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vigAuf dem Schindanger vor dem Schiffstor von Phora baute ein bakusischer Zirkus seine Zelte auf und damit begannen Samu Rabovs Probleme. Jedenfalls sollte er auch später noch hartnäckig an dieser Version festhalten.

In Wahrheit hatten seine – und keineswegs nur seine – Schwierigkeiten lange vorher angefangen. Jahre zuvor, an einem von Schlingpflanzen mit fleischigen Blättern und tiefgründigen Blüten (schorfroten, mitternachtsblauen) überwucherten Ort im zaketumesischen Nebelwald, dessen Name Rabov damals nicht einmal hätte buchstabieren können.

Naxoda. Gesprochen, unerwarteterweise: Nachkodá.

Es war ein Spätsommertag im Jahr 713 neuer Zeit. Die Einwohner von Phora, Hauptstadt des Vereinigten Dunibischen Königreichs, dämmerten oder delirierten in der drückenden Schwüle, je nach Herkunft und Temperament. Auch Samu Rabov hatte gerade erst seinen Frühstückstee geschlürft, dabei schlug die lärmende Pendeluhr neben der Tür zu seinem »Ladenlokal« bereits halb zwölf. Aber seine Klienten, sofern sich überhaupt welche blicken ließen, rüttelten selten vor Sonnenuntergang an seiner Tür.

Mit eingezogenem Kopf stand Rabov unter der niedrigen Decke seines notdürftig möblierten Hinterzimmers, das ihm als Wohn- und Schlafraum diente, außerdem als Büro, in dem er die meist tadelnswert hingeschluderten Berichte für seine Vorgesetzte Calin Stingard verfasste. Er klopfte die Taschen in seinem schlammfarbenen Überwurf ab, wobei er aus reiner Gewohnheit seufzte – alles, was er für die anstehende Ortsbegehung brauchte, trug er wie üblich bei sich. Eine Handvoll dunibische Kronen und Groschen, um die Zirkusleute für sich einzunehmen. Seine unverwüstliche Kladde, kaum größer als sein Handteller und in Reptilienhaut gebunden, nebst angespitztem Stift. Außerdem natürlich die silberne Anstecknadel, gekrümmt und bleich wie die Mondsichel kurz vor dem Verblassen, die ihn als königlichen Spezialagenten auswies. Aber dieses Erkennungszeichen, bei dessen Anblick selbst gesetzestreuen Dunibiern das Blut aus den Backen sackte, trug Rabov stets tief im Innern seines Überwurfs, praktisch schon unter der linken Achsel. Nur im äußersten Notfall ließ er das furchteinflößende Gestirn aufblitzen. Bisher war es ihm fast immer gelungen, seine Gegenüber auf andere, weniger verstörende Weise davon zu überzeugen, dass sie zu ihrem eigenen Besten mit ihm kooperieren sollten. Durch einige wohlgewählte Worte oder notfalls durch ein wenig Magie.

Nicht, dass Samu Rabov über staunenswerte magische Kräfte verfügt hätte. Es reichte gerade so eben, um ein paar Gedanken zu lesen, hier und da einen verschwommenen Blick in eine mögliche Zukunft zu erhaschen oder dem Willen widerborstiger Klienten einen schwachen Schubs zu versetzen. Hätte er mehr magische Macht besessen, so hätte sich Calin Stingard nie und nimmer dafür eingesetzt, dass ihm vor bald drei Jahren die Leitung der Königlichen Ermittlungsstelle für Mysteriöse Todesfälle (kurz Mysto) übertragen worden war. Davon war Rabov jedenfalls überzeugt und damit befand er sich auch in allerbester Gesellschaft: Die Verfasser sämtlicher Lehrbücher, die er damals studiert hatte, um die nötige Qualifikation für den Mysto-Posten zu erwerben, warnten vor leichtfertiger Stärkung des Dunkeldu. Je höher die magische Begabung einer Person, desto kraftvoller ihr Dunkeldu und desto schwächer die Persönlichkeitsseiten, die in den Lehrbüchern als Lichtich verherrlicht wurden – Vernunft, Logik, Gewissen. Mehr als einmal hatte Calin Stingard durchblicken lassen, dass Rabov nicht zuletzt deshalb sogar hochkarätige Konkurrenten ausgestochen hatte – weil er neben schwachen magischen Fähigkeiten eine eiserne Selbstkontrolle und unbeirrbares analytisches Denkvermögen besaß. Tückische Zungen zischelten allerdings bis heute von gänzlich anderen Beweggründen der einflussreichen jungen Frau aus dem Ministerium für Innere Angelegenheiten des Dunibischen Königreichs. Nach dieser rufmörderischen Version verdankte Samu Rabov seine Ernennung zum Leiter der Mysto einzig und allein der Tatsache, dass er vor vier Jahren für kurze Zeit Calin Stingards Liebhaber gewesen war.

Frechheit, dachte Rabov. Missgünstiges Geschwätz. Wenn diese Vipern wüssten, was es hieß, Calin Stingard zu lieben. In ihren moosfarbenen Augen zu versinken, in ihrem Lächeln, ihren innigen Umarmungen. Gütiger Linglu! Auf der Stelle würde er noch heute den so hart erkämpften Posten mitsamt allen fragwürdigen Vorrechten wieder aufgeben, wenn er dafür bloß wieder unter Calin Stingards rohseidenen Himmelbettvorhang schlüpfen dürfte.

Er seufzte von neuem. Zumindest war er für heute Abend mit Calin verabredet, wenn auch natürlich nur dienstlich. Und damit dieses Treffen möglichst harmonisch verlief, sollte er sich nun endlich auf den Weg machen – bei klebrig feuchter Hitze bis zum anderen Ende der Stadt, wo der Zirkus die Uferwiesen zweifellos bereits in eine halluzinatorische Karawanserei verwandelte.

Jedenfalls, wenn dem Geraune der Hellseherin Selda zu trauen war. Schon vorgestern Abend hatte sie an seine Tür geklopft und ihm den von Südwesten sich herbeiwälzenden Tross mit erschöpfender Ausführlichkeit geschildert. Zahnarm nuschelnd, unter gelegentlichem Gliederzucken, die Augen mal zusammengekniffen, dann wieder alarmierend weit aufgerissen, hatte sie ihm jede einzelne Pferdekutsche, sämtliche Lastkarren und bunt ausstaffierten Reitakrobaten beschrieben. Und natürlich war Selda zu trauen – Rabov konnte sich an keinen einzigen Fall erinnern, in dem die Voraussagen der mageren Alten mit dem knorpelverwucherten Gesichtskrater nicht mehr oder weniger eingetroffen wären. Ihre Nase mochte Selda durch einen Anschlag verloren haben, über dessen genauere Umstände ihr nichts zu entlocken war. Doch ihr übersinnlicher Riecher für ins Haus stehenden Ärger war desto ausgeprägter und Rabov schalt sich, weil er nicht schon gestern oder zumindest heute früh zum Schiffstor hinausgefahren war, um die Zirkusleute aus Bakus in Augenschein zu nehmen.

Schuld war die Schwüle. (Und die Schlangen.) Angeblich war diese regenträchtige Wärme überhaupt erst mit der Zeitenwende in die einst sandig trockene phoräische Tiefebene gekommen, als Folge der Großen Flut. Aber obwohl sich die Leute über das mit jedem Tag noch widerwärtigere Wetter mit Feuereifer die Mäuler zerrissen, wusste im Grunde keiner darüber Bescheid. Jedenfalls niemand, der sich in den überfüllten Wirts- und Kaffeehäusern in der Altstadt von Phora herumtrieb, wo Samu Rabov in einem Kellerloch hauste.

Sammo, wie Calin ihn einst genannt hatte. Zärtlich oder neckend, an seine Seite geschmiegt oder sogar – das allerdings nur ganz selten – wenn sie ihn vom Ministerium aus angerufen hatte. Ah, dies süße Rieseln, wenn er das Hörrohr an sein Ohr gedrückt und mit ungläubigem Entzücken ihre Stimme gehört hatte, die seinen Kosenamen durch die Leitung keckerte. Sammo, mein Liebster. Vorbei, für immer vorbei!

Nein, nur vorübergehend, berichtigte er sich, während er mit drei raschen Schritten seinen »Laden« durchmaß, ohne den von allen Wänden glotzenden Masken (Holzvögeln, Lederlarven, Porzellandämonen) und den in langen Kleiderbügelreihen an Stangen schlotternden Kostümen (Jägern, Henkern, Sternenfahrern) mehr als die allerunvermeidlichste Aufmerksamkeit zu schenken. Eines Tages würde ihre alte Liebe in Calin erneut lebendig werden – das spürte er gerade jetzt wieder mit überwältigender Deutlichkeit. Wobei nur die Frage offenblieb, ob magisches Gespür oder bloßes Wunschdenken ihm diese so angenehme Gewissheit einflößte.

Magie, keine Frage, entschied Rabov – oder Lakori, wie das bei den Leute von den Noïli-Inseln hieß. Als Lakori bezeichneten sie die magischen oder eben lakorischen Kräfte, die jemandem innewohnten, aber das Wort stand auch für die Zauberer selbst. »Er hat Lakori« (oder auch »Er ist ein Lakori«) konnte bei diesem magiekundigen Völkchen vielerlei bedeuten – dass jemand wahrsagen konnte, Gedanken lesen oder auch senden, physische Objekte allein mit seiner Willenskraft durch den Raum bewegen und noch etliches mehr.

Rabov trat aus seiner Tür und erklomm die klamme Treppe zur Straße. Noch ehe er mit beiden Füßen auf dem Trottoir stand, rollten ihm Schweißtropfen den Rücken herunter. Sein schütteres aschblondes Haupthaar trug Samu (einst der Schönste eines dunibischen Provinzschulhofs) noch immer schulterlang, seit einigen Jahren jedoch zu einem rattenschwanzdünnen Zopf zusammengefasst. Er war fünfunddreißig Jahre alt und an Tagen wie diesem fühlte er sich für die Bürde, die Calin ihm im Namen Seiner Königlichen Majestät Sorno I. auf die Schultern geladen hatte, beinahe schon zu alt.

Nach einem Blick auf sein Firmenschild trottete Rabov die Flötenmachergasse linker Hand hinab. Das Emailleschild hatte er im Herbst 710 n.Z. eigenhändig an die Hausmauer neben seiner Kellertreppe geschraubt. Darauf stand in reich verzierten Lettern:

MYSTO – KOSTÜME & KULISSEN

VERKAUF, ANKAUF, VERLEIH

GESCHÄFTSZEITEN: ABENDS & AUF GUT GLÜCK

INHABER: SAMU A. RABOV

Er konnte an seinem eigenen Schild niemals vorbeigehen, ohne sich zu vergewissern, dass die Aufschrift dieselbe war, die er seinerzeit in Auftrag gegeben hatte. Ganz zu Anfang seiner neuen Tätigkeit war es einmal passiert, dass ein Verwandlungsmagier namens Tarek vor seinen Augen den Wortlaut auf dem Emailleschild verändert hatte – allein durch seine Willenskraft, während er die Arme vor seinem mit goldenen Spiralnebeln gemusterten Umhang verschränkt hielt. Nur weil er einige Minuten vor verschlossener Tür auf Rabov warten musste, hatte sich der krankhaft bleiche und hagere Magier aus Wut an dem Schild vergangen. Nun gut, vielleicht hatte sich Rabov damals auch um eine halbe Stunde oder sogar ein wenig mehr verspätet, aber das gab niemandem das Recht zu so schändlichem Schabernack. Mysto – KÖNIGLICHE SCHNÜFFELSTELLE, stand auf einmal auf dem Emailleschild zu lesen. Und weiter:

VERLEUMDUNG, ANSCHWÄRZUNG, VERHÖR

GESCHÄFTSZEITEN: ABENDS IM SERP’S

INHABER: SAMU AAS. GEIROV

Noch während er damals ungläubig mit den Augen blinzelte (das Serp’s war ein einschlägiger Nachtklub, in dem »Schlangentänzerinnen« vor wie hinter den Kulissen ihre Biegsamkeit bewiesen), verwandelte sich der Schriftzug in die gewohnte Zeichenfolge zurück. Transformationszauber ersten Grades wirkt immer nur so lange, wie der betreffende Verwandlungsmagier seine lakorischen Kräfte dafür einsetzt – und auch das nur bei denjenigen, gegen die sich der magische Anschlag richtet. Doch obwohl sich Rabov dieser Tatsache natürlich bewusst war und jener Zwischenfall bald drei Jahre zurücklag, konnte er bis heute niemals an seinem Firmenschild vorbeigehen, ohne die Aufschrift mit raschem Blick zu prüfen. Ja, es war sogar vorgekommen, dass er zu nächtlicher Stunde, eine Gaslampe in der Hand, aus seiner Ladentür und die jederzeit schmierigen Stufen emporgetapst war, um sich zu vergewissern, dass er als Masken- und Kulissenanbieter und nicht etwa als königlicher Schnüffler firmierte.

2

vigWie eine Bisswunde prangte die Sonne am Mittagshimmel, in der Farbe reifen Eiters und umweht von Wolkenbändern, die Rabov an Verbandmull erinnerten. Schwitzend schleppte er sich die Flötenmachergasse hinab, entschlossen, am Rossmarkt in die Tram zu steigen – Dampfbahn, Mulibahn, was gerade fuhr.

Piepen und Fiepen, Tröten und Tirilieren drang aus den Kellerwerkstätten zu ihm herauf. In diesen lichtarmen Gewölben, feucht und stickig wie seine eigene Behausung, gingen die weltberühmten phoräischen Flötenmacher ihrem altehrwürdigen Handwerk nach, in siebter oder sogar schon in elfter Generation. Aus Korkrohr, Mahagoni und dem legendären Steinholz der zaketumesischen Nebelwälder schnitzten, bohrten und schliffen sie kunstvolle Flöten in allen Größen und Formen, für jede Tonart und Gelegenheit, für anspruchslose Schulkinder ebenso wie für Wildjäger in aller Welt. Mit phoräischen Flöten ließen sich die Balzrufe der schmackhaften Sumpfammern, die im Schwemmland westlich von Phora nisteten, ebenso täuschend nachahmen wie der Alarmschrei des Hochwaldfalken in den norddunibischen Bergen, das Muhen des bakusischen Auerfroschs genauso wie wollüstiges Maunzen oder nervenzerfetzendes Säuglingsplärren.

