann hätte sogar Hauptermittler Ralla zugeben müssen, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Schlange handelte. Sondern um einen ungeheuren Wurm, der aus den grauenvollsten Albträumen der Menschheit ans Tageslicht emporgekrochen war.

Wer konnte aber daran interessiert sein, dass der widerlich weiße Wurm verschwunden blieb?

Als erstes fielen ihm natürlich wieder Horch Ralla und Horch Barott ein. Doch der Hauptermittler und der Institutsdirektor mochten zwar Männer von einigem Einfluss sein – zu den wirklich Mächtigen, zum inneren Zirkel am Königshof zählten sie bestimmt nicht.

Falls es hier eine Verschwörung gab – und Rabov zweifelte immer weniger daran, je länger er darüber nachdachte –, dann verbargen sich die Drahtzieher im unmittelbaren Umkreis Seiner Majestät.

Sola stoppte das Dampfmobil in der Flötenmachergasse. »Sam, bitte hören Sie mir zu«, wollte er wieder anfangen.

Aber Rabov schüttelte den Kopf. »Halten Sie sich zur Verfügung«, sagte er, raffte den Packen aus wissenschaftlichen Zeitschriften und handschriftlichen Aufzeichnungen zusammen und stieg aus.

6

vigGerade als Rabov an seinem Emailleschild vorbei- (keine magischen Verunstaltungen) und die kleine Treppe zu seinem »Laden« hinabeilte, schlug seine Pendeluhr drinnen mit großem Getöse die Stunde – drei Uhr nachmittags. Er war müde und aufgewühlt, verängstigt und euphorisch, alles zur gleichen Zeit. Aber wenn er erst einmal einen Happen gegessen und sich ein wenig ausgeruht hätte, würde in seinem Innern schon alles wieder ins Lot kommen.

Er konnte nur hoffen, dass ihm der Junge etwas Ruhe gönnen würde.

Rabov riegelte seine Tür auf und trat ein. Die Kostüme hingen wieder in Reih und Glied an den Garderobestangen und bei ihrem Anblick spürte Rabov sofort, dass Zoran nicht zu Hause war.

Er durchquerte seinen »Verkaufsraum« und stieß die Tür zum Hinterzimmer auf. »Zoran?«

Niemand da. Aufseufzend warf Rabov den Papierpacken auf seinen Tisch und schüttelte sich den Überwurf von den Schultern. Er hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen wegen Zoran, aber ein wenig fühlte er sich auch erleichtert, weil er nun erst einmal ungestört essen und sich danach hinlegen konnte, um neue Kräfte zu sammeln. Für Calin, für die Sieben Vipern heute Abend – ein heißer Strom schoss in ihm empor, als er an ihr Rendezvous dachte.

Vorletzte Nacht hatte er geträumt, dass er und Calin im Bauch eines Wals durch den Grünen Ozean gereist waren.

Sollte er ihr von diesem Traum erzählen? Oder vielleicht besser nicht? Nun, das würde er spontan entscheiden, wenn er Calin nachher sehen würde, wenn er aus ihrer Kleidung, ihrem Lächeln, dem Klang ihrer Stimme geschlussfolgert hätte, in welcher Stimmung sie war.

Würde sie ihn Sammo nennen? Oder wenigstens Sam?

Und würde er es wagen, sie bei dem Kosenamen zu rufen, den er ihr damals gegeben hatte – Li?

Letzteres wohl sehr wahrscheinlich nicht.

Er trat in seine Küchennische, fachte das Herdfeuer an und bereitete sich mit geübten Handgriffen eine Junggesellenmahlzeit zu. Omelett, Räucherzignelle, altbackenes Brot, das er in der Pfanne zusammen mit den Eiern röstete. Er schaufelte alles auf einen Teller, schenkte sich noch einen Becher Nibrawein ein und setzte sich zu seiner eintönigen Mahlzeit an den Tisch.

Mechanisch leerte er seinen Teller, ohne darauf zu achten, was er sich gerade in den Mund schob. In Gedanken war er noch immer bei Calin.

Wenn er sich nicht bewusst mit etwas anderem beschäftigte, dachte er eigentlich unaufhörlich an sie.

Mit einem Zug trank er zuletzt seinen Becher aus und reckte sich dann in wohliger Trägheit. Mit Zoran würde er eben morgen sprechen – er würde dem Jungen vorschlagen, mit ihm gemeinsam den Sarissentempel am Platz der sieben Tempel aufzusuchen, um mit Zorans Mutter zu beratschlagen, was aus ihrem Sohn werden sollte. Ins Schiffstorviertel zurückgehen durfte Zoran auf keinen Fall – schon wegen Radschi Varusa und seiner gefräßigen Gottheit Ragadhani. Aber auch dass der Junge noch länger in dieser schäbigen Straßenkinder-Unterkunft hauste, kam nicht infrage. Jedenfalls, soweit Rabov in dieser Sache etwas zu sagen hatte.

Er trottete zu seinem Bett, streifte nur die Schuhe ab und legte sich hin. Er würde gar nicht richtig schlafen, sondern nur ein wenig vor sich hindämmern, dachte er und schlief im selben Moment ein. Und dann saß er wieder mit Zoran in der Drahtseilbahn – in rasender Fahrt schossen sie auf das subphoräische Meer hinab und in der Tiefe des Gewässers war auch wieder das widerlich langgezogene Geheule zu hören. Doch plötzlich merkte Rabov, dass sie gar nicht im Bahnwaggon saßen – sie waren von einer Membran aus durchscheinendem Material umschlossen, wie sie sie sonst nur von den Schutzräumen kannten.

In diesen Tropfen eingehüllt sanken sie unaufhaltsam in das unterirdische Meer hinab. Der Quelle des widerlichen Geheules und Gewinsels entgegen. Schreckensstarr sah Rabov auf die riesengroßen, senkrecht geschlitzten schwarz-gelben Augen hinunter, denen sie rasch und immer rascher entgegensanken.

»Sam!«, schrie Zoran. »Wir müssen hier raus!«

Recht hat er, dachte Rabov und warf sich mit aller Kraft gegen die Membran. Zoran tat es ihm gleich und mit wachsender Verzweiflung rempelten sie wieder und wieder gegen die federnd nachgiebige Umhüllung, während der Tropfen mit ihnen darin dem Meeresgrund entgegensank.

Vollkommen außer Atem mussten sie schließlich aufgeben. Die Membran ließ sich einfach nicht aufsprengen. Sie hockten sich auf den Boden, entkräftet und demoralisiert. Unter ihnen zeichnete sich nun ein riesenhafter Rachen ab, das weit aufgerissene Maul eines unsagbar großen Ungeheuers, in das sie im nächsten Moment hineinflogen.

»Sam!«, schrie Zoran. »Bitte, Sam – mach doch was!«

Aber Rabov konnte nicht das Geringste machen, um den Jungen und sich selbst zu retten. Die Bestie schloss ihre gewaltigen Kiefer und drückte die Membran um sie herum zusammen – und gerade in diesem Augenblick wurde ihm mit eisigem Entsetzen klar, was es mit der Membran auf sich hatte. Sie bestand aus dem gleichen Material wie der zähe Nebelschleim auf den Bildtafeln von Naxoda. Und während er das noch dachte, schloss sich die Membran erstickend eng um ihn und Zoran und presste sie beide der Länge nach zusammen.

»Sam, schaff uns hier raus!«, schrie Zoran.

»Tut mir leid, Junge«, konnte Rabov gerade noch antworten. Dann fuhr er mit heftig klopfendem Herzen aus dem Schlaf.

Seine Stirn, seine Haare, sogar sein Hemd, alles war nass und klebrig vor Schweiß. Er blinzelte zu seiner Pendeluhr – kurz vor sieben. Also hatte er vier Stunden geschlafen – oder besser gesagt – in jener Albtraumwelt verbracht.

Aber es war kein Albtraum, überhaupt kein gewöhnlicher Traum gewesen – dafür hatte es sich viel zu wirklich angefühlt. Hyperwirklich geradezu, so als ob das da drüben sein eigentliches Leben wäre: in jenem Tropfen eingeschlossen am Meeresgrund.

Die Angst jagte noch in ihm umher. Nur langsam beruhigten sich sein Atem, sein rasender Herzschlag.

Seltsamerweise hörte er Zoran immer noch rufen. Nicht irgendwo draußen, sondern in seinem eigenen Innern, so als wäre er wach und gleichzeitig immer noch am Meeresgrund. Aber der Junge klang überhaupt nicht mehr zu Tode verängstigt, sondern überaus selbstzufrieden und stolz.

Schau doch mal her, Sam, rief er immer wieder. Damit du endlich kapierst, dass du dir wegen mir keine Sorgen machen brauchst.

Rabov war jetzt ziemlich durcheinander. Etliche weitere Augenblicke vergingen, bis ihm dämmerte, dass es gar nicht der Zoran aus jener Albtraum- oder Unterwasserwelt war, der da so beharrlich nach ihm rief. Der Junge hatte magische Verbindung mit ihm aufgenommen.

Rabov wollte sich in Agosch-Trance versetzen, wie es ihm sonst fast immer rasch und mühelos gelang. Aber mit seinem Geist und seiner Seele war er noch immer dort unten am Meeresgrund, in der Membran, im Rachen jenes Ungeheuers – und so schaffte er es nicht sofort, mit Zoran in Gedankenverbindung zu treten. Er versuchte es aufs neue und diesmal wandte er einen Kunstgriff an, der noch niemals versagt hatte: So lebhaft wie möglich stellte er sich vor, wie er am Agoschkreuz hing und mit Hand- und Fußgelenken an seinen Fesseln zerrte und dabei die göttliche Kadora um Beistand anrief. Panik flutete in ihm empor, genauso wie damals, vor mehr als zwanzig Jahren – grässliche Todesangst, vermischt mit einer eigentümlichen Euphorie, dem schwindelerregenden Gefühl, Teil einer gewaltig großen, unbezwingbar starken Macht zu sein.

Zoran?

Da bist du ja endlich, Sam. Siehst du jetzt, was ich hier mache?

O ja, er sah es allerdings – und es gefiel ihm ganz und gar nicht.

Zoran stand in einem düsteren Raum, um den Hals eine gewaltig große Würgekadora. Er sah Rabov geradewegs an und grinste so frech und stolz wie überhaupt möglich. Die Schlange war gut und gerne drei Meter lang und ihr Leib, der dicker als Zorans beide Beine zusammen war, lag dem Jungen in drei lockeren Schleifen um Hals und Schultern. Eine schmachtend süße Flötenmelodie war zu hören, mit Tönen, die wie unaufhörliches Stöhnen und Seufzen klangen.

Vor Zoran, mit dem Rücken zu Rabov, saß ein großgewachsener Mann in blutrotem Umhang, einen kunstvoll geschlungenen Turban im selben Farbton auf dem Haupt. Allem Anschein nach war er ein bakusischer Schlangenpriester. Und auch wenn Rabov ihn nur von hinten zu sehen bekam, ließen seine Kopf- und Armhaltung darauf schließen, dass er es war, der die schmachtenden Töne flötete.

Meister Miceo hat mich gefragt, ob ich ihm helfen will, verkündete Zoran und konnte sich vor Stolz nach wie vor kaum fassen. Ich hab vor seinem Schaufenster herumgelungert und da hat er mir vorgeschlagen, ich könnte mir ja ein paar Heller verdienen.

Meister Miceo? Noch immer war Rabov nicht ganz in dieser Welt zurück. Aber das hieß ja, dass Zoran hier nebenan war? Gerade hinter dieser Hauswand zu seiner Linken, bei dem alten Flötenmachermeister, der ihm immer so scheel hinterhersah.

