1

vig»Das Agoschkreuz besteht aus zwei gleich langen Balken, die diagonal übereinandergenagelt werden. Es hat seinen Namen von einem Märtyrer mit Namen Aragos – oder eben Agosch, wie ihn die Zentraldunibier in ihrem silbenverschleifenden Dialekt nennen. Der Legende nach wurde Agosch auf dem Höhepunkt der Großen Flut von einer blutdurstigen Meute an ein solches Marterkreuz gefesselt, das die äußerste Spreizung der Gliedmaßen des Gepeinigten erzwingt.«

Mit diesen Worten begann Rabov seine angekündigte Geschichte, aber der Junge schien nicht sonderlich interessiert. Er kauerte am Boden des Schutzraums, in dem sie zu guter Letzt wieder gelandet waren und der haargenau so aussah wie der, von dem sie aufgebrochen waren. Die silbrig schimmernde Träne, der Maulschrank mit dem Telefon und allerlei Anziehsachen darin. Gewöhnlichen Hosen und Leinenhemden immerhin, froschgrün für Rabov, himmelblau für den Jungen, gegen die sie ihre seltsame Seefahrerkluft eingetauscht hatten. Dazu solides phoräisches Schuhwerk aus Segeltuch. Doch ohne seine schlammfarbenen Kleidungsstücke, die von den Schlangenburschen zerfetzt worden waren, fühlte sich Rabov beinahe nackt.

»Willst du gar nicht hören, wie es weitergeht?«

Zoran kaute an seiner Unterlippe. »Na ja – schon«, gab er zurück. »Aber Sie haben gesagt, wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben und ich danach noch mal zu diesem Tempelzelt will, dann verfüttern Sie mich an die Schlange – und das will ich auf keinen Fall.«

Verständlich, dachte Rabov. Das habe er doch nur so gesagt, wiegelte er ab – schließlich sei es die Aufgabe eines königlichen Spezialagenten, seine dunibischen Mitbürger zu beschützen und nicht, sie an fremdländische Gottheiten zu verfüttern.

»Eben«, sagte der Junge und sah Rabov argwöhnisch an. »Wollen Sie nicht erst mal telefonieren? Ich glaube, da draußen würde ich mir Ihre Geschichte lieber anhören.«

Er deutete auf die Wand hinter Rabov, der gleichfalls am Boden hockte, mit dem Rücken gegen die Membran gelehnt. Es fühlte sich wahrhaftig an, als bestünde sie aus einem lebendigen Material – eine straffe, seidige, sacht pulsierende Haut. Nur als schwaches Summen drang das Gelärme von einem der bei Tag und Nacht belebten Plätze in der Altstadt zu ihnen durch – vom Rossmarkt, nahm Rabov an, oder zumindest hoffte er es. Dann nämlich wäre er, wenn sie erst einmal hier herauskamen, im Handumdrehen zu Hause.

»Ich soll hier auf weitere Anweisungen warten.« Er versuchte sich an einem komplizenhaften Grinsen. »Befehl von oben.«

»Von der Frau aus dem Telefon?« Zoran schaute skeptisch. »Und Sie müssen machen, was die Ihnen sagt?«

Rabov runzelte die Stirn. Gute Frage, wollte er schon wieder sagen, verkniff es sich aber. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er stattdessen, »ich erzähle dir die Geschichte und wenn wir dann immer noch nichts von ihr gehört haben, rufe ich sie an.«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«

»Agosch«, fuhr Rabov, nachdem er sich kurz gesammelt hatte, mit Erzählerstimme fort, »Agosch war ein hoher phoräischer Verwaltungsbeamter, vom damaligen König Lugo VI. nach Zentraldunibien entsandt, um die Flutschäden in der weithin abgesoffenen Provinz zu begutachten und der Bevölkerung rasche und umfassende Hilfe zu versprechen. Aber die Leute waren der hauptstädtischen Heucheleien und königlichen Vertröstungen überdrüssig und so legten sie den Gesandten in Fesseln und schafften ihn auf den höchsten Hügel vor den Toren Raginors, wo seit jeher das sogenannte Spreizkreuz stand. Dessen Aufgabe im Alten Zeitalter bestand allem Anschein nach einfach darin, Personen, die man tot sehen wollte, auf möglichst langwierige und qualvolle Weise umzubringen. Der Hügel ragte gerade noch ein paar Meter weit aus der Flut heraus, genug, um einen Unschuldigen ans Spreizkreuz zu hängen und sich im Anschluss von Booten und Flößen aus an seinem Verröcheln zu weiden.

Aber Agosch wollte, wenn er schon unbedingt an diesem entlegenen Ort umkommen sollte, sein Leben zumindest nicht sinnlos hingeben. Der Mob hängte ihn ans Kreuz und richtete sich dann, so gut es der unaufhörliche Sturzregen erlaubte, auf den Booten ringsumher ein, um seinem Sterben zuzusehen. Agosch aber richtete das Wort an sie und rief: ›Nicht euer Zorn kostet mich das Leben, wie ihr zu glauben scheint. Vielmehr will ich selbst mich opfern, damit ihr an der Art meines Ablebens erkennt, wie sich die Gottheit besänftigen lässt. Also schaut genau hin und zieht die richtigen Schlüsse aus dem, was ihr zu sehen bekommt.‹

Und was glaubst du wohl …?«, fuhr Rabov fort und sah Zoran an, dessen Kopf aber im selben Moment zum Wandschrank herumfuhr.

Das Telefon gongte.

Im Nu war Rabov auf den Beinen. Er stürzte zum Schrank und riss Hörrohr und Sprechmuschel an sich. »Hier Rabov. Wer spricht – Calin?«

Der Person am anderen Ende der Leitung genügte ein einziges kurzes Räuspern, um Erstaunen und Missbilligung Ausdruck zu verleihen. »Hier spricht der königliche Geheime Oberrat Milar. Agent Rabov? Hören Sie mir gut zu, Sie erhalten hiermit Befehl, im Schutzraum zu bleiben und auf weitere Anweisungen zu warten.«

Rabov starrte auf die Wählscheibe des klobigen Wandapparats. Zumindest waren Telefone nicht von der lingluzielischen Verfluchung selbstbewegter Maschinen betroffen, denn um dieses monströse Wählrad zu bewegen, benötigte man beträchtliche Körperkraft. Allerdings wurde mit Hilfe von Telefonen der Stimmschall über große Entfernungen hinweggeschossen und das war dann möglicherweise doch wieder ein Sündenfall.

»Agent Rabov?«

»Ich will mit Calin Stingard sprechen«, sagte er. »Was ist das für ein Durcheinander bei Ihnen im Ministerium? Die gleichen Instruktionen habe ich vorhin schon von ihr bekommen.«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Rabov. Die Geheime Rätin wird sich so bald wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen. Bis dahin halten Sie sich im Schutzraum bereit. Es lebe der König.«

»Es lebe …«, begann Rabov vorschriftsmäßig zu antworten, aber da hatte der königliche Geheime Oberrat bereits eingehängt.

»Eine Schlange hat ihn gefressen, stimmt’s?«, ließ sich Zoran hinter seinem Rücken vernehmen.

»Milar? Wie kommst du denn da drauf?«, staunte Rabov.

»Wer soll das schon wieder sein?« Der Junge war unbemerkt neben ihn getreten und rüttelte ihn am Arm wie einen, der nicht ganz bei Sinnen ist. »Na, diesen Agosch meine ich natürlich.«

Tatsächlich war Rabov in Gedanken noch bei dem Telefonanruf – von einem Milar hatte er niemals vorher gehört, geschweige denn ihn gesehen oder mit ihm gesprochen. Laut Calin wusste im ganzen Innenministerium niemand außer ihr und einem namenlosen Reichssekretär, dass es den Spezialagenten Samu A. Rabov und seine Königliche Ermittlungsstelle für Mysteriöse Todesfälle überhaupt gab.

»Erzählen Sie jetzt endlich weiter?«

»Was sagst du, Junge?« Dass Calin mittlerweile den Titel einer königlichen Geheimen Rätin führte, hatte er gleichfalls nicht gewusst. Sie beide hatten heute Abend wohl so einiges zu bereden, dachte Rabov. »Na klar erzähle ich weiter. Aber was die Schlange angeht – hör gut zu und entscheide selbst.«

Er brauchte ein paar Augenblicke für seine innere Sammlung. Der Junge und er kehrten an ihre Plätze zurück und Rabov nahm den Faden wieder auf.

»Während der Großen Flut wurde es niemals wirklich hell. Nicht einmal die Mittagssonne drang durch die schwarzen Regenwolken und bei Nacht war es vollkommen finster. Als an jenem Abend die Dunkelheit hereinbrach, war Agosch noch immer am Leben. Er stöhnte und ächzte am Spreizkreuz, und die Henkersknechte, die extra zu diesem Zweck auf dem Richthügel geblieben waren, zerrten und zurrten die Kreuzbalken nach und nach immer weiter übereinander, bis Agoschs Beine schließlich waagrecht gespreizt waren. Alle hörten noch mit an, wie seine Gelenke in den Hüftpfannen krachten und zerbrachen. Dann fuhren sie mit ihren Nachen und Flößen über das dunkle Wasser zu ihren Schlafstätten und als sie beim ersten grauen Morgenlicht zurückkehrten, war Agosch fort.«

»Die Schlange …«, flüsterte Zoran und sah Rabov aus großen Augen an.

»Die Riemen, mit denen er gefesselt worden war, hingen noch an den Kreuzbalken, sorgfältig aufgeknüpft, und von Agosch fand sich keine Spur. An seiner Stelle aber, den grau-braun getüpfelten Riesenleib vielfach um die Balken geringelt, hing eine gewaltige Speikadora am Spreizkreuz. Der Henker von Raginor und seine beiden Knechte, die als Erste die gerade so noch aus den Fluten ragende Hügelspitze erklommen, fürchteten sich sehr. Aber die Kadora machte keine Anstalten, sie anzugreifen und mit ihrem tödlichen Gift zu bespeien – nach den Worten des Henkers machte sie einen zufriedenen, ja friedlichen Eindruck. Sie glitt vom Kreuz herunter und verschwand in der Flut, und noch am selben Tag hörte der Regen auf und das Wasser begann zu sinken.«

Zoran stülpte die Unterlippe vor und pustete sich die wirren Locken aus der Stirn. »Weil sich Agosch geopfert hat«, murmelte er.

