Kapitel 13

Das Haus Eichengrund lag in einem Frühlingsrausch aus gelbem Löwenzahn, Gänseblümchen und blauen Traubenhyazinthen. Die Sonne spiegelte sich in den breiten Fenstern.

Bevor Frank durch die Glastür ging, blickte er sich unauffällig um, ob ihm auch niemand gefolgt war. Soweit ist es schon gekommen, dachte er und lächelte höflich die über sechzigjährige Frau an der Pforte an, die für die Heimbewohner wahrscheinlich als jung galt. Heruntergeschminkt auf achtundfünfzig.

„Ich möchte gerne zu Frau Arth“, sagte er. „Wissen Sie“, fuhr er vertraulich fort, als verrate er ein Geheimnis, „ich bin der neue Schwiegersohn.“

Die Dame blickte ihn interessiert an und lächelte. „Der Mann von Liva?“

„Genau.“

Frank betrachtete die übertrieben freundliche Inneneinrichtung aus hellem Holz, Kinderbildern und selbst gewebten, auf kirchlichen Basaren erstandenen Teppichen, die über die trostlose Tatsache des Älterwerdens hinwegtrösten sollte, und versuchte charmant zu sein: „Schön haben Sie es hier! Und dann noch so ein freundlicher Empfang!“

Das Lächeln der über Sechzigjährigen wurde breiter. Franks Versuch war geglückt. Aber dann hob sie bedauernd die Schultern. „Ich fürchte, Frau Arth wird nicht ganz begreifen, wer Sie sind. Sie erkennt selbst ihre eigene Tochter nicht immer. Aber probieren Sie es! Es ist ja auch ein bisschen Abwechslung, wenn ein junger Mann hier auftaucht.“ Sie nickte ihm zu.

„Und die Zimmernummer?“, fragte er.

„Ach, hat Ihnen das Ihre junge Frau nicht gesagt?“

Wieder setzte Frank sein sympathischstes Lächeln ein: „Sie hat es mir bestimmt gesagt, aber ich habe die Nummer vergessen. Ich fange an, alt zu werden.“

„Na, na!“, drohte die Pförtnerin scherzhaft mit der Hand und verjüngte sich dabei um ein weiteres Jahr. Dann blätterte sie kurz in ihrem Ordner und sagte: „Zimmer 212, zweiter Stock. Ganz leicht zu merken: zwei, eins, zwei.“

Frank bedankte sich und nahm den Aufzug, weil gerade eine Pflegerin mit einer Frau im Rollstuhl herauskam.

Als zwei Stockwerke höher die Tür zurückzischte und Frank auf den Flur trat, wurde er von einem Mann begrüßt, der in einer Nische saß und mit sich selber Halma mit riesigen Figuren spielte. Er schien den Aufzug beobachtet zu haben.

„Hallo! Spielst du eine Runde mit?“

Leicht verwirrt, murmelte Frank: „Jetzt nicht ...“

Ein paar Meter weiter saß eine weißhaarige Frau und raunte ihm zu: „Das sagt er immer!“

Frank suchte die Zimmernummern ab und merkte beim Einatmen, dass die Luft aus einem Duftgemisch aus Putzmitteln und einem winzigen Hauch von Urin bestand. Ein Geruch, den er von seiner Arbeit kannte, wenn er die vollen Bettflaschen leerte. Er wunderte sich, dass kein Personal zu sehen war. Auch nicht schlecht, dann musste er sich wenigstens nicht noch einmal vorstellen.

Als er endlich das Zimmer gefunden hatte, sah er neben der Tür zwei Namen: Olga Arth und Martha Grohmann.

Er klopfte. Niemand antwortete. Vorsichtig drückte er auf die Klinke und trat ein: Die beiden Betten waren leer, das Fenster gekippt. Immerhin nicht weit geöffnet. Also musste Livas Mutter irgendwo auf dieser Etage in einer Ecke sitzen und nicht unten auf dem Pflaster liegen. Aber wie sollte er sie erkennen?

Er ging langsam den Flur entlang. Es gab hier überall kleine Nischen mit Pflanzen und Tischen, an denen alte Leute saßen, als ob sie auf die Pflanzen aufpassen müssten, die sich ansonsten womöglich leise davonschleichen würden, hinaus zu ihren Brüdern und Schwestern auf der Frühlingswiese.

Ob Livas Mutter ihrer Tochter ähnlich sah? Liva in fünfzig Jahren? Ein Test.