Womit verdienen, fragte er so ruhig, wie er es hinbekam. Was musst du dafür machen, Zoran?

Na ja, das siehst du doch. Meister Miceos Kunde spielt auf einer Flöte und probiert aus, ob es die richtigen Töne sind, um seine Schlange zu bändigen. Und ich helfe ihnen dabei – siehst du, indem ich mit der Schlange solche Sachen mache.

Was denn für Sachen, Linglu noch mal?

Na, so was eben. Und so was. Zoran trommelte auf dem Schlangenleib herum, zog die Würgekadora am Schwanz und tippte ihr mit den Fingerspitzen auf der Nase herum wie auf den Tasten eines Dampfklaviers.

Während Rabov ihm dabei zusah, stand er von seinem Bett auf, schlüpfte in seine Schuhe und eilte zur Tür. Im Vorübergehen griff er sich seinen Überwurf, nestelte die Silbersichel hervor und war bereits draußen auf der Treppe, als sich der Junge erneut zu Wort meldete.

Du sagst ja gar nichts, Sam. Wo bist du eigentlich gerade?

Diese Frage würde er auf herkömmliche Weise beantworten, beschloss Rabov, während er auf dem Bürgersteig zwei Schritte nach links machte und die kleine Treppe vor dem Nachbarhaus hinabstieg.

Er holte tief Luft und zog die Tür zu Meister Miceos Laden auf. In bald drei Jahren war er kein einziges Mal hier unten gewesen und er brauchte seine bescheidenen prophetischen Kräfte nicht zu bemühen, um zu wissen, dass bis zu seinem nächsten Besuch mindestens noch einmal so viel Zeit vergehen würde.

He, Sam, da bist du ja! Zoran strahlte ihn an. Auch die Würgekadora richtete ihre Augen auf den Neuankömmling. Sie schien benommen, eingelullt durch die unablässig hervorströmenden Flötentöne, aber sie war keineswegs gänzlich gebannt. Das hatte Rabov sofort erkannt, als ihm der Junge vor Stolz beinahe platzend vorgeführt hatte, wie gut er die Kadora unter Kontrolle hatte. Jedenfalls seiner Ansicht nach.

Meister Miceo hatte an der Werkbank neben der Tür gesessen. Jetzt stand er von seinem Schemel auf und kam auf Rabov zu. Als er erkannte, wen er vor sich hatte, wurde seine Miene abweisend.

»Was wollen Sie hier?«, sagte er. »Trödler sind in diesem Haus nicht erwünscht.«

Die Silbersichel hatte Rabov in seiner linken Hand verborgen. Nun ließ er sie vor Meister Miceo aufblitzen und der Flötenmacher erstarrte, eine Hand abwehrend erhoben.

Bleib ganz ruhig, Zoran. Die Schlange ist wach.

Sie ist wach? Zorans Gedankenstimme wurde schrill. Aber der Priester hat doch gesagt …

Ganz ruhig, wiederholte Rabov.

Langsam ging er auf den Schlangenpriester im grellroten Umhang zu, der sich um nichts als sein Flötenspiel zu kümmern schien. Er saß aufrecht auf einem Hocker, mit dem Rücken zur Tür und zu Rabov, der die Silbersichel bereithielt.

Mach die Augen zu, Junge.

Die Schlange begann zu zucken. Ihr Kopf pendelte vor Zorans Brust hin und her. Sie stieß Zischlaute aus und ließ ihre zwiegespaltene Zunge hervorschnellen.

Verfütterst du mich jetzt an die Kadora, Sam?

Red keinen Mist. Mach die Augen zu.

Gerade in diesem Moment drehte sich der Schlangenpriester zu ihm herum. Rabov blieb keine Zeit mehr, um sich zu vergewissern, dass Zoran seine Augen wirklich geschlossen hatte. Er schwenkte die Sichel vor dem bakusischen Priester und das dunkelbraune rundliche Gesicht wurde starr. Halb zu Rabov umgewandt, verharrte er unbeweglich auf dem Schemel, die Hand mit der Flöte in Höhe seines Kinns.

Blitzschnell zog sich nun die Schlange um Zorans Hals und Brust zusammen. Der Junge heulte und schrie, und erst als Rabov die Schlange in die Starre geschickt hatte, sah er, dass Zorans Augen weit geöffnet waren.

Und starr wie Glas.

7

vigEr machte sich hunderttausend Vorwürfe wegen Zoran – weil er ihn vernachlässigte, weil er ihn eben versehentlich mit in die Starre geschickt hatte, weil er selbst sich als Junge immer einen Vater gewünscht hatte, der in den entscheidenden Momenten für ihn da wäre, und nun ließ er Zoran genauso im Stich.

Nun ja, nicht ganz genauso. Schließlich würde er nicht für alle Zeiten in den Gesperrten Sümpfen verschwinden, sondern nur für ein paar Stunden in die SIEBEN VIPERN gehen. Was allerdings auch darauf hinauslief, dass er Zoran schon wieder sich selbst überlassen musste.

Er hatte den Jungen auf sein Bett gelegt und ihn sorgfältig mit seiner Überdecke zugedeckt, obwohl es ihm sogar hier drinnen, drei Meter unter der Erde, dampfend warm vorkam.

Zorans Augen waren weit offen und nach wie vor starr wie Glas. Es sah unheimlich aus, selbst für Rabov, der doch schon etliche Dutzend erstarrter Augenpaare gesehen hatte. Aber eine Person, die einem nahestand, mit der Silbersichel zu bannen, war eben ganz etwas anderes.

Die Pendeluhr begann erneut zu lärmen – halb acht. Rund eine halbe Stunde musste er von hier bis zu den Sieben Vipern rechnen.

Natürlich hätte er Sola befehlen können, ihn zu seinem Rendezvous zu chauffieren, aber schon bei dem Gedanken grauste es ihn. Er hörte die Schritte des Assistenten oben in der Stube, leichte, selbstgewisse Schritte, von keinerlei Selbstzweifeln oder gar von Reue gehemmt. Aus tiefstem Herzen wünschte sich Rabov, dass alles wie früher werden würde – kein Assistent, keine Todesfälle mit Schlangenzauber, kein entwichener, widerlich weißer Wurm.

Aber wann wäre jemals wieder irgendetwas wie früher geworden? Sein Blick fiel erneut auf Zoran, der wie eine Puppe so reglos auf dem Rücken lag und zur Zimmerdecke starrte.

Zwei, vielleicht drei Stunden würde es dauern, bis er wieder zu sich käme. Und dann noch einmal so lange, bis er wieder völlig bei Kräften wäre, sich einigermaßen genau erinnern würde, was mit ihm passiert war.

Rabov setzte sich neben ihn auf den Bettrand. Er zog seine Reptilienkladde aus dem Überwurf, fischte den winzigen Stift aus dem Falz und bemühte sich, halbwegs leserlich zu schreiben.

»Tut mir leid, Zoran, aber ich konnte dich da anders nicht rausholen. »Die Arbeit, die Meister M. dir angeboten hat, ist lebensgefährlich! Geh auf gar keinen Fall wieder zu ihm, sonst … du weißt schon. Wir reden morgen – ich schwöre es. Dein Sam«

Er riss den Zettel aus seinem Büchlein und schob ihn Zoran zwischen die starren Finger. Dann saß er minutenlang einfach so da, schaute auf den Jungen hinunter und durch ihn hindurch – nach Raginor vor zwanzig Jahren.

So wie für Zoran, seit er fast von der Gottheit Ragadhani gefressen worden wäre, so war auch für Sam Rabov damals, nach der Sache mit dem Agosch-Priester, nichts mehr gewesen wie davor. Seine Kindheit war mit einem Schlag vorbei. Nichts sah mehr aus wie früher, nicht der Himmel über Raginor, nicht die trübrote Nibra, nicht Odeas liebliches Lächeln. Und genauso fühlte sich auch nichts mehr an wie vorher, sein eigener Körper nicht, auch nicht Odeas Himbeerlippen.

Rabov schaute auf Zoran hinunter und sah den jungen Sam vor sich, wie er Odea damals zu erklären versuchte, was er bei dem Agosch-Priester erlebt hatte. Dass ihn der Schmerz in seinem Nacken in die Schlangengrube getrieben hatte, schien sie noch einigermaßen zu begreifen – aber von allem, was dann gefolgt war, gar nichts mehr. Er beschrieb ihr, wie es sich angefühlt hatte – die saugenden Schlangen um seine Füße und Hände, an Unterarmen und Unterschenkeln. Wie sehr enge, nasse Strümpfe und Handschuhe, die einem ungeheuer langsam angezogen werden. Oder wie der Priester gesungen, geheult, gebetet hatte: »Sie schlingen ja schon, sie ziehen ja schon das böse Gebein in sich hinein.«

Sie verstand es nicht. Er selbst verstand es ja immer weniger, je länger er von dort zurück war. Es entglitt ihm, entfernte sich wie der Landungssteg am Hafen, wenn man in See gestochen war.

Bald schon gab er es auf, mit Odea oder irgendwem über die Agosch-Sache zu reden. Wie früher ging er mit ihr an der Nibra spazieren und niemals mehr peinigte ihn jener Schmerz, wenn er sich zu ihr hinunterbeugte. Wenn er ihre Lippen küsste, ihre aprikosenkleinen Mädchenbrüste liebkoste.

Und doch ließ ihm, was er am Agoschkreuz erlebt hatte, keine Ruhe mehr. Er begann, sich auf heimlichen Pfaden zu bewegen. »Du treibst dich herum, Junge«, warf seine Mutter ihm vor und für sie musste es wohl wirklich so aussehen. Er war noch keine vierzehn, als er anfing, vor dem SERP’S herumzulungern. Viele Jahre später erst sollte er erfahren, dass das SERP’S von Raginor das erste seiner Art in ganz Dunibien war. Der erste Nachtclub mit Schlangenmädchen auf der Bühne und in den Séparées. »Ein Hurenhaus«, zürnte Sams Mutter. Eine Welt schien für sie zusammenzubrechen, als die Stadtwächter ihren Jungen zum ersten Mal vor der Hintertür des SERP’S einfingen und nach Hause brachten. In ihre kümmerliche Hütte, wo die Mutter mehr oder weniger Tag und Nacht für andere Leute bügelte und flickte und wusch.

Aber für Sam war die Welt, wie er sie einmal gekannt hatte, damals längst schon zerbrochen. Unwiderstehlich zog es ihn zu den Rissen und Breschen in den Ruinen dieser alten Welt. Dahinter erahnte er eine zweite, weit geheimnisvollere Welt und das SERP’S schien ihm so etwas wie eine Passage dort hinüber zu sein. Die Mutter nannte ihn verdorben und frühreif, aber er war weder das eine noch das andere.

Irgendwie schaffte er es, das Vertrauen der Schlangenmädchen aus dem SERP’S zu gewinnen. Vielleicht hatten sie auch einfach nur Mitleid mit ihm, weil er sich halbe Nächte lang vor ihrer Hintertür herumtrieb. Oder sie fanden ihn drollig, oder sie sahen eine Art Maskottchen in ihm – eigentlich war es ihm egal. Hauptsache, sie ließen ihn zu sich rein.

Tatsächlich ging eines Nachts, als er sich wieder mal im Hinterhof die Beine in den Bauch stand, die Tür auf und eines der Schlangenmädchen winkte ihn zu sich her. Erst traute er seinen Augen nicht, doch im nächsten Moment war er durch den Spalt geschlüpft und in diesem Augenblick begann für Sam ein neues Leben.