Rabov zuckte mit den Schultern. »So haben es damals viele gesehen und auch heute noch würde dir ungefähr die Hälfte der Agosch-Jünger zustimmen. Damals nämlich ist im Nibratal um Raginor herum der sogenannte Agoschkult entstanden, und bis heute hängen unzählige Leute aus der Gegend dort dieser Sekte an. Das Seltsame bei den Agosch-Leuten ist aber, dass sie sich eigentlich niemals darüber einig geworden sind, was damals auf dem Richthügel vor Raginor überhaupt passiert ist. Die einen glauben, dass sich ihr Kultbegründer der göttlichen Kadora geopfert und durch seinen Märtyrertod die Große Flut beendet hat. Die anderen aber glauben etwas ganz anderes«, fuhr Rabov fort und spürte einen leisen Schauder auf seinem Rücken, wie immer, wenn er sich seinem – wie Calin es genannt hatte – wunden Punkt näherte.

»Und was glauben die?«, wollte Zoran wissen.

»Sie glauben, dass Agosch damals, in jener Nacht auf dem Hügel, in die göttliche Kadora verwandelt worden ist.«

»Verwandelt? Ha!« Mit gesenktem Kopf grübelte der Junge darüber nach. »Und wie sehen Sie das?«, fragte er dann.

Rabov hob eine Augenbraue. Die andere war mit seinem übel zugerichteten Auge zu einem einzigen unförmigen Fleischhügel zusammengeschwollen. »Vielleicht hörst du dir die Geschichte erst mal fertig an«, schlug er vor. »Jetzt kommt ja noch der Teil, wo ich selbst fast gefressen worden wäre.«

Zoran pustete wieder in Richtung seiner Stirn. »Gefressen – oder verwandelt?«

»Sehr gute Frage«, lobte Rabov. »Letztlich sogar die einzige, auf die es bei alldem ankommt. Also hör weiter …«

Doch gerade da gongte wieder das Telefon. Diesmal war Calin Stingard dran und sie hielt sich nicht mit Erklärungen oder Höflichkeiten auf, sondern wies Rabov in knappen Worten an, sich unverzüglich ins Bufo zu begeben – ein exklusiver Klub unweit des Innenministeriums, in dem sie mit Vorliebe Hof hielt. »Es gibt Ereignisse und Entwicklungen, über die wir dringend reden müssen, Sammo. Wir treffen uns um Punkt fünf Uhr im Kaskadenzimmer. Ende.«

Sammo, schwärmte Rabov im Stillen. Sie hatte ihn wieder bei dem Kosenamen genannt, den sie selbst einst für ihn erfunden hatte. »Ich bin schon unterwegs«, sagte er in die Sprechmuschel, aber da hatte die königliche Geheimrätin längst aufgelegt.

2

vigAbermals versetzte sich Rabov in Agosch-Trance, nahm den Jungen bei der Hand und glitt mit ihm zusammen nach draußen. Dann blinzelte er verwundert auf den gleißenden Grünen Ozean hinaus. Sie standen vor Haus Nummer Sieben, wie nicht anders zu erwarten, allerdings am Smaragdtorplatz, im vornehmen Süden der Stadt.

Die weltberühmte Smaragdbucht entlang reihten sich die prächtigsten Bauwerke Phoras wie Edelsteine in einem hochkarätigen Collier. Das Masalith-Memorial zum Gedenken an die Große Flut. Die Neue Kathedrale mit ihren sieben versilberten Türmen, die wie herniederzuckende Zungen geformt waren. Der Königspalast mit seinen zahllosen Lust- und Winter- und Jagdschlössern in der Tiefe unendlicher Parks. Außerdem das Königlich-Dunibische Staatstheater, das unter anderem wegen seiner raffinierten Dampfdrehbühne berühmt war, die festungsartigen Bauten des Handels- und des Schifffahrtsministeriums, die bakusische Botschaft mit ihren bizarren Gurkentürmen und viele staunenswerte Anwesen mehr. Schwärme von Aussichtsdampfern tuckerten von früh bis spät die Bucht entlang und durch die ebenso legendären Hafenanlagen, und die Touristen aus den dunibischen Provinzen, aus Bakus oder sogar von den Noïli-Inseln drückten sich die Nasen an den Panoramafenstern platt, wenn der königliche Palast oder das Phoräische Opernhaus in Sicht kamen – letzteres für seine Seemuschelform berühmt und natürlich für seine Premierenskandale.

»Was mache ich jetzt mit dir?«, fragte Rabov. »Ich muss schnell noch mal nach Hause, und dann nichts wie zu meiner Chefin – das wird verdammt knapp. Aber in dem Zeug hier kann ich mich nicht sehen lassen.« Er zupfte links und rechts an den Beinen seiner froschfarbenen Hose, die zu allem Überfluss eine halbe Handbreit zu kurz war.

Zoran setzte ein freches Grinsen auf. »Besser als die Pferdedecke, die Sie vorher umhatten, sieht’s allemal aus.«

»Pferdedecke? Du hast ja keine Ahnung!« Rabov tupfte sich mit den Fingerspitzen über die Schwellung, hinter der er sein rechtes Auge wusste. Er war drauf und dran, dem Jungen auseinanderzusetzen, dass schlammfarbene Überwürfe des von ihm bevorzugten Zuschnitts ein geheimes Erkennungszeichen der nibräischen Agosch-Jünger waren. Aber dann ließ er es doch lieber sein. Schließlich war es nicht ganz leicht zu verstehen, dass er sich seit langem von den Agosch-Leuten losgesagt hatte und sich trotzdem noch in gewisser, oder vielmehr in sehr ungewisser, Weise ihnen zugehörig fühlte. »Jedenfalls kann ich dich nicht einfach nach Hause schicken«, fügte er hinzu. »Nicht, solange die Bakusier da draußen hausen.«

Zoran hatte ihm erzählt, dass die Zirkusleute ihn am helllichten Tag zum Schindanger verschleppt hatten, von der alten Brücke einfach weggepflückt, als er da draußen am Geländer gelehnt und auf die Nibrastrudel hinabgeschaut hatte. Jetzt steckte er die Hände in seine Hosentaschen und sah Rabov erwartungsvoll an. »Wohin also?«

»Meinetwegen komm erst mal mit zu mir, dann sehen wir weiter.« Rabov marschierte los, in Richtung der Tramstation im Hafenviertel, wo früher am Tag Tarek ausgestiegen war. Schon nach einem Dutzend Schritten blieb er wieder stehen. »Und deine Eltern? Macht sich niemand Sorgen, wenn du nicht nach Hause kommst?«

Der Junge kniff die Augen zusammen. »Sie haben keine Ahnung, wie es im Schiffstorviertel zugeht, oder?«

Rabov sah nachdenklich auf ihn herunter. Er rang eine Anwandlung von schlechtem Gewissen nieder, dann versetzte er sich ein weiteres Mal in Agosch-Trance. In diesem Zustand vermochte er nicht nur Hindernisse wie eisenbeschlagene Türen oder massive Mauern zu überwinden, sondern auch in das Bewusstsein argloser Mitmenschen zu gleiten. Er musste jetzt sofort eine Entscheidung treffen – für weitschweifige Wortwechsel hatte er einfach keine Zeit. Trotzdem fühlte er sich ein wenig schuldig, während er aufsog, was dem Jungen gerade durch den Kopf ging.

Er erhaschte einen Blick in eine elende Wohnhöhle. Schimmelflechten an den Wänden, auf dem Boden modrige Schilfmatratzen. Der Raum war überfüllt mit halbwüchsigen Gestalten, aber kleine Kinder waren so wenig wie erwachsene Frauen oder Männer zu sehen. Die Jungen und Mädchen waren allesamt ärmlich gekleidet. Einige lagen auf ihren Betten und starrten apathisch zur Decke. Andere rauften oder rangelten miteinander, während in einer Ecke ein Trio bezopfter Mädchen die Köpfe über einem Schulbuch zusammensteckte.

»Doch«, sagte Rabov, »ich weiß. Du lebst in einer Unterkunft für Straßenkinder. Was ist mit deinen Eltern?«

»Pfff«, machte Zoran. »Müssen wir nicht die Grüne Linie erwischen? Da vorne kommt sie.« Er rannte los und Rabov hinter ihm her. Sein rattenschwanzdünner Haarzopf trommelte ihm auf den Rücken, und ohne besonderen Grund begann er im Rennen mit einem Mal laut und abgehackt zu lachen. Der Junge drehte seinen Kopf zu ihm zurück und sah ihn verwundert an. Aber Rabov winkte nur ab und stolperte weiter hinter ihm her, während die Kronen und Groschen in seinen Hosentaschen mit der Silbersichel um die Wette klimperten.

»Worüber haben Sie eben gelacht?«, fragte Zoran, nachdem sie gerade noch durch die schon zuzischende Tür in den hintersten Tramwaggon gesprungen waren. Glücklicherweise war der Wagen so gut wie leer – in den brütend heißen Nachmittagsstunden versank die Stadt vollends im Dämmerschlaf. Rabov zuckte nur mit den Schultern, aber der Junge wollte ihn offenbar so nicht davonkommen lassen. »Glauben Sie, ich hätte nicht gemerkt, wie Sie meine Gedanken gelesen haben?«

»Oho«, machte Rabov. »Nicht schlecht für ein Sumpfammerküken!« Er schob Zoran zur Seite und ließ sich auf eine Bank fallen. Nach den Abenteuern dieses Tages fühlte er sich ziemlich ausgepumpt. Aber bis zu dem Treffen mit Calin blieben ihm noch gut anderthalb Stunden und bis dahin würde er wieder zu Kräften kommen.

Zoran setzte sich ihm gegenüber und sah ihn finster an. »Worüber haben Sie gelacht?«

»Meine Güte«, sagte Rabov, »ich weiß es nicht. Es kam einfach so über mich – passiert dir so was nicht auch manchmal?«

Der Junge schüttelte den Kopf. Dabei sah er Rabov weiter an, fast ohne zu blinzeln, und Rabov tupfte sich mit den Fingerspitzen über die Gegend seines rechten Auges, um Zeit zu schinden.

