Kapitel 4
Allein war Frank nach Malmö gekommen, und allein musste er wohl auch wieder zurückfahren. Liva würde innerhalb der nächsten Tage von der deutschen Polizei abgeholt werden.
Das erfuhren sie von Gunilla Lundal, der Kripobeamtin, die im Café aufgetaucht war.
Zunächst waren Liva und Frank wie vor den Kopf geschlagen gewesen. Sie hatten sich durch die Straßen bewegt, als gingen sie durch eine Nebelwand. Auf der Polizeiwache hatte man – nach einem Telefongespräch mit Deutschland – Franks Personalien aufgenommen. Liva hatte mit einer Anwältin telefoniert, die ihr nahe gelegt hatte, möglichst wenig zu sagen und abzuwarten. Sie würde, wenn sie nichts dagegen habe, schon mal ein psychologisches Gutachten in die Wege leiten, damit man etwas Substanzielles für die Verhandlung hätte.
„Sie müssen jetzt gehen, Herr Linde!“, sagte Gunilla Lundal freundlich bestimmt. „Ihre Freundin wird dem Richter vorgeführt. Kommen Sie morgen auf die Polizeistation. Und ... wenn Sie ihre Freundin besuchen möchten, müssen Sie einen Antrag ausfüllen, weil der Richter Ihren Besuch genehmigen muss.“ Sie hielt kurz inne. „Sollte der Richter einen Besuch gestatten, dann wird es nur ein kurzer sein. Und Sie dürfen sich natürlich nicht allein unterhalten.“
„Aber ...“, fing Liva an, wiederholte aber nur, was sie schon auf dem Weg zur Wache gesagt hatte: „Das Ganze muss ein Irrtum sein!“
Gunilla Lundal lächelte und sagte auf Schwedisch: „Glauben Sie mir, Frau Arth, wir machen das nicht zum Spaß! Es gibt leider eine Menge Indizien, die gegen sie sprechen.“ Sie wandte sich an Frank: „Sie müssen jetzt ...“
Er verstand, und Liva auch. Sie standen sich gegenüber. Die ganze Szene kam Frank unwirklich vor. Eben noch hatte er im Café gesessen, Spettkaka gegessen, und jetzt befand sich Liva in Untersuchungshaft. Aber immerhin: Plötzlich war sie seine Freundin! Eine öffentliche Bestätigung durch die schwedische Polizei. Wenn das nichts war! Wahrscheinlich erwartete Frau Lundal auch, dass er Liva jetzt zum Abschied umarmen würde.
Also umarmte er sie, wobei Liva teilnahmslos wirkte. Auch seinen flüchtigen Kuss ließ sie über sich ergehen. Der erste Kuss! Auf einer Polizeiwache! Allerdings ohne Leidenschaft.
„He!“, sagte Frank in einem etwas zu munterem Ton „Du hattest Recht.“
„Womit?“, fragte sie heiser.
„Du bist etwas Besonderes.“
Sie lächelte mit schiefem Mund. „Toll!“
„Vielleicht bis bald, Liva.“
„Ja. Hoffentlich.“
Dann verschwanden die beiden Frauen hinter einer Tür.
Inzwischen war es dunkel geworden. Frank ging zu seiner Pension, als würde er durch einen Film gehen, der von jemand anderem gedreht wurde. Was sollte er tun? Trüben Gedanken nachhängen oder ins Kino gehen?
Er konnte Liva im Augenblick auch nicht helfen. Und etwas unternehmen konnte er nur, wenn sich die Fäden entwirren würden. Der Knoten schien aus feuchten Schnüren zu bestehen, die sich nicht lockern ließen. Das Ganze musste tatsächlich ein Versehen sein. Denn: Wie konnte Liva verdächtig sein? Sie war doch zur Tatzeit überhaupt nicht in Deutschland gewesen!
Oder doch?
Er würde auf jeden Fall gleich morgen zur Polizei gehen und sich um diesen Besuchsantrag kümmern, den Gunilla Lundal erwähnt hatte.
Lustlos sah er sich in seinem kleinen Appartement um. Praktisch und trotzdem gemütlich eingerichtet. Sogar einen Kaminofen gab es. Ein Feuer wäre jetzt genau das Richtige!
