Kapitel 21
Frank kam sich vor wie im Märchen: Schneewittchen im Kittchen, und nun auch noch das berühmte verbotene Zimmer wie bei König Blaubart, nur dass es im Krankenhaus lag und nicht in einem Schloss.
Den restlichen Nachmittag bis zum frühen Abend ließ Frank die Nummer 39 gewissenhaft aus. Charlotte, seine Kollegin, versorgte Melvin Lärchmann und seinen Bettnachbarn, eine operierte Mandel, die wenig sprach und säuerlich durch die Gegend blickte.
Am Dienstag sollte Melvin in das Lüneburger Krankenhaus verlegt werden.
Als die Nachtschicht kam, beeilte sich Frank, von der Station wegzukommen, damit ihm nicht noch einmal die „alte Freundin“ über den Weg lief.
Gedankenverloren fuhr er nach Hause. Es schien also Melvin gewesen zu sein, der ihn verfolgt hatte. So ließe sich auch der Knall erklären, den er gehört hatte, nachdem das dunkle Auto am Samstag an ihm vorbeigefahren war. Und der Beinbruch bestätigte seine Theorie.
Gut, dann war er erst einmal von dieser Gefahr erlöst. Geschah dem Kerl Recht! Was musste er ihn auch verfolgen!
Aber woher hatte er seine Adresse? Er musste ihm tatsächlich nach dem verkrachten Interview in der Soltaustraße gefolgt sein, war mit ihm im selben Zug gefahren und hatte auf diese Weise wahrscheinlich herausbekommen, wo Frank wohnte. Und Frank war während der Rückfahrt im Zug nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass Melvin Lärchmann ihm folgen würde.
Aber wenn es stimmte, dass Melvin ihn zweimal fast angefahren hatte, dann ... ja dann musste er doch der Mörder sein, oder nicht? Warum hätte er sich denn sonst die ganze Mühe machen und ihm Angst einjagen sollen?
Er musste das unbedingt Paula erzählen!
Frank blickte in den Rückspiegel. Täuschte er sich, oder wurde er schon wieder von einem Auto beschattet? War das schon seit der Klinik so oder erst später? Darauf hatte er keine Ahnung.
Rasch, mit einem rasanten Schlenker, bog er in eine Seitenstraße ein und fuhr dann einen umständlichen Weg nach Hause. Das Auto, ein dunkler Opel, blieb in einem gewissen Abstand hinter ihm.
Verdammt! Dann ist es doch nicht Melvin gewesen! Seine schöne Theorie brach zusammen. Aber was machte Melvin dann hier? Und warum hatte er sich die Knochen gebrochen?
Frank parkte in seiner Straße. Als er nach dem Gartentor die Haustür aufschloss, blickte er sich unauffällig um und sah, dass das Auto keine zwanzig Meter von seiner Wohnung entfernt am Straßenrand auf dem Parkstreifen angehalten hatte.
Noch nie hatte Frank die Haustür unten abgeschlossen. Diesmal tat er es, nahm zwei Stufen auf einmal, öffnete seine Wohnungstür und ging zu seinem Wohnzimmerschrank. Er kramte ein Fernglas aus einer der Schubladen und stellte sich vorsichtig neben das Fenster, das zur Straße zeigte. Dann richtete er den Blick auf das Auto, wiederholte im Stillen das Kennzeichen – das nicht aus Lüneburg stammte – und versuchte, das Gesicht hinter dem Steuer zu erkennen.
Soweit er es sehen konnte, war an der Person nichts Auffälliges zu entdecken. Es könnte sogar eine Frau sein.
Ob Melvins Freundin ihn weiter verfolgte? Aber sie hatte ihn auf der Station doch gar nicht erkannt ... oder doch?
Frank ließ das Fernglas sinken, notierte sich das Kennzeichen und rief Paula an.
Es klingelte viermal, bis sie den Hörer abhob. „Ja?“
„Ist da Paula Klingbeil?“
„Hier spricht Laura Klingbeil. Wer ist denn am Apparat?“
„Ähm ... Kannst du mal deine Mutter holen?“
„Sind Sie ein Freund von meiner Mutter? Sie ist übrigens verheiratet mit einem ...“
Frank hörte, wie jemand den Hörer an sich riss, das Mikrofon mit der Hand abdeckte, wenn auch nicht vollständig, sodass Frank einen erregten Wortwechsel mitbekam.