»Also gut«, sagte er dann, »ich habe deine Gedanken mitgelesen, aber nur das eine Mal und ganz kurz, weil ich schnell herausbekommen musste, ob ich dich einfach so mitnehmen darf. Und«, fügte er hinzu und legte eine bedeutungsvolle Pause ein, »ich habe nicht über das gelacht, was ich da gesehen habe. Ich schwör’s.« Feierlich hob er eine Hand.

Der Junge schien sich ein wenig zu entspannen, doch ganz zufrieden war er offenbar immer noch nicht. Die Trambahn quälte sich puffend und pfeifend den Donarberg hinauf und Zoran beharrte: »Aber gelacht haben Sie trotzdem. Worüber also?«

»Aus Freude«, sagte Rabov. Er hatte selbst nicht gewusst, dass er das sagen würde. Er horchte in sich hinein und empfand, dass es stimmte. »Ich hab dich vor mir rennen sehen und mich selbst gespürt, wie ich da herumgerannt bin, und da hat mich so etwas durchzuckt wie … Es war kein Gedanke, es war eher so eine Botschaft meiner Füße, weißt du – so etwas wie: Ich lebe und renne und wäre doch ums Haar nicht mal so alt geworden wie du. Oder jedenfalls nicht am Stück. Verstehst du?«

Zoran schob die Unterlippe vor und pustete. »Na ja«, sagte er dann gedehnt. »Erzählen Sie jetzt weiter?«

Rabov schloss die Augen zu schmalen Schlitzen. Diese Geschichte ist nichts für zimperliche Ohren. Er deutete mit der Schläfe zu der Bank neben ihrer. Mittlerweile waren etliche weitere Fahrgäste zugestiegen. Aber ich könnte sie dir auf dem Gedankenweg erzählen. Willst du? Dann nicke mir einfach zu.

Zoran sah Rabov an und schluckte. Sein Adamsapfel fuhr seinen Hals hinunter und wieder hinauf – beinahe so, wie sie vorhin selbst mit der Drahtseilbahn hinab- und wieder aufwärtsgesaust waren. Dann nickte er beiläufig und sah mit gespielter Gleichgültigkeit aus dem Fenster.

3

vigSam ist zwölfeinhalb und er liebt Odea. Sie sind eigentlich noch Kinder, aber nicht mehr ganz, und Odea hat ihm gerade erst vor ein paar Tagen ins Ohr geflüstert, dass sie dauernd an ihn denken muss. Vor allem nachts, wenn sie nicht schlafen kann und der Mond durch ihren seidenen Betthimmel schimmert.

Eines Nachmittags gehen sie zusammen am Ufer der Nibra spazieren. Odea in einem neuen blauen Kleid, wie eine Sommerblume anzusehen. Sam in irgendwelchen fadenscheinigen Kleidungsstücken – seine Mutter bringt ihn und sich selbst nur mühevoll durch, obwohl sie Tag und Nacht für andere Leute wäscht und bügelt und näht. Odeas Eltern aber leben in einem kleinen Palast auf dem Hügel über Raginor. Ihrem Vater gehört das größte Handelshaus der Stadt.

Siehst du uns, Junge – wie wir am Fluss entlanggehen, Sam und Odea, Hand in Hand?

Zoran schaute aus dem beschlagenen Tramfenster und nickte.

Auf einmal bleibt sie stehen, umarmt ihn, will auch von ihm augenblicklich umarmt werden. Sam legt seine Arme um sie und sie hebt ihm ihr liebes Gesicht mit den Himbeerlippen entgegen. Ein Anblick, den er niemals vergessen wird: ihre runden, rosig schimmernden Wangen, ihre Augen, blau wie ihr Kleid, die sich ganz langsam schließen, während sich ihr Mund genauso langsam dem seinen nähert.

Siehst du uns, Zoran?

Er nickte.

Und gerade in dem Augenblick, als ihre Lippen sich aneinanderschmiegen wollen, spürt Sam in seinem Nacken einen ungeheuren Schmerz. Der Schmerz zuckt in seinen Kopf hinauf und seinen Rücken hinunter. Es blitzt vor seinen Augen. Er schreit und stöhnt, aber das wird er erst später von Odea erfahren. Er schlägt die Hände vor sein Gesicht, doch dadurch werden die Blitze nur noch gleißender. Ohne im Entferntesten zu wissen, was er da macht, dreht er sich um, lässt Odea stehen und rennt flussabwärts davon. Immer die Nibra entlang, die dort bei Raginor noch schmal und reißend ist, aber genauso lehmrot wie in Phora.

Siehst du mich, Junge?

Natürlich kennt Sam so gut wie jedes Kind in Raginor die schaurigen Geschichten vom Agosch-Eremiten, der weiter unten am Fluss hausen soll. Niemals ist Sam dem Uferweg so weit gefolgt wie an diesem Tag. Aus dem Weg wird ein schmaler, überwucherter Pfad, aus dem Pfad ein kaum mehr sichtbarer Trampelstrich im kniehohen Gras. Die Sumpfammern keckern um die Wette und der Schmerz lässt ganz allmählich nach.

Sam spürt, dass er weiter und weiter gehen muss. Wenn er diesen Weg zu Ende geht, wird auch der Schmerz wieder aufhören. Das Reißen in seinem Nacken, das Zucken in seinem Gehirn. Mit jedem Schritt wird ihm leichter zumute.

Fresspriester nennen die Schulkinder von Raginor den Einsiedler. Sämtliche Schauergeschichten kreisen um das Mysterium, dass der Eremit angeblich zusammen mit seinen göttlichen Schlangen das Opferfleisch frisst.

»Geh niemals weiter die Nibra hinunter als bis zum alten Wehr«. Mit dieser Warnung wächst in Raginor jedes Kind auf, aber immer wieder ist es trotzdem vorgekommen, dass ein Junge oder (viel seltener) ein Mädchen dem Uferweg einfach weiter gefolgt ist.

Der Agoschkult ist damals offiziell verboten, sogar in Raginor. So wie ihr König glauben alle Dunibier an den gütigen Linglu, der vom Himmel herniedergefahren ist, eine ungeheure Zunge aus Licht. Aber gerade in Raginor, und weit darüber hinaus im ganzen Nibratal, hat nie irgendwer ernsthaft versucht, gegen die Agosch-Jünger vorzugehen. Schließlich hat Agosch (Aragos) damals durch sein Opfer, oder durch seine Verwandlung, in Raginor das Ende der Großen Flut eingeleitet, und gerade an diesem Geburtsort des Kultes werden der Märtyrer und seine Nachfolger, die Agosch-Priester, glühend verehrt.

Siehst du mich, Junge?

Zoran presste sich beide Hände seitlich gegen den Kopf und schaute Rabov aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht war bleich, Schweiß schimmerte auf seiner Haut, klebte seine sonst so widerborstigen Locken auf Stirn und Schläfen fest. Aber Rabov war von seinen eigenen Erinnerungen viel zu sehr gebannt, um diese Zeichen zu bemerken.

Schließlich steht Sam vor der Eremitenhöhle. Es handelt sich eigentlich nur um ein Felsloch im Hang über der Uferböschung, mit einer tiefen, trichterförmigen Erdgrube daneben, in der sich allerlei ringelt und schlängelt.

Sam fällt vor dem Agosch-Priester auf die Knie. Noch immer kann er nur undeutlich sehen, auch wenn die Blitze zu einer Art glimmender Nebelfäden verblasst sind. Er erblickt ein hageres, tief zerfurchtes, von der Sonne nahezu schwarz verbranntes Gesicht, das fast vollständig von einem grauen, spinnwebartigen Bart überwuchert ist. Auch das Haupthaar des Einsiedlers ist grau und dünn, und wie der Alte so im Eingang seiner Höhle kauert, verhüllt es den ausgemergelten Leib bis hinab zu den Füßen.

»Tsch, tsch«, zischt der Priester. »Wer bist du, Kind?«

Und Sam nennt seinen Namen, zum ersten Mal überhaupt seinen vollständigen Namen: »Samu Agosch Rabov, Herr.«

»Und du bist gekommen, dich zu verwandeln, wie es der verewigte Märtyrer Agosch getan hat?«

Sam kniet und lauscht mit gesenktem Kopf in sich hinein. »Ja, Herr«, murmelt er.

Der Priester reicht ihm mit ungemein schmutziger Hand einen Becher von der Farbe uralter Knochen, gefüllt mit einer Brühe, die im ersten Moment wie der widerlichste Aassaft schmeckt und dann schon nach gar nichts mehr. Lächelnd reicht Sam den Becher zurück. Er fühlt sich nun ruhig, müde und von allen Schmerzen erlöst.

Genauso fühlt er sich immer noch, als er wieder zu sich kommt und sich in der Grube findet, an einem roh behauenen Spreizkreuz aufgehängt. Nun ist es der Priester, der vor ihm kniet, mit einem verehrungsvollen Lächeln, als ob Sam schon verwandelt worden wäre. In seinen Händen hält der Alte ein Gewimmel von Schlangen, die grau-braun getüpfelt sind wie ausgewachsene Kadoras, aber viel kleiner, vielleicht gerade mal so lang wie Sams Beine.

Der Priester reckt die Schlangenbrut zu ihm empor und für einen Moment sieht Sam vier Kadoraköpfe ganz nah vor sich – die senkrecht geschlitzten gelben Augen, die aufschnellenden Mäuler, die hervorschießenden zwiegespaltenen Zungen, doch seltsamerweise haben die Schlangen nicht einen Zahn im Maul. Dabei sind gerade Kadoras für ihre Doppelreihen pfeilspitzer Zähne bekannt.

Siehst du mich, Junge?

Der Eremit lässt drei der Schlangen zwischen seinen Händen davongleiten und nähert die vierte Sams linkem Fuß. Bereitwillig reißt die Kadora ihr Maul auf, und der Priester greift mit beiden Händen hinein und zieht den Rachen der Kadora weit auseinander. Und dann stülpt er die Schlange über Sams Fuß und den halben Unterschenkel hinauf wie einen lebendigen Strumpf.

Sam spürt, wie sich das Maul und der Rachen und die Halsmuskeln der Kadora um seinen Fuß, seine Wade, sein Schienbein schließen. Die Kadora beginnt sofort zu schlingen und zieht Sams Unterschenkel zollweise weiter in sich hinein. Währenddessen verfährt der Priester mit Sams rechtem Fuß und Bein und einer zweiten Kadora in der gleichen Weise, und nun spürt Sam das Schlingen und Ziehen links und rechts – wie wenn kalte, glitschige, viel zu enge Strümpfe sich unendlich langsam an einem hochrollen.