Ein ungeheuer aufregendes Geheimleben, von dem er natürlich niemandem auch nur das Geringste erzählen durfte – seiner Mutter nicht, Odea nicht und dem Nachbarsjungen Mika schon gar nicht, obwohl er in dessen Ansehen dadurch bestimmt gewaltig gestiegen wäre.

Anfangs durfte er sich nur in der Garderobe der Schlangenmädchen in einen Winkel setzen und ihnen zusehen, wie sie sich zurechtmachten, wie sie miteinander lachten und kicherten, geheime Botschaften austauschten, sich gegenseitig Glück wünschten, wenn eine von ihnen auf die Bühne rausmusste oder zu einem anspruchsvollen Kunden.

Es machte Rabov noch heute ganz kribblig, an die SERP’S-Mädchen zu denken. Die schlängelnden Bewegungen ihrer schlanken, unerhört biegsamen Körper, die von den Fußzehen bis zur Stirn hinauf kunstvoll mit Schlangenmustern bemalt waren. Schillernd und schimmernd in allen erdenklichen Abstufungen von Blau und Grün und Gelb.

Später, nachdem die Mädchen erkannt hatten, dass sie ihm blind vertrauen konnten, oder vielleicht auch einfach, weil er sie mit seinem Betteln und Bitten weichbekommen hatte – nach ein paar Monaten also, in denen er immer nur still und stumm im Garderobenwinkel gesessen hatte, nahmen sie ihn ab und zu mit hinter die Bühne. Durch Löcher und Risse im Vorhang konnte er ihnen von dort aus bei ihren Schlangentänzen zusehen, wenn auch nur von hinten oder von der Seite. Mit angehaltenem Atem, weil der Vorhang so ungeheuer staubig war und weil er über den Sprüngen und Verschlingungen der umherschnellenden Schlangenmädchen sowieso zu atmen vergaß.

Noch später, nachdem er sich auch hinter dem Bühnenvorhang einige Monate lang bewährt hatte, ließen ihn die Mädchen sogar hin und wieder bei dem zusehen, was in den »Schlangennestern« passierte. So nämlich hießen im SERP’S die Séparées, in denen sich abenteuerlustige Herren mit einem oder mehreren Mädchen zu heimlichen Schlängeleien trafen.

Aber was er dort zu sehen bekam, gefiel Sam überhaupt nicht. Bei ihrer Bühnenschau waren ihm die Schlangentänzerinnen immer wie kühne, ja mächtige Geschöpfe erschienen, die man schon wegen ihrer fremdartigen Schönheit nur anbeten konnte. In den Schlangennestern aber mussten die Mädchen den Freiern in allem zu Diensten sein. Wie dressierte Tiere wurden sie dort behandelt, mehr Schlangen als Menschen, und nachdem Sam durch geheime Gucklöcher ein paarmal beobachtet hatte, was sich in den Schlangennestern abspielte, verlor das SERP’S für ihn jeden Reiz. Was er suchte, das war ihm nun klar, würde er dort nicht finden.

Die Pendeluhr scheuchte Rabov aus seinen Erinnerungen auf. Halb neun – allerhöchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Er strich Zoran eine störrische Locke aus der Stirn, doch der Blick des Jungen blieb murmelhaft starr.

»Bis morgen, Kleiner – und mach keinen Unsinn.« Rabov klopfte prüfend seinen Überwurf ab. Alle Siebensachen an Bord – darunter auch einige größere Goldmünzen, die er extra eingesteckt hatte, um für alle romantischen Unwägbarkeiten gewappnet zu sein. Beispielsweise für eine Nacht mit Calin im PLATINPARDER, einem edel-verruchten Etablissement nahe dem Smaragdtor, das er bisher nur vom Hörensagen kannte.

8

vigDie SIEBEN VIPERN hatten wirklich nicht gerade den glänzendsten Ruf. Die Lokalität befand sich an der Ostflanke des Donarbergs in einem verwahrlosten Stadtpalast gerade unterhalb der kegelspitzen Bergkuppe. Eine abschüssige Gasse führte auf das verwitterte Säulentor zu, in dessen Innerem es linker Hand in die SIEBEN VIPERN-Bar ging, rechts in das sogenannte VIVA oder auch VIPERN-VARIETÉ. Jenseits des Torhauses gab es nur noch einen rattenverseuchten Hinterhof – und dahinter nackten Fels, die schroff abfallende Ostseite des Donarbergs.

Schon mehr als einmal war es vorgekommen, dass Gäste der SIEBEN VIPERN zu grauester Morgenstunde dort den Abstieg zu Fuß gewagt hatten. Das ging selten glimpflich aus – wer mit einem gestauchten Knöchel davonkam, konnte sich glücklich schätzen, meist jedoch bezahlten die Kletterer ihre Waghalsigkeit mit dem Leben. Und fast jedes Mal hieß es dann, dass die Verunglückten nicht einfach so vom Fels gefallen seien, sondern dass jemand aus den SIEBEN VIPERN nachgeholfen habe. Woraufhin Hauptermittler Ralla seine Polizisten in Bewegung setzte – doch soweit Rabov wusste, war es dem Besitzer des Klubs bisher noch immer geglückt, sich von Verdächtigungen reinzuwaschen.

Er hieß Ro Seelbitt und schon dieses ehrbaren Namens wegen war nicht nur dem Nachtboten, sondern auch der seriöseren Presse jeder Zwischenfall im Umkreis der SIEBEN VIPERN eine Meldung wert. Ro Seelbitt war der schwarze Schwan in einer der glanzvollsten und mächtigsten Familien Dunibiens, ein Neffe von Konsul Gero zu der Seelbitt, dem Patriarchen der gleichnamigen Handelsdynastie. Der Konsul galt als enger Vertrauter des Königs, genauso wie sein ewiger Konkurrent Geheimrat Loscha von Hagdiff, und während Rabov aus der Wolkendroschke kletterte, fragte er sich, welche Rolle eigentlich diese beiden hochehrenwerten Herren bei dem zweifachen Kurswechsel des Königs gespielt hatten.

Er hatte den Fahrer angewiesen, oben auf der Bergkuppe zu stoppen. Die restlichen paar Hundert Schritte würde er zu Fuß gehen, auch wenn die Gasse steil und ungepflastert war und sich bei jedem Regenguss in einen schlammigen Gießbach verwandelte. Aber er war sowieso viel zu früh dran, nachdem es ihm wider Erwarten geglückt war, auf halber Strecke ein freies Dampfmobil heranzuwinken.

Mit jedem Meter, den er ihrem Treffpunkt näherkam, beschleunigte sich sein Herzschlag. Warum nur hatte er sich mit Calin ausgerechnet in dieser übel beleumdeten Bar verabredet? Nun, als er heute Mittag behauptet hatte, dass sie dort Lona Markan finden würden, da war er kaum weniger überrascht gewesen als Calin. Aber es war trotzdem nicht einfach so dahergesagt gewesen – er hatte es im selben Moment vorausgespürt und aus Erfahrung wusste er, dass ihn solche Sekundengesichte nur selten täuschten.

Trotzdem ärgerte er sich, weil er für ihr Rendezvous keinen beschaulicheren Ort gewählt hatte. Er hatte Calin so viel zu erzählen, sie so viel zu fragen – in der VIPERN-BAR aber war es abends immer gedrängt voll und so laut, dass man sein eigenes Wort kaum verstand. Musikkapellen spielten, alle schrien um die Wette und vor allem gab es die sonderbarsten Darbietungen zu bestaunen. Die meisten Gäste wanderten die halbe Nacht von einem Saal zum anderen, von einer Etage in die nächste, und hinter jeder Säule, jeder Tür warteten weitere, noch unerhörtere Spektakel.

Eine erstaunlich große Menschenmenge zog mit ihm auf das hell erleuchtete Torhaus zu. Als Rabov vor einigen Monaten das letzte Mal hier gewesen war, hatte die VIPERN-BAR fast nur männliche Gäste angezogen, heute aber strebten auch viele Paare und sogar einzelne Frauen die Gasse hinab. Praktisch über Nacht hatte sich ein Etablissement, dessen Varieté-Bereich streng genommen ein Freudenhaus mit vorgeschalteter Nackttanz-Bühne war, in einen Treffpunkt für Schlangenjünger und -jüngerinnen aller Schattierungen verwandelt.

Wohl zehn Minuten lang parderte Rabov vor den SIEBEN VIPERN auf und ab. Im Torhaus und davor herrschte bereits zu dieser frühen Abendstunde ein wildes Gedränge. Immer mehr Nachtschwärmer strömten von der Bergkuppe herab und schon hier draußen war es laut wie auf dem Jahrmarkt.

Was hatte Ralla gesagt – von einem irgendwie alarmierenden Zulauf bei den Schlangenkulten könne keine Rede sein? Der Hauptermittler ging abends anscheinend selten vor die Tür. Dem bunten Völkchen, das sich an Orten wie diesem hier traf, gehörten zwar höchstwahrscheinlich nur wenige strenggläubige Serpentisten an, aber wohl kaum jemand kam bloß deshalb hierher, um sich zu amüsieren. Dafür waren die Darbietungen im Innern zu bizarr, zu schockierend und teilweise auch ekelerregend. Nein, hier ging es um mehr als um Abenteuer und Nervenkitzel, das wurde Rabov noch klarer, während er in die vor Erregung glänzenden Augen der herbeiströmenden Besucher blickte. Was die weitaus meisten dieser Schlangenjüngerinnen und -jünger hierher trieb, war ein zwischen Panik und Ekstase pendelndes Lebensgefühl. Ein Gieren nach Gefahr, ein toller Taumel, eine aberwitzige Lust, tief im eigenen Innern verborgene Kräfte zu erproben – auch wenn es möglicherweise Kräfte des Chaos, der Dunkelheit und Zerstörung waren. »Erwecke die Schlange und du wirst dich lebendig wie niemals zuvor fühlen.« Mit diesem Slogan warb Ro Seelbitt seit Wochen in allen phoräischen Blättern für seine zweifelhaften Angebote. »Ob du sie bannst oder sie dich bändigt – du wirst der Sieger sein.« Und die Leute strömten ihm in Scharen zu.

Und da kam glücklicherweise auch Calin – im Dampfmobil zischte sie die steile Gasse hinab, ließ die Sirene ertönen und widerwillig gaben die Leute ihr den Weg frei.

Typisch Li, dachte Rabov, und zärtlicher Stolz wallte in ihm auf. Wie eine Königin, gehüllt in Schönheit und majestätischen Hochmut, so stieg Calin Stingard aus ihrem Wagen und kam über die Gasse auf ihn zu. Ihr Silberhaar schimmerte im Mondlicht, den Gaffern quollen beinahe die Augen aus dem Schädel, aber Calin schritt, ohne aufzublicken, durch die Menge hindurch.

»Sam«, sagte sie und lächelte auf die abweisende Art, die er so sehr fürchtete. Sie hielt ihm ihre Wange hin und entzog sich wieder, ehe er einen Kuss darauf hauchen konnte. Dann trat sie auch noch einen Schritt zurück und rümpfte die Nase. »Du riechst, Samu – nach Schlange.«

Er demonstrierte Zerknirschung. »Tut mir leid, Calin, du hast ja selbst gesehen, wie es momentan bei uns zugeht.« Verstohlen schnüffelte er an seinen Fingern. Von dem Modergeruch, den der Wurm verströmt hatte, war glücklicherweise nichts mehr zu riechen. Aber dafür stank er jetzt nach Würgekadora – ein entfernter Anklang an Rattenkadaver mit einem Unterton überreifer Zitrone.