Schließlich hörte er Paulas Stimme. „Hallo? Wer ist da?“
Frank nannte seinen Namen und hörte, wie Paula erleichtert aufatmete und mit gedämpfter Stimme zu Laura sagte: „Es ist beruflich. Und der Mann hat schon eine Freundin!“
Frank musste grinsen, wurde aber sofort wieder ernst, als Paula ihn fragen, was er auf dem Herzen habe.
Er erzählte von seinem Interview in Lüneburg, von den Anschlägen, von Melvin, der auf seiner Station aufgetaucht war und von seinem Verdacht, dass ihn dessen Freundin jetzt vielleicht weiter beschattete. Oder jemand ganz anderes.
Während er erzählte, merkte er, wie wohltuend es war, mit einem Menschen über all das zu reden. Er setzte sich auf seine Couch und legte die Beine hoch, während er weiterredete. Zum Schluss bat er Paula, ob sie vielleicht über das Kennzeichen herausbekommen könnte, wer der Eigentümer des Autos war.
Paula überlegte und sagte dann: „Ist dir klar, dass wir überhaupt keinen Kontakt haben dürfen? Wie soll ich das also herausbekommen? Das geht nur, wenn du selber bei der Dienstelle anrufst und mit einem der Kripobeamten sprichst.“
Frank zögerte und sagte schließlich: „Ja, du hast Recht. Ist vielleicht besser. Weißt du, die ganze Geschichte wächst mir allmählich über den Kopf. Aber eines ist doch klar: Wenn mir Melvin und seine Freundin Angst einjagen wollen, wenn sie mich daran hindern, weiter nachzuforschen, dann ... dann machen sie sich doch verdächtig! Oder nicht?“
„Stimmt“, sagte Paula. „Und es ist von daher schon wichtig, dass deine Beobachtung in unseren Ermittlungen berücksichtigt werden. Wahrscheinlich wird dich sogar Kommissar Ranglak persönlich zu sich bestellen. Damit musst du rechnen.“
Frank zögerte. Es war ihm nicht Recht, denn dadurch bekam das, was er tat, einen offiziellen Anstrich. „War mein Interview in Lüneburg eine Straftat?“, fragte er nach.
„Na ja“, meinte Paula, „so ganz astrein war es natürlich nicht. Vorspiegelung falscher Tatsachen. Aber du hast ja niemanden bestohlen oder verletzt.“ Frank schwieg und Paula setzte nach: „Etwas ganz anderes: Ich glaube, du solltest Liva einen Brief schreiben.“
„Warum?“
„Mensch, die Frau hängt durch! Du weißt es vielleicht nicht, aber sie empfindet alles zehnfach so stark wie andere.“
„Dann hätte sie mich nicht so behandeln sollen! Außerdem habe ich keine Ahnung, ob meine Brief überhaupt bei ihr ankommen.“
„Mann, jetzt gib deinem Herzen endlich einen Stoß.“
Frank hörte, wie das Mikrofon wieder abgedeckt wurde und wie Paula mit gebremster Stimme sagte: „Es geht nicht um mein Herz, Laura. Bitte, lass mich in Ruhe weitertelefonieren!“ Dann war ihre Stimme wieder gut zu hören. „Meine Tochter macht sich große Sorgen um mich“, seufzte sie.
„Immerhin macht sich jemand um dich Sorgen“, sagte Frank und fügte hinzu: „Also, ich überlege mir noch, ob ich mich bei der Polizei melde.“
Als Paula nichts mehr sagte, verabschiedete er sich schließlich und legte auf.
Langsam ließ er sich zurücksinken und starrte mit offenen Augen gegen die Decke. Wenn er die Anschläge meldete, bräuchte er sich nicht mehr zu verstecken. Auch wenn es unangenehm wäre, dass die Polizei von seinen privaten Ermittlungen erfahren würde, es schaffte auch Sicherheit.
Aber was sollte er mit Liva anfangen? Irgendwie tat sie ihm ja Leid. Sie saß einsam im Untersuchungsgefängnis und konnte nichts tun oder unternehmen. Nur warten.
Und was bedeutete der Satz, den er von Paula noch in Erinnerung hatte, als es um Livas Unschuld ging: „Ein kleiner unsicherer Rest ist noch geblieben ...“
Also war selbst Paula nicht hundertprozentig von Livas Unschuld überzeugt! Wie er selbst ... Im Prinzip ging er davon aus, dass sie Nadja nicht aus dem dritten Stock gestoßen hatte, aber das Gespräch mit Georg und seiner Mutter hatte Spuren hinterlassen ...