Die Erfindung des mechanischen Melodophons (seit 709 n.Z. mit Federwerk, seit 711 auch dampfbetrieben) hatte der Flötenmacherzunft allerdings einen Stoß versetzt, von dem sie sich vielleicht nie mehr gänzlich erholen würde. Wozu sollte man noch länger altmodische und kostspielige Flöten kaufen und aus diesen dann auch noch die gewünschten Töne eigenmundig hervorblasen – wenn man doch neuerdings ganze Waldvogelchöre oder bakusische Arien in Metallscheiben geritzt beim Musikalienhändler erwerben konnte? Seit der letzten Jahrhundertwende hatten die phoräischen Flötenmacher einen großen Teil ihrer angestammten Käuferschaft verloren. Und nur weil ihnen die Schlangenbeschwörer und Priester gewisser serpentistischer Kulte zugewachsen waren, hatten einige der traditionsreichen Handwerksbetriebe in der Flötenmachergasse überlebt. Mehr als die Hälfte der kleinen Werkstätten aber stand mittlerweile leer oder beherbergte zwielichtige Händler oder sogar Fuselschenken, sichere Anzeichen eines vor wenigen Jahren noch unvorstellbaren Verfalls.

Samu Rabov entgingen die abschätzigen Blicke keineswegs, die auch heute von unten herauf durch halbblinde Kellerfenster auf ihn abgeschossen wurden. Schmerzlich war er sich der Tatsache bewusst, dass, mit den Augen der Flötenmachermeister, ihrer Familien, Gesellen und Lehrjungen besehen, er selbst zu den Vorboten oder sogar Vollstreckern des besagten Niedergangs zählte. Anfangs hatte Rabov versucht, sich mit seinen Nachbarn anzufreunden, sie zumindest von seiner aufrichtigen Gesinnung zu überzeugen. Aber wann immer er einen der stolzen Meister grüßte oder in ein Gespräch verwickeln wollte, schauten sie durch ihn hindurch, mit starren Mienen und zusammengepressten Lippen, als ob er eine Spukerscheinung wäre, die man sich auf diese Weise am sichersten wieder vom Hals schaffen konnte. Also hatte er es schließlich aufgegeben und sich in das anscheinend Unabänderliche gefügt. Wie zum Spott pfiff und trötete es aus einem halben Dutzend Kellerwerkstätten, wann immer er durch die Flötenmachergasse ging, doch in all den Jahren hatte niemand aus seiner Nachbarschaft auch nur ein Wort mit ihm gewechselt. Hätten sie geahnt, welcher hochheiklen Mission sich der vermeintliche Maskenhändler, Kulissen- und Kostümverleiher Samu A. Rabov in Wahrheit verschrieben hatte, so hätten sie sich ihm höchstwahrscheinlich zu Füßen geworfen – aus Angst vor der Reichsgewalt, die er ein wenig mitverkörperte, aber wohl auch aus Respekt vor einem Mann, der sein Leben in den Dienst ihres ruhigen Schlafs gestellt hatte. Doch er konnte diesen braven Handwerkern ja nicht rundweg offenbaren, dass er in Wahrheit ein königlicher Spezialagent war, Leiter der Mysto, von deren Existenz im ganzen Königreich allenfalls eine Handvoll Personen wusste.

»Verstehen Sie, Meister Lowiz« – so hieß sein Nachbar zur Linken – »in unserem schönen Phora leben überschlägig zwei- bis dreihundert Personen mit beunruhigenden lakorischen Fähigkeiten und meine Aufgabe ist es, kurz gesagt, brave Bürger wie Sie, Ihre Gattin und Ihr Töchterlein vor dieser zwielichtigen Brut zu beschützen – denn diese Leute haben die Kontrolle über ihr Dunkeldu mehr oder weniger vollständig verloren. Viel zu viel ungebundene Lakori, Sie verstehen?« Nein, das ging wirklich nicht. Und so war Rabov – seit Kindesbeinen ein gedankenreicher Eigenbrötler – nur noch einsamer geworden, seit er zum Leiter der Mysto berufen worden war.

Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sich im Künstlerviertel auf dem Donarberg oder sogar im quirligen Hafenquartier unweit des Smaragdtors eine Behausung gesucht. Aber Calin Stingard hatte darauf bestanden, dass er gerade hier, in der unübersehbar heruntergekommenen Flötenmachergasse, seinen Posten bezog. In ihrem rußschwarzen Dampfwagen hatte sie ihn an seinem ersten Arbeitstag höchstpersönlich in sein neues Domizil chauffiert. »Das hier ist der perfekte Ort für dich«, hatte sie verkündet, »und eines Tages wirst du auch erkennen, warum.« Sie hatte ihm den Schlüssel in den Schoß geworfen, sich über ihn hinweggebeugt und die Beifahrertür aufgestoßen. »Alles Gute, Samu.«

Wieso das hier der perfekte Ort sein sollte, leuchtete ihm jedoch bis heute nicht ein. Feindselige, verbitterte Nachbarn – und beinahe die einzigen Passanten, die einem zwischen den schmalbrüstigen Fachwerkhäusern über den Weg liefen, waren ausgemergelte, dunkelhäutige Männer mit wallenden Gewändern und silberfarben geschminkten Lidern, die in Flechtkörben ein kaltes Gewimmel mit sich trugen. Starre Augen, die Rabov im Vorüberschlendern durch die Korbmaschen fixierten, und zwiegespaltene Zungen, die zwischen nadelspitzen Zahnreihen hervorschnellten. Der Gedanke, dass hinter seinen Zimmerwänden bald jeden Tag Körbe und Käfige geöffnet wurden, Speikadoras oder bakusische Lyrissen sich hervorringelten, um mit wechselnden Flöten probeweise beschworen zu werden, war ihm alles andere als angenehm. In seinem tiefsten Herzen wünschte sich Rabov zuweilen, dass auch Meister Lowiz und (zu seiner Rechten) Meister Miceo lieber heute als morgen vor der Übermacht des Melodophons kapitulieren und ihre Werkstätten für immer schließen würden. Stattdessen aber, so schien es ihm zumindest, schwoll der Strom der Schlangenbeschwörer und serpentistischen Gurus, die in die Keller seiner Nachbarn drängten, seit Wochen und Monaten immer weiter an.

Gegen die Schliche von Verwandlungsmagiern und selbst von Dämonenbeschwörern konnte Rabov sich notfalls zur Wehr setzen – das hatte er während seiner Ausbildung gelernt und im mehrjährigen Frontdienst weidlich erprobt. Aber mit ausgewachsenen Gift- oder Würgeschlangen hatte er es noch nie zu tun bekommen und Rabov hoffte inständig, dass er auch niemals in die Verlegenheit kommen würde, mit einer bakusischen Lyrissa oder einer zaketumesischen Makuba kämpfen zu müssen.

In solcherlei Gedanken versunken, erreichte er das weite Rund des Rossmarkts, das heiße Hirn der phoräischen Altstadt. Von hier aus fuhren Trambahnen, mit neumodischen Dampfmaschinen betrieben oder von den guten alten Mulis gezogen, sternförmig bis in die entferntesten Viertel der Stadt. Entsprechend vibrierte der Platz, den türmchengeschmückte Patrizierhäuser säumten, vor geschäftigem Treiben. Händler in Bretterbuden, mit Holzkarren oder mit vor den Bauch geschnallten Läden priesen zaketumesische Buti-Nüsse, süddunibische Orangen und bakusisches Fettgebäck an. Ortsfremde Passanten liefen flackernden Blicks durcheinander, mit den Schultern rempelnd und in laute Verwünschungen ausbrechend, wenn eine Bahn ihnen vor der Nase davonfuhr. Kutscher ließen ihre Peitschen über den Köpfen der schicksalsergebenen Maultiere schnalzen, Dampfwolken schossen mit erschreckendem Puffen und Zischen aus den Schornsteinen der maschinengetriebenen Schienenbahnen.

Rabov schwang sich in den hintersten Waggon der Grünen Linie, die ihn in halbstündiger Fahrt zum Schiffstor bringen würde. Immerhin gab es noch einige freie Plätze, und als der Tramführer die Dampfsirene ertönen ließ, beeilte sich Rabov, vis-à-vis einer anscheinend wohlsituierten Dame in den Dreißigern Platz zu nehmen, die ihm verheißungsvoll entgegenlächelte.

Noch während er im Sitzen seine Beinkleider ordnete, fuhr die Tram mit so brutalem Rucken an, dass er rücklings gegen die Lehne geworfen wurde. Das Lächeln der jungen Dame gerann zum hämischen Grinsen. Ihr Pfirsichteint wurde krankhaft bleich und übersäte sich mit schwarzen Stoppeln. Zugleich wich ihr Haaransatz um vier Fingerbreit zurück und ihr Blick wurde stechend. Anstelle der blütenweißen Rüschenbluse und des farngrünen Leinenrocks trug Rabovs Gegenüber auf einmal einen speckigen schwarzen Anzug, dessen beste Zeiten gewiss ein ganzes Jahrzehnt zurücklagen.

»Dachte ich’s mir doch«, sagte der Verwandlungsmagier Tarek (denn kein anderer war es), »dass Sie auf so ein Frätzchen fliegen würden, Chef.« Er schlug ein Bein übers andere, so dass sein knochenspitzes Knie durch den Hosenstoff stach und am unteren Ende ein Schienbein von der Farbe ungelöschten Kalks zum Vorschein kam. »Na, seien Sie doch nicht gleich wieder böse.« Tarek beugte sich vor und haschte mit seiner Rechten nach Rabovs Unterarm.

Hastig zog Rabov seine Hand zurück. Vor ein paar Wochen erst hatte Tarek auf diese Weise einem unseligen Opfer ein Stück Gazellenfell wachsen lassen – einen akkurat gestreiften braunen Pelzring in Höhe des linken Ellenbogens.

»Hören Sie mir erst mal zu, Chef – danach werden Sie dem ollen Tarek mit Tränen in den Augen danken.«

3

vig»Was willst du, Tarek?«, fragte Rabov und bemühte sich, möglichst abweisend und gleichgültig zu schauen. Allerdings machte er sich wenig Illusionen, dass er imstande wäre, den Magier hinters Licht zu führen.

Tarek sah ihn unablässig an, mit lauerndem Blick, als ob der richtige Moment für seine jüngsten Offenbarungen noch nicht gekommen wäre. Auch das gehörte längst zum Ritual, das sich zwischen ihnen mit den Jahren eingespielt hatte. Mit seinem schwarzen Stoppelbart, dem bleichen, scharf gezeichneten Gesicht, den wie Kohlestücke glühenden Augen bot der Verwandlungsmagier einen geradezu furchteinflößenden Anblick – den er jedoch handkehrum in sein Gegenteil verkehren oder in jede beliebige Erscheinung umwandeln konnte. Alles, was er dafür brauchte, war ein gewisses Quantum an lakorischer Energie. Allerdings beruhten solche Verwandlungen einzig auf Illusion, einer Täuschung der menschlichen Sinne, die wie Nebel in der Sonne verschwand, wenn er sie nicht länger aufrechterhielt.

Tarek war ungefähr so alt wie Rabov. Er gehörte zu den eifrigsten Informanten der Mysto, doch Rabov lag mit ihm überkreuz, seit der noïli-stämmige Magier ihn damals mit dem Firmenschild gefoppt hatte. Ständig schien Tarek darauf aus, ihn zu täuschen, zu verwirren, auf jede erdenkliche Weise in die Irre zu führen. In Rabovs Augen war er ein trauriges Beispiel für die Verwüstungen, die Lakori im menschlichen Charakter anrichten konnte – oder, im Jargon der Lehrbücher, für die zerstörerische Tyrannei des Dunkeldu. Aber Tarek kam in den Untergrundszenen der Hauptstadt viel herum und Rabov hatte lange schon begriffen, wie wertvoll die Informationen waren, die Tarek ihm oft regelrecht aufdrängte. Das meiste daran war haarsträubende Lüge und abenteuerliche Verdrehung, aber wenn man nur geduldig suchte, fand sich in der faltenreichen Verpackung doch jedes Mal ein Körnchen Wahrheit. Ein Hinweis auf ein drohendes oder bereits geschehenes Mysteriöses Verbrechen, das er dank Tareks Finten verhindern oder zumindest aufklären konnte.

Schnaufend ratterte die Dampftram der Grünen Linie durch die Dämmerungsallee, eine der prachtvollsten Straßen Phoras, und Tarek schwieg noch immer lauernd. Vor den ovalen Tramfenstern zogen, hinter Laub und Astwerk der Königspappeln und zaketumesischen Butipalmen halb verborgen, die Villen der mächtigen phoräischen Kaufmannssippen vorüber. Die Namen der beiden größten hauptstädtischen Handelshäuser – Seelbitt und Hagdiff – kannte in ganz Dunibien jedes Kind. Sie waren durch den Handel mit Dunibiens Schätzen reich geworden – mit dem Holz der unerschöpflichen Wälder, dem funkelnden Masalith aus den Steinbrüchen im Norden und neuerdings auch mit erstaunlichen Apparaturen wie dem Dampfmobil oder dem Melodophon. Die ehrwürdigen Patriarchen dieser Dynastien waren beide im dunibischen Norden geboren und aufgewachsen (genau wie Calin Stingard). Die Menschen aus dieser gebirgigen Gegend galten allgemein als zielstrebig und zäh – schon der schroffe Klang ihrer Namen ließ die kühle Härte erahnen, die für Norddunibier so typisch war. Aber das allein erklärte sicher nicht, weshalb es einzig Konsul Gero zu der Seelbitt und Geheimrat Loscha von Hagdiff seit Jahren immer wieder schafften, dem Königspalast Ausnahmegenehmigungen für die Herstellung mechanischer Apparate und sogar dampfgetriebener Maschinen abzulisten. Darüber rätselte ganz Dunibien bei jedem einzelnen Sündenfall aufs Neue.

Denn Sünde war es ohne Zweifel, derlei selbstbewegte Apparaturen zu produzieren und zu verkaufen – jedenfalls in den Augen und Donnerreden der rechtgläubigen Lichtzungenpriester. Der Lingluzismus war die offizielle dunibische Reichsreligion und so wie Seine Majestät Sorno I. sich höchstselbst zur lingluzielischen Kirche bekannte, so hingen alle Dunibier kraft Geburt diesem wahrhaft erhebenden Glauben an. Auch Rabov versäumte es selten, an den vorgeschriebenen Tagen ein Linglu-Bethaus aufzusuchen und in rituellem Sprechgesang die allmächtige Himmelsgottheit anzurufen, die sich durch die lingua lucis, die Sprache oder auch Zunge des Lichts, ihren sterblichen Geschöpfen offenbarte.