Als wenig später die Birken- und Buchenscheite knackten und knallten und die prasselnden Flammen Wärme verbreiteten, zog er sich einen Hocker heran und starrte in das Feuer. Er sah den zuckenden Flammen zu, die sich ständig nach oben drängten und sich hinaufschleuderten, als wollten sie durch den Kamin fliehen. Aber die Holzscheite hielten sie fest.
Eine Unverschämtheit, diese Verhaftung! Nur, weil Liva offenbar kein Alibi hatte und ihre Schwester nicht leiden konnte, stand sie unter Mordverdacht. Meine Zeit!, dachte Frank. Wenn alle Leute, die bei einem tödlichen Unfall kein Alibi haben, verhaftet würden, wären die Gefängnisse überfüllt!
Gegen 23.00 Uhr ging er ins Bett. Allerdings konnte er wieder nicht einschlafen, was ihn nicht wunderte. Um sich abzulenken, stellte er das Requiem an, nahm seine Noten und sang die Bassstimme mit. Bei der Stelle: „Wie lieblich sind deine Wohnungen ...“ musste er unwillkürlich an Liva denken und an ihre Zelle. Wie sahen heutzutage eigentlich Gefängniszellen aus? Mit Gitterstäben und Guckloch an der massiven Tür? Oder gab es schon welche mit freundlichen Türen und Lichtschranken? Ihm fiel ein, dass sich Sabine in einem Gefängnis eigentlich wohl fühlen müsste. Das Problem mit den offenen Türen wurde dort kompetent gelöst werden.
Ohne Frühstück ging Frank gegen acht durch die Västergatan. Malmö war schon lange aufgewacht. Busse fuhren vorbei. In der Ferne heulte eine Motorsäge. Nach ein paar Seitenstraßen betrat er die Polizeiwache von gestern und war erleichtert, Gunilla Lundal zu sehen. Wenigstens ein bekanntes Gesicht! Durch die Fenster fiel ein Streifen Sonne und brachte auf der Scheibe eine Sammlung unbeabsichtigter Fingerabdrücke zur Geltung.
Gunilla Lundal verhielt sich zwar immer noch sehr förmlich, war aber hilfsbereit. Sie hatte schon den Antrag für ihn ausgefüllt, erklärte ihm den Inhalt und zeigte ihm die Stelle zum Unterschreiben.
„Rufen Sie heute Nachmittag hier an, dann kann ich Ihnen sagen, ob Sie Ihre Freundin morgen besuchen können“, sagte sie und gab Frank ihre Durchwahl. Dann blickte sie ihm tief in die Augen und fuhr in ihrem singenden Tonfall und dem leichten Akzent fort: „Es sieht nicht gut aus für Frau Arth. Ich hoffe, Ihre Anwältin ist gut, denn sie braucht jetzt eine, eine sehr gute sogar!“
Meine Zeit!, dachte Frank, als sich die Tür hinter ihm schloss. Das hört sich alles so fürchterlich ernst an. Warum sollte Liva eine gute Anwältin brauchen?
Er schüttelte sich, als ob er damit seine unguten Gefühle loswerden könnte und suchte sich ein kleines Selbstbedienungsrestaurant, wo er frühstücken konnte. Es half nichts, er musste abwarten und würde erst nach einem Gespräch mit Liva klarer sehen.
Die schwedischen Fleischbällchen ließ er aus, schlug stattdessen bei den Körnern mit Sauermilch kräftig zu. Die Brötchen waren für seinen Geschmack zu süß. Aber es gab Rührei.
Während er auf seinem Platz saß, verglich er im Stillen Liva mit Gunilla Lundal, die eigentlich gar nicht schlecht aussah, wenn man außen vorließ, dass sie Polizistin war. Akzeptable Figur, die eine zarte Tendenz zum Fülligen besaß. Ihre angenehme Stimme mit dem schwedischen Tonfall machte sie sogar direkt liebenswert. Das eher breite Gesicht erinnerte ihn an Bridget in dem Film Schokolade zum Frühstück. An ihrer Hand hatte er keinen Ring gesehen. Ob es tatsächlich keinen Mann im Hintergrund gab? Oder gehörte es zu ihrem Beruf, dass man ohne Schmuck auskommen musste? Vielleicht hatte sie aber auch gerade ein Typ wie Hugh Grant hereingelegt, und sie hatte im Badezimmer ihres Freundes eine nackte Frau gesehen? An ihrer Stelle hätte er dann auch alle Ringe abgezogen.
