Kapitel 15
Bei Frank klingelte am nächsten Morgen das Telefon. „Ja? Frank Linde?“
„Guten Tag, Leo Hauser mein Name. Polizeidienstelle“, hörte er eine männliche Stimme.
Frank bekam Herzklopfen. Was wollte denn die Polizei von ihm? Hatten sie herausgefunden, dass er auf eigene Faust Leute interviewt hatte?
„Sie sind Frank Linde, der Freund von Frau Liva Arth?“, tönte aus dem Hörer.
„Ja.“
„Sie hatten in Schweden einen Besuchsantrag gestellt. Normalerweise ist es nicht üblich, dass man einen Verdächtigen in der U-Haft besuchen darf. Aber wir möchten in Ihrem Fall gern eine Ausnahme machen, weil es Frau Arth nicht besonders gut geht. Wir erhoffen uns, dass der Kontakt mit Ihnen hilft, dass es ihr, äh, wieder etwas besser geht. Ihre Anwältin hat bereits zugestimmt. Also, wenn Sie noch immer wollen, dann können Sie Ihre Freundin heute zwischen 16.00 Uhr und 17.00 Uhr besuchen. Bringen Sie Ihren Personalausweis mit.“
Die Stimme schwieg und wartete auf Antwort.
Frank war noch leicht verwirrt und überrascht. Vor ein paar Tagen hatte man ihm gesagt, es sei absolut unmöglich, während der laufenden Ermittlungen mit einem Verdächtigen zu reden, und jetzt ging es plötzlich doch. Seltsam!
„Tja, ich bin ein wenig überrascht, wissen Sie ... Aber wenn es jetzt doch möglich ist, möchte ich Liva Arth auf jeden Fall besuchen.“
„Gut. Dann melden Sie sich bitte ab 16.00 Uhr bei der Pforte. Danke!“
Das Gespräch war beendet.
Frank kratzte sich am Kopf. So weit er verstanden hatte, sollte er Liva etwas aufmuntern. Einerseits freute es ihn natürlich, sie wiederzusehen, andererseits fürchtete er sich davor, seit er mit Olga gesprochen hatte. Ob er seinen Besuch bei ihrer Mutter zur Sprache bringen sollte? Besser nicht.
Er spürte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Liva lag ihm im Magen und war schwer verdaulich.
Er überlegte. Eigentlich würde er vorher gern die Sache mit Georg abhaken, um sicher zu sein, was damals wirklich passiert war. Georg der Krüppel, einer von Livas Opfern ... Würde er selbst das nächste sein? Vielleicht als Seelenkrüppel enden?
Aber er hätte natürlich auch ein schlechtes Gewissen, wenn er dieses einmalige Angebot ausschlagen würde, wenn er Liva hängen ließ, obwohl er sich doch dazu durchgerungen hatte, sie zu unterstützen.
Gut, er würde Liva besuchen und ihr gut zureden. Ob es ihm gelang?
Frank sah auf die Uhr. Er könnte Georg doch jetzt gleich aufsuchen! Bis zum Nachmittag müsste das zu schaffen sein, vorausgesetzt er lebte irgendwo in der Nähe ...
Er setzte sich vor seinen PC und tippte auf der Seite www.telefonbuch.de „Georg Arth“ ein. Sofort erschien eine Adresse mit Telefonnummer. Er wohnte nicht in dieser Stadt, sondern ungefähr fünfzig Kilometer entfernt.
Frank blickte wieder auf die Uhr: 9.30 Uhr. Um diese Zeit konnte man am Samstag eigentlich schon anrufen. Er wählte die Nummer, aber niemand nahm ab. Es gab auch keinen Anrufbeantworter. Na gut, dann musste er eben warten und es später noch mal versuchen.
Als sich auch gegen Mittag niemand meldete, warf Frank sich ein tief gefrorenes Curryreisgericht in die Pfanne und aß nachdenklich seine Portion. Zu der schwer verdaulichen Liva gesellte sich nun noch gelber Reis mit Paprika, Zucchini und Hühnerfleisch.
Etwas ruhelos übte er seine Stimme, erledigte Post, die dringend fällig war und machte sich kurz vor 16.00 Uhr auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis.
Noch immer hatte sich das fantastische Frühlingswetter gehalten, und die Luft war mit gelbem Blütenstaub gesättigt, der sich auf alle glatten Flächen legte. Fruchtbarer Staub. Zum Glück war Frank kein Allergiker.