Calin dagegen duftete so süß und frisch wie ein nibräischer Wildrosenstrauch. Sie hatte das Kleid mit dem Moliatmuster gegen ein seidig knisterndes Kostüm getauscht, dessen kräftiger Rotton ihn allerdings an den Umhang des Schlangenpriesters in Meister Miceos Werkstatt erinnerte. »Wo hast du Port gelassen?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Auch über Sola müssen wir reden.«

»Auch?«, wiederholte sie. »Wie lang ist denn deine Liste?«

»Oh«, gab er zurück, »so lang wie die ganze Nacht.«

Calin ließ sich nicht anmerken, was sie von dieser Anspielung hielt. »Dann also los«, sagte sie nur, »zeig mir Lona Markan.«

Er reichte ihr seinen Arm und nach kurzem Zögern hakte sie sich unter. »Es ist mehr ein Labyrinth als eine Bar«, sagte er. »Vielleicht sitzt sie gleich vorn am Tresen – wenn nicht, kann es Stunden dauern. Zumal wir ja kein Aufsehen erregen wollen.«

Als er Calin ins Innere des Torhauses bugsierte, bemerkte er einige seiner Mysto-Klienten und nickte ihnen zu. Batis, einen noïlitischen Totenbeschwörer, den er letzten Winter für ein paar Nächte bei sich beherbergt hatte. Die Wahrsagerin Cypra, die laut Selda, ihrer unversöhnlichen Rivalin, nicht weiter in die Zukunft sehen konnte als ein Maulwurf in der Gegenwart (aber Rabov wusste es besser – und Selda am Grund ihrer dunklen Seele auch).

Doch im nächsten Moment vergaß er das ewige Gerangel zwischen den Wahrsagerinnen. Während er sich mit Calin durch die Tür linker Hand in die VIPERN-BAR schob, behielt er die hochgewachsene Gestalt im sonnengelben Umhang im Auge. Es war nicht Radschi Varusa, das war ihm nach dem ersten Schrecken klargeworden – dieser Mann dort war schmaler gebaut und offenbar etliche Jahre jünger als der bakusische Hohepriester. Aber er trug Umhang und Turban in genau der gleichen Farbe wie die Priester in Varusas Tempelzelt und Rabov fragte sich, was er an diesem Ort suchen mochte. Für einen Priester, auch und gerade für den Diener einer Schlangengottheit, waren die Sieben Vipern ein äußerst ungewöhnliches Ziel.

9

vigDie Eingangshalle der VIPERN-BAR nahm das gesamte Erdgeschoss des linken Hausflügels ein. Sie war bestimmt nicht viel kleiner als die Halle des Königlichen Opernhauses und beherbergte Phoras längsten Tresen – eine schier endlose, rundum verspiegelte Bartheke, die sich wie eine Riesenviper in wildem Zickzack durch die Halle schlängelte. Davor standen Barhocker, mit Schlangenhaut von jeder erdenklichen kriechenden Spezies bezogen – gegerbte Kadora, Makubahaut, sogar Lyrissenleder. Gleich drei breite Treppen im Hintergrund führten in die höher gelegenen Etagen und Rabov registrierte im Hereinkommen, dass sämtliche Aufgänge mit empordrängenden Besuchern überfüllt waren. Anscheinend waren da oben bereits die ersten Vorführungen im Gang. Obwohl hier unten im Barbereich keinerlei Musikanten die Trommel rührten oder in noïlitische Knochenflöten bliesen, schwirrte die Luft von einem Gewirr aus Hunderten unterschiedlichen Lauten – Wummern und Wimmern, Sirren und Singen, Gelächter und Geschrei.

Rabov sah sich verstohlen um. Bisher konnte er Lona Markan nicht entdecken, aber er spürte, dass sie der Archäologin heute noch an diesem Ort begegnen würden. Fürs erste würde er ihnen beiden etwas zu trinken besorgen.

Er geleitete Calin den endlosen Tresen entlang und wie Eisenfeilspäne unter der Einwirkung eines Magneten drehten sich sämtliche Zecher auf den Barhockern nach ihnen um. In Begleitung von Calin Stingard kein Aufsehen zu erregen, war noch schwerer, als trockenen Fußes den Grünen Ozean zu durchqueren.

Fast hatten sie die Schlangentheke einmal umrundet, da stand gerade vor ihnen ein junges Pärchen auf. Rabov stürzte sich auf die frei gewordenen Plätze. Er half Calin auf einen Hocker. »Von hier aus haben wir die Eingangstür im Auge«, rief er, seine Lippen nah an ihrem Ohr. »Die Magistra kann uns nicht entwischen.«

Die junge Frau hinter dem Tresen trug ein eng anliegendes Kleid aus Schlangenhaut. Jeder unbedeckte Zoll ihrer eigenen Haut war liebevoll mit einem gelbgrün schattiertem Schuppenmuster tätowiert. Obwohl seine Zeit als SERP’S-Stammgast lange zurücklag, übte der Anblick immer noch einen verwirrenden Reiz auf ihn aus. Und stimmte ihn gleichzeitig ein wenig wehmütig – so als hätte er damals eine Chance bekommen und sie nicht genutzt. Die Chance, in die andere Welt hinüberzugehen.

Er bestellte einen Fruchtmix für Calin, einen Noïli-Cocktail für sich selbst. Er spürte ihre Ungeduld und bemühte sich, sie entspannt anzulächeln. »Auf dich, Calin.« Er prostete ihr zu.

Sie leerte in einem Schluck beinahe ihr ganzes Glas. »Sollten wir nicht lieber herumlaufen, diese Mörderin suchen – anstatt hier an der Bar zu sitzen wie ein Ehepaar im Urlaubshotel?«

Rabov hätte liebend gern alles mit ihr gemacht, was Paare im Urlaub so zusammen anstellen. Aber er schluckte seine Antwort herunter. »Nur einen Moment noch. Ich muss dir etwas erzählen.« Er beugte sich weiter zu ihr hinüber und sein Haarzopf strich ihm über den obersten Nackenwirbel, in (oder hinter) dem er noch immer das leise Klopfen spürte. »Vorletzte Nacht habe ich von uns beiden geträumt«, sagte er Calin ins Ohr.

Sie bog sich ein ganzes Stück von ihm weg. »Was soll das, Samu?«, las er von ihren Lippen ab. Im Wirrwarr der Stimmen und der Musikfetzen aus den oberen Etagen war schon aus dieser Entfernung kaum etwas zu verstehen.

Er winkte sie mit beiden Händen wieder zu sich heran und machte ein Bettelgesicht. »Wir waren zusammen im Bauch eines Wals«, rief er in ihr Ohr und spürte ihr Haar an Mund und Wangen. »Wir sind durch den Grünen Ozean gefahren – wie der Prophet Piu im Heiligen Linglu-Buch.«

Halb war er darauf gefasst, dass Calin nun endgültig verärgert wäre. »Wenn ich dir nur verbieten könnte, von mir zu träumen«, hatte sie erst vor einigen Wochen gesagt und dabei ziemlich entnervt ausgesehen.

Heute aber war anscheinend alles anders. Calin sah ihn an, mit Augen so grün wie das Meer und einem Lächeln, das man eigentlich nur verzückt nennen konnte. »Du hast von Piu im Wal geträumt?« Sie lehnte sich so weit zu ihm herüber wie seit Jahren nicht mehr. Er roch ihren Wildrosenduft und hatte Mühe, seine Hände zu kontrollieren, die sich um ihre Seiten legen, sie noch näher zu sich heranziehen wollten. »Das musst du mir aber unbedingt genauer erzählen, Sammo«, gurrte Calin und sah ihm so tief in die Augen, als ob er selbst der Wal wäre und sie da drinnen Piu entdeckt hätte.

»Ja, klar, gerne.« Er verfluchte sich im Stillen, weil er jetzt wieder zu stammeln anfing. »Aber was – was ist denn auf einmal mit dir?«, brachte er einigermaßen glatt heraus. Normalerweise schnitt ihm Calin sofort das Wort ab, wenn er ihr nahezubringen versuchte, was er von ihnen beiden geträumt hatte.

»Erzähl einfach, Sam«, sagte sie. Und nach einem weiteren Schluck von seinem Noïli-Drink legte er los.

Vor ein paar Tagen erst – so begann er (seine Lippen dicht an ihrem linken Ohr) – hatte er nachgelesen, was im Linglu-Buch über Piu und den Wal geschrieben stand. Diese Geschichte hatte sich ja offenbar noch vor der Gründung des Alten Reichs abgespielt, also vor etlichen Tausend Jahren. »Piu war ein junger Fischer«, fing Rabov an, »der mit seinem mühseligen und gefahrvollen Leben unzufrieden war. Er wollte Linglu herausfordern und sagte immer wieder zu Ihm: ›Wenn Du so ein mächtiger Gott bist, dann zeig doch, was Du vermagst.‹ Und eines Tages bekam er eine Vision – Linglu höchstselbst erschien ihm und sprach: ›Gleich kommt ein Unwetter auf, fahre mit deinem Boot aufs Meer hinaus, dort wirst du sehen, wie mächtig Ich bin.‹«

Calin nickte. In ihren Augen war ein fiebriger Glanz, den sich Rabov überhaupt nicht erklären konnte. »Ich kenne die Geschichte«, sagte sie. »Piu fährt mit seinem Fischerboot hinaus, im Sturm kentert das Boot und er glaubt schon, dass er ertrinken muss. Er treibt in der See und will eben den Mund aufmachen, um Linglu zu verfluchen, da öffnet sich vor ihm in den Fluten ein riesengroßes Maul und verschlingt ihn. So kommt Piu in den Bauch des Wals.«

Rabovs Herz klopfte nun beinahe so wild wie bei seinem ersten Rendezvous mit Odea. Es war ihm ein bisschen peinlich, dass er so aufgeregt war. So wie gerade jetzt war es zwischen ihm und Calin seit Ewigkeiten nicht gewesen, ja vielleicht nicht einmal in den Zeiten ihrer innigsten Zweisamkeit. »Wenn du die Geschichte schon kennst«, sagte er in ihr Ohr, »weißt du bestimmt auch, wie sie ausgeht – Piu reist monatelang im Bauch des Wals umher, kommt schließlich wieder nach Hause und preist für sein restliches Leben den großen Linglu, der Seine Kreaturen nicht verderben lässt. Und wahrscheinlich, weil ich das vor kurzem noch mal nachgeschlagen hatte, habe ich letzte Nacht von uns beiden etwas ganz Ähnliches …«

Doch weiter kam er nicht. Jetzt schien doch wieder alles wie immer zu sein: Kaum wollte er auf seinen Traum von ihnen beiden zu sprechen kommen, fiel ihm Calin ins Wort. »Langsam, Sam«, sagte sie. »Verrate mir erst noch: Aus welchem Grund hast du diese alte Geschichte nachgeschlagen?«

Er versuchte sich eine Antwort zurechtzulegen und zerbrach sich gleichzeitig den Kopf darüber, was mit Calin eigentlich los war. Warum sie ihm diese Fragen stellte, worauf sie hinauswollte. Aber er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. »Na ja, das ist mir jetzt ziemlich unangenehm«, sagte er. »Ich habe in den letzten Monaten immer wieder überlegt, warum es plötzlich erlaubt ist, Dampfmobile und solche Apparate zu bauen – obwohl Linglu gerade das in Seinen Sieben Gesetzen so streng verboten hat. Und da kam mir auf einmal die Idee … aber du musst versprechen, dass du mich nicht auslachst, Li …«

Er biss sich auf die Unterlippe, darauf gefasst, dass sie wütend werden würde, weil er sie mit ihrem Kosenamen angeredet hatte. Aber sie ließ ihm sogar das durchgehen oder vielleicht hatte sie nicht einmal mitbekommen, zu welcher Freiheit er sich hatte hinreißen lassen. »Heraus mit der Sprache«, feuerte sie ihn an und ihre Augen funkelten.