Die Kadora braucht ihre Zähne nur, um ihr Opfer an der Flucht zu hindern und es in ihren Rachen hineinzuziehen. Wenn die Beute nicht fliehen kann und ihr auch noch ein Stück weit ins Maul hineingeschoben wird, dann besorgt der Schlingreflex alles Weitere von selbst. Diese und andere Details aus dem Sumpfkundeunterricht fallen Sam schlagartig ein, während sich die Kadoras um seine Beine herum aufwärtsschlingen.

Um ihre Nahrung zu zerkleinern und für die Verdauung vorzubereiten, brauchen sie ihre Zähne nicht: Das machen sie allein mit dem Ätzsaft in ihrem Innern, mit dem sie ihre Beute einweichen und umspülen und langsam zersetzen.

Sam meint schon zu spüren, wie der Schlangensaft seine Fußsohlen, die durchscheinende Haut oben auf den Füßen, an seinen Knöcheln und die flimmerfein behaarte Haut auf seinen Waden zersetzt.

Er hat keine Schmerzen, aber ruhig und erlöst fühlt er sich nicht mehr. Während der Priester eine weitere Kadora mit Summlauten anlockt, sie dann blitzartig packt und sich vor Sam aufrichtet.

Die dritte Kadora stülpt er wie einen Handschuh über Sams linke Hand und bis hinauf zu seinem Ellenbogen. Dabei lächelt er Sam aus nächster Nähe ins Gesicht, zahnlos wie seine göttliche Brut, und mit auf- und zuschnappendem Mümmelmaul macht er vor Sam die Schlingbewegungen der Kadoras nach.

Vielleicht ist es das – das verrückte oder höhnische Gemümmel, das Sam auf einmal aufschrecken lässt aus der Ergebenheit des ausersehenen Opfers. Oder es ist einfach ein elementares Entsetzen, weil ihm mit einem Mal klar wird, dass er sterben soll, qualvoll verenden soll, bevor er überhaupt angefangen hat zu leben. Odea fällt ihm ein, ihr Lächeln, das leuchtende Blau ihrer Augen, ihres neuen Sommerkleides.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen fromm und verrückt? Eine Frage, die weit über Sams Verstand geht, aber wie eine Fackel in ihm zu glühen beginnt, zu brennen, schließlich zu lodern.

Der Alte kraucht derweil in der Grube umher und versucht, die vierte Kadora anzulocken. Er summt und zischt und stampft mit den Füßen auf, aber die Göttliche spielt mit ihm Verstecken.

Vielleicht ist er ja nicht Priester und fromm, sondern ein durchgedrehter Mörder, ein vertierter Kinderfresser, der mit seinen Schlangen Lager und Fraß teilt? Wenn der alte Mann, sagt sich Sam, mir auch noch die vierte Schlange übergezogen hat, ist es praktisch schon aus mit mir.

Halbherzig beginnt er, an den Riemen um seine Oberschenkel und Oberarme zu zerren, mit denen er ans Spreizkreuz gefesselt ist. Halbherzig, weil er sich schuldig machen würde, weil er für alle Zeiten verflucht und verworfen wäre, wenn er jetzt auch nur versuchte, sich vom Opferkreuz, aus der Gewalt der Kadoras loszureißen. Geschweige denn, wenn er wirklich freikäme, die Schlangen von seinen Gliedmaßen wieder herunterpellte wie schmutzige Strümpfe.

Ich bin das ausersehene Opfer!, schreit es in ihm. Die göttliche Kadora hat ihn gerufen, vorhin nach der Schule, als er mit Odea am Flussufer war. Sie hat ihn gerufen mit Schmerzen und Blitzen und er ist ihrem Befehl gefolgt und vom Priester ans Spreizkreuz gehängt worden, wie es der Agoschkult vorschreibt.

Die Stimme in seinem Innern klingt so überzeugend. Du bist das ausersehene Opfer. Warum sonst hätte deine Mutter dich mit zweitem Namen Agosch taufen lassen? Da hast du es – auch sie wusste und wollte, dass du eines Tages geopfert würdest.

Siehst du mich?

Zoran hatte seinen Oberkörper so weit vorgebeugt, dass er mit der Stirn beinahe auf Rabovs Knien lag. Seine Arme hatte er auf komplizierte Weise um seinen Kopf geschlungen, wie um sich gleichzeitig am Hören zu hindern und seinen Nacken vor etwaigen Angriffen zu beschützen. Aber all das nahm Rabov im Bann seiner Erinnerungen kaum wahr.

Der Agosch-Priester hat die vierte Kadora endlich doch noch angelockt. Summend kauert er vor ihr in der Grube und als sie sich vor ihm emporwindet, packt er sie blitzschnell um den Hals und richtet sich auf. Wieder dieses Greisengemümmel vor Sams Gesicht und dann zieht der Alte den Rachen der Kadora auseinander und stülpt sie über Sams rechte Hand.

Sam beginnt um sich zu schlagen, so gut das geht, wenn man mit fingerdicken Lederriemen an ein Spreizkreuz gefesselt ist. Die Beine so weit auseinandergespreizt, dass sämtliche Sehnen und Bänder und Muskeln zum Zerreißen gespannt sind.

»Tsch, tsch«, zischt der Agosch-Priester. »Nur diesen Tag noch, nur die Nacht noch, dann bist du von Armen und Beinen befreit. Sie schlingen ja schon, sie ziehen ja schon das böse Gebein in sich hinein. Sie zersetzen ja schon, sie verdauen ja schon und morgen wirst du verwandelt sein. Auf deinem Bauch gleitend, auf deiner Brust schreitend, göttliche Kadora. Tsch, tsch.«

Agosch, denkt Sam – dass er mit zweitem Namen Agosch heißt, bedeutet überhaupt nicht, dass er sich am Agoschkreuz opfern muss. In jeder nibräischen Familie gibt es einen oder zwei Agoschs, es ist eine uralte Tradition, aber nicht einmal jeder fünfte oder siebte Agosch aus Raginor und Umgebung geht das Ufer hinab und lässt sich von dem Fresspriester ans Spreizkreuz hängen.

»Mach mich los!«, schreit Sam. Der Ruf ist einfach so aus ihm herausgebrochen. Er starrt an seinem Körper hinab, zwischen den schlingenden Schlangen hindurch auf den Alten, der zu seinen Füßen in der Grube kauert.

»Tsch, tsch.«

Verrückt oder fromm? Wie soll Sam herausbekommen, was es mit dem Alten auf sich hat? Von dieser Version des Agosch-Rituals hat er jedenfalls noch nie gehört. Seit Jahrhunderten streiten die Agosch-Jünger darüber, ob der verewigte Märtyrer Agosch damals am Spreizkreuz von der göttlichen Kadora gefressen oder seinerseits in eine Kadora verwandelt worden ist. Und dieser ausgemergelte Eremit in seinem Schlammloch am Nibra-Ufer löst den hochheiklen Widerspruch einfach auf, indem er seinen Kadoras die Zähne zieht und das Opferritual kurzerhand ändert.

Siehst du mich?

Wahn oder Offenbarung – was hat den Priester zu dieser drastischen Reformation des Agoschkults getrieben? Sam brummt der mit solchen Fragen hoffnungslos überforderte Kopf. Unterdessen ziehen die Schlangen seine Arme, seine Beine tief und tiefer in ihre Leiber hinein. Er spürt ihre Muskulatur, die sich um seine Gliedmaßen spannt, aber der widerliche Trunk, den ihm der Alte gleich zu Anfang eingeflößt hat, lässt keine Schmerzen zu ihm durchdringen. Er stellt sich vor, wie die Ätzsäfte im Innern der Kadoras sein Fleisch zersetzen, vielleicht schon die ersten Fingerglieder oder Zehenkuppen bis auf den Knochen freigelegt haben. Und da fährt wieder ein Angstschauer durch ihn hindurch und er schreit abermals: »Mach mich los!«

»Tsch, tsch«, zischt der Agosch-Priester. »Sie schlingen ja schon, sie ziehen ja schon das böse Gebein in sich hinein. Sie zersetzen ja schon, sie verdauen ja schon und morgen wirst du verwandelt sein. Auf deinem Bauch gleitend, auf deiner Brust schreitend, göttliche Kadora. Tsch, tsch.«

»Dann beweise mir, dass du wirklich im Auftrag deiner Gottheit handelst!« Sam wedelt mit seinen Unterarmen und die noch leeren unteren Hälften der Kadoras schlackern wie lecke Schläuche.

Der Priester, weiterhin unter ihm in der Grube kauernd, senkt den Kopf. Sam schreit auf ihn herab, aber der Alte reagiert nicht mehr. Wie in Spinnweb eingesponnen hockt er zu Sams Füßen, stumm und regungslos.

Wer von der Kadora zum Agosch-Opfer ausersehen ist, darf sich dieser Pflicht unter keinen Umständen entziehen. Sonst wird der Zorn der Gottheit ihn selbst und seine Familie in Not und Elend, in Schmach und Schande stürzen bis in die fünfte Generation.

Aber wenn der Priester da unten einfach ein zischender, summender Irrer ist, dann wird Sam an diesem Spreizkreuz sinnlos verrecken.

Gib mir ein Zeichen, denkt er verzweifelt, während die Schlangen seine Beine schon bis zu den Knien in sich geschlungen haben. An seinem linken Arm fast bis zum Ellbogen und rechts mehr als die halbe Elle hinauf.

Der Priester zu seinen Füßen rührt sich überhaupt nicht mehr und da wendet sich Sam in seiner Angst direkt an die Gottheit. Göttliche Kadora, denkt er beschwörend, wenn du diesen Priester berufen hast, das Agosch-Ritual abzuändern, dann gib mir ein Zeichen. Wenn er aber eigenmächtig gehandelt hat, so befiehl ihm, mich loszumachen.

Noch bevor er diese Beschwörung beendet hat, zuckt in seinem Nacken aufs Neue jener grässliche Schmerz auf – tausendfach stärker als jeder Betäubungstrunk, den der Fresspriester anrühren könnte. Er rast Sams Rückgrat hinab und wühlt sich in seinen Kopf. Blitze zucken vor Sams Augen und ein ungeheures Geheule bricht aus seinem Mund hervor.