Liva sah gegen Gunilla blasser aus, wirkte graziler und konnte sich – selbst wenn sie sich Mühe gab – nicht so formell geben wie die schwedische Kripobeamtin.
Wie würde eigentlich Gunillas Stimme klingen, wenn sie ihre Förmlichkeit fallen ließe und zu ihm sagen würde: „Frank, du bist ein wunderbarer Mann! Du begleitest åhne mit die Wimper tsu tsucken eine Mörderin!“
„Ach weißt du, Gunilla“, würde er sagen, „das ist doch selbstverständlich. Deutsche Männer lassen ihre Frauen nicht fallen, auch wenn die eben mal jemanden aus dem Fenster fallen gelassen haben. Hast du übrigens einen Freund?“
Sie würde rot werden und sagen: „Ja, aber er ist seit fünf Jahren taub und blind und ... und ich bin seine einzige Verbindung zur Welt.“
„Ich hoffe, er ... weiß das zu schätzen?“
„Jaha“, würde sie antworten und dabei lebhaft nicken. „Er bastelt für mich Flugzeugmodelle, und auf der Tragfläche steht immer mein Name ...“
Nachdem Frank sich bis 15.00 Uhr durch den Tag gequält hatte, rief er bei Gunilla an und erfuhr zu seiner Überraschung, dass er Liva ausnahmsweise schon heute zwischen 16.00 Uhr und 17.00 Uhr im Untersuchungsgefängnis besuchen durfte. Es sollte ein kurzer Abschiedsbesuch werden.
Er kaufte noch schnell ein paar Essensvorräte ein, unter anderen auch Hefe und Mehl, weil er sich selbst eine Pizza backen wollte, und setzte den Teig an. Vielleicht konnte er die Pizza schon heute Abend zusammen mit Liva essen?
Dann ging er kurz vor vier los. Seine Stimmung war ganz gut, denn er rechnete damit, dass sich alles bald aufklären würde.
Immer noch schien die Sonne. Das Wetter passte zu seiner lockeren Laune. Selbst, als er vor dem altertümlichen Gebäude stand, dachte er an nichts Schlimmes und freute sich darauf, Liva wiederzusehen. Er versuchte, das Gefühl, sie sei auf ihn angewiesen, nicht zu unterdrücken, und kostete es aus.
Ein Beamter mit einem großen Schlüsselbund kam auf ihn zu, nachdem er sich angemeldet hatte, und führte ihn in den Aufenthaltsraum, in dem ein Tisch und drei Stühle standen. Eine schwedische Blümchengardine verdeckte schamhaft die Gitterstäbe.
Liva und Gunilla Lundal saßen bereits an dem Tisch und blickten ihn an.
Gunilla Lundal räusperte sich. „Guten Tag“, sagte sie, „das ist kein richtiger Besuch. Aber Sie dürfen mit ihrer Freundin in meiner Gegenwart ein paar Worte reden und sich dann verabschieden. Mehr geht nicht.“
„Es ist total verrückt, Frank“, sagte Liva mit leiser Stimme und starrte auf seinen Hemdkragen. „Die Polizei war nach dem ... nach Nadjas Sturz in meiner Wohnung und hat meine Notizen über meine Reise nach Malmö gefunden. Dann war es nicht schwer, über das Tourismusbüro meine Pension zu finden. Außerdem halten sich viele Touristen um diese Zeit in irgendeinem Café auf.“
„Okay. Aber warum ...?“
Liva zuckte hilflos mit der Schulter. „Was ich von Frau Lundal erfahren habe, ist Folgendes: In Nadjas Faust befanden sich Haare, als ob es einen Kampf gegeben und sie dem Mörder Haare ausgerissen hätte. Na ja, und aus meiner Wohnung haben sie Haare von mir mitgenommen und festgestellt, dass es meine Haare waren, die Nadja in der Hand gehabt hatte. Haaranalyse und so ... Und dann gibt es einen Zeugen, der mich angeblich gesehen haben soll, wie ich aus Nadjas Wohnung gerannt bin. Als man ihm mein Bild zeigte, behauptete er, dass er mich darauf wiedererkannt hat. Und ... und ...“ Liva musste mit den Tränen kämpfen. „Auf Nadjas Gürtelschnalle waren meine Fingerabdrücke auch drauf ...“