Normalerweise hätten ihm die warme Sonne und das Gezwitscher der Amseln und Spatzen gute Laune gemacht, aber diese diffusen Gefühle vor seinem nächsten Besuch im Gefängnis drückten auf seine Stimmung.
Wieder einmal war es ihm rätselhaft, warum er sich in Liva verliebt hatte. Diese Frau würde noch sein Leben ruinieren, das spürte er. Dann schon lieber Sabine. Aber nein. Sabine ging auch nicht. Der Riss war zu groß. „Ich liebte eine Psychopatin“, könnte der Titel seiner Biografie lauten. Oder: „Wie ich mich aus den Fängen von Schneewittchen befreite – Einer der sieben Zwerge packt aus.“
Unterwegs kaufte er noch eine Schachtel Zigaretten für Liva, obwohl er selbst passionierter Nichtraucher war.
Er kam an der Pforte an, nannte seinen Namen. Man wusste Bescheid. Er gab seinen Personalausweis ab und ließ sich abtasten.
Dann ging er gespannt zu einem Raum, wo er dem zuständigen Beamten sagte, dass er Liva Arth besuchen wollte.
„Ach, Sie sind das!“, antwortete der Mann. „Eine ungewöhnliche Maßnahme. Aber sie wird sich freuen. Wir haben sie schon informiert. Setzen Sie sich, ich rufe an, damit man Frau Arth zu Ihnen bringt!“
Eine Tageszeitung lag nachlässig zusammengefaltet auf einem Stuhl. Er griff danach und blätterte zerstreut darin herum.
Ein riesiges Bild mit dumpf wirkenden, aufgeschwemmten Gesichtern, die irgendwelche Orden trugen, starrte ihn an. Wahrscheinlich ein Verein, der Jubiläum feierte. Ich müsste eigentlich auch einen Orden bekommen: Ein Orden für selbstlose Besuche von Untersuchungshäftlingen, schoss es ihm durch den Kopf. Goldenes U auf blauem Hintergrund!
Es dauerte nur drei Minuten, bis Liva kam. Er war erschrocken, wie schlecht sie aussah. Weiß im Gesicht, die Lippen kirschrot geschminkt, was ihre Blässe noch mehr betonte. Die Wangen eingefallen. Ihre Haare hatte sie flüchtig in Form gebracht. Wahrscheinlich mit feuchten Fingern durchgeknetet.
Sie lächelte, als sie ihn sah, aber in ihren Mundwinkeln war ein Hauch von Traurigkeit versteckt. Und doch wirkte gerade diese Traurigkeit auf ihn anziehend, und eine Welle von Zuneigung durchströmte ihn.
Die Beamtin nickte ihm zu und verzog sich in die Ecke zu ihrem Kollegen, mit dem sie sich leise unterhielt.
Seltsam, dachte Frank, dass es hier so wenig Sicherheitsmaßnahmen gibt. Er könnte unbemerkt irgendwelche geheimen Botschaften mit Liva austauschen.
Liva hatte sich inzwischen gesetzt und blickte ihn an. Sie sprach kein Wort. Ohne zu überlegen, beugte er sich nach vorn und küsste sie auf den Mund. Sie erwiderte den Kuss, und Frank spürte, dass alle Vorbehalte gegen sie wegflossen, wie bei einem ungebändigten Strom, der alles mit sich reißt.
Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, legte Frank die Zigarettenschachtel auf den Tisch. Dankbar griff Liva danach, fingerte sich eine heraus und holte sich von ihrer Betreuerin Feuer.
Bisher hatten sie kein Wort miteinander gesprochen.
„Ich kann es immer noch nicht ganz fassen“, begann sie schließlich und blies den Rauch zur Seite, „und ich weiß nicht, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, dass du mich besuchen darfst. Aber ... aber du kannst dir nicht vorstellen, wie hungrig man hier auf die wenigen Kontakte ist. Ich brauche dich, Frank! Deine Nähe! Und ich verspreche dir, es wird eine Zeit kommen, wo ich dir helfen werde. Ehrlich!“ Ohne Punkt und Komma redete sie weiter: „Eine Frau von der Kripo war hier, sieht aus wie Prinz Eisenherz und hat irgendwelche Psychotests mit mir durchgeführt. Ich versuche mich zu beschäftigen, um nicht völlig durchzudrehen. Lese Bücher, übersetze alte Sprachen, mache ein paar Yogaübungen und so ...“
Sie sprudelte alles heraus, was ihr durch den Kopf gegangen war, und sah ihn dabei an.