Als die Blitze verblasst sind und Sam zumindest wieder verschwommen sehen kann, liegt er auf seinem Bauch in der Grube unter dem Agoschkreuz. Der alte Priester kniet neben ihm und hält ihm abermals ein schlangenhaftes Geringel hin, aber diesmal sind es die Lederriemen, mit denen er Sam an das Agoschkreuz gefesselt hatte. »Vergebung, Vergebung, tsch«, winselt der Alte und als Sam sich mühevoll aufrichtet, wirft sich der Priester vor ihm auf dem Rücken in den Schlamm und spreizt seine Arme und Beine, als wäre nun er selbst ans Spreizkreuz gehängt worden.

Siehst du mich, Junge?

Mit den Beinen bis über die Knie in den Kadoras, mit den Armen bis beinahe zu den Schultern hinauf. Er stampft in der Grube umher und er hört, wie die Wirbel der Kadoras unter seinen Füßen zerknacken. Er fuchtelt mit den Armen und schlägt die schlackernden Unterleiber der Kadoras gegen das Spreizkreuz, und immerzu winselt der Alte »Vergebung, tsch«, aber Sam hört erst auf zu stampfen und um sich zu schlagen, als alle vier Kadoras in leblosen Fetzen von seinen Gliedmaßen herabhängen. Er schüttelt und wischt die Überreste, ein schuppig blutiges Geschmiere, von sich ab und kriecht aus der Grube. Draußen kann er sich nicht auf den Beinen halten, vor Entkräftung und weil ihm die Todesangst erst nachträglich in die Glieder fährt. Er verliert das Gleichgewicht, rollt die Böschung hinab und kollert in die reißende Nibra. Er kämpft mit der Strömung und er spürt bei jeder Bewegung seiner Arme und Beine, wie seine Kräfte wiederkehren. Er fühlt sich schuldig und gleichzeitig wie berauscht, weil er noch lebt, weil er den Fresspriester und die Schlangen besiegt hat, weil er die Gottheit angerufen hat – und sie hat ihn, Samu Agosch Rabov, erhört, ihn und nicht den Eremiten, der ihn ans Spreizkreuz gehängt hat.

»Siehst du, Zoran?« Rabov hielt dem Jungen seine Hände hin. Zoran hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet, aber sein Gesicht war immer noch kalkweiß. »Die Narben – heute sind sie kaum noch zu sehen, nur ein paar dünne bleiche Striche da und da und da.« Rabov drehte seine Hände vor dem Jungen hin und her. »Genau solche Narben habe ich auch die Arme weiter hoch und an Füßen und Unterschenkeln. Als ich damals aus dem Fluss gestiegen bin, dachte ich erst, die Spuren auf meiner Haut kämen von dem roten Schlamm aus der Nibra. Aber die Kadoras hatten wirklich schon angefangen, mein Fleisch zu zersetzen – und manchmal, wenn es mir vorkommen will, als hätte ich diese ganze Geschichte bloß geträumt, schaue ich mir die Narben an und sage mir: O nein, Sam, dieser Alte hat wirklich versucht, dich an die Schlangen zu verfüttern. Und du selbst hast ihn wirklich machen lassen, was er wollte, bis es für dich beinahe zu spät war.«

Zoran starrte ihn an. Niemand im Waggon sagte ein Wort. Schließlich hielt ihre Tram mit kreischenden Bremsen auf dem Rossmarkt und noch während die Tür neben ihnen aufschwang, stürmte Zoran hinaus.

»So warte doch.« Rabov rappelte sich auf und stolperte hinter ihm her. Du wolltest doch unbedingt, dass ich dir die Geschichte erzähle, oder etwa nicht?

Mitten im Getümmel der aus- und zusteigenden Passagiere blieb Zoran unvermittelt stehen. Er wandte sich zu Rabov um und sah ihn an, die Augen zu Schlitzen zusammengezogen. Nicht deine Geschichte hat mir solche Angst gemacht, Sam. Sehr viel mehr fürchte ich mich vor den dunklen Kräften, die du in mir erweckt hast.

4

vigRabov war jetzt wirklich in Eile. Noch eine Dreiviertelstunde bis zu seinem Treffen mit Calin – und sie konnte schrecklich sauer werden, wenn man sie auch nur ein paar Minuten warten ließ. Das war auch früher schon so gewesen, wenn er zu einem privaten Stelldichein nicht überpünktlich eingetroffen war (ihre Stimme wurde dann schneidend wie ein bakusisches Häutemesser), und das galt für dienstliche Verabredungen mit der königlichen Geheimrätin Stingard erst recht.

Aber Rabov kam und kam einfach nicht von zu Hause los. Das lag natürlich auch an dem Jungen, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, aber mehr noch an seinem eigenen schlechten Gewissen.

Unter der Zisternenbrause in seinem Hinterhof hatte er sich eilends abgeduscht und dem Jungen geraten, es ihm nachher gleichzutun. Immerhin waren sie heute von den Schlangenkerlen durch den Dreck geschleift und anschließend mit der subphoräischen Salzbrühe begossen worden. Die Zisterne war noch halb voll und wenn Rabov erst aus der Tür wäre, hätte Zoran alle Zeit der Welt, um sich zu säubern. Rabov hatte ihm sogar großzügig erlaubt, sich aus seinem Fundus an kuriosen Kleidungsstücken vorn im »Ladenlokal« auszusuchen, was ihm passte und gefiel. Mit einem Seufzer der Erleichterung hatte er selbst einen seiner fünf (nun nur noch vier) identischen Sätze von Anziehsachen aus dem Wandschrank genommen und sein gewohntes Äußeres wiederhergestellt. Hemd, Hose, Überwurf, alles schlammfarben und aus mitteldunibischem Leinen. Münzen und Sichel, Reptilienkladde und Schlüssel rasch noch von den froschfarbenen Hosen in seinen Überwurf umgepackt – und schon war er wieder ausgehfertig.

Und kam trotzdem nicht aus der Tür. Mit gesenktem Kopf strich und schlich der Junge von seinem Laden ins Hinterzimmer und zurück. »Es tut mir wirklich leid«, sagte Rabov zum soundsovielten Mal. »Wenn ich geahnt hätte, wie stark dein Dunkeldu vorher schon war, hätte ich dir die Geschichte bestimmt nicht auf dem Gedankenweg erzählt.«

Der Junge schaute nicht einmal auf.

»Dabei hätte ich es wissen müssen«, bezichtigte sich Rabov, die Hand auf der Ladentürklinke, »spätestens als du mir gesagt hast, du hättest gemerkt, wie ich deine Gedanken gelesen habe.«

Seine zur Schau gestellte Zerknirschung war echt, allerdings nur zum Teil. Es bekümmerte ihn, dass er gezwungen gewesen war, Zorans Dunkeldu zu erwecken, und es bedrückte ihn erst recht, dass der Junge anscheinend so sehr darunter litt. »Jetzt mach aber mal halblang«, sagte er mit gespielter Munterkeit. »Das bisschen Lakori ist doch kaum der Rede wert. Zumindest bist du diesen bakusischen Kerlen gegenüber jetzt nicht mehr so wehrlos. Und vor allem kannst du mich um Hilfe rufen, wo immer ich gerade bin.«

Der Junge ließ sich in Rabovs Lesesessel fallen, ein exquisites Möbelstück aus zaketumesischem Bambusrohr, die Polster überzogen mit noïlitischem Alligatorleder. »Niemals hätte ich mir träumen lassen«, hörte ihn Rabov murmeln, »dass in mir überhaupt solche … solche Dämonenkräfte sind.«

Von seinem Gewissen gezwackt, kehrte Rabov noch einmal zu der offenen Verbindungstür zwischen seinem »Laden« und dem Hinterzimmer zurück. »Ich bin in ein paar Stunden wieder hier. Dann können wir das alles in Ruhe besprechen«, sagte er. »Ich weiß natürlich so gut wie du, was die Linglu-Priester an jedem einzelnen Bettag in ihren Kirchen predigen. Aber glaub mir, Junge, wenn jemand über dunkle Kräfte verfügt, dann hat das überhaupt nichts mit Dämonen zu tun, die von einem Besitz ergreifen, und was den Leute noch so alles aufgetischt wird.«

Er hatte das undeutliche Gefühl, dass er jetzt besser den Mund halten sollte, aber Zorans Augen glänzten so sehr voll wiedererwachter Hoffnung, dass er es nicht über sich brachte, den Rest seiner Rede einfach herunterzuschlucken. »Unter uns gesagt, die Linglu-Priester können noch so oft das Gegenteil behaupten«, fuhr er fort, »magische Kräfte schlummern trotzdem von Geburt an in jedem von uns. Der Unterschied ist nur, dass diese Kräfte bei den meisten Leuten frühzeitig verkümmern, während die anderen sie rechtzeitig wecken oder in sich erwecken lassen. Aber die Lakori gehört jedenfalls zu uns, so wie auch unsere Fähigkeiten, geradeaus zu denken oder uns in jemanden zu verlieben, zu uns gehören – und nicht etwa zu irgendwelchen Geistern, die Linglu uns geschickt hat.«

Zoran hatte den Mund zu einer Erwiderung schon halb geöffnet, aber gerade da begann Rabovs Pendeluhr lärmend die Stunde zu schlagen. Rabov zählte mit und fand seine ärgsten Befürchtungen bestätigt. »Halb fünf – jetzt kann mich nur noch ein Dampfmobil retten.«

Damit rannte er endgültig durch seinen »Laden« und aus dem Haus. Draußen nahm er die Stufen zur Flötenmachergasse hinauf mit einem einzigen Satz und warf wie üblich im Vorüberhasten einen Blick auf sein Firmenschild. Dort stand nicht etwa wieder Königliche Schnüffelstelle oder sonst etwas Unerhörtes – gleichwohl blieb Rabov nichts anderes übrig, als seinen Lauf bereits wieder zu verlangsamen. Neben seinem Emailleschild lehnte die Hellseherin Selda an der Hauswand und als sie seiner ansichtig wurde, richtete sie einen dürren Zeigefinger auf ihn und verkündete, glücklicherweise auf dem Gedankenweg:

Mord, Meister Rabov! Ein magischer Mord im Universitätsviertel – vergessen Sie nur nie, wem Sie den Tipp verdanken.