Gunilla hob die Hand. „Das reicht, Frau Arth! Bei diesem Besuch geht es nur darum, dass ihr Freund weiß, wie ernst die Lage ist. Mehr Informationen sind nicht zulässig. In Deutschland wäre das sowieso nicht möglich gewesen. Seien Sie also froh, dass Sie sich in Schweden befinden und dass Sie Ihren Freund noch einmal sehen können.“
Liva schwieg, und Frank fiel im ersten Augenblick auch nichts ein. Er merkte, dass sich eine Gänsehaut über seinen Rücken ausbreitete. Die lockere Sonnenscheinstimmung von vorhin fiel von ihm ab wie ein zu großer Mantel. Schwer wiegende Indizien. In ihm meldeten sich erste Zweifel an Livas Unschuld. Er hatte bisher die Beschuldigungen nicht ernst genommen und dachte, dass alles ein großer Irrtum sei, aber jetzt verstand er, was Gunilla Lundal gestern gemeint hatte: „Ihre Freundin braucht einen guten Anwalt.“
Er nahm Livas Hand in seine Hand, während sie ihre Nase hochzog: „Frank, glaub mir, ich ... ich kann mir das alles nicht erklären. Ich habe Nadja nicht aus dem Fenster gestoßen. Du ... du glaubst mir doch, oder?“
„Sicher, Liva!“, log er und drückte ihre Hand. Irgendwie schaffte er es, ihrem Blick standzuhalten und war fast dankbar, dass die Kripobeamtin aufstand, um den Besuch zu beenden.
„Noch ein letzter Satz!“, bat Liva Gunilla.
„Gut, noch einen Satz!“, seufzte die.
„Hör zu, Frank!“ Livas Stimme bekam einen festeren Ton. „Du gehst jetzt zu deiner Pension, packst deine Sachen und fährst zurück nach Deutschland! Wir können sowieso nicht gemeinsam fahren. Denke in Ruhe über uns nach! Ich bin dir nicht böse, wenn du Schluss machen willst. Ich brauche kein Mitleid, das würde mich nur ankotzen! Wir ... wir hatten ja sowieso noch kein richtiges Verhältnis ...“
Er senkte den Kopf, dachte an den flüchtigen Kuss auf der Polizeiwache, der eigentlich gar kein Kuss gewesen war. Eher ein lippenartiger Körperkontakt.
„Frau Arth!“ Gunillas mahnende Stimme.
„Dann mach’s gut!“, sagte Frank.
„Mach’s gut!“, wiederholte sie leise und fügte hinzu: „Vielleicht kannst du mir eine Schachtel Zigaretten schicken. Die mit dem Kamel.“
„Schluss jetzt!“ Gunilla Lundals Stimme hatte nun einen fast zornigen Unterton.
Frank wusste später nicht, ob es von ihm oder von Liva ausgegangen war, aber plötzlich lagen sie sich in den Armen und küssten sich. Und dieser Kuss unterschied sich ausgesprochen stark von dem Kuss gestern.
Frank wäre glatt an seiner Pension vorbeigegangen, so sehr war er noch in Gedanken, aber ein Radfahrer, der ihm entgegenkam und klingelte, brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Trotzdem ging er nicht in die Wohnung, sondern entschloss sich noch zu einem kleinen Spaziergang. Er brauchte jetzt Bewegung, als trieben seine Gedanken die Beinmuskeln an. Das Gehen in der frischen Luft half ihm, das Durcheinander zu sortieren. Der Wind schien dabei nicht nur seine Haare zu berühren, sondern auch durch seine Gedanken zu wehen und ihm beim Ordnen seines inneren Chaos’ zu helfen. Als ob er alle Gedanken in eine Richtung blasen würde.
Es sprach jedenfalls für Liva, dass sie Franks Mitleid nicht wollte, sondern ihn freigab.
Im Augenblick sah es tatsächlich so aus, als ob Liva ihre Schwester ... Nein! Unmöglich! Auf der anderen Seite, wie gut kannte er Liva überhaupt? Sie sahen sich ja erst seit ein paar Wochen! Er hatte sie noch nicht erlebt, wenn sie richtig zornig war oder voller Hass. Er wusste nicht, wie gut sie schauspielern konnte.