Frank fand es eigenartig, dass sie beide unabhängig voneinander Paula mit Prinz Eisenherz verglichen hatten. Dann erzählte er ihr mit verhaltener Stimme von seinen Versuchen als Amateurdetektiv. Als er erwähnte, dass Herr Bleiering sie gesehen haben wollte, stockte er, lieferte aber gleich die Erklärung hinterher, indem er sagte: „Weißt du, das muss nichts bedeuten. Der Mörder könnte eine Schauspielerin engagiert haben, die in deine Rolle geschlüpft ist und sich nach dem Mord den Leuten gezeigt hat.“
„Stimmt.“ Liva lächelte. „Mensch, Frank, du legst dich echt ins Zeug für mich.“
Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn. Er roch den Rauch ihrer Zigarette. Die eindeutig beste Methode, um neue Raucher zu werben: „Küssen Sie unverbindlich eine Raucherin! Wir stellen ihnen die schönsten zur Verfügung!“
„Übrigens habe ich den Eindruck, dass ich bedroht werde“, sagte er.
„Wieso?“
Frank erzählte von dem verrückten Fahrer und seiner Vermutung, dass Melvin dahinter steckte.
Livas Gesicht wurde ernst. „Du musst zur Polizei gehen!“
Frank schüttelte den Kopf. „Lieber nicht, denn dann müsste ich ihnen von meinen Aktivitäten erzählen. Ich passe in Zukunft einfach besser auf.“
Es war seltsam: Zwischendurch streifte er Liva mit einem Blick und merkte dabei, wie liebevoll interessiert sie ihn ansah. Sie kam ihm so schön vor – trotz der dunklen Ringe unter den Augen –, dass sich seine Zuneigung steigerte. Sie war eine Zauberin. Wie machte sie das?
„Und du?“, fragte sie leise nach einer Weile. „Was glaubst du inzwischen von mir?“
„Liva, ehrlich gesagt bin ich dauernd hin und hergerissen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du deine Schwester ... Obwohl ich gestern ziemlich ins Schleudern gekommen bin.“
Mist! Das wollte er doch gar nicht erzählen. Es war ihm nur so herausgerutscht.
„Warum?“ Ihre Stimme klang ruhig und gefasst, aber ihre Augen gingen nervös hin und her.
Frank überlegte fieberhaft. Eigentlich wollte er den Besuch bei ihrer Mutter nicht erwähnen, weil er erst alles überprüfen und die Sicht von Georg kennen lernen wollte. Aber jetzt? Verdammt, ihm fiel nichts Passendes ein.
Er senkte den Kopf und schwieg.
Liva schwieg auch und wartete.
Jetzt fühlte sich Frank wie bei einer Prüfung. Und es wurmte ihn, dass er in diesem Moment offensichtlich derjenige war, der etwas Falsches gesagt hatte. Wie sollte er sich herauswinden? Verdammt, hier saß er, ein freier, unschuldiger Bürger, und dort eine Frau, die des Mordes verdächtigt wurde! Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie im Recht war. Es schien ihm, als würden sich die Verhältnisse umdrehen. Das machte ihn ärgerlich, und so sagte er: „Also gut, legen wir die Karten auf den Tisch! Ich bin durcheinander geraten, weil ich deine Mutter besucht habe.“
Liva blickte ihn entgeistert an. „Du hast ... meine Mutter besucht?“
„Ja. Das ist doch nicht verboten, oder?“
„Aber wie bist du denn auf meine Mutter gekommen?“
„Melvin hat sie erwähnt, und da dachte ich mir, dass ich ihr mal einen Besuch abstatten könnte. Du hast ja nie ein Wort über sie verloren.“
Livas Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Hallo! Wir haben uns erst vor kurzem kennen gelernt, Frank! Schon vergessen? Ich hätte dir sicher irgendwann von meiner Mutter erzählt. Bisher hielt ich das nicht für so wichtig.“ Sie blickte ihn herausfordernd an, verschränkte die Arme vor der Brust und fragte schnippisch: „Und? Was hat sie so erzählt?“
„Nicht so laut, Liva!“, beruhigte er sie und fuhr fort: „Na ja, sie lebt in einer anderen Zeit, wie du weißt. Es war übrigens ganz unterhaltsam in diesem Altenheim.“
„Aber irgendetwas Wichtiges muss sie dir doch gesagt haben, sonst wärst du nicht so ... so stachelig.“
„Nachdem wir einige Zeit miteinander gesprochen hatten, hielt sie mich plötzlich für deinen Bruder Georg, von dem ich natürlich auch nichts wusste.“
„Natürlich nicht. Denn ich habe ihn dir ja auch – verschwiegen.“ Das letzte Wort sprach sie mit einem ironischen Unterton aus.