Rabov beschleunigte aufs neue seine Schritte. »Komm mit, Selda«, befahl er der Nasenlosen mit dem unfehlbaren Riecher, »ich bin furchtbar in Eile, aber unterwegs kannst du mir alles erzählen.«

Mit Riesenschritten jagte er zum Rossmarkt zurück und Selda rauschte hinter ihm her. Trotz ihres beträchtlichen Alters und der atemberaubenden Verunstaltung ihres Gesichts achtete die Wahrsagerin penibel auf ihr Äußeres. Rabov hatte sie nie anders als in gebauschten Roben mit zahllosen Rüschen und Bordüren gesehen. Wie bei ihrer Bekleidung zeigte sie auch bei der Bemalung ihrer Lider und Wangen, Lippen und Fingernägel eine Vorliebe für Zartrosa und Türkis.

Am Rossmarkt steuerte Rabov auf den Droschkenstand zu, eine geräumige Ausbuchtung am Rand des Platzes, die mit einer Mischung aus Sand und Holzspänen ausgestreut war. Aber auch das war im Grunde nur noch eine Reminiszenz an die Zeiten, als Phoras Altstadtgassen Tag und Nacht vom eisernen Räderrattern der Pferde- und Mulidroschken erfüllt gewesen waren, vom Schnauben und Hufgeklapper der Zugtiere und den urtümlichen Kommandos der Kutscher: »Ho! Brrr! Ha!« Überall dort, wo vor wenigen Jahren noch Droschken in langer Reihe gewartet hatten (die Mulis genauso im Halbschlaf dämmernd wie ihre ledern bemützten Herren auf dem Kutschbock), drängten sich heute die neumodischen Dampfmobile. In zitternden Säulen stieg Dampf aus den himmelwärts gerichteten Nüstern der schwarzen Metallungeheuer, selbst wenn sie wie hier am Rossmarkt bloß untätig herumstanden. Im Volksmund hießen sie Wolkendroschken, und tatsächlich erinnerten sie in Umriss und Farbe an Schlechtwetterwolken. Rabov jedoch musste bei ihrem Anblick immer an die Walfische denken, die er einmal in einem Buch abgebildet gesehen hatte. In dem Werk hatte sich alles um die geheimnisvollen und furchterregenden Kreaturen gedreht, die mit der Großen Flut (angeblich) aus den Tiefen der Meere emporgestrudelt worden waren. Auf dem Bild, das ihn am stärksten beeindruckt hatte, war ein silbrig schimmernder Riesenwal zu sehen, auf dessen Rücken eine ganze bäurische Großfamilie mitsamt Vieh und Gesinde wie auf einem Schiffsdeck lagerte, während Haus und Hof im Hintergrund des Bildes von den Fluten verschlungen wurden.

5

vigDie rüschenreich rauschende Selda im Schlepptau, eilte Rabov an der langen Schlange dienstbereit dampfender Wolkendroschken entlang. Und gerade als der Fahrer des vordersten Dampfwagens auf ihn aufmerksam wurde (an der rechten Flanke seines auf Hochglanz polierten Mobils lehnend, blätterte er betont beiläufig im Phoräischen Nachtboten, der großmäuligsten unter den Hauptstadtgazetten), durchzuckte Rabov eine jener Augenblicksideen, die sich im ersten Moment so bestechend ausnehmen und im nächsten nur noch töricht.

Der Fahrer faltete seine Zeitung zusammen, klemmte sie unter seinen Arm und setzte ein beflissenes Lächeln auf. Vielleicht, dachte derweil Rabov – vielleicht handelte es sich bei all den puffenden und zischenden Apparaten, die in allerjüngster Zeit auf den Markt und in Mode gekommen waren, überhaupt nicht um selbstbewegte Maschinen, sondern um obskure, in dunibischen Geheimlaboren gezüchtete Lebewesen?

Der Dampfwagenchauffeur glättete seine rußfarbene Livree und Rabov spekulierte fieberhaft weiter: Das würde immerhin erklären, weshalb Seine Majestät Sorno scheinbar unbekümmert die Herstellung von einem dampfenden Wunderding nach dem anderen genehmigte, obwohl er mit diesem waghalsigen Politikschwenk nach Ansicht der meisten Linglu-Priester nichts Geringeres als eine weitere Große Flut riskierte.

»Es ist mir eine Ehre«, murmelte der Fahrer und riss für Rabov nebst Begleitung den Schlag auf. Als er des Kraters in Seldas Antlitz ansichtig wurde, stieß er zischend seine Atemluft durch die zentrale Zahnlücke aus, die sein ansonsten ebenmäßiges Gebiss verunzierte. Rabov machte der Hellseherin ein Zeichen und sie raffte ihre Röcke und kroch vor ihm in den Fond des bebenden Mobils.

Und es würde außerdem erklären, spann er unterdessen seinen Faden weiter, was sie da heute in der phoräischen Unterwelt gesehen und vor allem gehört hatten – nicht etwa eine »urböse Urschlange der Urmeere«, wie sie (ausschließlich) in Schauermythen überdauert hatte, sondern (möglicherweise) den geheimen Prototyp eines (lebendigen) Dampfunterseeboots, entwickelt auf Basis eines dunibischen Grünmeerwals.

Rasch fuhr Rabov mit den Fingerspitzen noch über die Außenhaut ihres Gefährts, ehe er sich hinter Selda in den Fond schlängelte. Der Chauffeur salutierte, eine Hand an der Schildmütze, und schlug mit Donnerknall die Fondtür zu. Und all das, was er da eben zusammengedacht oder wohl eher zusammenfantasiert hatte, sagte sich unterdessen Rabov, war nichts als hirnverschmorter Humbug. Er spürte noch in seinen Fingerspitzen, wie sich die Blechhaut ihres Dampfungetüms angefühlt hatte – kühl und tot, überhaupt nicht zu vergleichen mit der seidig weichen, wie lebendig vibrierenden Membran, von der er und der Junge heute schützend umfangen worden waren und die ihn wohl überhaupt erst auf diese tollkühne Idee gebracht hatte.

Der Fahrer thronte mittlerweile vor ihnen auf seinem Sitz, zwischen dem Steuerrad und einer Vielzahl tentakelartiger Stangen und Hebel eingekeilt. Sehr viel mehr als seinen Kopf konnte er nicht zu ihnen herumdrehen. »Wohin die Herrschaften?« Er lispelte und hinter der Zahnlücke schnellte seine Zunge umher wie eine blutige Schlange.

»Ins Bufo«, sagte Rabov. »Das ist neben der alten Polizeikommandantur.«

Der Chauffeur pfiff durch die Zahnlücke. Er schien beeindruckt, doch sein Gemurmel ging im Donnergetöse der startenden Dampfmaschine unter. Er setzte den Winker und fädelte sich geschickt in den doppelspurig vorüberratternden Verkehr ein – Dampf- und Mulitrams, einige Kutschen und unzählige Dampfmobile. Dazwischen hier und dort bäurische Lastkarren und natürlich Unmengen von Fußgängern, die sich gerade um diese Stunde, wenn die ärgste Tageshitze gebrochen war, aus ihren Wohnungen hervorwagten und in die innerstädtischen Lokalitäten strebten.

Im Universitätsviertel?, fragte Rabov. Doch in Gedanken war er noch immer bei seiner – bestechenden, törichten – Idee und so schaffte er es nicht sofort, die Wahrsagerin auf dem Gedankenweg zu befragen. Um seine lakorischen Kräfte zu wecken, musste er sich möglichst lebhaft vergegenwärtigen, wie er damals am Agoschkreuz die göttliche Kadora angerufen hatte. Nur wenn es ihm gelang, sich in seinen damaligen Gefühls- und Geisteszustand zurückzuversetzen – panische Überwachheit aller Sinne bei gleichzeitiger träumerischer Benommenheit –, vermochte er in das Bewusstsein anderer Menschen zu gleiten oder feste Materie zu durchdringen, als wäre sie Nebel oder Spinnweb.

Rabov schloss die Augen und schon nach wenigen Atemzügen glitt er in lakorische Trance. Im Universitätsviertel, Selda?, wiederholte er. Und die Tote ist vermutlich eine Frau mit kurzen braunen Haaren?

Wie immer, wenn Selda gekränkt war, zog sich ihr Nasenkrater zusammen wie ein konkaver Schmollmund. Wenn Sie alles schon wissen, Meister Rabov, warum schleppen Sie mich in diesem Donnermonstrum mit?

Bisher weiß ich so gut wie nichts, beschwichtigte er sie, nur ein paar Andeutungen. Aber wie hast du überhaupt davon erfahren?

Die Hellseherin betrieb eine unscheinbare Wahrsagebude am Fuß des Donarbergs. DEINE ZUKUNFT – ZWEI GROSCHEN, stand auf einem Schild über dem schief herausgesägten Schalterloch, das verheißungsvoll mit einem zartrosa Vorhang verhüllt war. Wünschte ein Klient den Schleier vor seiner Zukunft gelüftet zu sehen, brauchte er nur auf die Messingglocke zu hauen, die auf einem kleinen Sims vor dem Schalter befestigt war. Im Gegensatz zu den unzähligen Scharlatanen, die arglosen Hauptstadtbesuchern mit schludrig erfundenen Lügen das Geld aus der Tasche zogen, verfügte Selda tatsächlich über die Gabe, durch den Schleier zu schauen. Studenten oder gar Professoren gehörten aber im Allgemeinen nicht zu ihrer Kundschaft – in den gehobenen Kreisen war es vollkommen aus der Mode, an übersinnliche Kräfte, überlieferte Mythen oder auch nur an die üblichen Verkündungen der Linglu-Priester zu glauben. Entsprechend fristeten wahrhaft lakorisch begabte Personen wie Selda oder Tarek ein kümmerliches Leben am Rand der modernen phoräischen Gesellschaft, die ins glorreiche Dampfzeitalter eingetreten war.

Die fantastische, ganz und gar unlogische Verbindung zwischen ihrer Wolkendroschke, die zischend und puffend durch die Verkehrsfluten pflügte, und dem Wal aus jenem Buch (Geschöpfe der Tiefe oder so ähnlich hieß es) wollte Rabov einfach nicht aus dem Kopf gehen. War im Heiligen Linglu-Buch nicht sogar die Legende von einem vorzeitlichen Propheten überliefert, der in einem leibhaftigen Wal durch die Meere gereist war?