»Na ja, wenn du unbedingt willst«, wand sich Rabov. »Du weißt ja, was ich manchmal für komische Einfälle habe – also, ich dachte mir eben, vielleicht sind die Dampfmobile und das alles gar keine selbstbewegten Maschinen, sondern … irgendwie …« Er unterbrach sich und sah Calin flehentlich an. »Nein, es ist wirklich zu dumm.«

»Jetzt rede aber mal deine Sätze zu Ende«, sagte Calin. »Das ist ein Befehl.«

Gehorsam brachte er seine Lippen wieder an ihr Ohr. »Sondern irgendwie in dunibischen Laboren weitergezüchtete Tiere«, sagte er. »Verstehst du, Calin – Kreaturen, in denen man auf dem festen Land genauso herumreisen kann, wie damals Piu im Wal durchs Meer gefahren ist.« Er holte tief Luft, setzte sich wieder gerade hin und sah Calin argwöhnisch an.

Wenn sie ihn jetzt verspottet, auch nur gegrinst, nur gelächelt, nur mit den Mundwinkeln gezuckt hätte – Rabov hätte auf der Stelle behauptet, dass er sich alles nur ausgedacht hätte, um sie zum Lachen zu bringen. Aber Calin schaute im Gegenteil geradezu andächtig zu ihm auf. Ihr Mund war ein wenig geöffnet, die Unterlippe zitterte. »Und auf diese Idee bist du ganz von allein gekommen, Sammo?«

Sammo! Fast wurden ihm die Augen feucht. Aber was hatte das alles nur zu bedeuten – warum himmelte ihn Calin für eine Augenblicksidee, die ihm selbst von vorne bis hinten krumm und schief vorkam, geradezu an? »Na ja«, gab er zurück, »mit Linglus Beistand, wie gesagt.«

Sie machte ihm ein Zeichen, sich weiter zu ihm herüberzubeugen. »Jetzt muss ich dir aber mal etwas sagen, Sam.« Sie legte ihm eine Hand um den Nacken und wollte ihn zu sich heranziehen, aber dann prallte sie förmlich zurück. »Was um Linglus willen ist das? Ich meine – da in deinem Nacken, Sam?« Sie tastete unter seinem Haarzopf herum.

»Ach das«, rief er, »das hat nichts zu bedeuten.« Und gerade in diesem Moment fiel sein Blick auf Lona Markan, die mit einem Schwall von Neuankömmlingen in die Vipern-Bar gespült wurde.

10

vigOhne sich nach links oder rechts umzusehen, steuerte die Magistra auf eine der Treppen nach oben zu. Sie trug ihr hellbraunes Haar kürzer als auf der Zeichnung, die Velissa Labiano von ihr angefertigt hatte, ansonsten war die Ähnlichkeit perfekt – der gleiche maskenhafte Gesichtsausdruck, dieselben lauernden Augen. Ihre Bewegungen wirkten kraftvoll und geschmeidig – eine zaketumesische Raubkatze, dachte Rabov, die ihre Gefährlichkeit hinter arglosem Lächeln und biederer Bekleidung verbarg. Zu einem dunkelgrünen, weit geschnittenen Kleid trug Lona Markan tatsächlich eine weiße Rüschenbluse wie in Tareks Imitation.

Das Gedränge auf den Treppen hatte ein wenig nachgelassen, aber noch immer kam man nur im Kriechgang voran. Rabov hatte Calin ein Zeichen gemacht und dem Schlangenmädchen hinter der Bar ein paar Münzen hingeworfen. Ohne die Archäologin aus den Augen zu lassen, hatten sie sich zur Treppe durchgekämpft. Lona Markan wühlte sich ziemlich rücksichtslos durch die Menge und so wurde ihr Vorsprung beinahe mit jedem Schritt größer. Besorgt beobachtete Rabov, wie sie über ihnen bereits die zweite Treppenkehre hinter sich brachte, während sie selbst noch nicht einmal die erste bewältigt hatten.

Er beugte sich zu Calin. »Was wolltest du mir erzählen«, rief er in ihr Ohr, »eben an der Bar?«

Doch ihre fiebrige Stimmung schien verflogen. »Wahrscheinlich ist es gut, dass wir unterbrochen wurden«, sagte sie. »Eigentlich darf ich gar nicht darüber reden.«

Dann plötzlich geriet der Menschenpulk um sie herum in Bewegung. Rabov fasste Calin bei der Hand – nun ging es fast schon im Laufschritt die Stufen hinauf. Lona Markan war unterdessen in der ersten Etage angekommen – gerade eben trat sie von der Treppe in die Vorhalle, wo die Besucher mit markerschütterndem Noïli-Getrommel begrüßt wurden.

»Weil Milar es dir verboten hat?«, rief Rabov in Calins Ohr. »Hüten Sie Ihre Zunge, Frau Rätin?« Er grinste sie an, aber Calin blieb ernst und wortkarg. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und ihre Lippen formten mehrere Silben, die »Warte bis später« bedeuten konnte, »Ich bin kein Verräter« oder auch etwas ganz anderes.

Hier oben im Trommelgetöse war ohnehin kein Wort mehr zu verstehen. Fünf hagere Männer im Fledermaus-Lendenschurz der noïlitischen Zauberpriester (die gierige Blutsaugerfratze zwischen ihre Beine gebettet) saßen im Halbkreis auf einem Bühnensockel und schlugen auf Baumtrommeln ein, die sie mit ihren Unterschenkeln umschlungen hielten. Zahme Schlangen krochen zwischen ihnen umher oder hingen ihnen reglos wie schillernder Halsschmuck vor der Brust. Mit ihrer aschfarbenen Haut, den eingesunkenen Augen, der skeletthaften Magerkeit ihrer Körper sahen die Trommler höchst unheimlich aus. Und doch waren es lediglich Schausteller, eine Künstlertruppe, die sich auf Trommeln und Maskerade verstand, aber bestimmt nicht auf höhergradige Lakori.

Calin hatte sich wieder bei Rabov eingehängt und ließ sich von ihm kreuz und quer durch die Vorhalle ziehen. In alle Richtungen zweigten weitere Räume ab. Hinter halb geöffneten Türen gab es nachgeahmte Höhlenheiligtümer, Schlangentempel und Opfergruben zu bestaunen, in denen ausgehungerte Riesenschlangen auf ihre rituelle Fütterung warteten.

Lona Markan ließ sich treiben, jedenfalls sah es für Rabov so aus. Aber vielleicht wollte sie diesen Eindruck auch nur erwecken, um eventuelle Verfolger in die Irre zu führen? Er achtete darauf, dass immer ein halbes Dutzend Leute zwischen ihnen und der Archäologin blieben. Doch auch wenn sie sich noch so sehr um Unscheinbarkeit bemühten – Calin und er waren nun einmal ein auffälliges Paar. Sie überragten die Menschenmenge fast um Haupteslänge, vor allem aber blieben immer wieder Männer um sie herum stehen und starrten Calin an. Aus einiger Entfernung musste es aussehen, als wären Calin und er irgendwelche Berühmtheiten, Theaterschauspieler oder sogar Angehörige des Königshofs.

Doch die Magistra schien nichts zu bemerken. Sie wirkte einigermaßen geistesabwesend, vielleicht hatte sie auch bereits ein paar Noïli-Cocktails intus. Rabov rechnete schon kaum mehr damit, dass sie sich für irgendeine Darbietung entscheiden würde, da blieb die Archäologin unvermittelt stehen. Sie wendete auf dem Absatz und marschierte direkt an Rabov und Calin vorbei in einen der Spektakelsäle.

Es war der Raum mit der Schlangengrube und die Opferung würde offenbar gleich beginnen. Wie in einem Freilufttheater waren um die Grube herum Sitzbänke in ansteigenden Reihen aufgebaut. Rabov wartete, bis sich Lona Markan ziemlich weit oben vor der linken Wand den allerletzten freien Platz erkämpft hatte, dann zog er Calin mit sich über die Schwelle. Beinahe im selben Moment wurden im Zuschauerbereich die Lichter gelöscht. Die Opferschau begann.

Eingepfercht zwischen anderen Gästen, die wie sie selbst keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, blieben Rabov und Calin unweit der Tür im Dunkeln stehen. Es war unglaublich schwül hier drin und der Geruch nach Schlange und dem Angstschweiß der gefesselten Opfer machte es nicht gerade besser. Dann wurde auch noch die Tür hinter ihnen geschlossen und für einige Augenblicke musste Rabov gegen den Drang ankämpfen, Hals über Kopf aus diesem stickigen Loch zu fliehen. Raus hier, ehe es zu spät war – so wie damals beim Fresspriester am Nibra-Ufer.

Aber das ging vorbei, wie es jedes Mal vorbeigegangen war und auch künftig immer vorbeigehen würde – diese Gewissheit zumindest hatte ihm die Harmonika eingeflößt. Er musste nur durchatmen und weiter gar nichts machen, den Fluchtimpuls weder unterdrücken noch ihm nachgeben, dann war es nach allenfalls einer halben Minute vorbei. Nach ein paar Atemzügen nur, aber die fühlten sich jedes Mal an, als ob es seine allerletzten wären – von holprigem Herzschlag begleitet, von kaltem Schweiß und einem ekelhaften Gefühl nichtswürdiger Verlorenheit.

Obwohl es fast völlig dunkel war, bekam er mit, dass Calin ihn von der Seite beunruhigt ansah. Aber er tat einfach so, als könnte er es gar nicht erwarten, dass die Opferungen endlich losgingen. Ein Gutes hatte es jedenfalls, dachte Rabov, dass sie auch noch die Tür zugemacht hatten – solange die Vorführung lief, kam die Archäologin hier nicht raus.

Die Grube hatte einen Durchmesser von vielleicht vier Metern und war ungefähr ebenso tief. Auf dem Rand ringsherum lagen die verschnürten Opfer und spähten angstvoll zu der Speikadora hinab. Die Schlange musste gut und gerne drei Meter lang sein – und jeder einzelne Zentimeter bedeutete für die Opfer verlängertes Ankämpfen gegen den Erstickungstod.

Am Rand der Grube erschien nun der Vorführer in schwarzem Umhang und mit speckigem Lederhut. Fackeln waren in Brand gesetzt worden und beleuchteten das Gesicht eines dunkelhäutigen Noïliten, der bestimmt nicht viel älter als Rabov war, aber ausgemergelt und hohläugig wie der Tod selbst. Die rußschwarze Verfärbung seiner Zähne verriet, dass er gewohnheitsmäßig Trana-Nüsse kaute, deren Saft berauschend wirkte und gesunde junge Männer binnen weniger Jahre in kraftlose Knochenbündel verwandelte. Angeblich verbrachten die meisten Bewohner der Noïli-Inseln ihre Zeit damit, Trana-Nüsse zu kauen, selbstgebrannte Schnäpse zu trinken und sich gegenseitig mit Verwandlungs- und Zersetzungs-Lakori das Leben schwer zu machen. Die einzigen Ausnahmen von dieser traurigen Regel stellten die Angehörigen des Tuïbi-Stammes dar, zierliche, kleinwüchsige Menschen, die tief im Urwald auf der Noïli-Hauptinsel lebten. Allerdings bei weitem nicht tief genug, denn die Noïliten unternahmen regelmäßig Raubzüge in das Gebiet der Tuïbi und verschleppten unzählige junge Männer und Frauen, die ihnen fortan Sklavendienste leisten mussten. Auch die zusammengeschnürten Opfer am Rand der Kadoragrube waren allesamt junge Tuïbi-Sklaven, das hatte Rabov auf den ersten Blick gesehen. Obwohl Sklaverei in Dunibien seit fast zweihundert Jahren verboten war, drückten die Grenzbehörden beide Augen zu, wenn bakusische oder noïlitische Sklaveneigner mitsamt ihren zweibeinigen Besitztümern ins Königreich einreisen wollten. Vor allem bei den in Phora so beliebten Opferspektakeln kam man ohne Sklaven nun einmal nicht über die Runden – auch wenn die vermeintlich Todgeweihten selten mehr als ein paar Schrammen davontrugen.