„Jedenfalls hat sie keine gute Meinung von dir.“
Liva nickte lebhaft mit dem Kopf. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ihr Georgchen, der inzwischen übrigens dreißig und mehr ist, geht ihr über alles! Er war und ist ihr Halbgott. Dagegen kam ich nie an.“
Frank ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: „Was mich geschockt hat, war eine Bemerkung, die sie fallen ließ. Sie ... sie redete davon, dass Georg verkrüppelt ist.“
„Querschnittsgelähmt. Im Rollstuhl“, ergänzte Liva eisig. „Seit er zehn war.“
„Und ... und ... na ja ...“
Frank rutschte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her, aber Liva nahm ihm das Wort ab und sagte mit einem Schmollmund: „Und schuld daran war die fürchterliche Liva, weil sie den armen Georg die Treppen hinuntergeschubst hat. Bumm, bumm, bumm! Und dann hat der arme Georg nicht mehr laufen können und arme, kleine, verkrüppelte Füßchen bekommen.“
Frank sagte nichts, sondern sah an Liva vorbei.
Aber sie war mit ihrer Vorstellung noch nicht fertig. „Und jetzt“, fuhr sie in ihrem kindischen Ton fort, „glaubt der arme Frank, dass die schreckliche Liva immerzu nette Menschen die Treppen hinunterschubst oder aus dem Fenster wirft oder von hohen, hohen Fernsehtürmen stößt. Bumm, bumm, platsch! Und der arme Frank ist jetzt ganz durcheinander, weil er plötzlich denkt, wenn die böse Liva den lieben Georg die Treppen hinuntergeschubst hat, dann kann die böse Liva auch die böse Nadja aus dem Fenster geworfen haben, denn sie ist eine böse, böse Hinunterschubserin. Und vielleicht, eines schönen Tages, macht sie das auch mit dem lieben Frank so, und wenn ...“
„Hör auf, Liva! Es reicht! Ich hab’s kapiert! Ja, natürlich bin ich durcheinander geraten und hänge in der Luft. Und damit du’s weißt, damit wir uns nichts vormachen: Ich werde Georg besuchen und mir seine Version anhören!“
Wütend schob Liva den Stuhl zur Seite, sodass ihre Betreuerin fragend zu ihr hinüberblickte.
„Bitte, dann geh doch zu dem armen verkrüppelten Georg und erkundige dich! Und dann kannst du auch gleich ganz wegbleiben. Ich verzichte auf deine Besuche! Ich hatte geglaubt, dass du mir vertraust! Am besten, du erzählst dann alles der Polizei oder dieser, dieser ... Kripotante mit dem albernen Prinz-Eisenherz-Look und ihren blödsinnigen Tintenklecksen!“
„Tintenkleckse?“
Liva winkte ab. „Und dann brauchst du mich für den Rest deines Lebens nicht mehr zu sehen!“ Aus ihren Augen sprühte kalter Zorn. Sie drehte sich um und rief quer durch den Raum: „Mein Besuch will sich verabschieden!“
Die Betreuerin, die schon aufgestanden war, kam besorgt herüber und fragte Frank: „Was ist denn passiert?“
„Fragen Sie Frau Arth. Die kann es Ihnen bestimmt besser erzählen als ich! Und auch viel dramatischer! Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen!“
Frank kehrte Liva den Rücken, ohne sich von ihr zu verabschieden, und ging auf den Beamten zu, der ihn wortlos durch die verschlossenen Türen nach draußen brachte.
Als er seinen Ausweis wieder einsteckte, riskierte er einen letzten Blick auf das große Gebäude mit den roten Klinkern. Die Sonne schien auf die Steine und brachte ihren warmen, rotbraunen Ton voll zur Geltung, sodass das mit Efeu behangene Gebäude fast schön aussah, wenn man die Gitter vor den Fenstern vergaß.
„Na gut“, murmelte er. „Das war’s dann wohl! Statt dass ich Liva aufgebaut habe, läuft sie jetzt mit einem neuen Groll durch die Gegend. Jetzt muss ich nur noch Georg aufsuchen und sehen, was er zu all dem sagt.“ Er stutzte. „Oder sollte ich es lieber bleiben lassen? Nach dieser Abfuhr?