Im Heiligen Buch der Lichtzungenkirche stand allerdings geschrieben, dass die Dunibier (und mit ihnen der Rest des Planeten) für die Todsünde der Herstellung selbstbewegter Maschinen mit der Großen Flut gestraft worden seien. Gleichwohl waren die meisten Phoräer stolz auf ihre neumodische Dampfbahn und den Musikalienhändlern rissen sie die Melodophone mit den an riesenhafte Tiefseemuscheln erinnernden Schalltrichtern geradezu aus den Händen. Feiertags im Bethaus hörte man sich gesenkten Hauptes die Strafpredigten der Priester an und anschließend stieg man in die Dampfbahn oder, wer es sich leisten konnte, in sein eigenes Dampfmobil und ließ den großen Linglu einen guten Geist sein. So hielten es die Phoräer seit jeher, vor wie nach der Zeitenwende, jedenfalls wenn man dem Sprichwort trauen wollte – »Götter gehen, Flut versickert, Phora bleibt«. Draußen im weiten Land, in den Provinzstädten oder gar in den norddunibischen Bergweilern, sah die Sache allerdings etwas anders aus. Hier und dort war es bereits vorgekommen, dass lingluzielische Eiferer, von Dorfpriestern aufgehetzt, die Behausung eines Mitbürgers gestürmt hatten, um dessen neu erworbenes Melodophon in Stücke zu hacken und den Frevler selbst grün und blau zu prügeln. Es war allerhöchste Zeit (so dachte Rabov), dass König Sorno, als Herrscher Dunibiens zugleich Oberster Betherr der Linglu-Kirche, eine Formel verkündete, die Himmel und Erde, Licht und Dampf miteinander versöhnte.

Die Hitze wurde immer quälender. Zischend schleppte sich die Trambahn den Donarberg hoch und anstelle von kühlendem Fahrtwind wehten lediglich brühwarme Dampfwolken durch Türen und Fenster herein. Doch Tarek machte die Treibhausluft anscheinend wenig aus. In seinem schlotternd weiten schwarzen Anzug ähnelte er einem Totengräber und während Rabov seinen schweißfeuchten Überwurf längst abgestreift und neben sich auf die Bank gelegt hatte, schien sich der Magier in seiner mit Flecken übersäten Kluft immer tiefer zu verkriechen.

»Eine Frau, noch ziemlich jung, Chef«, begann er schließlich, in der abgehackten, keuchenden Sprechweise, die er aus irgendeinem Grund für seine Offenbarungen bevorzugte. »Starr wie ein Holzklotz. In einem dunklen Zimmer, tot.« Er unterbrach sich und beobachtete mit funkelnden Augen, wie sein Gegenüber die Neuigkeiten aufnahm.

»Und was weiter?« Rabov zuckte die Schultern. »Jetzt rede schon, Tarek, ich habe heute keinen Sinn für deine Winkelzüge.« Doch der Lakori sah ihn aufs Neue nur schweigend an und leckte sich dabei die bläulichen Lippen.

Demonstrativ wandte sich Rabov ab und schaute erneut aus dem Fenster. Das war allerdings mittlerweile so beschlagen, dass er mit dem Hemdsärmel darüberfahren musste, um zumindest die Umrisse des lebensfrohen Treibens im Künstlerviertel von Phora zu sehen. Schattige Gastgärten, in denen sich ein buntes Völkchen schon zur frühen Nachmittagsstunde Wein und Schnäpse schmecken ließ. Unbekümmerte Lebenskünstler, die sich am Straßenrand zu einem Nickerchen ausgestreckt hatten, den Noïli-Hut tief in der Stirn. Auf einer Veranda ein hakennasiger Maler mit Skizzenblock und Kohlestift in Gesellschaft einer hübschen jungen Frau, die ihm freizügig Modell stand. Ah, wie viel würde er darum geben, sagte sich Rabov, wenn er hier oben auf dem Donarberg Quartier beziehen könnte. In seiner Jugend hatte auch er davon geträumt, ein berühmter Maler zu werden. Nun, daraus war allerdings nichts geworden und statt halbnackte junge Frauen zu zeichnen, musste er sich so mit einem hohlwangigen Gesellen wie Tarek abplagen.

»An einem Seil erstickt, Chef«, fuhr der Magier endlich fort, »so dick wie Ihr Unterarm.« Wieder griff er nach Rabovs Handgelenk, aber Rabov entriss es ihm mit einer heftigen Bewegung. Mit seinen Gliedmaßen war er ein wenig heikel, seit sie ihm gegen Ende seiner Kindheit beinahe abgefressen worden waren. Wobei fressen nicht einmal das vollständig richtige Wort war.

»Ein Seil?« Er dämpfte seine Stimme und beugte sich ein wenig vor. Der Waggon war mittlerweile bis auf den letzten Platz gefüllt. Er versetzte sich in leichte lakorische Trance, um seine telepathische Gabe zu wecken, und vergewisserte sich, dass niemand im Wagen sich für ihr kleines Zwiegespräch interessierte. Zumindest keiner, dessen Gedanken er mit seiner schwachen Lakori zu lesen vermochte. »Was hat das mit Magie zu tun«, fuhr er fort, »wenn irgendjemand so einem armen Fräulein eine Schlinge um den Hals legt?«

»Nicht um den Hals.« Tarek setzte ein versonnenes Lächeln auf. Seine Wangen begannen sich abermals zu runden. Seine Bartstoppeln verschwanden, ein rosiger Hauch ließ ihn jünglingshaft und arglos erscheinen. »Das Ding ist in sie reingeschlüpft, durch den Mund, den Rachen runter – so.« Er formte mit dem Mund ein O und stieß mit seinem Zeigefinger hinein. »Und als es in sie rein ist, Chef, war es wohl noch kein Seil?« Auch seine Stimme klang nun ganz anders als vorher – hell und fragend, beinahe als ob er sänge.

Wieder zuckte Rabov mit den Schultern. »Vielleicht ein Vögelein?«, äffte er Tareks zimperlichen Singsang nach. »Aber wie auch immer – wir überprüfen die Sache natürlich. Du weißt nicht zufällig den Namen der jungen Frau? Und den Ort, an dem die Sache passiert sein soll?«

Mit beiden Händen fuhr sich Tarek über das Gesicht. Seine Bartstoppeln kehrten zurück, sein Gesicht wurde wieder hager und ungesund weiß, sein Blick glühend. »Ich hab’s nur zufällig aufgeschnappt«, keuchte er hervor. »Aus den Gedanken von so einem Kerl, der letzte Nacht neben mir an der Theke stand.« Er streckte Rabov seine offenen Hände entgegen. »Mehr weiß ich nicht, Chef, ehrlich.«

Rabov nickte ihm zu und nestelte gleichzeitig sein Notizbuch aus einer Innentasche seines Überwurfs. Er klappte es auf, nahm den im Falz befestigten Stift und machte sich ein paar Notizen. Mit diesen bruchstückhaften und zweifellos auch noch absichtlich verdrehten Informationen war wenig anzufangen. Aber ein Körnchen Wahrheit enthielt auch diese Geschichte, das spürte er, obwohl seine Lakori bei weitem nicht ausreichte, um Tareks Gedanken zu lesen. Ganz zu Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er das einmal versucht und war erwartungsgemäß auf eine Sperre gestoßen – ein unüberwindliches Hindernis, das für sein inneres Auge ausgesehen hatte wie eine rußgeschwärzte Mauer.

»Ich muss bei der nächsten Station raus.« Tarek erhob sich und blieb schwankend neben der Bank stehen, während die Tram durch eine langgezogene Kurve fuhr.

»Eins noch – wie heißt der Laden, in dem du das aufgeschnappt hast?«

Für einen kurzen Moment nahm das Gesicht des Verwandlungsmagiers wieder mädchenhafte Züge an. Aber diesmal war es nicht das »Frätzchen« der wohlsituierten Dame, mit dem er Rabov vorhin überrumpelt hatte. Von Kopf bis Fuß ähnelte er nun verblüffend einer burschikosen, gleichfalls noch jüngeren Frau mit kurz geschnittenen braunen Haaren, schlanker Figur und verstörtem Gesichtsausdruck – der Frau höchstwahrscheinlich, über deren lakorische Ermordung er sich eben ausgelassen hatte.

Nur einen Wimpernschlag später war die Illusion wieder verweht. »Habe ich das nicht schon gesagt?«, keuchte Tarek. »Das war in den Sieben Vipern, so gegen zwei Uhr früh. Derzeit einer der heißesten Klubs in ganz Phora – da sollten Sie auch mal wieder hingehen, Chef.«

Ehe Rabov diese weitere Neuigkeit verdaut hatte, hielt die Tram im brodelnden Durcheinander des Hafenviertels und im nächsten Moment stieß Tarek die Tür auf und sprang steifbeinig hinaus.

4

vigDie Tramlinie endete in Sichtweite der Stadtmauer und in einem Pulk von Männern und Frauen mit verhärmten Gesichtern stieg Rabov aus. Im Schatten einer teilweise eingestürzten Lagerhalle trottete er dahin, während die Dampftram schnaufend das Weite suchte. Auch die Mietskasernen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sahen reichlich heruntergekommen aus. Bröckelnder Fassadenputz, viele Erdgeschossfenster mit Brettern verrammelt.

Unwillkürlich hielt Rabov nach dem Gebäude Nummer Sieben Ausschau – seinen geheimen Instruktionen zufolge gab es an jedem der großen Plätze Phoras eine »Notfallstation« für königliche Spezialagenten und sie alle waren im jeweiligen Haus Nummer Sieben untergebracht. Die hiesige Sieben, ein schiefergedecktes fünfstöckiges Eckhaus, war zumindest dem Anschein nach allerdings eine abrissreife Ruine – das Dach schadhaft, die Fenster vernagelt und etagenweise sogar zugemauert, die Haustür mit rostigen Eisenplatten beschlagen. Bisher war er noch nie in die Verlegenheit gekommen, sich in einen solchen geheimen Schutzraum flüchten zu müssen. Während er das offenbar verwaiste Bauwerk gegenüber dem Schiffstor musterte, hoffte er einmal mehr, dass er niemals auf diesen Schutz angewiesen sein würde.

Ihm war ein wenig übel und das kam gewiss auch von der drückenden Witterung und dem Geruch fauligen Wassers, der vom Fluss herüberwehte. Vor allem aber kam es von seiner Begegnung mit Tarek. (Und von den Schlangen.)

Er befand sich im Schiffstor- oder auch Nibraviertel, benannt nach der lehmreichen Roten Nibra, die die bescheidenen Wohnquartiere im Südwesten Phoras säumte und ein- bis zweimal jährlich überflutete. Es war eine der ärmsten Gegenden der Stadt und entsprechend besaß das Nibraviertel einen miserablen Ruf. Alle Welt schwärmte vom Smaragdbusen des Grünen Ozeans, an dessen Gestade Phoras prächtigste Paläste wie aufgefädelt lagen, und zweifellos war dies eine der zauberhaftesten Meeresbuchten des Planeten. Dagegen wurde die Rote Nibra in den meisten dunibischen Reiseführern allenfalls am Rande erwähnt – und wenn, dann mit abschätzigem oder sogar warnendem Unterton. Hier draußen am Fluss lebten Tagelöhner und Flößer mit ihren Familien in stockfleckigen Mietwohnungen oder in windschiefen Häuschen, die sie eigenhändig aus Lehm und Baumstämmen errichtet hatten. Für Samu Rabov aber hatte gerade diese kümmerliche Idylle einen sentimentalen Reiz.

Die Nibra war der Fluss seiner frühen Jahre. Raginor, das zentraldunibische Städtchen, in dem er aufgewachsen war, lag am Oberlauf des schlammigen Gewässers, das dort allerdings noch schmal und reißend war. Am Ufer der Nibra hatte er zum ersten Mal ein Feuer entfacht, ein Mädchen geküsst, einen verschwommenen Blick in seine Zukunft erhascht. In den roten Fluten der Nibra hatte er schwimmen und fischen gelernt. Der Geruch des Nibrawassers weckte tausend Erinnerungen in ihm – süße, peinliche, unheimliche Erinnerungen.

Seinen Überwurf, den er im Aussteigen übergestreift hatte, warf er gleich wieder ab. Die Luft über dem Lehm der Schiffstorstraße flimmerte, als ob sie sich im nächsten Moment entzünden wollte. Doch da half alles nichts – den restlichen Weg, durch das halb verrottete Schiffstor und über die Brücke hinaus zu den Schwemmwiesen, musste er zu Fuß hinter sich bringen.

Erst vor ein paar Wochen hatte Rabov im Museum für Phoräische Geschichte einige Gemälde aus dem 6. Jahrhundert n.Z. gesehen, die das Schiffstor in seiner früheren Pracht zeigten. In kräftigem Rostrot hatte die Fassade des holzverkleideten Bauwerks damals geprangt – heute dagegen waren Balken und Bohlen von Sonne und Nässe zernagt. Einzelne Bretter waren herabgestürzt und hatten die nackte Lehmmauer darunter entblößt. Fledermäuse hausten in der Torwache, die einst mit Schwertern bewehrte Stadtknechte beherbergt hatte. Rabov ging rasch hindurch, der Anblick des verrottenden Bauwerks tat ihm regelrecht weh.

Die Brücke, die sich dahinter über die Nibra spannte, machte einen sogar noch baufälligeren Eindruck. Bald jede dritte Planke war aus dem Boden herausgebrochen oder einfach weggefault, so dass er unter seinen Füßen die Nibra dahinschäumen sah. Noch vor zehn Jahren war die Rote Nibra eine bedeutende Schifffahrtsstraße gewesen. Holzschnitte und Rötelskizzen im Museum zeigten die gewaltigen Lastschlepper, die früher den Fluss hinabgesegelt waren, beladen mit Klaftern geschälter Königspappeln, deren Holz sich so vorzüglich für den Schiffsbau eignete, und mit Masalith-Quadern, aus denen die Reichen und Mächtigen in aller Welt ihre Paläste errichten ließen. Doch vor einigen Jahren war die Dampfbahnstrecke eingeweiht worden, die das ganze Land vom gebirgigen Norden bis zum phoräischen Süden verband, und seitdem war die Lastschifffahrt auf der einst so lebhaften Wasserstraße praktisch zum Erliegen gekommen.