Rabov war ein wenig übel, aber auch das würde vorbeigehen. Spektakel wie dieses hier hatte er in verschiedenen Varianten schon oft gesehen und sie hatten ihm allesamt aufs äußerste missfallen. Aber es gehörte nun einmal zu seiner Arbeit, derlei faulem Zauber beizuwohnen. Ob die betreffenden Rituale auf den Noïli-Inseln, in Zaketumesien oder wo auch immer noch in vollem Ernst ausgeführt wurden oder nicht, spielte dabei keine Rolle – wenn Ro Seelbitt sie in der Vipern-Bar vorführen ließ, waren sie bloß noch grausame Spektakel. Lebensgefährlich für die Beteiligten, atemberaubend für die Zuschauer – doch ohne jede tiefere Bedeutung.

»Meinä särr värrärrten Dammän und Härrn«, begann der Noïlite mit hartem Akzent zu schreien, »sähänn Sie jätzt dänn unglaublichänn Toddessprung därr Kadorra-Opfärrr, nach uraltärr Noïli-Zärrämonni originalistisch ausgäfürrt! Wir bäginnänn mit diesämm Tuïbi-Burschänn – odärr doch liebärr mit einämm blutig jungänn Tuïbi-Weib?«

Während er dies fragte, versetzte er einigen der verschnürt daliegenden Opfer Fußtritte und mühsam richteten sich zwei schmächtige Gestalten auf. Der Vorführer löste ihre Fesseln und ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen. »Erst das Mädchen!«, ließ sich eine Stimme aus dem Publikum vernehmen.

Der Noïlite deutete auf den Störenfried und zog ein finsteres Gesicht. »Noch ein Zwischänruff und ich lassä dich därr Kadorra opfärrn.«

Beklommenes Gelächter. So ganz sicher fühlten sich die Leute auf den Sitzbänken nicht und das gehörte zu dem rohen Spiel natürlich dazu.

»Zuärst därr Burschä«, entschied der Vorführer. Die beiden Opfer reichten ihm kaum bis zum Brustbein. Sie waren nackt bis auf einen Lendenschurz und von Kopf bis Fuß mit einer wachsartigen Substanz eingeschmiert. Aus der Ferne hätte man sie für Kinder halten können und doch waren es ausgewachsene Tuïbi. Kein durchschnittlich gebauter Noïlite oder Dunibier hätte auch nur die allerkleinste Chance besessen, einen solchen »Todessprung« einigermaßen heil zu überstehen.

Der Vorführer zog eine Knochenflöte unter seinem Umhang hervor und begann, eine Folge seufzerartiger Töne darauf zu spielen. Bis dahin hatte sich die riesenhafte Kadora in ihrer Grube kein einziges Mal geregt. Zu mehreren gewaltigen Wülsten ineinandergeringelt, hatte sie wie leblos da unten im Sand gelegen, doch bereits bei den allerersten Flötentönen wurde sie munter.

Ihr Kopf schnellte empor, der Hals blähte sich, zwei gelbe Augen sahen starr und wachsam zu dem Noïliten empor. Mit jedem weiteren Flötenton reckte sie sich höher zum Rand der Grube hinauf. Aufrecht wie ein Baumstamm stand sie schließlich da, nur das hintere Drittel ihres Leibes lag noch am Boden, beinahe wie zu einer Riesenfaust zusammengekrampft. Und dann riss die Schlange ihr Maul auf.

Sie hatte keinen einzigen Zahn im Rachen, wie Rabov das auch erwartet hatte. Der Vorführer blies unablässig weiter auf seiner Flöte, während der Tuïbi-Bursche seinen Lendenschurz abwarf und am Rand der Grube eine Haltung einnahm wie die Smaragdmuscheltaucher vor dem Sprung: den Oberkörper vorgebeugt, die Arme beiderseits des Kopfes vorgestreckt, jeder Muskel zum Zerreißen angespannt.

Und dann ein weiterer Flötenton, so schrill und spitz wie ein Schrei. Der Bursche stieß sich ab und sprang kopfüber in den Rachen der Kadora hinein. Die Schlange begann zu schwanken wie eine Pappel im Sturm, doch einige unwirklich sich hinziehende Augenblicke lang blieb sie noch aufrecht stehen. So konnte jeder im Publikum klar und deutlich sehen, wie der Bursche im Innern der Kadora eilends hinabglitt. Der nachgiebige Schlangenleib wölbte und beulte sich unter seinen Bewegungen, die ein wenig an Schwimmzüge erinnerten und ein wenig an das Hangeln von Salamandern an senkrechten Felswänden.

Unaufhörlich spielte der Noïlite auf seiner Knochenflöte. Als die Schlange in sich zusammenzusinken begann, hatte sich der Tuïbi-Bursche durch den aufgerichteten Teil ihres Leibes fast vollständig hindurchgekämpft. Nun stand ihm allerdings noch das letzte Drittel bevor und nur wenn er nicht allzu sehr an Geschwindigkeit verlor, konnte er es noch schaffen. Er war jetzt schon weit über eine Minute im Innern der Kadora und die Atemluft musste ihm bereits elend knapp geworden sein.

»Wie grauenvoll«, flüsterte Calin in Rabovs Ohr. »Sie frisst ihn auf – und wir schauen zu!«

»Er schafft das schon, keine Sorge«, wisperte Rabov zurück. »Nur den Gestank wird er nie mehr los.« Er grinste sie an, doch ihre Miene blieb ernst und angespannt.

Die Kadora lag in der Grube und wand und krümmte sich nach Kräften. Sie krampfte und knotete sich zusammen, aber der junge Tuïbi bahnte sich unbeirrt seinen Weg durch ihre Gedärme. Das Tuïbi-Mädchen stand oben am Rand der Grube und sah mit ängstlicher Miene auf die Kadora herunter, aus deren hinterem Ende in diesem Moment etwas Kugelrundes hervorgeglitscht kam – der Kopf des jungen Tuïbi, über und über mit Kadorakot verschmiert. Er keuchte und hustete und kämpfte sich dabei weiter aus dem Muskelwulst hervor. Der Vorführer flötete einen Willkommenstriller, das Tuïbi-Mädchen stieß kleine Glücksschreie aus. Und noch während ihr Gefährte dort unten in der Grube lag, zu entkräftet, um sich auch nur auf allen Vieren davonzuschleppen, begann die nächste Runde des Spektakels. Der Vorführer flötete, die Kadora richtete sich abermals auf und klappte ihr Maul auf, die junge Sklavin warf ihren Lendenschurz ab und nahm Klippenspringerhaltung ein. Im nächsten Moment schoss sie kopfüber in das Schlangenmaul hinab und Rabov flüsterte Calin ins Ohr:

»Noch ein Traum, vorhin erst – fällt mir gerade wieder ein: Ich war mit Zoran in einer Membran wie die in den Schutzräumen, und mit diesem Ding sind wir zum Meeresgrund unter Phora hinuntergetaucht – leider genau in das Maul eines gigantischen Seeungeheuers.«

Was dann geschah, schien gleichfalls viel eher einem seiner Träume anzugehören, und doch war es unzweifelhafte Wirklichkeit. Calin fuhr herum und presste sich an ihn. »Ist das wirklich wahr?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Ist was wahr?«

»Na, dass du das alles gesehen hast – mit dem Meer unter Phora, der Seeschlange und der ›Membran‹, wie du das Ei genannt hast.«

»Meinetwegen auch Ei.« Er konnte kaum glauben, was hier zwischen ihnen passierte. Behutsam legte er zwei viel zu lange Holzarme um sie und sie ließ es geschehen. »Klar, ich hab das genau so geträumt«, flüsterte er zurück. »Aber warum willst du das wissen?«

Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an. »Ich glaube, das war kein Traum, Sammo – das war eine Vision.«

»Eine Vision?« In seinem ganzen Leben hatte ihn erst genau dreimal ein Gesicht überkommen, das diesen Namen auch wirklich verdiente. Eine halbwegs klar umrissene Botschaft aus der anderen Welt – und kein einziges Mal war ihm eine solche Vision im Schlaf zuteilgeworden. Natürlich wusste er, dass so etwas vorkam, und zwar nicht einmal allzu selten, aber ihm selbst war es bisher noch nie passiert. Warum also gerade jetzt?

»Eine hochkarätige Vision, es kann gar nicht anders sein«, flüsterte Calin. Selbst in dem flackrigen Dämmerlicht, das die Fackeln vom Grubenrand zu ihnen herüberfunzelten, sah er, dass ihre Augen wieder jenen Fieberglanz angenommen hatten. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging viel schneller als gewöhnlich. »Genau das«, hauchte sie, »ist nämlich schon mal passiert. Oder nicht ganz genau das – aber du bist unglaublich nah dran, Sammo. Auch damals hat jemand das Ganze erst in einer Vision erblickt, bevor er da in Wirklichkeit runter ist.«

»In Wirk…?« Er brach mitten im Wort ab. Er starrte Calin an und in seinem Kopf wirbelten nur noch Gedankenfetzen im Kreis. Nichts, was auch nur den geringsten Sinn ergeben hätte – außer ihnen beiden, die sich umarmten, einander in die Augen sahen.

Doch gleich darauf löste sich Calin schon wieder aus seinen Armen. »Wir reden später weiter, Sam. Dann musst du mir auch noch erklären, wer dieser Zoran ist.«

Er schüttelte bloß den Kopf – nicht als Verneinung, sondern wie ein Boxer, der einen Schlag aufs Kinn abbekommen hat. Mechanisch sah er weiter dem Opferspektakel zu – nun waren es bereits zwei Riesenkadoras, nebeneinander in der Grube aufgerichtet, und zwei weitere Tuïbi-Sklaven glitten und hangelten sich um die Wette durch die Schlangenleiber hindurch. Das Publikum schrie »Ah!« und »Oh!«, die Flöte trillerte, die Tuïbi am Grubenrand feuerten ihre Gefährten in den Kadora-Eingeweiden mit rhythmischen Schreien an. Aber Rabov nahm das ganze abscheuliche Schauspiel nur noch wie Schattengegaukel wahr. So als ob er selbst längst auf der anderen Seite wäre. In die zweite Welt endlich doch noch hinübergegangen, in die es ihn so gebieterisch zog, seit er zum ersten Mal jenen Schmerz verspürt hatte. Und vor der er seither doch immer wieder zurückgewichen war.

Schließlich ging das Licht über den Sitzbänken wieder an. Einige Zuschauer hatten das Bewusstsein verloren, andere es zeitlebens nie erlangt. Einige waren grün im Gesicht, andere besorgniserregend rot. Und der Platz ganz oben links, wo Lona Markan gesessen hatte, war leer.

11

vigHektisch sah sich Rabov nach allen Seiten um. Die Tür zu ihrem Spektakelsaal war noch nicht geöffnet worden, Lona Markan musste also noch irgendwo hier drinnen sein. Er gab sich alle Mühe, sich einzig auf diese Aufgabe zu konzentrieren und nicht daran zu denken, was Calin eben zu ihm gesagt hatte. Geschweige denn daran, was zwischen ihnen beiden gerade passiert war. Ihre Worte ergaben sowieso nicht den geringsten Sinn für ihn – oder jedenfalls keinen, den er in diesem Moment in sich einsickern lassen wollte.