Ach, es war zum Davonlaufen! Vor ein paar Wochen noch war er ein ganz normaler Mann gewesen, der eine Beziehung hinter sich hatte und sich anschickte, sie mehr oder weniger zu verarbeiten. Dann war er Liva und ihrem Thermometer begegnet, und seitdem hatte sich sein Leben verändert: Er war dieser Frau bis Schweden nachgefahren, obwohl er sie kaum kannte, war in einem Mordfall verwickelt worden, hatte begonnen auf eigene Faust zu ermitteln, wäre fast einem Anschlag zum Opfer gefallen ... Was würde noch alles kommen? Jahrelange Besuche im Gefängnis? Dauerndes Hin- und Hergerissensein von Livas Launen?
Schöne Aussichten!
Inzwischen würde er immer älter werden, und die Chance, irgendwann eine Familie zu gründen, ging gegen Null.
Könnte er sich vorstellen, mit Liva Kinder zu haben? Kinder, gezeugt im Gefängnis, die gestreifte Strampelanzüge trugen und beim Anblick eines Laufstalls Schreikrämpfe bekamen?
Wenn diese zukünftigen Kinder eines Tages sprechen könnten, dann würden sie ihn bestimmt fragen: „Warum kann denn Mama nicht aus dem großen Haus weg?“
Und er müsste etwas finden, das irgendwie plausibel klang: „Wisst ihr, das ist so eine Art Krankenhaus.“
„Was für eine Krankheit hat Mama denn?“
„Eine Art ... ähm ... Wurfsucht.“
„Gibt es dagegen keine Tabletten?“
„Nein. Und wenn, dann würde sie die Dinger auch aus dem Fenster werfen ...“
Frank schüttelte den Kopf über diesen blödsinnigen Dialog, rappelte sich hoch, stand auf und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er einen Becher Joghurt. Seltsam, dachte er, während er einen Löffel holte und den Deckel abriss, dass ich mir bei Liva Kinder vorstellen kann. Bei Sabine hatte er diesbezüglich ein ungutes Gefühl gehabt. Ist das ein Zeichen, dass man an die richtige Frau geraten war?
Möglich.
Aber er würde diesmal nicht klein beigeben. Sie sollte sich bei ihm entschuldigen, wenn nicht jetzt, dann irgendwann später. Er opferte sein Leben, ließ sich von Autos anfahren und wurde als Dank von ihr bloßgestellt und fortgejagt. Unglaublich!
Kurz entschlossen legte er das Requiem von Brahms ein und holte die Noten. Er musste sich ablenken, sonst würde er noch verrückt werden.
Diesmal war der letzte Teil dran: „Selig sind die Toten ...“ und besonders die Stelle: „Und ihre Werke folgen ihnen nach.“
Na ja, so eine richtige Ablenkung war es ja nicht. Hier ging es auch schon wieder um Tote!
Als er die Melodiefolge sang, merkte er, dass es gar nicht so schwierig war wie bei der Chorprobe. Die Töne sangen sich fast wie von selbst. Was hatte Anke nochmal gesagt? „Wie auf einer Perlenkette aufgereiht ...“ Total logisch folgten die Töne den Toten nach.
Wie war das eigentlich bei der toten Nadja? Welche Werke und Taten würden ihr nachfolgen? Ihr Hass auf Liva? Ihr letzter Brief? Ihre verzweifelten Versuche, sich am Fensterbrett festzuklammern?
Sie hätte ganz bestimmt sagen können, wer ihr Mörder war.
Frank kratzte die letzten Joghurtreste aus dem Plastikbecher und hielt seinen Löffel einen Augenblick in der Luft.
Irgendetwas braute sich in seinem Kopf zusammen, und es hatte etwas mit der Predigt von heute Morgen zu tun, mit der Zeit, die Gott angeblich in den Händen hielt. Aber es war einfach nicht zu fassen. Die Gedanken entglitten ihm. Wie bei einem Traum, an den man sich vage erinnert, den man aber beim besten Willen nicht mehr vollständig zusammenbekommt.
Wütend drückte Frank den Joghurtbecher zusammen und warf ihn in den gelben Sack unter der Spüle.