Alles hier draußen atmete Bedrückung und Verfall und doch fühlte Rabov tief in sich eine zärtlich bange Sehnsucht, während er die Brücke überquerte und den modrigen Geruch in seine Lunge strömen ließ. Ein einsamer Angler hatte seinen Nachen an einem tief hängenden Ast befestigt. Einer jener hochwandigen Ruderkähne, wie sie von Liebespärchen bevorzugt wurden, schaukelte weiter flussabwärts im Schilf – sonst war links wie rechts der Brücke niemand zu sehen.

Eine Stille wie zu Anfang aller Zeiten, dachte er – des Alten Zeitalters, das angeblich vom Brausen Tausender Maschinen widerhallte. Außer dem eintönigen Gurgeln des Wassers und dem Keckern der Sumpfvögel war weit und breit kein Laut zu hören. Seltsamerweise konnte Rabov auch von dem Zirkus, der doch auf der anderen Flussseite seine Zelte aufbauen sollte, nicht den leisesten Laut vernehmen. Kein Brüllen bakusischer Steppenlöwen, kein Donnern vom Aufprall der mächtigen Objekte, die bakusische Telekinetiker mit reiner Willenskraft durch die Luft schleudern konnten, nicht einmal Kommandorufe oder Hammerschläge, wie sie beim Zusammenzimmern einer Zirkusmanege doch kaum zu vermeiden waren.

Sein Übelkeitsgefühl wurde stärker, doch Rabov beschleunigte seine Schritte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er ließ die Brücke hinter sich und trat auf den schlammigen Weg, der durch Schilf und sumpfige Wiesen auf ein kleines Waldstück zuführte. Dahinter befand sich der sogenannte Schindanger, auf dem noch im letzten Jahrhundert die Schwerter der königlichen Scharfrichter auf todgeweihte Nacken niedergesaust waren. Heutzutage wurde die weitläufige Wiese vor allem als Rast- und Rummelplatz für Schausteller und anderes fahrendes Volk verwendet. Doch obwohl Rabov nur noch ein paar Dutzend Schritte vom Schindanger trennten, waren von dort nach wie vor keinerlei Geräusche zu hören.

Konnte es sein, dass Selda sich geirrt oder ihn gar absichtlich getäuscht hatte? Nein, ausgeschlossen, dafür kannte er sie zu gut – die Hellseherin war launisch wie alle Geschöpfe, in denen die Macht des Dunkeldu überhandgenommen hatte. Aber sie war auch eitel und geltungssüchtig und rühmte sich selbst bei jeder Gelegenheit, weil sie mit ihren Voraussagen angeblich durchweg richtig lag. In den Lehrbüchern für den Umgang mit magisch begabten V-Leuten hieß es immer, als Spezialagent habe man letztlich nur zwei Möglichkeiten, um seine Informanten in der Spur zu halten: Drohung und Belohnung. Und natürlich spielte beides eine wichtige Rolle – Rabov wusste über jeden seiner Informanten mehr als genug, um ihn oder sie ins Gefängnis sperren oder für alle Zeiten auf einer der gefürchteten Zuchthausinseln vor der Küste Norddunibiens verschwinden zu lassen. Umgekehrt achtete er sorgsam darauf, dass es diejenigen, die ihn mit brauchbaren Hinweisen versorgten, im alltäglichen Leben ein wenig leichter hatten. Lakoris gerieten unablässig mit Gesetzen und gesellschaftlichen Regeln in Konflikt, und nur weil er immer wieder bei der Polizei und anderen königlichen Behörden ein gutes Wort für sie einlegte, konnten seine Schützlinge einigermaßen unbehelligt leben. Aber letzten Endes gab etwas ganz anderes den Ausschlag – weder Drohungen noch Belohnungen, sondern der innere Halt, den sie bei ihm suchten.

Den schmalen Waldstreifen vor dem Schindanger durchmaß Rabov beinahe rennend. Alles in seinem Innern schrie Alarm. Er stolperte über eine Palmwurzel und fing sich mit rudernden Armen.

Dann stand er bloß noch da und starrte. Er vergaß, dass ihm eben noch speiübel gewesen war. Wie versteinert verharrte er am Rand des einstigen Schindangers und sah dem Treiben der Zirkustruppe zu. Ein Bändiger mit gesträubtem Schnauzbart zwang zwei grau-schwarz gescheckte Steppenlöwen, zu seinen Füßen Männchen zu machen. Zwei Telekinetiker stemmten kutschkastengroße Masalith-Quader um die Wette – allein mit ihrer Willenskraft, die Hände in den Taschen ihrer überweiten Pluderhosen, während die tonnenschweren Gesteinsbrocken hoch über ihren Köpfen schwebten. Ein halbwüchsiges Akrobatentrio führte haarsträubende Reitkunststücke vor – auf dem Rücken bakusischer Mammuts stehend, zottiger Ungeheuer, die wie besessen im Kreis umherjagten, von den Reiterburschen einzig durch Zurufe gelenkt. Jonglierzauberer warfen Buti-Nüsse in den Mittagshimmel, die sich im Flug verwandelten – in grimmige Schrumpfköpfe, in funkelnde Sterne, schließlich in schwarze Hühner, die flügelschlagend auf Schultern und Scheitel der Magier landeten. Zwischen den Artisten liefen Unmengen kleiner Kinder und Hunde umher, dazu Dutzende weiterer Hühner, ganz zu schweigen von den glutäugigen Jungfrauen, die in brennenden Rädern stehend auf dem Schindanger umherrollten, oder von der menschlichen Pyramide, die sich mit sinnverwirrender Raschheit zu schwindelnder Höhe auftürmte, um im nächsten Augenblick zu einem Chaos überbeweglicher brauner Glieder und Leiber zu zerfallen und im übernächsten eine Brücke zu bilden, die sich beinahe bis zu Rabov am Waldrand herüberspannte.

Doch all das geschah vollkommen lautlos.

5

vigDie Steppenlöwen rissen ihre Mäuler auf und zu hören war nichts. Die Mammuts stampften im Kreis, so leise wie tanzende Feen. Die Lastenzauberer ließen die Masalith-Quader zu Boden sausen und Rabov vernahm nicht den leisesten Rumms. Die Kinder schrien und lachten, ebenso wie die Reiterburschen auf den umherrasenden Mammuts, aber er sah nur ihre Münder, die auf- und zugingen, ihre funkelnden Augen, während ihr Gelächter, ihre Rufe für ihn unhörbar blieben.

Ein Ruhezauber, dachte Rabov. Er hatte schon mehrfach von diesem legendären Lakori gehört, aber es war das erste Mal, dass er selbst es damit zu tun bekam. Die Wirkung war beklemmend – man fühlte sich wie in einen Glaskasten eingesperrt. Nur sehr mächtige und erfahrene Magier waren imstande, diesen Zauber anzuwenden – und dazu auch noch auf eine so große Gruppe von Menschen und Tieren, die allesamt lärmend durcheinanderliefen und -riefen. Der erforderliche Aufwand an geistiger Energie war zweifellos beträchtlich und Rabov fragte sich, was der oder die Magier, die diese Lakori angezettelt hatten, damit eigentlich bezweckten. Und warum sollte sich jemand, der über lakorische Kräfte dieses Kalibers verfügte, als Zirkuszauberer durchschlagen?

Rabov schüttelte die Erstarrung ab und ging durch die knöcheltiefe Wiese weiter auf die Zirkusleute zu. Gerade eben löste sich vor ihm die menschliche Brücke wieder in ihre Bestandteile auf, und er packte einen der umhertaumelnden Burschen beim Arm und zog ihn zu sich heran. »Bring mich zum Direktor«, sagte er und sah den Kerl dabei grimmig an.

Der junge Akrobat riss die Augen auf und antwortete irgendetwas, aber zu verstehen war nach wie vor nichts. Rabov sah nur, wie der Mund des Burschen auf- und zuklappte. Seinem Gegenüber schien es nicht anders zu ergehen – als Rabov seine Aufforderung wiederholte, zuckte der junge Mann nur hilflos mit den Schultern. Er war nackt bis auf einen schwarzen Lendenschurz und sein sehniger Körper glänzte vor Schweiß. Seine Kameraden und er wechselten verstohlene Blicke. Wie die meisten Bakusier waren sie dunkelhäutig und hatten tiefschwarzes, metallisch funkelndes Haar. Doch anders als bei sämtlichen Bakusiern, denen Rabov jemals begegnet war, bestanden ihre Knochen anscheinend aus Gummistäben.

Wie eine Schlange drehte und wand auch der Bursche, den Rabov eingefangen hatte, seinen Unterarm zwischen den Fingern seines Bezwingers, aber Rabov machte keine Anstalten, seinen Griff zu lockern. So allmählich begann er zu ahnen, was möglicherweise hinter dem Ruhezauber steckte. Die Akrobaten redeten jetzt allesamt lautlos auf ihn ein, aber er schüttelte nur den Kopf und setzte sich abermals in Bewegung. Mit einer Hand zog er den Burschen hinter sich her, in der anderen trug er seinen mittlerweile übel zerknitterten Überwurf. So ging er schnellen Schrittes durch die Menge der Zirkusleute, ohne nach links oder rechts zu sehen. Mit mürrischen Mienen wichen sie zur Seite und gaben eine schmale Gasse frei, an deren Ende ein hochgewachsener Mann stand, in sonnenfarbenem Umhang und mit einem kunstvoll geschlungenen Turban von der gleichen Farbe auf dem Kopf.

Bist du hier der Chef? Nenne mir deinen Namen.

Der dunkelhäutige Hüne schien durch die lakorische Anrede wenig beeindruckt. Radschi Varusa, antwortete er auf demselben Weg. Das hier ist mein Zirkus. Er hob beide Arme und entblößte gleichzeitig zwei Reihen gelber Zähne. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen.

In der nächsten Sekunde erhob sich um sie herum ein ohrenbetäubender Lärm. Die ganze Zirkustruppe schrie aus Leibeskräften durcheinander. Die Steppenlöwen brüllten. Die Erde erzitterte vom Stampfen der Mammuthufe. Die Reitakrobaten riefen ihre Kommandos, die Hühner gackerten, die Jungfrauen in den brennenden Rädern stießen rhythmische Jauchzer aus. Aber da waren noch weitere Geräusche und sie passten überhaupt nicht zu der fröhlich turbulenten Szenerie. Keuchender Atem, unterdrücktes Schluchzen. Und ein Zischlaut, der Rabov erschauern ließ.

Mit einem spöttischen Lächeln hob Varusa abermals seine Arme und schloss kurz die Augen. Im selben Moment erstarb aufs Neue alles Gelärme um sie herum.

»Unterhalten wir uns doch auf herkömmliche Weise«, schlug er vor. Er sprach ein makelloses Dunibisch mit kaum hörbarem bakusischen Akzent. »Ich habe doch einen Behördenvertreter vor mir? Sie werden sehen, dass bei uns alles in bester Ordnung ist.« Er unternahm einen diskreten Versuch, in Rabovs Bewusstsein einzudringen, und runzelte die Stirn – ohne sonderliche Mühe hatte sein Gegenüber den Angriff abgewehrt.

Rabov spürte, dass der Magier nun doch ein wenig beeindruckt war. Aus eigener Kraft hätte er den telepathischen Stoß eines so mächtigen Gegners niemals abblocken können. Aber während seiner Ausbildung zum Spezialagenten hatte er einige Abwehrtechniken gelernt, die normalerweise nur Personen mit sehr viel stärkerer Lakori beherrschten.

Er beeilte sich, Varusas kurzzeitige Verwirrung auszunutzen. »Ich sehe vor allem eins«, gab er zurück. »Einen hochgradig befähigten Magier, der aus irgendeinem Grund so tut, als ob er nur ein gewöhnlicher Zirkusdirektor mit einer harmlosen Begabung zur Zauberei wäre.«

Noch immer hielt er den Schlangenburschen am Handgelenk fest. Dabei wusste er selbst nicht, warum er den Kerl nicht längst hatte laufen lassen – doch in solchen Dingen verließ er sich auf sein Gespür. Irgendetwas in seinem Innern sagte ihm, dass er den schlangenhaft geschmeidigen Akrobaten noch brauchen würde. Unauffällig zog er ihn näher zu sich heran. Der Bursche bewegte seine Lippen und Rabov erriet, dass er in seiner Sprache etwas wie »Bitte lass mich« gesagt hatte.

Währenddessen erging sich der angebliche Zirkusdirektor Varusa in wortreichen Beteuerungen. Vielleicht besitze er ja wirklich ein klein wenig mehr an magischen Kräften, als dies in Zirkuskreisen üblich sei. Das könne der Herr königliche Ordnungsbeamte naturgemäß besser beurteilen als er selbst. Schließlich kenne er nur sein eigenes Programm, der Herr königliche Ordnungsbeamte dagegen kenne zweifellos Dutzende Zirkusse, die darum wetteiferten, das verwöhnte hauptstädtische Publikum an diesem vorzüglichen Ort in Staunen zu versetzen. Eben darum, weil die Phoräer in der ganzen Welt als besonders anspruchsvoll bekannt seien, habe er sich ein neuartiges Kunststück ausgedacht, das garantiert noch von keinem Zirkus und keiner fahrenden Zaubertruppe vorgeführt worden sei. Und gerade, als er wieder einmal im Begriff gewesen sei, diese äußerst schwierige und kräftezehrende Nummer einzuüben – da sei der Herr königliche Ordnungsbeamte ins Geschehen hineingeplatzt und habe nun möglicherweise einen etwas verzerrten Eindruck gewonnen. Wie sei noch gleich der Name des ehrenwerten …?