Die Opferschau war zu Ende, die Leute erhoben sich von ihren Sitzen und drängelten auf den Ausgang zu. Der Noïlite am Rand der Schlangengrube trieb derweil derbe Scherze mit den besudelten Schlangenspringern: Zur Belustigung des Publikums stieß er sie in einem schwappend vollen Bottich und tauchte sie ein ums andere Mal unter.

Der Gestank nach Schlangenkot war kaum zu ertragen. Alle machten nun, dass sie aus dieser Kloake wieder rauskamen – alle bis auf die Frau im dunkelgrünen Kleid, die Rabov auf einmal in seinen Augenwinkeln auftauchen sah.

Sie wühlte sich durch die Menge, verschwand kurzzeitig aus Rabovs Blickfeld und tauchte dann am hinteren Rand der Grube wieder auf, schwankend, als hätte sie tatsächlich ein paar Noïli-Schnäpse zu viel gekippt. Ihre Augen waren weit geöffnet, doch ihr Gesicht wirkte noch immer puppenhaft starr.

Da plötzlich begriff Rabov, was mit der jungen Archäologin los war. Die Kräfte ihres Dunkeldu waren kurz davor, die Kontrolle zu übernehmen. Das Lichtich der Magistra kämpfte seinen letzten Kampf.

Noch während er das dachte, setzte sich Rabov in Bewegung. Die beiden Speikadoras in der Grube waren noch wach und munter und vor allem waren sie ausgehungert und erzürnt, weil ihnen ein Happen nach dem anderen durch die Lefzen geflutscht war. Ihre Köpfe waren aufgerichtet, die grün-gelb getüpfelten Hälse zu furchterregenden Fächern aufgebläht. Was auch immer sie nun zwischen ihre Kiefer bekämen, sie würden es nicht entwischen lassen.

Gegen die zum Ausgang drängende Menschenmenge kämpfte sich Rabov auf die Grube zu. Der Vorführer im schwarzen Umhang hatte einzig Augen für seine beiden nackten Tuïbi-Sklavinnen, die er wieder und wieder im Bottich untertauchte. Auch als Rabov den Grubenrand erreicht hatte, sah der Noïlite nur flüchtig zu ihm auf.

Rabov balancierte an ihm vorbei, auf dem schmalen Zwischenraum zwischen der ersten Sitzreihe und der senkrecht abfallenden Grubenwand. Die Kadoras richteten sich noch höher auf und zischten abwechselnd zu ihm und Lona Markan hin. Rabov sah die gelben Augenschlitze, die furchterregend großen Mäuler kaum einen Meter unter seinen Füßen und er dachte, wenn es die Biester darauf anlegten, könnten sie mit einem Satz zu ihm oder zu Lona Markan emporschnellen und ihre Beute in die Grube hinunterziehen.

»Lona«, sagte er so ruhig wie möglich (und das war allerdings nicht allzu ruhig). Er hatte eigentlich vorgehabt, »Magistra Markan« zu sagen, und sich im letzten Moment für die intimere Anrede entschieden.

Die Archäologin hatte bis dahin nur geistesabwesend in die Grube hinabgestarrt, jetzt kniff sie die Augen zusammen und sah sich um.

»Lona«, wiederholte Rabov, während er weiter am Grubenrand entlangbalancierte. Sie sah durch ihn hindurch und schüttelte den Kopf. »Ich bin es doch, Lona«, sagte Rabov, »ein Freund. Warte auf mich.«

Aber sie – ihr Dunkeldu – dachte gar nicht daran, auf ihn zu warten. Er war noch gut und gerne drei Meter von ihr entfernt, als sie die Arme emporstreckte und seitlich an ihren Kopf anlegte, wie sie es eben bei den Opferspringern gesehen hatten.

»Tu das nicht, Lona«, sagte Rabov. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn für die Stimme ihres Gewissens oder irgendeiner sonstigen Instanz halten würde, der sie Gehorsam schuldig war.

Doch mit wem auch immer sie ihn in ihrem lakoriverdunkelten Geist verwechseln oder vermengen mochte – er hatte anscheinend keinerlei Einfluss auf sie. Lona Markan beugte ihren Oberkörper vor und sprang.

Im gleichen Moment warf sich Rabov nach vorn. Er machte einen gewaltigen Satz, streckte im Flug die Hände so weit wie überhaupt möglich nach ihr aus und bekam Lona Markan an den Fußknöcheln zu fassen. Bäuchlings krachte er auf den holzverschalten Grubenrand und hatte seine liebe Mühe, sich mit Knien und Fußspitzen im Boden festzukrallen, damit sie ihn nicht mit sich hinunterriss. Währenddessen hing die Magistra kopfüber in der Grube und ihr dunkelgrünes Kleid wehte wie Farnwedel an ihr herab und entblößte sie von der Taille auf- oder, im Moment zumindest, eher abwärts. Sie trug Männerunterwäsche, derbe, knielange Unterhosen, und das verblüffte Rabov so sehr, dass er für einen Moment alles andere vergaß. Doch dann richtete er sich auf seine Knie auf und zog sie mit Schwung aus der Grube heraus, gerade als sich die beiden Kadoras anschickten, den Kopf der Magistra zwischen ihren enormen Kieferknochen zu zerknacken.

Kurz darauf kniete Rabov neben Lona Markan und gab ihr unaufhörlich Backpfeifen, aber es half nichts. Sie lag mittlerweile der Länge nach auf einer Sitzbank oberhalb der Schlangengrube, wohin er sie mit Calins Hilfe mehr geschleift als geleitet hatte. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum passierte.

»Hast du schon mal jemanden gesehen«, fragte er Calin, »der von seiner Lakori zerstört worden ist – an Geist und Seele?« Er selbst hatte schon mehrfach miterlebt, wie magisch begabte Personen von ihrem Dunkeldu innerlich zerfressen worden waren. Wer seine Lakori nicht mehr unter Kontrolle hatte, glich auf den ersten Blick einem gewöhnlichen Verrückten, der beispielsweise an Spaltungsirresein litt. Nur mit dem Unterschied, dass in der Umgebung des einen wirklich passierte, was sich der andere nur einbildete.

Calin saß neben der Markan auf der Bank und streichelte ihr geistesabwesend übers Haar. »Gesehen noch nicht, aber ich habe davon gelesen«, sagte sie. »Was machen wir jetzt mit ihr?«

»Wir bringen sie zu mir«, schlug er mit gedämpfter Stimme vor. »Ich weiß schon, das wäre nicht so ganz nach der Vorschrift – eigentlich müssten wir sie ins Untersuchungsgefängnis schaffen. Aber das ist nun mal zufällig am Zolltor, und ehrlich gesagt, Calin – was heute am Boulevard der Morgenröte passiert ist, hat mein Vertrauen in Ralla und seine Leute nicht gerade gestärkt. Wenn er Lona Markan in die Hände kriegt, lässt er sie einfach für verrückt erklären und wir bekommen nie mehr Gelegenheit, auch nur mit ihr zu reden.«

Ein paar Schritte neben ihnen ging der Noïlite im schwarzen Umhang auf und ab und schielte düster zu ihnen herüber. Zweifellos hoffte er, dass die Frau, die beinahe von seinen Kadoras gefressen worden wäre, baldmöglichst wieder zur Besinnung käme, damit die nächste Vorführung beginnen konnte. Außer ihnen war zurzeit niemand im Saal – abgesehen von den Schlangen in der Grube und den Tuïbi-Sklaven, die fix und fertig verschnürt und eingeschmiert oben am Grubenrand lagen. Die Tür zur Vorhalle war auf Calins Bitte hin verschlossen worden, doch von draußen war vernehmliches Rumoren zu hören. Lange ließen sich die Wartenden bestimmt nicht mehr hinhalten – zumal Rabov und Calin einfach behauptet hatten, dass sie Freunde von Lona Markan wären. Schließlich musste Rabov seine Tarnung bewahren. Wenn er sich an einem solchen Ort als königlicher Spezialagent zu erkennen gäbe, wäre er für den Mysto-Posten erledigt.

Calin schüttelte den Kopf. Sie sah mit einem Mal sehr besorgt aus. »Ich weiß zwar nicht, was da draußen bei Hergo noch so alles passiert ist«, sagte sie, »aber das spielt jetzt auch keine Rolle.« Er machte den Mund auf, um zu protestieren, doch Calin ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Hör mir zu, Sam«, sagte sie.

Er hob die Augenbrauen. »Ich höre«, sagte er.

»Sie warten nur auf eine Gelegenheit, um dich abzuschießen«, sagte Calin. »Ich dachte, das hättest du kapiert?«

»Geahnt – das schon. Aber auch darüber …«

Unvermittelt schnellte Lona Markan hoch, rempelte Rabov gegen die Brust und sprang auf.

»… reden wir besser später«, vollendete Rabov nach einem kleinen Japser. »Wenn wir die liebe Lona in dein Dampfmobil verfrachtet haben.« Beinahe wäre er hintenübergekippt, so wuchtig hatte ihm die Archäologin aufs Brustbein gehauen.

Lona Markan stürzte auf den Noïliten zu, wobei sie wie eine zaketumesische Raubkatze knurrte. Der Vorführer wich ihr mit einem ungelenken Sprung aus und da packte Magistra Markan in den Ausschnitt ihrer Rüschenbluse und zog ein Messer mit funkelnd schwarzer Klinge hervor.

Es war eines der scharfzackigen Vulkansteinmesser, wie es die Moliaren für jede Gelegenheit verwendeten – im Zweikampf, bei Opferungen oder zur Schlachtung eines Beutetiers. Und wen oder was auch immer Lona Markan vor ihrer Klinge zu haben glaubte – knurrend und schnaubend hetzte sie hinter dem Noïliten her, der mit wehendem Umhang auf den Sitzbankreihen aufwärtsstob. Der Hut fiel ihm vom Kopf und entblößte einen haarlosen Schädel, der mit dem Muster einer Gittermakuba tätowiert war.

Nach einem kurzen Moment des Erschreckens eilte Rabov hinter den beiden her. Der Vorführer keuchte bereits und rang taumelnd um sein Gleichgewicht, während ihm Lona Markan mit kraftvollen Sprüngen nachsetzte.

Dann verfing sich der Noïlite mit dem Fuß zwischen zwei Bänken und damit war die Jagd auch schon vorbei: Die Forscherin warf sich auf ihn und riss ihn vollends von den Beinen. Im nächsten Moment drückte sie das Messer an seine Kehle. »Sag mir die Formel«, schrie sie, »oder ich schneid dir den Kopf ab!« Der Noïlite rollte nur mit den Augen. »Ich weiß genau«, gurgelte die Forscherin, »dass du Gol alles verraten hast – also sag’s mir auch!«

Sie presste ihm das Messer in den Hals. Rabov, der sich an die beiden herangeschlichen hatte, sah, wie das Blut des Vorführers unter der schwarzen Klinge hervorquoll.

Der Noïlite sah flehentlich zu ihr auf. »Bittä, wärr ist Gol?«, krächzte er.

Er bekam keine Antwort. Doch sehr viel interessanter war sowieso die Frage, wen Lona Markan da unter ihrem Messer zu haben glaubte.

Rabov nestelte das königliche Zeichen unter seinem Umhang hervor. Er hatte nur wenig Mitleid mit dem Sklavenschinder, aber wenn er jetzt zuließ, dass die Archäologin einen hundsgewöhnlichen Mord beging, dann würde er seine einzige Tatverdächtige vollends an die Zolltorwache verlieren.