Er dachte nach. Vielleicht war das Ganze ein unbeabsichtigter Unfall? Vielleicht war Liva wirklich bei ihrer Schwester gewesen? Es war zum Streit gekommen, das Fenster stand zufällig offen ... Liva, die zunächst alles abgestritten hatte, merkt jetzt, dass die Indizien erdrückend waren und kann es nicht mehr als Unfall hinstellen. So etwas in der Art musste es sein.
Es wäre schön, wenn Frank sagen könnte: „Okay, Liva, die Beweislage ist erdrückend. Ich gehe davon aus, dass du im Affekt gehandelt hast und nach der ersten Panik alles vertuschen wolltest, wie jemand, der bei einem Unfall ohne nachzudenken Fahrerflucht begeht. Aber ich stehe trotzdem zu dir ...“
Aber was wäre, wenn sie tatsächlich unschuldig war? Dann musste jemand anderes diesen Mord bis ins Detail geplant und die Indizien so raffiniert aufgebaut haben, dass der Verdacht auf Liva fiel. Wer konnte das sein? Wer wollte Liva schaden? Oder ging es gar nicht um sie persönlich? War sie vielleicht nur die naheliegendste Person, um den Verdacht vom wahren Täter abzulenken?
Frank ging durch eine alte Lindenallee, in der schon einige Bäume gefällt werden mussten, weil sie krank waren. Er sah den Arbeitern im Vorbeigehen zu, wie sie die Äste absägten und gegen den Motorlärm anschrien.
Er überlegte weiter. Man konnte zwar einige Indizien arrangieren, man konnte heimlich in Livas Wohnung einbrechen, ein paar Haare von der Haarbürste nehmen, ungesehen verschwinden und sie der Toten in die Hand drücken. Aber die Fingerabdrücke auf der Gürtelschnalle ...? Schwierig ... Und dann war da noch der Augenzeuge, der Liva angeblich gesehen hatte, wie sie Nadjas Wohnung verließ. War er vom Mörder bestochen worden? Das wäre zu riskant. Oder ... war der Augenzeuge selbst der Mörder? Das wäre natürlich genial! Jemand, der sich freiwillig meldete und als Zeuge aussagte, würde nicht als Mörder verdächtigt ...
Wie wäre es, wenn ich mir diesen Zeugen einmal unauffällig anschauen würde ...? Er schüttelte gedankenverloren den Kopf. Er war Krankenpfleger und kein Detektiv.
Oder ... Vielleicht litt Liva an einer partiellen Amnesie und hatte ihr Gedächtnis verloren? Und diese seltsame Bemerkung bei Dr. Nudel, als sie zu Frank gesagt hatte: „Sag mal, kennst du das auch, dass du das Gefühl hast, dass in dir etwas Besonderes steckt? Oder dass sich etwas Ungewöhnliches um dich herum aufbaut?“ Das klang, als ob sie sich mit etwas Ungewöhnlichem beschäftigt hatte.
Andererseits – warum sollte er eigentlich nicht diesen Augenzeugen einmal unauffällig unter die Lupe nehmen? Der wohnte ja im selben Haus wie Nadja. Wenn Frank mit den Hausbewohnern ins Gespräch kommen könnte ... durch irgendeinen Vorwand, vielleicht als Stromableser oder als jemand, der für irgendwelche Firmen Befragungen durchführte ...? Ja, das könnte gehen.
Er drehte um und ging die Allee zurück. Jetzt tue ich gerade so, schoss es ihm durch den Kopf, als hielte ich Liva für unschuldig. Aber ist sie das denn?
Allmählich brummte ihm der Schädel. Seine Gedanken schienen dicker zu werden, sich aufzublähen und drückten von innen gegen die Schädeldecke.
Als er in seiner Pension angekommen war, ließ er sich zunächst auf die Couch fallen. Er war völlig erschöpft, obwohl er gar nichts getan hatte. Kann ein Spaziergang einen so kaputtmachen?
Im Fernsehen liefen irgendwelche Reportagen oder amerikanische Zeichentrickfilme mit schwedischen Untertiteln. Ständig wurde irgendein Tier von einem anderen gejagt.
Er drückte den Ausschaltknopf und machte sich einen großen Becher Milchkaffee. Allmählich kamen seine Kräfte wieder zurück, und nach einer Stunde setzte er sich an den Esstisch und versuchte, einen Fragebogen für eine Fantasiefirma zu entwerfen. Nachdem er den Produktnamen Teigatella für eine neue Nudelsorte entwickelt hatte, verwarf er seinen Plan jedoch wieder.