»Rabov«, sagte er. »Samu A. Rabov.«

Während Varusas weitschweifiger Rede hatte er unter halbgesenkten Lidern den Grasboden im Umkreis des Magiers nach verdächtigen Anzeichen abgesucht. Einem Flimmern oder Flirren, wie es sehr ähnlich durch heiße Luft hervorgerufen wurde, und doch auf charakteristische Weise anders: Wenn man genau hinsah, und vor allem, wenn man sehr genau wusste, worauf man achten musste, bemerkte man, dass das Flimmern auf verdächtige Weise einen Kreis bildete, der sich mit irrwitziger Geschwindigkeit auf der Stelle drehte. Was sich im Innern eines solchen Kreises befand, hieß im Jargon »der heiße Fleck« und wenn Rabov sich nicht sehr täuschte, dann befand sich ein solcher heißer Fleck genau neben Varusas linker Flechtsandale. Ein flirrend fahler Kreis über dem Wiesengras, eben groß genug, dass der Bursche, dessen Arm er weiterhin umklammert hielt, sich darin der Länge nach ausstrecken könnte. »Und die Phoräer sollen Ihnen also applaudieren, Herr Varusa«, fügte er hinzu und setzte seinerseits ein spöttisches Lächeln auf, »weil Sie ihnen das Gefühl geben, plötzlich ertaubt zu sein? Für mich klingt das nicht gerade nach einem erfolgversprechenden Plan.«

Die Augen unter dem sonnengelben Turban zogen sich zu Schlitzen zusammen. »Taub und blind«, sagte Varusa. Er hob die Arme und malte beidhändig Arabesken in die Luft. »Nämlich so.«

Im nächsten Moment war Rabov auf dem weiten Platz allein. Von der Zirkustruppe war nichts und niemand mehr zu sehen. Keine Mammuts samt Reitern, keine Steppenlöwen mit ihrem Bändiger, auch keine jauchzenden Jungfrauen, keine überbeweglichen Schlangenkerle, keine spielenden Kinder, keine Buti-Nüsse, die sich in der Luft in Schrumpfköpfe oder Hühner verwandelten – nein, niemand, nichts. Auch Radschi Varusa selbst war im selben Moment, in dem er »so« ausgerufen hatte, vor Rabovs Augen verblasst.

Mit seiner rechten Hand, die sich noch immer um seinen Überwurf klammerte, fuchtelte Rabov vor sich in der Luft herum. Aber da war wirklich niemand. Ruhe- und Blendzauber, dachte er. Auf dem ganzen Planeten gab es höchstwahrscheinlich nur eine Handvoll Magier, die dieses Meisterstück beherrschten. Und die vor allem die nötige Energie aufbringen konnten, um so viele Lebewesen für so lange Zeit scheinbar verschwinden zu lassen.

Aber wozu all dieser hochgradige Spuk? Nun, das würde sich jetzt zeigen.

Der flimmernde blasse Kreis über dem Grasboden war noch genau dort, wo er ihn vorhin entdeckt hatte. Auch den gummiweichen Arm des jungen Akrobaten spürte Rabov nach wie vor in seiner linken Hand, wenngleich er von dem Burschen kein funkelndes Haar und keine braune Hautschuppe mehr entdecken konnte.

Er umfasste das hagere Handgelenk fester und stieß den Kerl mit all seiner Kraft in den heißen Fleck hinein. Zugleich machte er sich selbst möglichst leicht, denn gerade darauf kam es jetzt an: dass der Bursche ihn mit sich ins Innere des Lakori-Kreises riss.

6

vigRabov hatte mit einem harten Aufprall gerechnet, einem tiefen Sturz oder dem sofortigen Angriff zu allem entschlossener Widersacher. Ein heißer Fleck konnte alles Mögliche enthalten und vor allem war das Innere eines solchen Rings meist sehr viel geräumiger, als es von außen den Anschein hatte. Die Lehrbücher wussten von den abenteuerlichsten Orten zu berichten, an denen man sich nach einem Sprung in einen magischen Kreis wiederfinden konnte – einem Felssaal klaftertief in der Erde, einem Hüttendorf im zaketumesischen Nebelwald, einer Folterkammer in einem lingluzielischen Kerker zu Beginn der Neuen Zeit.

Doch stattdessen fand sich Rabov bäuchlings auf einem Knüpfteppich liegend, der Länge nach hingestreckt. Seine rechte Wange war in muffig riechende Wollschlingen gebettet. Neben ihm lag der Bursche, der ihn mit sich gerissen hatte, auf den Knien. Rhythmisch ließ er seinen Oberkörper nach vorn schnellen und jedes Mal, wenn er mit seiner Stirn den Teppich berührte, stieß er einen Stöhnlaut hervor, der ungefähr wie »Ohumbá!« klang.

Und da war auch wieder dieser schneidende Zischlaut, den Rabov schon vorhin wahrgenommen hatte, untermalt von Keuchen und leisem Schluchzen.

Er richtete sich auf seine Knie auf und erhielt im selben Moment einen Schlag auf den Hinterkopf. »In den Staub, Fremdgläubiger!«, raunte eine Stimme, die Rabov nicht sogleich wiedererkannte – anders als vor kurzem noch klang sie nun ängstlich und gepresst. Ungeachtet seiner gewaltigen Lakori schien Radschi Varusa hier drinnen eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Fügsam beugte Rabov seinen Oberkörper nach vorn, wie es ihm der Schlangenkerl vorgemacht hatte. Abermals ertönte der scharfe Zischlaut. Der Bursche neben ihm stöhnte »Ohumbá, Ohumbá«, wobei er seinen Oberkörper wie ein Klappmesser hoch- und wieder runterschnappen ließ. Soweit es seine mehr als unbequeme Haltung erlaubte, spähte Rabov derweil nach links und rechts und schließlich nach vorne, worauf er abermals erstarrte.

Sein Herz setzte für einen halben Schlag aus. Ruhig, ganz ruhig, wies er sich an – schließlich hatten ihn seine Lehrmeister einem sorgfältigen Training unterzogen, damit er in Situationen wie dieser kaltes Blut bewahrte.

Er befand sich in einem geräumigen Rundzelt, wie sie von wohlhabenden Nomaden aus den nordbakusischen Breiten bevorzugt wurden. Der Boden war mit Teppichen in leuchtenden Farben ausgelegt (feuerrot, sonnengelb, wüstenhimmelblau), auch die Wände waren mit Flechtteppichen dekoriert, die allesamt nur ein einziges Motiv zeigten, dafür aber in unerschöpflichen Variationen: Schlangen von unerhörter Größe, mit Gold- und Edelsteinkronen auf dem Schuppenhaupt.

Wieder das Zischen. Es kam von dem mit Teppichen überhäuften Sockel, vor dem er und der junge Akrobat auf den Knien lagen. Der Sockel hatte die Form eines Halbrunds und nahm eine ganze Hälfte des geräumigen Zeltes ein. In großzügigen Schlaufen zusammengerollt, ruhte darauf die monströseste Riesenschlange, die Rabov jemals gesehen hatte, sei es auf Gemälden oder im phoräischen Tiergarten, in seinen Albträumen oder gar (Linglu behüte) in freier Natur.

Eine nordbakusische Lyrissa gigante, in entringeltem Zustand mindestens fünfundzwanzig Meter lang. Der goldgelbe Bestienleib, mit funkelnd grünen Netzlinien gemustert, ein ungeheurer Muskelwulst, mächtig genug, um jede erdenkliche Kreatur auf diesem Planeten mit einer einzigen Umschlingung zu protoplastischem Brei zu zermalmen.

Sein Kinn in den Teppich gedrückt, die Augen nach oben verdreht, starrte Samu Rabov die Lyrissa auf dem Sockel vor sich an. Sie war von furchtbarer funkelnder Schönheit und ihm war bewusst, dass er sie nicht länger in dieser Weise ansehen sollte. Gerade der Blick einer Lyrissa konnte selbst willensstarke Widersacher lähmen. Aber es gelang ihm nicht, seine Augen von ihr loszureißen, wie sie, das mächtige Haupt wohl einen Meter hoch erhoben, aus gelben Augenschlitzen reglos auf ihr Opfer hinuntersah.

Auf den Jungen, der in der schimmernd schönen Spirale ihres nachlässig zusammengerollten Leibes lag.

So wie ich, bei allen Göttern und Geistern (wisperte es kindlich in Rabovs Seele), beinahe so wie damals ich.

Auch der Junge hatte sich zusammengerollt, die Knie bis unters Kinn gezogen, den Kopf unter seinen Armen verborgen – so lag er auf der Seite und keuchte und schluchzte so leise wie überhaupt möglich in sich hinein. Er war vielleicht elf, zwölf Jahre alt, hellhäutig, sein Gesicht unter den braunen Haaren war nicht zu erkennen. Aber Rabov spürte, dass es ein dunibisches Kind sein musste, hier in Phora geraubt, im Nibraviertel höchstwahrscheinlich, um es der Lyrissa zu opfern.

Was soll das, Varusa – ich verlange, dass Sie den Jungen auf der Stelle freigeben. Er ist ein dunibischer Bürger und …

… und ich fürchte, schnitt ihm Varusa die Gedankenrede ab, dass der Herr königliche Ordnungsbeamte hier wenig zu verlangen hat. Dies ist eine heilige Stätte – der Tempel der göttlichen Schlange Ragadhani, Schöpferin alldessen, was da ist und war und jemals sein wird in dieser Welt. Und nun schweigen Sie und beten, dass die Gottheit unser bescheidenes Opfer annimmt.

Rabov kam es vor, als würde gleich der Boden unter seinen Füßen einstürzen. Verzweifelt versuchte er, Ordnung in den Wirrwarr seiner Gedanken zu bringen. Aber das hier ist Phora, gelang es ihm schließlich einzuwenden. Wir Dunibier glauben an Linglu – was haben die Gottheit Ragadhani und ihre Priester bei uns verloren?

Die große Ragadhani hat uns befohlen, mitsamt ihrem Tempelzelt und ihrer gegenwärtigen Verkörperung nach Phora zu reisen. Wir haben die Vision empfangen und uns sogleich auf den Weg gemacht. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, haben wir entschieden, uns den Anschein einer bakusischen Zirkustruppe zu geben. Für diese kleine Täuschung bitte ich um Nachsicht. Aber Ihr König, Herr Ordnungsbeamter, gewährt seinen Bürgern und allen Fremden Religionsfreiheit und folglich haben wir gegen kein dunibisches Gesetz verstoßen.

Noch während Rabov diese Antwort auf dem Gedankenweg empfing, erklangen die ersten Töne einer schmelzend süßen Flötenmelodie. Weitere Flöten fielen ein und kurz darauf mischten sich Trommeln hinzu. Es klang für Rabov wie ein Zwiegespräch – sehnsuchtsvoll, schwermütig, dann mehr und mehr in heißer Leidenschaft vereint.

Die Musiker befanden sich offenbar hinter ihm und dem jungen Akrobaten, der sein »Ohumbá«-Stöhnen mühelos dem Trommelrhythmus anpasste. Rabov verrenkte sich beinahe den Hals und schließlich gelang es ihm, um sein linkes Knie herum nach hinten zu spähen. Dort zog sich ein weiterer Sockel die Zeltwand entlang, so schmal jedoch, dass man eben mit angezogenen Beinen darauf sitzen konnte. Fünf Männer unterschiedlichen Alters hockten darauf, allesamt in sonnengelben Kutten und mit ebensolchen Turbanen auf den Köpfen, und der mittlere von ihnen war Radschi Varusa. Der Magier blies auf einer Flöte, die aus einem Knochen gefertigt schien. Die Männer zu seinen Seiten taten es ihm gleich, während die beiden außen Sitzenden mit ihren bloßen Händen auf kleine Trommeln schlugen.

Rabov richtete seinen Blick wieder nach vorn. Sein Genick und seine Augen schmerzten von den gewaltsamen Verdrehungen, die er ihnen zugemutet hatte, und noch immer klopfte ihm das Herz wild in der Brust. Vor allem aber bereitete es ihm weiter die allergrößte Mühe, seine Gedanken zu klären und zu entscheiden, wie er jetzt weiter vorgehen sollte.

Der angebliche Zirkusmann Radschi Varusa war offenbar kein Geringerer als der Hohepriester einer bakusischen Schlangengottheit, die sich nach Ansicht ihrer Anhänger in leibhaftigen Riesenschlangen verkörperte. Warum aber hatte die göttliche Ragadhani den Priestern befohlen, sich auf eine so beschwerliche Reise zu begeben? Tausende Meilen trennten den bakusischen Norden vom äußersten Süden Dunibiens, das mit Bakus durch eine schmale Landbrücke verbunden war. Wie seltsam, dachte Rabov und grübelte benommen an diesem Rätsel herum.

Während die Priester hinter seinem Rücken ihre beschwörende Weise trommelten und bliesen. Beschwörung der göttlichen Schlange, damit sie das Opfer gnädig annahm.

Erst als Rabov abermals jenen Zischlaut hörte, tauchte er aus seinem Dämmerzustand wieder auf. Der Junge vor ihm auf dem Sockel hatte sich in eine sitzende Haltung aufgerichtet. Die Knie noch immer an die Brust gezogen, starrte er mit weit zurückgelegtem Kopf zur Lyrissa hinauf. Sie hatte ihren Hals zu einem Fächer aufgebläht, der wie ein beschützendes Dach über dem Jungen schwebte, während die Riesenschlange ihren Kopf ruckweise zu ihm herabstieß. Aus funkelnd grünen Augen starrte sie ihn an. Als ihr Kopf genau vor dem Gesicht des Jungen war, riss sie ihr Maul auf und die zwiegespaltene Zunge schnellte hervor.

Der Junge schrie auf. Im selben Moment sprang Rabov hoch und warf sich herum. Noch in der Aufwärtsbewegung zerrte er mit beiden Händen seinen Überwurf auseinander und schwenkte ihn wie eine Fahne im Halbkreis. Ganz kurz ließ er das königliche Zeichen vor den Augen der thronenden Priester aufblitzen und im selben Moment erstarrten die trommelnden Finger und flötenden Lippen und die Beschwörungsmelodie erstarb. Die Silbersichel war mit einer Kraft aufgeladen, die er nach den Vorschriften der Mysto nur im Notfall einsetzen durfte – ihr Blitzen ließ jeden, der davon getroffen wurde, für eine mehr oder weniger kurze Zeitspanne erstarren.

Während die fünf Priester wie Steinfiguren auf ihrem Sockel verharrten, löste Rabov mit fliegenden Fingern die Silbersichel aus dem Innenfutter seines Überwurfs. »Schau nicht zu mir«, befahl er dem Jungen, der sich halb zu ihm umgewandt hatte. Der Kopf der Lyrissa, drei Zoll neben seiner rechten Schläfe, war größer als der Kopf des Jungen.

Der Junge senkte seinen Blick. Er zitterte am ganzen Leib und seine magere Brust hob und senkte sich stoßweise.