Obwohl er mit seiner Befragung noch längst nicht fertig war, kehrte Rabov kurzzeitig aus der lakorischen Trance zurück, zückte seine Kladde und machte sich eine Notiz. (Hl. Ll. Buch: Walmobil?!)

Heute Mittag, teilte ihm kurz darauf Selda mit, hat mich eine junge Frau aufgesucht. Sie wollte unbedingt wissen, wo sich eine gewisse Velissa Labiano aufhält. Ob sie noch unter den Lebenden sei, wie sich die Klientin ausdrückte – ein Mädchen fast noch, allenfalls Mitte Zwanzig. Sie hat mir ein Porträtbild der Gesuchten gegeben und da war es dann eine Kleinigkeit für mich, diese Velissa für sie zu finden. Selda zog wieder ihren Nasenkrater zusammen – dieses Mal gekränkt (nahm Rabov an), weil ihre Talente von der phoräischen Obrigkeit (vor allem von ihm selbst) nicht gebührend anerkannt wurden.

Allerdings hatte ich keine guten Nachrichten für die Kleine, fuhr Selda fort, während sie endlich das altstädtische Gassengewirr hinter sich ließen und in den Boulevard des Inneren Friedens einbogen. Der Fahrer beschleunigte scharf und ließ zur Warnung an alle die Dampfsirene röhren. Die Leiche von Velissa Labiano liegt in der Lanfastraße in einer Wohnung im Erdgeschoss – gegenüber dem Archäologischen Forschungsinstitut der Königlich-Dunibischen Universität, fügte sie mit kindlichem Stolz hinzu. Und auch wenn es komisch klingt, Meister Rabov: Sie ist offenbar an einem Seil erstickt, das auf irgendeine Art durch ihren Mund bis tief in die Luftröhre gelangt ist.

Und noch beträchtlich tiefer, meine Gute, dachte Rabov und achtete sorgfältig darauf, dass sie nichts davon mitbekam. Danke, Selda, das ist sehr hilfreich, antwortete er. Und was ist mit diesem Mädchen – der jungen Frau, die nach Velissa Labiano gefragt hat?

Der Nasenkrater zog sich zu einem winzigen schwarzen Loch zusammen – eine artistische Grimasse, die Augenblicken allertiefster Kränkung vorbehalten war. Wenn Sie erwarten, dass ich jetzt auch noch meine Klienten verpfeife … Sie klimperte heftig mit ihren Lidern, die gegenläufig bemalt waren – links türkis mit rosa Tupfern, rechts türkisfarbene Punkte auf rosa Grund. Lieber verschimmle ich auf dieser Strafinsel, die ihr eigens für Lakoris eingerichtet habt. Ihre Augen verschwammen in Tränen.

»Aber beruhige dich doch, meine Liebe«, sagte Rabov auf gewöhnliche Weise. Der Fahrer warf einen erstaunten Blick in den Fond und hatte anschließend Mühe, den schlingernden Dampfwagen abzufangen. »Alles in Ordnung hier hinten«, sagte Rabov zu ihm genauso wie zu Selda. Er machte sich weitere Notizen (»Opfer lt. S.: Velissa Labiano, Lanfastr. – Klientin v. S.: junge Frau, Mitte 20«), klappte seine Reptilkladde zu und verstaute sie wieder in seinem Umhang. Wie oft muss ich dir noch versichern, fügte er für die aufgelöste Hellseherin hinzu, dass es in ganz Dunibien keine solche Magierstrafinsel gibt?

Türkis-rosarote Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und zogen Schlieren in die Schminkfassade. Seien Sie der alten Selda nicht böse, flehte die Wahrsagerin. Blitzschnell hob sie eine Hand und berührte die Schwellung über seinem Auge mit der Spitze ihres kleinen Fingers. Dann lehnte sie sich zurück und begutachtete das Ergebnis ihrer Bemühungen.

Ihre Lippen und der Krater darüber zogen sich gleichermaßen in die Breite. »Wenn Sie schon kein drittes Auge haben, Meister Rabov«, kicherte sie mit rostiger Kleinmädchenstimme, »sollen Sie wenigstens die beiden benutzen können, mit denen Sie auskommen müssen.« So schnell, wie dies nur bei Personen möglich war, die weitgehend unter der Fuchtel ihres Dunkeldu standen, war ihre eben noch schwerblütige Stimmung in quirlige Heiterkeit umgekippt.

Ehe sie weitere Beweise ihres exzentrischen Humors vorbringen konnte, lenkte der Fahrer sein Mobil an den Straßenrand und trat wuchtig auf die Bremse. Er drehte sich zu ihnen um und in dem Gesicht unter der dampfgrauen Uniformmütze kämpften Angst und Neugier um die Vorherrschaft. »Das Bufo, wie gewünscht.« Seine Zungenspitze tastete von innen die Umrisse der Zahnlücke ab, als ob sie Ausbruchsmöglichkeiten auskundschaften wollte. »Das macht zwei Kronen und vier Groschen, der Herr.«

Rabov fischte vier Kronen aus einer Innentasche seines Umhangs. »Bring die Dame zum Donarberg. Was übrig bleibt, ist für dich.«

Er nickte Selda zu, stieß eigenhändig die Wagentür auf und stand schon auf dem Trottoir, bevor der Fahrer sich auch nur hinter seinem Steuerrad hervorgearbeitet hatte.

Ehe Rabov sich abwandte und auf die dunkelgrüne Bleiglasfront des Bufo zuging, fuhr er noch einmal mit der Fingerspitze über das rundliche Dach des Dampfmobils. Lebloses Blech, überdies rußverschmiert. Letzteres merkte er aber erst, als er mit demselben Finger auch noch über sein Gesicht gefahren war und anschließend seine Fingerkuppe gemustert hatte: Die war nun schwarz und die Schwellung um sein Auge herum war fort.

Gute Selda, dachte Rabov und beschleunigte seine Schritte: Vom Stundenturm der Alten Kommandantur her, einem ungeheuren Koloss, der zur Rechten des Bufo ruinenhaft in den Himmel aufragte, schlug es gerade eben fünf Uhr.

6

vigDer letzte Stundenschlag war noch nicht verhallt, als Rabov auf die Tür des Kaskadenzimmers zueilte. Calin hatte eine Vorliebe für dieses bizarre Séparée in einem Seitenflügel des Bufo – einen kreisrunden Raum, nicht viel größer als eine Gartenlaube, dessen innerste Wände von emporschießenden und niederstürzenden Wassermassen gebildet wurden. Links und rechts der Türschwelle lehnten Kurb und Mirschek an der Wand, Calin Stingards persönliche Leibgardisten. Rabov kannte die beiden seit langem und als er zwischen ihnen hindurch ins Kaskadenzimmer hastete, nickten sie ihm fast gleichzeitig zu.

Rabov schob sich durch die Bresche in den Wasserwänden, bemüht, nicht gleich den zweiten Überwurf dieses Tages zu durchnässen, und stellte verwundert fest, dass Calin nicht da war. Da Mirschek und Kurb jedoch bereits die Schwelle bewachten, konnte auch die königlich Geheime Rätin nicht mehr weit sein. Trotzdem war es niemals vorher passiert, dass Rabov als Erster ihren Treffpunkt betreten hatte.

Kurzzeitig verlor er sich in der schmeichelhaften Vorstellung, dass Calin die Waschräume des Bufo aufgesucht hätte, um eigens für ihn ihr Äußeres zu vervollkommnen. Aber das war aus doppeltem Grund unwahrscheinlich: Erstens war Calins Schönheit jederzeit ohne Makel und zweitens … Nein, kein deprimierendes Zweitens, beschloss Rabov und überprüfte stattdessen seine eigene Frisur (tadellos hielt das Band aus noïlitischem Echsenleder seinen Zopf zusammen).

Er nahm auf einem der klammen Flechtsessel Platz, auf der vorderen Kante, sprungbereit. Hier im Innern der Wasserkammer kam man sich vor wie im menschenfernsten Urwald. Jenseits der Kaskaden wucherte eine wahre Wildnis aus Schling-, Kletter- und sogar Würgepflanzen an Gitterwänden empor, die ihrerseits von massiven meergrünen Glasmauern umschlossen waren. Zweifellos war es ein angenehm kühles Plätzchen, aber Rabov vermutete seit langem, dass Calin diesen Treffpunkt aus noch kühleren Beweggründen bevorzugte: Das Rauschen und Klatschen der Wasserspiele ließ unerwünschten Lauschern nicht die kleinste Chance. Man konnte sich hier zwar wie in unberührter Wildnis fühlen, doch alles in allem war es ein Ort, der mindestens die Sicherheitsstandards der norddunibischen Gefängnisinseln erfüllte. (Es gab zwar kein Eiland eigens für Lakoris, doch auf der festlandsfernsten Strafinsel unterhielt die königliche Gerichtsbarkeit einen speziellen Trakt für magisch begabte Schwerverbrecher. Aber wozu seine Schützlinge mit bitteren Wahrheiten bedrücken – das jedenfalls war Rabovs Standpunkt in dieser Frage.)

Und dann trat Calin ein und alles war wie jedes Mal: Rabov spürte ein Vibrieren in seiner Nabelgegend und fühlte sich schrecklich unbeholfen, mit viel zu langen Gliedmaßen ausgestattet, die er zum Überfluss auch nur mit holzpuppenhaftem Rucken zu bewegen wusste. So erhob er sich ohne jede Anmut und taumelte Calin Stingard entgegen. »Calin«, rief er aus und nahm aus den Augenwinkeln einen Schemen wahr, der sich vor der Tür bei Kurb und Mirschek zu schaffen machte. Ein schmaler Bursche, wie es Rabov schien, und schon dieser schattenhafte Umriss genügte, um seine Eifersucht zu entflammen.

»Samu«, gab sie mit jener beherrschten Kälte in der Stimme zurück, die er fast mehr als alles andere fürchtete. Dazu aber mit einem Lächeln, das ihre moosgrünen Augen aufleuchten ließ. Sie streckte ihm zwei kühle Hände entgegen und wie immer ergriff er sie so zaghaft, als ob sie sonst zwischen seinen Pratzen zerbrechen müssten. Calin war beinahe so hochgewachsen wie er, jedoch von zierlicher Gestalt und unveränderlich jugendlicher Schönheit. Sie trug ein luftiges weites Kleid, das er noch niemals zuvor an ihr gesehen hatte. Breite Längsstreifen in stark kontrastierenden Farben (blutrot, froschgrün, nachthimmelblau), die er vage mit gewissen urtümlich lebenden Stämmen im zaketumesischen Moliatgebiet in Verbindung brachte.