Nein, er würde etwas anderes fragen. Er könnte doch zum Beispiel das Fernsehverhalten seiner Mitbürger untersuchen. Darüber kann jeder etwas an der Haustür sagen. Etwa Fragen, wie: „Was ist ihre übliche Fernsehzeit oder ihre Lieblingssendung?“ – „Mögen Sie lieber Komödien oder Dramen, Sportsendungen oder Zeichentrickfilme?“ – „In welcher Talkshow würden sie am liebsten eine Bombe explodieren lassen?“ – „Haben Sie bei Spielfilmen im Fernsehen schon einmal geweint, oder passiert ihnen das nur im Kino, wenn es dunkel ist?“ – „Wenn ihr Fernsehgerät kaputt wäre, was würden sie dann machen? Selbstmord verüben? Essen gehen? Sich mit jemandem unterhalten? Mehr Sex machen? Mensch ärgere dich nicht mit den Nachbarn spielen? Ein Stoßgebet zum Himmel schicken? Oder ... früher ins Bett gehen?“ – „Antworten sie laut, wenn in einer Quizsendung Fragen gestellt werden?“ – „Begrüßen Sie die Ansagerin?“ – „Haben Sie die Ereignisse am 11. September zunächst mit einem Katastrophenfilm verwechselt und waren erstaunt über die Echtheit der Bilder, oder haben Sie gleich kapiert, dass es eine echte Katastrophe war?“ – „Gehen Sie erst bei der Werbung auf die Toilette oder schon vorher?“
Er merkte beim Ausarbeiten des Fragebogens, dass er keine Schwierigkeiten hatte, Fragen zu erfinden und dachte fast daran, seinen Beruf zu wechseln. Fragebogenentwickler ... Gab es das als Beruf?
Während er am Schreiben war, fing er zum Spaß wieder an, mit Livas Namen zu spielen. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Ihr Nachname war doch „Arth“. Wenn man jetzt ... Verblüfft betrachtete er sein neustes Abkürzungsergebnis: „Liva ist von anderer Arth.“
Verrückt, was einem alles so einfiel! Er machte dann dasselbe Spiel mit Frank Linde, aber diesmal fiel ihm nur der Satz ein:“Frank röchelt asthmatisch neben kranker Linde.“ Da gefiel ihm eigentlich der Satz: „Frank rettet außergewöhnlich niedergedrückte Kamele“ immer noch besser.
Draußen kam allmählich die Dämmerung und überzog den Großstadthimmel mit rosaroten Flecken, die allmählich mit grauen Schlieren übermalt wurden.
„Meine Zeit!“, murmelte er, während er am Fenster stand. „Jetzt bin ich schon mittendrin und schalte mich in die Untersuchungen ein. Bin ich noch zu retten? Was geht mich Liva an? Ich kenne sie doch kaum. He, Frank!“, rief er sich zu. „Ist sie wirklich so beeindruckend? Lohnt es sich wirklich, bei ihr dranzubleiben?“
Er überlegte kurz und fand keine Antwort.
Dann ging er in die Küchenecke und holte die Schüssel mit dem Pizzateig vom Küchenregal herunter, den er nachmittags angesetzt hatte. Er war ja im Grunde kein Gourmet, aber in den letzten Monaten war ihm der Pappgeschmack der tiefgefrorenen Pizzen auf die Nerven gegangen. Er hatte festgestellt, dass es gar nicht schwer war, mit Trockenhefe einen einfachen Teig herzustellen.
Langsam knetete er die aufgegangene Masse durch und walzte sie auf einem Backpapier zu einer glatten Scheibe. Übrigens eine Erfindung von ihm, den Teig gleich auf dem Papier platt zu walzen, statt auf irgendeiner mit Mehl bestäubten Unterlage, von der man ihn dann auf ein Blech hinüberbalancieren musste. Er nahm das fertig zugeschnittene Papier plus Teig und legte das Ganze auf das vorgewärmte Blech. Fertig! Jetzt brauchte er nur noch die Tomatenmasse zu verteilen, den Schinken, die Zucchini, dann den Käse darüber zu streuen und das Ganze in den Ofen zu schieben.