Er war älter, als Rabov geglaubt hatte, dreizehn oder vierzehn Jahre. Rabov sah ihn an und fühlte sich wie von einer uralten Last befreit. Das hier war ein Auftrag wie jeder andere, eine Arbeit, für die er von den besten Lehrmeistern des Dunibischen Königreichs ausgebildet worden war. Darüber hinaus hatte der Junge da drüben nichts mit ihm zu tun. Linglu sei gelobt.

Rabovs Hand flatterte höchstens ein ganz klein wenig, als er die Silbersichel in Richtung der züngelnden Lyrissa schwenkte. Ihr Kopf ruckte herum, die Augenschlitze richteten sich auf die Sichel und da traf sie der versteinernde Blitz.

»Komm jetzt, Junge. Klettere über die Schlange. Sie kann sich nicht bewegen. Aber mach schnell.«

Der Junge erhob sich taumelnd. Er war nackt bis auf einen sonnengelben Lendenschurz, die rituelle Bekleidung des Schlangenopfers, wie Rabov annahm. Der Junge starrte ihn an, seine Unterlippe zitterte, gleich würde er in Tränen ausbrechen.

»Reiß dich zusammen. Uns bleibt nicht viel Zeit, bis hier alle wieder aufwachen.«

Zögernd streckte der Junge eine Hand aus, zuckte vor dem glitschig kalten Schlangenleib zurück, probierte es dann aufs Neue. Unbeholfen krauchte er über die Wülste der Lyrissa hinweg und gerade in dem Moment, als Rabov vor den Sockel trat, um dem Jungen herunterzuhelfen, nahm er aus den Augenwinkeln einen Schemen wahr, der vom Boden aufsprang und sich durch einen Spalt in der Zeltwand nach draußen schlängelte.

Der junge Akrobat – Rabov verfluchte sich selbst, er hatte den Schlangenburschen im Getümmel ganz einfach vergessen. Er schaute dem Schatten hinterher, der sich rasch vom Zelt entfernte.

»Nichts wie weg.« Er schob die Silbersichel in seine Hosentasche und versuchte, dem Jungen seinen Überwurf umzuhängen, aber der schüttelte den Kopf und rannte schon los. Durch den Spalt in der Zeltwand und dann in gestrecktem Lauf über den ehemaligen Schindanger, auf dem noch im letzten Jahrhundert die zum Tode Verurteilten hingerichtet worden waren.

Überall auf dem weiten Platz standen Zirkusleute zu zweit oder in größeren Gruppen, steckten die Köpfe zusammen und starrten hinter ihnen her. Die Steppenlöwen brüllten in ihrem Käfig. Im Laufen sah Rabov über seine Schulter zurück und staunte über die Größe und Pracht des Tempelzeltes, das nun für aller Augen sichtbar am Rand des Rummelplatzes stand. Sonnengelb wie die Umhänge und Turbane der bakusischen Priester, von einer Kuppel gekrönt, die die Umrisse eines riesenhaften Schlangenhauptes aufwies. Wenn Varusa und die anderen Priester zu sich kämen, würden sie sich zunächst nur dunkel an das eben Erlebte erinnern. Erfahrungsgemäß war auch die Lakori einer Person, die in die Starre geschickt worden war, noch für einige Zeit geschwächt. Bis Radschi Varusa wieder imstande wäre, einen Bannzauber gegen sein entflohenes Opfer und dessen Retter zu wirken, mussten sie außerhalb seiner Reichweite sein.

Doch der Junge war kaum ein Dutzend Schritte gelaufen, als er so abrupt stehen blieb, dass Rabov ihn beinahe umrannte. »Ich muss zurück«, stieß er japsend hervor. »Die Göttin …«

»Blödsinn.« Rabov erinnerte sich nur allzu gut – gefährlicher als jedes Schlangengift war der lähmende Wahn, dem man mehr und mehr verfiel: Dass man auserwählt sei, um der gefräßigen Gottheit geopfert zu werden, und es frevelhaft und feige wäre, sich dieser heiligen Pflicht zu entziehen. »Wie heißt du eigentlich?«

Der Junge gab ein kaum verständliches Murmeln von sich.

»Zoran? Also auf jetzt – wir müssen weiter, so schnell wie überhaupt möglich.«

Doch Zoran blieb stehen, wo er stand, und schaute mit reuevoller Miene zum Tempelzelt zurück. Da packte Rabov den Jungen beim Arm und riss ihn mit sich, weiter auf das schüttere Waldstück zu. Außer Atem rannte er zwischen den Bäumen hindurch und schon unterschied er vor ihnen die kleine Wiese, den schilfgesäumten Pfad und die halb zusammengebrochene Brücke vor dem genauso verwahrlosten alten Schiffstor.

Dann drehte er sich im Laufen noch einmal um. Und sah die Schlangenkerle, zwei Dutzend dunkelhäutiger Burschen, die in wilden Sprüngen hinter ihnen herhetzten. Wie Heuschrecken, die sich zu Gebilden von beliebiger Höhe übereinander auftürmen konnten, oder wie magnetisch aufgeladene Eisenklammern, die sich im Nu ineinander verhakten und wieder voneinander lösten. So sprangen die Kerle im Rennen einander auf die Schultern, stießen sich voneinander ab, hangelten sich an Bäumen hoch, schwangen sich an Lianen durch die Luft, um wieder auf Schultern oder Rücken eines ihrer Kameraden zu landen. Es waren viel zu viele für die Silbersichel, sagte sich Rabov, und sie waren zu schnell und über einen zu weiten Raum verstreut. Wenn er jetzt stehen bliebe, um ihnen den magischen Blitz zu schicken, würde vielleicht ein halbes Dutzend von ihnen für kurze Zeit erstarren. Die restliche Brut aber würde sich auf sie beide stürzen, um Zoran zu überwältigen und zurück ins Tempelzelt der Lyrissa zu schleppen.

»Schneller«, feuerte Rabov den Jungen an. »Hinter dem Tor sind wir in Sicherheit.«

7

vigDie Schlangenkerle sprangen einander auf die Schultern, fassten sich bei den Händen, warfen sich wechselseitig in weitem Bogen hinter Rabov und Zoran her. Sie tänzelten über das Geländer, flickflackten über Breschen im Plankenboden, schlängelten sich ober- und hangelten sich unterhalb der Brücke voran. Noch ehe Rabov den Jungen in den verrotteten Bogen des Schiffstors gezerrt hatte, waren die ersten Zirkusburschen bei ihnen. Sie bildeten einen Ring um ihn und Zoran, der wie schicksalsergeben neben Rabov stand, den Kopf auf die keuchende Brust gesenkt.

Die Kerle sprachen kein Wort, starrten sie nur aus zwei Dutzend funkelnd schwarzen Augenpaaren an. Sie fassten Rabov und Zoran bei Schultern und Armen, offenbar entschlossen, ihre Beute zurück zum Tempelzelt zu zerren. »Schau nicht zu mir, Zoran«, sagte Rabov. »Aber Obacht, gleich geht es weiter.«

Ohne auf eine Antwort des Jungen zu warten, riss er die Sichel aus seiner Hosentasche und schwenkte sie so, dass das Blitzen wenigstens ein halbes Dutzend Schlangenburschen traf. Mit Schulter und Ellbogen rempelte er die Versteinerten an und sie kippten nach hinten weg wie angesägte Bäume. Ehe die restlichen Kerle sich von ihrem Schrecken erholt hatten, rannte Rabov durch die Bresche und zog Zoran hinter sich her, durch das Schiffstor zurück in die Stadt.

Entgegen seiner Beteuerung waren sie diesseits der Stadtmauer jedoch keineswegs in Sicherheit. Mindestens fünfzehn dunkelhäutige Burschen im schwarzen Lendenschurz schlängelten sich hinter ihnen in die Stadt. Auf dem langgezogenen Platz zwischen Schiffstor und Tramstation ging es mittlerweile recht geschäftig zu – gerade eben hielt wieder eine Dampfbahn vor der abgewrackten Lagerhalle, von Pferden und Mulis gezogene Kutschen und Karren rumpelten die Straße entlang. Trauben von Leuten rannten von allen Seiten auf die Tram zu, aus der gleichzeitig Dutzende von Fahrgästen ausstiegen – vom selben abgehärmten Typus wie jene, mit denen Rabov gekommen war. Straßenhändler priesen schreiend ihre kümmerliche Ware an (geflickte Kittel, zerbeulte Töpfe, zerfledderte Linglu-Gebetbücher), Bettler reckten klauenartige Hände aus der Gosse empor, und nur von den königlichen Ordnungshütern ließ sich wieder mal niemand sehen.

Allerdings wäre den Stadtpolizisten wohl auch nichts Verdächtiges aufgefallen, denn die Schlangenburschen gingen äußerst geschickt vor. Anstatt sich einzeln und bemüht unauffällig an ihre Beute anzupirschen, führten sie im Gegenteil atemberaubende Gemeinschaftskunststücke vor. Sie sprangen sich gegenseitig auf die Schultern, kletterten gedankenschnell aneinander empor, formten ihre Leiber zur Pyramide, zum Turm, dann wieder zu einem kühn gewölbten Torbogen.

Die Leute lachten und applaudierten und währenddessen schnellte und flickflackte das Bauwerk aus schlangenhaft beweglichen Leibern unbeirrbar hinter Rabov und dem Jungen her. Im nächsten Moment spannten sich die Kerle zu einer Brücke, die im übernächsten in sich zusammenstürzte. Die Leute riefen »Ah!« und »Oh!« und starrten erwartungsfroh auf das Chaos aus dunkelhäutigen Leibern und Gliedern, das sich zu ihren Füßen zu immer ärgerem Durcheinander verwirrte.

Mittlerweile hatte sich auch ein königlicher Stadtpolizist den Schaulustigen zugesellt. Gedankenverloren streichelte er den Knüppel, der ihm am Gürtel baumelte, doch er wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, gegen die Schausteller einzuschreiten. Sowenig wie die anderen Gaffer hatte der Ordnungshüter mitbekommen, dass die menschliche Brücke im Augenblick ihres Zusammenbruchs zwei Passanten unter sich begraben hatte, einen hoch aufgeschossenen Mittdreißiger mit dünnem Haarzopf und einen ungefähr vierzehnjährigen Jungen. Wie die Akrobaten war der Junge nur mit einem (allerdings sonnengelben) Lendenschurz bekleidet, aber im Gegensatz zu ihnen gehörte er dem hellhäutigen dunibischen Typus an und das zumindest hätte den königlichen Büttel aufrütteln müssen. Doch die Zirkusleute schirmten ihre Beute so geschickt ab, dass die Gaffer nicht einmal bemerkten, wie Rabov und der Junge mit Fäusten und Knien bearbeitet wurden.

Weiterhin zu einem amorphen Gewimmel am Boden zusammengeballt, machten sich die bakusischen Schlangenburschen mitsamt ihrer Beute auf den Rückweg. Erbarmungslos schleiften sie Rabov und Zoran, die ihrerseits aneinandergepresst und ineinander verknotet lagen, über den gestampften Lehmboden in Richtung Schiffstor. Wundersamerweise hatte Rabov seinen geliebten Überwurf noch immer nicht verloren, mit den Münzen darin, mit denen er eigentlich die Zirkusleute für sich hatte gewinnen wollen. Aber diese Schlangenkerle gaben sich ohnehin nur den Anschein, harmlose Akrobaten zu sein – in Wahrheit waren sie Tempelwächter der Gottheit Ragadhani, das wurde Rabov mit jedem Faustschlag, den die Burschen ihm oder seinem Schützling versetzten, aufs Neue bewusst.

Auch wenn ihm infolge eines besonders tückischen Stübers das rechte Auge unaufhaltsam zuschwoll, bemühte sich Rabov, den Überblick zu bewahren. Die Kerle schleiften sie beide schnurstracks auf das Schiffstor zu. Zoran hatte sich an ihn geklammert und wimmerte, wie vorhin auf dem Opfersockel, fast bewusstlos vor sich hin. Mit seinem guten Auge peilte Rabov zwischen den auf- und abzuckenden Gliedmaßen seiner Peiniger hindurch und wartete ungeduldig darauf, dass das Eckhaus in Sicht käme. Die Schaulustigen applaudierten nun rhythmisch und riefen »Zugabe, Zugabe« und die Schlangenburschen brüllten gleichfalls um die Wette, zweifellos um etwaige Hilfeschreie ihrer Beute zu übertönen. Doch Rabov lag nichts ferner, als auch noch seinerseits herumzulärmen.

Mitsamt dem Jungen und seinem unrettbar zerfetzten Überwurf ließ er sich einige weitere Meter über den Boden schleifen. Dann endlich tauchte vor seinem Auge das untere Drittel der rostigen Türbeschläge von Nummer Sieben auf. Hatte er sich jemals Vorbehalte gegenüber diesen nützlichen Notfalleinrichtungen erlaubt? Jetzt jedenfalls wäre er schon mit einem Erdloch zufrieden gewesen, in dem er und Zoran sich vor den Tempelwächtern und vor allem vor der Gottheit Ragadhani verkriechen könnten. Er ließ seine Hand in die Hosentasche gleiten und zog neuerlich das Zeichen hervor.

Die Silbersichel blitzte auf und die beiden Burschen über ihm erstarrten. Wie eine menschliche Grabplatte lagen sie auf Rabov. Es gelang ihm jedoch, die Versteinerten von sich zu stoßen, und er richtete sich schwankend auf. Rings umher erschallten Schreie maßlosen Erstaunens – ganz so, als hätte sich vor der Menge ein Grab geöffnet und siehe, der vermeintlich Tote taumelte aus der Unterwelt hervor. Springlebendig, allerdings mit zugeprügeltem Auge und einem ebenso übel zugerichteten Kind im Arm, das er sich nun mitsamt den Überresten seines Umhangs über die Schulter warf. Ungelenk setzte er über das Gewimmel zu seinen Füßen hinweg und rannte auf die Tür von Nummer Sieben zu, obwohl die doch offensichtlich verrammelt war. Mit äußerster Anstrengung gelang es Rabov, sich im Rennen in jenen Zustand zu versetzen, den er für sich Agosch-Trance nannte – eine leichte Benommenheit, die mit Schwindelgefühl einherging und ganz spezielle lakorische Kräfte in ihm freisetzte.