Er unterdrückte ein Seufzen und ließ die Silbersichel aufblitzen – bereits zum zweiten Mal an diesem Spätsommertag im Jahr 713 nach der Flut.

12

vigCalin hatte ein maskenhaftes Lächeln aufgesetzt, während Rabov es lieber mit verschwörerischem Zwinkern versuchte. Mit Müh und Not war es ihm gelungen, die erstarrte Magistra so zurechtzubiegen, dass sie sich ihre Arme über die Schultern hängen konnten – Calin links, Rabov rechts. Im letzten Moment hatte Calin ihr noch den Noïli-Hut des Vorführers aufgesetzt und so tief in die Stirn geschoben, dass die Murmelaugen der Markan von der Krempe verschattet wurden.

Sie stießen die Tür zur Vorhalle auf und fanden sich einer Traube von Schaulustigen gegenüber. »Kann man da endlich mal rein?«, schrie jemand.

»Das musst du den Vorführer fragen – das heißt, wenn du ihn wachgerüttelt kriegst«, gab Rabov zurück. »Wir haben mit seiner Zechkumpanin schon genug zu tun.« Er zwinkerte und die Leute gaben ihnen widerwillig den Weg frei.

»Platz machen«, rief Rabov alle paar Schritte, während sie sich zur Treppe vorarbeiteten. »Diese junge Dame hier muss dringend mal an die frische Luft.«

»Ein paar Schnäpse zu viel, wie?«, hörten sie im Vorübergehen. »Sieht mir eher nach Trana-Rausch aus«, mutmaßte ein anderer Nachtschwärmer.

Immerhin kamen sie recht gut voran. Die Treppe hinab, dann unten durch die weite Halle, immer am endlos sich schlängelnden Spiegeltresen entlang. Und wieder verdrehten sich sämtliche Zecher die Hälse und starrten Calin wie eine Erscheinung aus Linglus Sieben Himmeln an.

Sie waren höchstens noch ein Dutzend Schritte von der Eingangstür entfernt, als Rabovs Blick auf einen schmalen Mann mit sonnengelbem Umhang fiel. Der Ragadhani-Priester, dachte er und diesmal erkannte er den Burschen auch – es war einer der Männer, die im Tempelzelt neben Radschi Varusa auf dem Sockel gehockt hatten. Was um Linglus willen hatte dieser Priester hier in der Vipern-Bar zu suchen?

Während sie die Archäologin auf die Tür zuschleiften, behielt Rabov den Schlangenpriester im Auge. Der Bakusier schlenderte umher und sprach scheinbar wahllos andere Barbesucher an. Er zeigte ihnen ein Blatt Papier mit einer Zeichnung darauf und redete auf sie ein und sie hörten ihn an und schüttelten dann den Kopf.

Mit der Schulter drückte Rabov die Eingangstür auf. Der verfluchte Priester sucht nach Zoran, dachte er und erschrak so sehr, dass er für einen Moment verschwörerisch zu zwinkern vergaß. Calin dagegen lächelte noch immer und für Rabov sah es beinahe so aus, als ob sie anfinge, ihr kleines Abenteuer zu genießen. Er grinste ihr zu und ob er wollte oder nicht – sein rechtes Augenlid zuckte konspirativ.

Obwohl es schon weit nach Mitternacht sein musste, war der Platz vor den Sieben Vipern mit Nachtschwärmern übersät. Etliche Zecher lagen friedlich schlafend auf dem Boden, andere krochen auf allen Vieren in Schlamm und Pfützen umher.

»Wie weitsichtig von dir, bis vor die Tür zu fahren«, sagte Rabov.

»Umsomehr«, gab Calin zurück, »als du jetzt ja eigentlich einen eigenen Dienstwagen hast – und sogar mit Fahrer.«

Darauf antwortete er erst einmal gar nichts mehr. Mit dem Kopf voran verfrachteten sie Lona Markan auf die Rückbank. Sie war mittlerweile steif wie eine Leiche, aber glücklicherweise passte sie gerade so der Länge nach in den Fond des Dampfmobils.

Mit Donnern und Zischen fuhr Calin los. Im Schritttempo krochen sie die schlammige Gasse hinauf. Immer noch kamen ihnen Mengen von Leuten entgegen, die anscheinend den Rest der Nacht in den SIEBEN VIPERN verbringen wollten.

»Zoran ist übrigens der Junge, den ich vor der hungrigen Gottheit Ragadhani gerettet habe«, sagte Rabov leicht verspätet. »Aber jetzt erst mal zu den ominösen Herrschaften, die nur auf eine Gelegenheit warten, mich loszuwerden. Oder reden wir lieber vorher noch über Sola?« Er atmete tief ein und wieder aus. »Aber vielleicht ist das sowieso ein und dasselbe Thema?«

Er legte eine Pause ein, doch von Calin ließ sich nicht anmerken, was sie von seinen Andeutungen hielt. Sie sah nur starr auf die nachtdunkle Straße hinaus und auf einmal kamen Rabov wieder Zweifel, ob er Calin wirklich vertrauen durfte. Aber wenn er ihr nicht trauen durfte, wer auf dieser Welt blieb dann überhaupt noch übrig? »Also doch erst mal zu Port«, fuhr er fort. »Heute Nachmittag hat er diese Schlange – du weißt schon – entkommen lassen. Er hatte das Biest bereits geschnappt, aber dann hat er es entwischen lassen und mir anschließend vorgelogen, dass es schon weg gewesen wäre.« Er sah Calin von der Seite an. »Hältst du es für möglich, dass Sola … dass er ein Loyalitätsproblem hat?«

Noch mehrere Minuten lang sah Calin einfach starr nach vorn auf die Straße und schwieg. Sie ließ sich nicht einmal anmerken, ob sie seine Frage überhaupt gehört hatte, und Rabov machte sich schon mit dem Gedanken vertraut, dass er keine Antwort mehr bekommen würde. (Was allerdings auch eine Antwort wäre.)

Doch dann bogen sie in den Zolltorplatz ein und Calin sagte: »Das stimmt, Sam, und auch wieder nicht. Es gibt in der Horch-Loge unterschiedliche Positionen – du hast ja gehört, was Milar heute dazu gesagt hat. Und Ports – sagen wir – geteilte Loyalität hat damit zu tun.«

Sie stoppte den Wagen vor der Zolltorwache und das Donnern und Zischen der Dampfmaschine erstarb. Aber Calin blieb sitzen, wo sie saß, sah auf den schummrig beleuchteten Platz hinaus und verfiel abermals in Schweigen. Rabov spürte ihre Angst und hasste sich dafür, dass er sie unter Druck setzte. Aber es ging nicht anders – damit er in dieser Schlangen-Sache weiterkam, und genauso um ihrer beider willen. Er war bereit, ihr bedingungslos zu vertrauen, alle ihre Befehle auszuführen, vielleicht sogar dann, wenn sie ihn mitsamt jenem »Ei« ins Herz der subphoräischen Finsternis hinabschicken würde. Aber dafür musste sie auch ihm jetzt ein wenig Vertrauen schenken.

»Bitte unterbrich mich, wenn ich etwas Falsches sage«, begann er aufs Neue und schaute wie Calin starr nach vorn. »In der Horch-Loge gibt es also zwei Gruppen – nennen wir sie die Maschinenbrüder und die Schlangenmänner. Zu der einen Fraktion gehören …«

Calin hob ruckartig eine Hand und Rabov fiel sich selbst ins Wort. »Keine Namen, du hast recht. Die einen also haben die Erlaubnis zum Bau von selbstbewegten Maschinen durchgesetzt, die anderen haben den König dazu gebracht, den Schlangenkulten Religionsfreiheit zu gewähren. Die Maschinenbrüder halten es für abergläubischen Unsinn, dass Linglu uns alle mit einer neuen Großen Flut bestrafen wird, wenn wir in diesem Punkt seine Gesetze missachten. Die Schlangenmänner haben da ihre Zweifel und obwohl es ihnen angeblich um die Bekämpfung des Aberglaubens geht, haben sie letztlich aus einem ganz anderen Grund Freizügigkeit für die Schlangenkulte vorgeschlagen – weil sich die Große Flut nach den alten Offenbarungen dadurch ankündigen wird, dass die Schlangen aus ihren nassen Nestern ans feste Land kommen.« Er unterbrach sich und sah Calin von der Seite an. »Liege ich so weit einigermaßen richtig?«

Calin senkte den Kopf zu einem kaum merklichen Nicken. Rabov hätte sie am liebsten auf ihren Mund geküsst, der im Halbdunkel des Dienstmobils verlockend zu ihm herüberschimmerte. Aber das kam leider nicht infrage – schon allein deshalb, weil sie vor der Zolltorwache standen und die Polizisten hinter den Erdgeschossfenstern wie auf einer trüb erhellten Puppenbühne auf- und abschreiten sahen. Jeden Moment konnte einer von ihnen einen Blick aus dem Fenster werfen und die beiden Gestalten im Dampfwagen bemerken – Rätin Stingard und Mysto-Leiter Rabov beim nächtlichen Stelldichein.

»Und die Maschinenbrüder«, fuhr er fort, »befürchten nun, dass sich die Stimmung in Phora und im ganzen Reich gegen die neue Maschinenpolitik des Königs wenden könnte, nachdem wir es ausgerechnet jetzt auch noch mit diesen ominösen Schlangenzauber-Verbrechen zu tun haben – ein unglücklicher Zufall, wie sie es sehen. Und sie befürchten außerdem, dass ich dieser unliebsamen Entwicklung Vorschub leisten könnte, indem ich die Schlangen-Morde aufbausche, anstatt sie möglichst still und leise zu den Akten zu legen, bevor die Öffentlichkeit und vor allem die Zeitungen davon Wind bekommen. Und deshalb haben sie mir Port Sola zur Seite gestellt: damit er – sagen wir – diskrete Korrekturen vornimmt, wenn meine Ermittlungen einen unerwünschten Verlauf zu nehmen drohen.«

Abermals atmete Rabov tief durch. Sollte er derlei Vermutungen jemals wiederholen, hatte Milar in der Felsenkammer zu ihm gesagt, so wäre er ein toter Mann. Aber das konnte doch nicht für ein Zwiegespräch mit seiner direkten Vorgesetzten gelten – unter vier Augen, wenn man das murmelstarre dritte Augenpaar im Wagenfond außer Acht ließ.

Calin drehte sich zu ihm, soweit ihr das, eingepfercht zwischen Lenkrad und Tentakelgestänge, überhaupt möglich war. »Das scheint mir eine halbwegs brauchbare Hypothese zu sein.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch im nächsten Moment wieder erstarb. »Aber das Ganze ist viel komplizierter, als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, Sam: Hinter beiden Seiten steht ja letzten Endes wieder der König.«

Darüber dachte Rabov einen Augenblick nach. »Und wenn er sich irgendwann für eine von beiden Seite entscheiden muss – welche wird Sorno deiner Meinung nach wählen?«

»Gütiger Linglu«, sagte Calin. »Dafür sind wir ja schließlich da – damit es so weit niemals kommt.« Sie berührte Rabovs linke Hand ganz kurz mit ihrer kühlen, schmalen Rechten. »Und nun lass uns der armen Frau da hinten ein etwas bequemeres Bett besorgen.« Sie stieß ihre Tür auf. »Keine Sorge, Sam – ich rede mit Ralla oder seinem diensthabenden Offizier: Magistra Markan ist deine Tatverdächtige und darf ausschließlich von der Mysto verhört werden.«