Im Grunde war es ein blöder Einfall gewesen, Livas Mutter aufzusuchen. Was wollte er eigentlich von ihr? Noch dazu, wo sie offensichtlich sowieso nicht richtig ansprechbar war.

Olga Arth hieß sie also. Olga Arth ... Augenblick mal, da könnte man doch ... Frank blieb stehen und betrachtete scheinbar ein Bild, während er mit den Buchstaben von Olga jonglierte. „Vielleicht: ‚Ohne Lügen geht alles?’ Nein, das ergab keinen richtigen Sinn. Dann wäre mir ‚Olga lästert gegen alle’ schon lieber und ...“

„Kann ich Ihnen helfen?“

Frank zuckte zusammen und starrte die Pflegerin an, die nicht einmal übel aussah. „Ja, ... ähm ... entschuldigen Sie, ich suche Frau Arth. Sie ist nicht in ihrem Zimmer.“

„Sind Sie ein Verwandter?“

Frank hatte sich gefangen und sagte mit mildem Lächeln: „Der neue Schwiegersohn. Liva ist meine ...“

„Ach so! Wenn Sie vorne nach links gehen ... Sie sitzt in ihrem Fernsehsessel. Heute hat sie ordentlich gegessen und ist sogar guter Laune.“

„Danke!“ Frank atmete auf und dachte: Das hört sich an, wie auf einer Kinderstation. Zum Schluss scheint es nur noch darauf anzukommen, ob man gut isst. „Haben wir auch alle gut gegessen?“

Olga löffelt gerne Apfelmus.“

Als Frank um die Ecke bog, sah er hinter einem Benjaminbäumchen einen dunkelbraunen Ledersessel, der ausgezogen war, sodass man die Füße darauf ausstrecken konnte. Eine alte Frau in einem ausgeleierten Sportdress lag auf dem Polster und murmelte vor sich hin. Das musste sie sein.

Auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit mit Liva. Vielleicht die Mundpartie, aber die war durch das fehlende Gebiss entstellt.

Frank holte sich einen leeren Stuhl und setzte sich neben Olga Arth.

Die alte Frau blickte überrascht auf und sagte mit ziemlich klarer Aussprache: „Was machst du denn hier?“ Nur bei den S-Lauten zischte sie leicht.

Sollte er sie auch mit „du“ anreden? Nein, so weit wollte er sich nicht gehen lassen. „Ich bin ... der neue Freund von Liva“, sagte er und merkte, während er sprach, dass es wahrscheinlich zu leise war.

„Eine Diva?“

„Der – Freund – von – Liva!“

Jetzt nickte Olga. „Ach so, Liva. Hat sie denn schon wieder einen neuen Freund?“

„Ja.“ Er würde Liva später fragen, was das zu bedeuten hatte. Es gab anscheinend eine lange Reihe Verflossener. War er nur eine weitere Figur aus Eis, die mit der Zeit unter Livas Temperament zerfließen würde, oder blieb er unverflossen neben ihr bestehen?

Ein paar Meter weiter saßen an einem runden Tisch drei ältere Damen und spielten Karten. Sie schienen geistig noch rege zu sein. Überhaupt gab es hier anscheinend einen Frauenüberschuss, was Frank nicht weiter wunderte, denn meistens überlebten die Frauen ja die Männer. Die Ehe als Partnerschaftsüberlebenstraining.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte er die Allerweltsfrage.

„Schlecht“, sagte Olga. „Ich komme nicht mehr alleine aus diesem Sessel heraus. Aber wenn du mir hilfst, könnten wir zusammen abhauen.“

Frank beschloss, auf diesen Vorschlag nicht einzugehen. Er würde lieber mit der Tochter das Weite suchen.

„Frau Arth! Ich ... soll Ihnen Grüße von Liva überbringen!“

„Warum kommt sie nicht selbst, sondern schickt stattdessen irgendeinen Idioten? Das sieht ihr mal wieder ähnlich. Legt sich einen Freund zu, damit sie mich nicht besuchen muss!“

Frank war verblüfft. Dieses Motiv, eine Beziehung anzufangen, war ihm völlig neu: Man legt sich einfach einen Freund zu, um unangenehme Besuche zu delegieren. So geistig verwirrt schien Olga offenbar nicht zu sein. Oder hatte er nur einen lichten Moment erwischt?