So blieb den Gaffern, den Schlangenburschen und selbst dem phoräischen Stadtbüttel nichts anderes übrig, als sich vor Verwunderung die Augen zu reiben. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags schien sich die rostige Eisentür in ein Gespinst aus Nebel- oder Spinnenfäden zu verwandeln. Die beiden Gestalten wurden regelrecht ins Innere hineingesogen und beim nächsten allgemeinen Blinzeln war die Tür wieder eisern und zu.

8

vigMit großen Augen schaute sich Zoran um und sah dann Rabov fragend an. Aber das hier verblüffte auch Rabov.

Sie befanden sich im Innern eines geräumigen Tropfens oder einer umfänglichen Träne, die aus einem seidig schimmernden Metall geformt schien. Rabov fuhr mit den Fingerspitzen über die sanft nach außen gewölbte Wand – es war ein Material, das er niemals vorher gesehen oder gar betastet hatte. Es fühlte sich undurchdringlich hart und zur gleichen Zeit elastisch an, wie eine Membran. Es glänzte silbrig und war auf unerklärliche Weise durchscheinend, so als ob es von innen heraus strahlte. Tatsächlich war das Innere des Tropfens von sternenbleichem Licht erhellt, obwohl Rabov nirgendwo eine Lampe oder Laterne entdecken konnte. Abgesehen von einer Art Schrank, der sich als vertikaler Wulst rechter Hand aus der Wand wölbte, war der seltsame Schutzraum leer.

»Was ist das hier?«, fragte Zoran. Er flüsterte, so wie Kinder es im Dunkeln unwillkürlich tun. Vom Gelärme der Menge auf dem Schiffstorplatz drang lediglich ein dumpfes Summen zu ihnen herein.

»Ein Schutzraum«, gab Rabov in entschiedenem Tonfall zurück. »Ich bin Samu Rabov, königlicher Spezialagent. In Notfällen wie diesem …« Weiter kam er nicht – hinter den Schranktüren begann ein Telefon zu gongen.

Es klang vollkommen unwirklich in dieser Umgebung. Rabov war sich nicht einmal sicher, ob die seidig schimmernde Membran um sie herum aus einem von Menschen legierten Metall bestand – oder vielleicht aus organischem Material. Wie eine Eihülle oder ein Kokon. Aber das Telefon gongte weiter und weiter.

»Gehen Sie nicht dran?«, flüsterte Zoran.

»O doch«, antwortete Rabov zuversichtlicher, als ihm zumute war. Er zog am oberen der beiden rundlichen Schrankknöpfe. Daraufhin schwangen zwei Flügeltüren auf – nach oben und unten wie die Kiefer eines hinter der Membran verborgenen Riesenmauls.

Gebückt spähte Rabov zwischen den Flügeln hindurch. Dahinter befand sich in der Tat ein geräumiger Schrank, mit einem an der Rückwand festgeschraubten Telefon im obersten Fach und sorgsam aufgestapelten Utensilien in den Abteilungen darunter.

Das Telefon war genau so ein schwarzer Kasten wie zu Hause in Rabovs Kellerbüro. Der vertraute klobige Anblick flößte ihm neue Zuversicht ein. Er beugte sich noch weiter vor und nahm Hörrohr und Sprechmuschel zur Hand. »Wer da?«

Zunächst vernahm er nur ein Rauschen und Brausen wie aus der Tiefe eines Ozeans. Dann jedoch mischte sich eine energische weibliche Stimme hinzu: »Sammo, bist du das? Die Verbindung ist so schlecht.«

Sammo. Wie lange hatte sie ihn nicht bei seinem Kosenamen gerufen. Rabov seufzte auf vor Glückseligkeit. »Calin? Ah, Linglu sei Dank. Ich bin am Schiffstor in Nummer …«

»Ich weiß, wo du bist. Was ist passiert?«

Er tastete behutsam über sein nahezu vollständig zugeschwollenes Auge. Wenn Calin ihn heute Abend so sähe – vielleicht würde sie seine Wunden mit zarten Lippen küssen, wie sie es einmal gemacht hatte, als er zerschrammt und zerschunden von einem Überlebenstraining in den Gesperrten Sümpfen zurückgekehrt war. Alles würde wieder wie früher werden, bevor er aus Calins Herz und Haus verstoßen worden war.

»Bist du noch dran? So rede doch endlich, Samu.«

Die kalte Anrede riss ihn aus allen Träumen. Er räusperte sich und berichtete nüchtern, was in den zurückliegenden Stunden geschehen war. Der angebliche Zirkus mit seinem falschen Direktor Varusa. Das Tempelzelt der bakusischen Schlangengottheit Ragadhani. Die Opferung des Jungen, die er mit knapper Not verhindert hatte. Die Schlangenburschen, zweifellos Tempelgardisten, die ihn und Zoran beinahe wieder eingefangen hätten. »Bevor du wieder fragst, Calin«, schloss er, »ja, ich kenne die Vorschriften. Schutzräume dürfen nur im Notfall geöffnet werden. Aber ich hatte keine andere Wahl.«

Das Brausen und Knattern in der Leitung wurde stärker. Der Junge kauerte sich zu seinen Füßen vor den Schrank und begann, in den Fächern herumzukramen.

»Und ob du eine Wahl hattest.« Mit einem Mal drang Calins Stimme so klar aus dem Hörer, als ob sie neben ihm stünde. »Anstatt wie ein Wilder in das Tempelzelt zu stürmen, hättest du mir erst einmal Bericht erstatten müssen.« Sie klang erbost und erschrocken und das beunruhigte Rabov fast noch mehr als der Inhalt ihrer Worte. Selbst in Momenten rosigster Innigkeit hatte er Calin Stingard kaum jemals unbeherrscht erlebt.

»Und der Junge?« Er dämpfte seine Stimme. »Ich konnte mir ja nicht gut erst deine Genehmigung, ihn zu retten, holen. Versteht du nicht, Calin? Bis dahin hätte ihn die verdammte Lyrissa mit Haut und Haaren aufgefressen.«

Zoran sah mit gequälter Miene zu ihm auf und Rabov nickte ihm zu. Erstaunt sah er, dass der Junge einen ganzen Stapel bleigrauer Blechhelme aus dem Schrank hervorgekramt hatte. Aus dem untersten Fach lugten Stiefel mit hohen Schäften, aus den Laden darüber hingen schwarze Jackenärmel mit daran festgenähten Handschuhen hervor.

»Dummkopf«, gab Calin Stingard zurück. »Die Genehmigung hättest du nie bekommen.«

»Du hättest ihn geopfert?«, fragte er. Es erstaunte ihn nicht halb so sehr, wie er erwartet hatte. »Aber aus welchem Grund?«

Calin stöhnte auf, wie sie es immer machte, wenn sie kurz davor war, die Geduld zu verlieren. »Du bist ein sentimentaler Kindskopf, Samu, vor allem, wenn dein wunder Punkt berührt wird. Der gewaltige Radschi Varusa begibt sich mitsamt seinen Priestern, seiner Tempelgarde und der verkörperten Gottheit inkognito nach Phora – und unser Spezialagent Rabov hat nichts Eiligeres zu tun, als Varusa wissen zu lassen, dass wir ihm auf der Spur sind! Wie sollen wir jetzt noch herausbekommen, was er hier bei uns vorhat? Kannst du mir das mal verraten? Na, wir reden heute Abend weiter – und am besten machst du dich schon mal auf Ärger gefasst.«

Bevor er noch etwas zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, wechselte Calin das Thema. »Im Schrank findet ihr Sicherheitsanzüge und Helme. Sorge dafür, dass auch der Junge die vollständige Ausrüstung anzieht – jetzt, da du ihm schon mal das Leben gerettet hast«, fügte sie knurrig hinzu. »Um den Weg brauchst du dich im Übrigen nicht zu kümmern – ihr fahrt einfach bis zur Endstation. Dort wartest du mit dem Jungen im Schutzraum auf weitere Anweisungen.« Nach diesen rätselhaften Worten hängte Calin ein.

Rabov ließ Hörrohr und Sprechmuschel sinken und drehte sie in seinen Händen hin und her. Beide Gerätschaften erinnerten ihn immer an Tiefseemuscheln, wie man sie zuhauf aus dem Sand des Smaragdstrandes klauben konnte. Vor bald vier Jahren hatten er und Calin einmal, ein einziges Mal, im Smaragdbusen gebadet. In einer warmen Neumondnacht, als die Dunkelheit vom Wispern der Liebespärchen vibrierte.

Wie hatte Calin ihn genannt? Einen sentimentalen Kindskopf? O ja, sagte sich Rabov, das war er allerdings.

Doch schließlich legte auch er auf und ging neben Zoran in die Hocke. »Wir ziehen jeder so ein Ding an«, sagte er und zupfte an einem der schwarzen Ärmel. »Außerdem Stiefel und Helm.«

Zoran machte wieder große Augen. »Und dann?«, fragte er.

Unschlüssig schaute sich Rabov um. Er war schon halb darauf gefasst, erneut mit den Schultern zucken zu müssen, als er das Zeichen auf dem Boden bemerkte. Die Silbersichel, kaum sichtbar in der genauso silbrig schimmernden Membran. Er deutete darauf. »Lass dich überraschen.«

Rabov warf die zerfetzten Überreste seiner altbewährten Kleidungsstücke von sich, leerte Überwurf- und Hosentaschen aus und häufte seine Habseligkeiten neben sich am Boden auf. Nicht einmal in den ersten Wochen seiner Ausbildung zum Spezialermittler für magisch bedingte Kapitalverbrechen hatte er sich so hilf- und orientierungslos gefühlt wie in dieser Situation. Nur noch mit Socken und Unterhosen bekleidet, zog er einen der Schutzanzüge aus dem Schrank hervor und wendete das seltsame Ding in seinen Händen hin und her. Hose und Oberteil samt Handschuhen waren in einem Stück gearbeitet. Es gab keine Knöpfe oder Schnallen oder sonstige Vorrichtungen, um das verflixte Textil zu öffnen und zu schließen. Die einzigen Öffnungen befanden sich unten an den Hosenbeinen und oben am Hals. Schließlich zog Rabov die Halsöffnung so weit wie möglich auseinander und stieg mit den Füßen voran hinein.

Wider Erwarten erwies sich diese Verzweiflungstat als erfolgreich – der Anzugstoff ließ sich beliebig dehnen und schmiegte sich, wenn man erst einmal hineingeschlüpft war, an den Körper wie eine zweite Haut. Zoran folgte Rabovs Vorbild und war noch vor ihm in ein Paar der kniehohen Stiefel geschlüpft, die federleicht waren und anscheinend aus einem ähnlichen Material wie die Anzüge bestanden. Um was für ein Material es sich dabei handeln mochte, erschien Rabov so rätselhaft wie nahezu alles an diesem Ort. Nur das klobige Telefon und die unförmigen Blechhelme, mit denen sie ihre Ausrüstung zuletzt vervollständigten, stammten aus der ihnen vertrauten Welt – alles andere mussten Überbleibsel aus dem Zeitalter vor der Großen Flut sein, falls nicht der gesamte Tropfenraum mit allem Drum und Dran eine unbegreiflich stabile lakorische Illusion war.

Auch die Handschuhe schmiegten sich wie eine zweite Haut um Rabovs Finger und so gelang es ihm ohne größere Mühe, seine Siebensachen in die Taschen seines neuen Anzugs zu stopfen. Gestiefelt und behelmt standen sie schließlich inmitten der Membran, für weitere Abenteuer bereit. Rabov war schon im Begriff, die Silbersichel über dem Zeichen im Boden zu schwenken, als sich Zoran an seinen Arm klammerte.

»Bitte nicht, Herr. Ich muss zu ihr zurück.« Rabov sah ihn nur düster an und da brach der Junge in Tränen aus und begann schreiend zu stammeln: »Zur Schlangengöttin – ich bin berufen, das wissen Sie so gut wie ich – von Ragadhani auserwählt – und wenn ich mich nicht opfern lasse, sind meine Familie und ich bis in die fünfte Generation verflucht …«

Rabov stieß ihn so heftig zurück, dass der Junge in den Schrank krachte. »Pass gut auf, Zoran«, sagte er so ruhig, wie es ihm möglich war, obwohl ihm das Blut in den Ohren rauschte. »Bei der allernächsten Gelegenheit erzähle ich dir, wie ich beinahe von Schlangen verschlungen worden wäre. Und wenn ich dich danach noch ein einziges Mal sagen höre, dass du dich opfern lassen willst …« Keuchend beugte er sich zu Zoran hinab, der gut eineinhalb Köpfe kleiner war. »Dann, mein lieber Freund«, schloss er mit grimmiger Heiterkeit, »verfüttere ich dich eigenhändig an die bakusische Lyrissa, das schwöre ich dir bei meinem Leben.«

Er reichte Zoran die Hand und der ergriff sie sichtlich erschüttert und schüttelte sie, um Rabovs grausigen Schwur zu bekräftigen. Dennoch hielt Rabov die Hand des Jungen vorsichtshalber fest, als er mit seiner Linken nun endlich die Silbersichel über dem Zeichen im Boden der Membran schwenkte.

9

vigIm Flackerlicht der einsamen Gaslaterne sah Zorans Gesicht beinahe grün aus. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte er.

Sie befanden sich auf einer Art Bahnsteig im Nirgendwo. Einer schmalen, sorgsam gepflasterten Plattform, die sich nach wenigen Metern wie im Nichts verlor. Nicht bloß im Dunkeln – Rabov hatte es mit tastenden Stiefelschritten überprüft. Der »Bahnsteig« hörte nach ein paar armseligen Metern hier wie dort ganz einfach auf.

»Wir warten«, verkündete Rabov. Seine Stimme erzeugte abstürzende Echos. Es klang, als ob sie sich in großer Höhe befänden, unter ihnen nichts Festeres als ein paar Hunderttausend Kubikmeter Luft. Kühle, modrig riechende Luft. So als läge ganz unten, am Grund dieses dunklen, dumpfigen Nichts, vielleicht ein Staubecken. Für Abwasser, Grundwasser – verdammt noch mal, was wusste er denn.

Nichts. Gar nichts weiß ich, sagte sich Rabov, während er mit zuversichtlichem Gesichtsausdruck auf dem »Bahnsteig« auf und ab ging und dem Jungen immer im Vorbeigehen aufmunternd zunickte.

»Wo sind wir hier?«, wisperte Zoran.