Sie nahmen zwischen den Wasserwänden Platz. Mirschek oder Kurb (beide drohten auf die genau gleiche Art ihre Uniform zu sprengen, speziell um die Brust herum und an den Oberarmen) schenkte ihnen aus bereitstehenden Glaskaraffen Getränke ein und dann schlug Calin eines ihrer erstaunlich biegsamen Beine über das andere und warf ihre silberblonden Haare über die Schultern zurück wie immer, wenn sie dienstlich wurde.

»Was ist dir in den letzten Wochen Besonderes aufgefallen, Sam? Ich spreche jetzt nicht von einzelnen Ereignissen – dazu kommen wir gleich noch –, sondern von größeren Veränderungen in den Lakori-Szenen.«

Sie schwieg und sah ihn auf eine Weise an, die er noch nie bei ihr gesehen hatte, sowenig wie das Kleid mit dem Moliatmuster, das so farbenfroh war und doch auf eigentümliche Weise düster wirkte (wie eigentlich alles, was die altzaketumesische Moliatkultur betraf). Das Kleid gefiel ihm nicht besonders und die Art, wie sie ihn ansah, gefiel ihm noch weniger. Vielleicht hätte er sich jetzt einfach vorbeugen, nochmals ihre Hand ergreifen, ihr zärtlich in die Augen sehen sollen, wie er sich das seit Tagen ausgemalt hatte. Aber der schmächtige Kerl da draußen hatte ihm alles durcheinandergebracht. Rabov schielte immer wieder verstohlen zum Ausgang – dort waren lediglich die massiven Umrisse der beiden Leibgardisten zu sehen, doch er hätte wetten mögen, dass der Bursche sich weiterhin da draußen herumtrieb.

»Nichts Auffälliges«, sagte er, »abgesehen von ein paar Schlangenkulten, die seit einigen Wochen starken Zulauf haben. Ich habe dir ja schon ausführlich von diesen Schlangenanbetern berichtet. Ihr Kult heißt Makuba occulta, sie veranstalten Dunkle Messen, auf deren Höhepunkt sie der ›sich offenbarenden Geistschlange‹ irgendwelche symbolischen Opfer bringen. In den letzten Wochen hat es anscheinend Massenbeitritte zu dieser Sekte gegeben – den Okkulten Makubisten, wie sie sich auch nennen.«

Rabov legte eine Pause ein – Calin reagierte überhaupt nicht auf seine Worte, sie sah ihn nur weiter aus halb zugekniffenen Augen an. So als ob sie mit mühsam bezähmter Ungeduld darauf wartete, dass er endlich zum Wesentlichen käme.

Er genehmigte sich einen Schluck von seinem Fruchtsaft. Ähnliche Entwicklungen seien seit zwei, drei Wochen bei einer Reihe weiterer serpentistischer Kulte zu beobachten, fuhr er fort, beispielsweise bei den Jüngern der bakusischen Gottheit Ragadhani. »Wie vorhin am Telefon schon gesagt – heute ist sogar der Oberpriester dieser Schlangengottheit, Radschi Varusa höchstpersönlich, in Phora eingetroffen, zusammen mit einer leibhaftigen Lyrissa, in der sich die Gottheit angeblich verkörpert.«

Wieder unterbrach er sich und diesmal nickte Calin ihm zu. Doch dann sah sie ihn nur abermals stumm und eindringlich an, wie eine Lehrerin ihren begriffsstutzigen Schüler.

»Ich könnte weitere Beispiele nennen«, fuhr Rabov fort, »aber ich denke nicht, dass wir dieser Welle allzu große Bedeutung beimessen sollten. Anscheinend sind mehr oder weniger alle Schlangenkulte und serpentistischen Szenen in Phora zur selben Zeit von einer fiebrigen Unruhe erfasst worden. Auch viele Normalbürger, die bisher nicht durch magische Fähigkeiten oder okkulte Neigungen aufgefallen sind, scheinen von Schlangenkulten fasziniert zu sein. Der Ragadhani-Tempel im Künstlerviertel wird seit Wochen von Neugierigen überrannt, die sich plötzlich brennend für die bakusische Gottheit interessieren. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb sich Radschi Varusa auf den weiten Weg hierher gemacht hat – wahrscheinlich hofft er, dass die Phoräer in hellen Scharen zu seiner Kirche übertreten. Aber Varusa wird sehr schnell feststellen, dass es hier für ihn wenig zu missionieren gibt.«

Rabov zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte er sich auch schon gefragt, ob es sich vielleicht um etwas anderes als eine der üblichen kleinen kollektiven Hysterien handelte. Aber die Alternative war so furchterregend, dass er bisher davor zurückgeschreckt war, mehr als ein paar Augenblicke lang darüber nachzudenken. Wenn die Schlangen »ihre nassen Nester verlassen und ans feste Land gekrochen kommen«, so hieß das laut den Offenbarungen des Heiligen Linglu-Buchs, dass eine neue Große Flut unmittelbar bevorstand.

»Ich jedenfalls gehe nach wie vor davon aus«, fuhr er fort, »dass wir es einfach mit einer dieser Erregungswellen zu tun haben, wie sie immer wieder mal aufbranden – letztes Jahr bei den noïlitischen Totenbeschwörungskulten oder vor zwei Jahren bei den Verwandlungsmagiern. Wenn ich mich nicht sehr täusche, wird der Sturm auch bei den Schlangenjüngern spätestens in ein paar Wochen wieder abgeflaut sein.«

Calin stellte ihr Glas ab und beugte sich unvermittelt vor. »Und wenn du dich doch täuschst, Sammo – was ist dann?« Sie wirkte mit einem Mal so durcheinander, dass auch Rabov beinahe die Fassung verlor. Ihre Stimme klang unsicher, ihr Gesicht verzerrte sich für einen Moment wie in Panik. Aber was ist denn, Li, wollte Rabov murmeln, doch da war der Augenblick bereits wieder vorbei.

»Wir haben deine Berichte der letzten sechs Wochen noch einmal ausgewertet, heute Nachmittag im engsten Kreis«, fuhr Calin in ihrer gewöhnlichen Stimmlage fort und ihr Gesicht glich aufs Neue einer Maske. »Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich möglicherweise um sehr viel mehr als eine der üblichen Erregungswellen handelt.«

»Um sehr viel mehr«, wiederholte Rabov. – »Was soll das heißen, Calin? Glaubt ihr etwa, die Schlangenjünger wollten die Linglu-Bethäuser stürmen, oder was? Und wer gehört denn diesem engsten Zirkel im Innenministerium überhaupt an – ich meine, außer dir selbst?«

Sie presste ihre Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Für einen Moment schien sie abermals mit ihren Gefühlen zu ringen. »Ach, Sammo«, flüsterte sie. »Wie gerne würde ich glauben, dass du recht hast. Gerade weil du so ein besonderes Gespür für diese Schlangensachen hast, wollte ich dich ja unbedingt auf dem Mysto-Posten haben. Aber jetzt bin ich mir nicht sicher.« Sie biss sich auf die Unterlippe und schluckte krampfhaft. »Ich bin mir einfach nicht sicher, verstehst du?«

Nein, Rabov verstand nicht. Oder vielmehr, er verstand nur allzu vieles auf einmal, das in seinem Kopf durcheinanderschwirrte. Und sich plötzlich um einen einzigen grell beleuchteten Punkt herum ordnete – seinen eigenen »wunden Punkt«, wie Calin das immer genannt hatte, der sich plötzlich als sein strahlendster Pluspunkt entpuppte. »Du meinst«, brachte er hervor, »dass ich den Posten nur deshalb bekommen habe – wegen der alten Agosch-Sache damals in Raginor?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie. »Jedenfalls nicht nur. Bei weitem nicht nur«, fügte sie hinzu. »Du weißt genau, dass ich noch eine ganze Reihe anderer Qualitäten an dir schätze.« Ihr Blick wurde sinnend.

Ihm wurde ein wenig heiß, ungeachtet der Kaskaden, aber Calin Stingard schien von seinen innerlichen Abirrungen nichts mitzubekommen. »Der engste Kreis«, fuhr sie fort, »das sind natürlich der Reichssekretär und ich, wer denn sonst. Und wir sind zu der Ansicht gelangt, dass es sich bei dieser serpentistischen Krise um die Vorzeichen einer …« Sie unterbrach sich und setzte neu an. »Dass sich da ein größeres Ereignis ankündigen könnte.«

Abermals spürte er ihre Panik, obwohl sie sich äußerlich längst wieder unter Kontrolle hatte. »Du hast mit dem Reichssekretär über die Serpentistenszene gesprochen?« Es fiel ihm weiterhin schwer zu glauben, dass sich eine so mächtige Persönlichkeit wie der Königliche Reichssekretär (seinem Rang nach dem Innenminister beinahe ebenbürtig) mit Kreisen und Geschehnissen von so geringer oder zumindest höchst ungewisser Bedeutung beschäftigen sollte.

Calin nahm einen Schluck von ihrem Fruchtsaft. Sie leckte sich über die glitzernd benetzten Lippen und sah Rabov dabei unverwandt an. »Ich treffe ihn regelmäßig«, sagte sie. »Er schätzt meine Arbeit sehr – deine, Sam, natürlich auch. Aber er ist der Ansicht, dass wir die Gefahrenlage in jüngster Zeit zu optimistisch bewerten. Er will, dass wir offensiver vorgehen. Um es mit seinen Worten zu sagen: Die Zeit des bloßen Beobachtens ist vorbei.« Sie stellte ihr Glas auf den Beistelltisch zurück.

Wie auf dieses Zeichen hin erschien der schmächtige Kerl, der die ganze Zeit draußen herumgelungert hatte, in der Tür. Er sah mit fragender Miene zu Calin hinüber, und als sie ihm zulächelte, winkelte er die Ellbogen wie zu einem Sprint an und spurtete zu ihnen herein.

Rabov wurde sterbenselend zumute. Auch ohne seine Lakori zu bemühen, spürte er klar und deutlich, dass dieser junge Mann Calin Stingards neuer Liebhaber war.