Als er fünfzehn Minuten später seine Pizza genoss, dachte er daran, wie schön es jetzt wäre, sie mit Liva zu teilen. Oder sollte er ihr eine Pizza ins Gefängnis schicken? Warum nicht? „Franks Pizzaservice!“
Komisch, dachte er, dass ich wieder ganz selbstverständlich davon ausgehe, mit Liva zusammen zu sein. Und das nach der ernüchternden Zugfahrt nach Malmö, wo ich nahe daran gewesen war, die ganz Liva-Geschichte abzuhaken. Sind Männer so wechselhaft? Oder nur ich?
An diesem Abend machte Frank nicht mehr viel. Er quälte sich durch einen amerikanischen Film, bei dem die Schauspieler ständig saubere Hemden trugen und frisch gefönte Haare hatten, auch nach einem mörderischen Kampf im Wasser. Schließlich drückte er auf den Ausschaltknopf. Dann legte er noch ein paar Holzscheite in die Kaminglut, wartete, bis die Flammen hoch züngelten und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Irgendwann merkte er, dass er eigentlich schon längst über eine Schwelle gegangen war, was sein Verhältnis zu Liva anging, und beschloss, ihr einen Brief zu schreiben und zu hoffen, dass sie ihn auch bekam. Er wollte diese Mordverdachtsgeschichte mit ihr gemeinsam durchstehen, ganz gleich, ob sie nun eine Mörderin war oder nicht. Wenn ja, dann war es ein unglückseliger Unfall gewesen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Liva ihre Schwester kaltblütig und mit Berechnung aus dem Fenster geworfen hatte.
Wenn sie aber keine Mörderin war, dann musste irgendwo ein Mörder oder eine Mörderin herum laufen, um Livas Leben bewusst zu zerstören.
Es kam ihm vor, als stünde er vor einer Dominosteinkette und seine Entscheidung für Liva würde laut ratternd unüberschaubare Reaktionen anstoßen. Und er wusste: Wenn man bei einem Sommergewitter das schützende Haus verlässt, werden gefönte Haare unweigerlich nass, und man kann vom Blitz erschlagen werden. Das Leben ist kein amerikanischer Film. Aber er hatte nun mal die unsichtbare Schwelle längst überschritten und den ersten Dominostein umgestoßen. Nun stand er mit Liva im Regen, ohne Schirm. Er wollte nicht mehr zurück und konnte auch nicht so tun, als ob ihn Liva nichts anginge.
Am nächsten Morgen steckte er einen Schreibblock und einen Kugelschreiber in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zu seinem Frühstücksrestaurant. Er ging nicht direkt dorthin, sondern schlenderte durch die Altstadt. Seit gestern merkte er, wie gut ihm die Bewegung tat.
Erstaunlich, wie viele Brücken und Kanäle es in Malmö gab! Und jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass man die Stadt ja „Venedig des Nordens“ nannte.
Auf einer Brücke blieb er stehen und sah dem Wasser zu, wie es ruhig dahin glitt, an einigen Stellen um einen Stein schäumte oder einen Ast herumwirbelte. Gelegentlich kam die Sonne durch und blitzte in dem Flüsschen auf, als wäre ein Stück Feuer hineingefallen.
Das Selbstbedienungsrestaurant war halb voll. Frank erkannte sogar zwei Gesichter, die ihm gestern schon aufgefallen waren. Wahrscheinlich Touristen wie ich, deren Freundinnen im Gefängnis sitzen ...
Nachdem er einen Schluck von seinen Milchkaffee genippt und die Frühstücksflocken mit Sauermilch gelöffelt hatte, holte er Block und Kuli heraus und schrieb einen Brief an Liva.
„Liebe Liva,
ich hoffe, dass dich dieser Brief und die rauchenden Kamele erreichen.
Gestern habe ich lange über alles nachgedacht. Ich fand es toll, dass du mich frei geben wolltest, weil die Lage für dich alles andere als rosig aussieht.
Du sollst aber wissen, dass ich dich nicht aufgeben werde. Egal, wie alles ausgeht, ich möchte auch weiterhin mit dir zusammen sein. Auch wenn du es nicht hören willst: Du bist etwas Besonderes für mich!
Dein Frank.“
Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. Nachdem er sein Frühstück beendet hatte, ging er zur Polizeiwache, wo er ihn zusammen mit den Zigaretten abgab. Mehr konnte er im Augenblick für Liva nicht tun.
Frank ging zurück zu seinem Appartement und packte.
Was sollte er jetzt noch in Malmö?