Rabov blieb neben ihm stehen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Unter der Erde«, sagte er leichthin. »In Phoras Gedärmen.«

Zur Rechten ihres luftigen Verbannungsorts verlief ein stramm gespanntes Stahlseil, parallel zur Plattform und gerade in solcher Höhe, dass Rabov selbst auf den Zehenspitzen nicht drankam. Bläulich schimmernd und wulstig wie der Oberarm eines Gewichthebers, tauchte es genau wie ihr »Bahnsteig« da hinten aus dem Nichts auf, um nach wenigen Metern wieder im Nichts zu verschwinden. Und doch war es das verlässlichste Indiz für Rabovs Hypothese, dass sie sich in einer Art unterirdischem Drahtseilbahnhof befanden.

»Und ich hab immer gedacht«, hörte er Zoran murmeln, »hier unten wär … na ja, Erde halt. Stein. So wie ein Berg, nur eben unterirdisch. Massiv. Aber jetzt das hier …?«

Mit einem stummen Seufzer pflichtete Rabov ihm bei. Als Kind hatte natürlich auch er die alten Ammenmärchen gehört (und fiebrig geliebt), in denen es hieß, dass die Große Flut nie wirklich wieder verschwunden sei. Zum Ende des Alten Zeitalters hatte Linglu den ganzen Planeten mit brüllenden, reißenden Wassern überschwemmt, um die Menschen (und vornehmlich die Dunibier) für die Erschaffung selbstbewegter Maschinen zu bestrafen. Alle Frevler waren damals in den Fluten ertrunken, all ihre Hervorbringungen und sämtliche Anleitungen, wie die verbotenen Fahr-, Flug- oder Schießmaschinen zu erbauen seien, waren unter klaftertiefen Schlamm- und Geröllmassen begraben worden. Glaubte man den Linglu-Priestern, dann hatte Linglu anschließend die Große Flut in die Meeresbecken zurückgezwungen, die Kontinente waren wieder aufgetaucht (zumindest teilweise) und die Überlebenden hatten sich darangemacht, ihre Dörfer und Städte von Schlamm und Schlick zu befreien. Glaubte man jedoch der volkstümlichen Überlieferung, die in nibräischen genauso wie in noïlitischen oder zaketumesischen Schauermythen lebendig geblieben war, so hatte Linglu damals die Große Flut lediglich angewiesen, sich unter die Erdkruste zurückzuziehen. Sollten seine Geschöpfe den frevlerischen Lebenswandel ihrer Altvordern wiederaufnehmen, so würde eine zweite Große Flut, noch furchtbarer als die erste, aus der Erdkugel hervorplatzen, um ganze Städte (und insbesondere Phora) auf urgewaltigen Wassersäulen hoch in den Himmel zu schießen, und hernach würde es sieben mal sieben Tage lang Maschinentrümmer und Menschenfetzen regnen.

Wie zur Bekräftigung dieser düsteren Prophezeiung begann es tief unter ihnen zu gurgeln und zu glucksen. Als ob sich die dort lauernden Fluten bereits anschickten, auf Linglus Geheiß erneut zu brüllenden Gewässern anzuschwellen und »gar jegliches Gezwerg und Gewerk zu verderben«, wie es in einer Geschichte hieß, die den kleinen Sam tief beeindruckt hatte. Schon spürte Rabov mit Grausen, wie der Boden unter seinen wundersam empfindungsechten Stiefelsohlen erzitterte, und ein schauerliches Ächzen und Malmen hob an und erfüllte das Dunkel all umher. Rabovs Finger krallten sich in die Schulter des Jungen, und Zoran kniff seine Augen zusammen, als wäre das, was nun unweigerlich käme, ungemein grässlich anzusehen.

Ratternd und scheppernd stoppte der Zug neben ihrem Bahnsteig. Es war eine einzelne Kabine, mit offenem Dach und zwei schmalen Holzsitzen hintereinander wie bei den bunt lackierten Spielzeugwagen auf dem Dampfkarussell. Dieses Gefährt hier war allerdings rußschwarz und vielfach zerbeult. Inmitten der Kabine wuchs eine Eisensäule empor, mit einem rostigen Riesenschlüssel in Nabelhöhe, einer leise schaukelnden Gaslaterne darüber und zwei wuchtigen Antriebsrädern am oberen Ende, die sich auf dem Drahtseil mit malmendem Klang langsam drehten.

»Na los, rein«, sagte Rabov. Als der Junge keine Anstalten machte, seine Anweisung zu befolgen, packte er Zoran kurz entschlossen um die Mitte und hob ihn in die Kabine hinein.

Apathisch sackte der Junge auf den vorderen Stuhl. Anstelle einer Waggontür gab es nur einen rostigen Sicherheitsbügel. Mit einem Satz, der ihr Gefährt zum Schwanken brachte, sprang Rabov darüber hinweg. Noch während er dabei war, sich in den hinteren Sitz zu zwängen, fuhr die Bahn mit scharfem Rucken wieder an.

Rabov verstaute leise fluchend seine Knie hinter Zorans Rückenlehne. Diese Bahn war anscheinend für Klein- und Halbwüchsige gedacht – »für Gezwerg und Gewerk«, fiel ihm aufs Neue ein –, jedenfalls nicht für ausgewachsene Spezialagenten mit stattlichem Scheitelmaß.

Ratternd jagte die Seilbahn durch die unterirdische Dunkelheit. Der Fahrtwind versetzte Rabov Backpfeifen und wenn er sich nur ein wenig vorbeugte, wehten ihm Zorans Locken ins Gesicht. Es erstaunte ihn, dass sie mit solcher Geschwindigkeit dahinrasten, obwohl ihre Bahn anscheinend nur durch ein Federwerk angetrieben wurde. Er hörte die Zahnräder im Innern der Eisensäule schnurren und knacken. Der gewaltige Schlüssel drehte sich verblüffend schnell in seiner Aussparung und Rabov war darauf gefasst, dass sie den Mechanismus in Kürze wieder aufziehen mussten. Aber nur einige Augenblicke später verstummte das Räderwerk in der Eisensäule. Der Schlüssel hörte auf, sich zu drehen, anstelle des ratternden Antriebs war nur noch das Quietschen und Malmen der beiden Räder über ihnen auf dem Stahlseil zu vernehmen. Und anstatt an Tempo zu verlieren, nahmen sie nun erst richtig Fahrt auf.

Rabov presste seinen Rücken gegen die Holzlehne und stemmte die Füße auf den Boden. In irrwitzigem Tempo rasten sie fast lotrecht in die Tiefe. Er merkte es an dem bitteren Geschmack, der ihm plötzlich auf der Zunge brannte – er verspürte Brechreiz. Die Laterne schlug blechern in irrwitzigem Rhythmus gegen die Eisensäule. Es klang wie die Totenglocke in der Friedhofskapelle von Raginor, deren scheppernde Hast den kleinen Sam bis in seine Träume verfolgt hatte. Rabov würgte und schluckte. »Festhalten, Zoran!« Er hatte Mühe, dem Jungen diese Warnung zuzuschreien – der Fahrtwind riss ihm an den Backen, zerrte ihm die Lippen auseinander, haute ihm beinahe den Helm vom Kopf.

Und dann landete ihre Kabine mit einem Krachen auf dem Wasser. Zoran stieß einen Schrei aus – in Rabovs Ohren klang es ebenso nach Entzückensjubel wie nach Angst. Gischt spritzte um sie empor, Wellen klatschten ihnen ins Gesicht und für einige Augenblicke saßen sie fast bis zu den Knien im Wasser. Erstaunt nahm Rabov wahr, dass seine neue Bekleidung allem Anschein nach wasserdicht war. Die Tropfen perlten an seiner Brust, an Stiefeln und Handschuhen herunter wie Regen von zaketumesischen Palmblättern. Gurgelnd lief die Brühe unterdessen wieder aus ihrer Kabine und die Bahn begann, wie ein Boot durchs Wasser zu pflügen, unwirklich langsam nach ihrer Schussfahrt.

Rabov leckte sich über die Lippen. Das Wasser schmeckte nach Salz und das jagte ihm Angst ein: Sie mussten viele Meilen vom Smaragdbusen entfernt sein. Was also hatte Meerwasser hier unten verloren? Hatte der Grüne Ozean unbemerkt die südlichen und südwestlichen Stadtteile Phoras unterspült? Das hörte sich alles andere als glaubwürdig an. Aber ein Staubecken für Grund- oder Abwässer war das hier jedenfalls noch viel weniger.

Der Waggon schlug in regelmäßigen Abständen auf unsichtbare Wellen auf und bei jedem Aufprall ächzte die Karosse aus allen Nieten und Nähten. An ihrem Blechhaken an der Eisensäule sprang die Gaslampe auf und ab und das Flämmchen unter dem Glassturz flackerte zum Erbarmen. Im Schneckentempo pflügten sie noch einige Meter voran, dann erstarb der Fahrtwind vollends und sie verharrten inmitten der unterirdischen See.

So still war es mit einem Mal, dass Rabov hörte, wie Zoran die angestaute Atemluft ausströmen ließ. Er beugte sich über den Seitenrand und tauchte seine Rechte ins Wasser. Kühl und nahezu unbewegt. Die Wellen, durch die sie eben noch gestampft waren, hatte wohl einzig ihr stumpfnasiges Gefährt aufgewühlt. Selbst die Laterne schaukelte nur noch fast unmerklich vor sich hin und darunter klaffte ein längliches Loch in der Eisensäule, wo doch eben noch …

Ein schauerliches Heulen, oder eher ein ekelhaft langgezogenes Stöhnen, aus der Tiefe des Gewässers ließ Rabovs Gedanken gefrieren. Eisig lief es ihm das Rückgrat herunter, so langsam, als ob ein totenkaltes Wesen Wirbel um Wirbel seine Hinterseite hinabkriechen würde. Und dann erklang wieder das unterseeische Gejaule, oder pfeifende Grunzen, die Tonleiter emporschleifend, um schließlich, wenn man das Geheule schon kaum mehr aushielt, mit einem wütenden Röcheln zu enden. Und gleich darauf wieder anzuheben, lauter, zorniger, näher.

»Was … was …«, wisperte Zoran. Mit einem Ruck drehte er sich zu Rabov um, sein Gesicht bleich, der Helm nach hinten verrutscht, die Augen so weit aufgerissen, dass ihm die Augäpfel beinahe aus den Höhlen quollen.

»Ruhig, Junge.« Rabov legte ihm wieder seine Hand auf die Schulter. »Der Schlüssel, Zoran – kannst du ihn irgendwo sehen?«

Das rostige Trumm steckte nicht mehr in der Eisensäule und es ließ sich auch am Boden der Seilbahn nirgendwo blicken. War es vielleicht während ihrer Schussfahrt aus dem Schlüsselloch geflogen und lag jetzt am Grund des subphoräischen Ozeans? Dann gnade uns Linglu.

Das Ungeheuer hob neuerlich an zu heulen. Oder was immer es sein mochte, das dieses nervenzernagende Gejaule hervorrief. Es klang wie nichts, was Rabov jemals gehört hätte. Am ehesten erinnerte es ihn an die dunklen Berichte aus den ältesten Kapiteln des Heiligen Lingluzielischen Buches, die Linglus Kampf gegen die »urbösen Urschlangen der Urmeere« schilderten. »Mit Blitzen zerhackt Er sie, mit Feuern verbrennt Er die Ungeheuer der Ursee, mit Seebeben tötet Er die Riesenwürmer am Meeresgrund, mit Seiner Schlange zerbeißt und vertilgt Er alles Gewürm.«

Mit Seiner Schlange. Über diesen Worten hatte Rabov als Kind und Jugendlicher und noch als junger Mann ganze Nächte gegrübelt.

Widerlich langgezogenes Gewinsel, lauter und näher denn je. Ton um Ton emporschleifend, als ob das Biest durch sein eigenes Geheule veranschaulichen wollte, wie es aus den Tiefen emporstieg.

Gerade in diesem Moment rappelte sich Zoran von seinem Sitz auf. Seine Augen flackerten ärger als die Gaslaterne, glasig sah er durch Rabov hindurch und kippte mit dem Oberkörper voran über Bord. Im letzten Moment bekam ihn Rabov an einem Fuß zu fassen. Er zerrte ihn in den Waggon zurück, kauerte sich neben ihn und rüttelte und schüttelte ihn hin und her. »He, komm zu dir, Zoran. Hier wird jetzt nicht weggedämmert.«

Bäuchlings lag der Junge in dem schmalen Gang neben den Sitzen. Schließlich hob er den Kopf, sah um sich, wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwacht. »Was ist los?«, murmelte er.

»Gute Frage«, lobte Rabov. »Wenn du schon da liegst, wirf mal einen Blick unter die Sitze.«

Folgsam, als hätte er nie etwas anderes im Sinn gehabt, fing Zoran an, unter den Stühlen herumzusuchen. Er machte seinen Arm lang und noch länger und ächzte und zappelte und zog schließlich den verlorenen Schlüssel hervor.

»Linglu sei Dank.« Rabov nahm ihm das schrundige Schmiedestück aus der Hand, rammte es noch im Aufstehen in die vorgesehene Aussparung und begann das Federwerk aufzuziehen. Der Schlüssel war so rostzerfressen, als ob er mindestens aus dem Alten Reich stammte, und obwohl Rabov mit beiden Händen drehte, ging es elendig schwer.

Unterdessen hatte das Wasser um sie herum zu schäumen begonnen. Wellen wölbten den Seespiegel und schaukelten ihre Kabine am zitternden Stahlseil wild und immer wilder hin und her. Neuerlich hob auch das Geheule an, nun unmittelbar unter ihnen. Fluchend drehte Rabov den Schlüssel und da traf ihn ein Blick aus den aufgewühlten Fluten, aus Augen wie Bergkrater, schwarz-rot wie Magma. Mit letzter, verzweifelter Kraft zerrte Rabov den Schlüssel im Kreis, bis die Feder endlich, endlich gespannt war und ihre Kabine wie vom Katapult geschossen aus dem Wasser emporflog, am fast senkrechten Seil hoch in den subphoräischen Himmel hinauf.

Rabov sackte in seinen Sitz und sah starr nach unten, auf die schäumenden Fluten, aus deren Tiefe noch einmal das wütende Geheule erklang. Das widerlich langgezogene Stöhnen, oder pfeifende Grunzen, in abfallender Tonfolge, wie um sinnfällig zu machen, dass sich die Bestie (oder was es sein mochte) für diesmal auf den Meeresgrund zurücksinken ließ.