„Und wo ist Georg? Warum kommt er nicht?“, fragte sie plötzlich.

Frank vermutete, dass Georg ihr Mann war. Wahrscheinlich verstorben und aus nahe liegenden Gründen nicht in der Lage, sie zu besuchen. Zuviel Erde. Keine Chance.

Dann schien ihr die Antwort selbst einzufallen: „Seine Füße, seine verkrüppelten Füße. Aber er könnte mit dem Rollstuhl kommen. Es gibt hier einen Aufzug.“

Frank kam es vor, als hätte Olga ihn vergessen, seit ihr Georg in den Sinn gekommen war. „Georg!“, fing sie wieder an. „Warum kommst du nicht?“ Und plötzlich lauter: „Georg! Georg!“

Eine der Kartenspielerinnen drehte sich empört um. „Ruhe, Olga!“ rief sie. „Georg kann nicht alleine kommen. Das weißt du doch!“

„Ist Georg Ihr Mann?“, fragte Frank, und seine spöttische Stimmung verflog, als wäre sie ein Vogel gewesen, den jemand verscheucht hatte.

Olga machte eine unwirsche Handbewegung. „Was redest du da?“ Und gleich darauf mit veränderter Stimme: „Mein Söhnchen, mein Söhnchen!“ Sie fing an zu wimmern.

Liva hat einen Bruder!, schoss es Frank durch den Kopf. Auch davon hat sie mir nie erzählt. Gut, er hatte sie bisher auch nicht danach gefragt.

Plötzlich fühlte er, wie seine Hand berührt wurde, und merkte, dass die alte Frau aufmerksam ihren Kopf zu ihm drehte. „Georg? Bist du das?“

Frank zuckte zusammen, besann sich dann aber und sagte nichts, sondern streichelte nur Olgas Hand. Als er in ihre Augen schaute, bemerkte er die Trübung in ihren Linsen. Vermutlich Grauer Star. Er sah, wie sich eine Träne löste, in den Falten versank und hörte, wie Olga leise sagte: „Du bist also endlich gekommen.“

Soll sie ruhig denken, ich sei Georg, überlegte Frank. Ein kleiner Trost immerhin. „Ja, ich bin da!“, sagte er.

„Böse Liva! Dummes Ding! Hat dir wehgetan!“, fuhr Olga fort.

Frank erstarrte. Was sollte das nun wieder bedeuten? Was hatte Liva ihrem Bruder angetan?

Frank drückte teilnahmsvoll Olgas Hand und wunderte sich über das, was er sagte: „Ja, böse Liva! Hat Georg wehgetan!“

Olga lächelte und fing an zu husten. „Aber jetzt bist du ja da! Endlich bist du gekommen, und Liva darf dich nicht mehr schubsen! Das darf sie nicht!“

„Nein, das darf sie nicht“, wiederholte Frank und bekam eine trockene Kehle.

Hundert Gedanken jagten durch seinen Kopf. Liva musste ihren Bruder irgendwann von irgendwo hinuntergeschubst haben, sodass seine Beine ... Und wenn das stimmte, dann ... dann könnte es ein Motiv sein, das sich bei der Schwester wiederholt hat, ausgelöst durch diesen Hassbrief ...

Frank schloss die Augen und hörte nur noch am Rand, was die alte Frau murmelte. Jetzt fing sie an, ein Gutenachtlied zu singen: „Guten Abend, gute Nacht ...“ Gleichzeitig spürte Frank, wie der Griff ihrer Hand fester wurde. Jetzt, wo Georg endlich gekommen war, würde sie ihn nicht so schnell wieder gehen lassen.

Neben Frank öffnete sich eine weiße Tür. Er blickte auf und sah, wie ein alter Mann herauskam, dessen Hose und Unterhose über den Schuhen hing. Er spielte an seinem Penis und näherte sich den Karten spielenden Damen.

Frank wollte eingreifen, aber Olga hielt ihn mit eisernem Griff fest.

Da hatte eine der Damen den senilen Exhibitionisten aber auch schon entdeckt und rief: „Ewald! Was machst du denn schon wieder! Ich rufe gleich Schwester Monika!“

Aber Ewald ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern setzte seine halbnackte Wanderung fort, baute sich provozierend vor der nächsten Spielerin auf und lächelte sie an. Anscheinend war sie das kleine Spiel gewohnt, denn sie verzog nur säuerlich den Mund. „Das haut mich nicht vom Hocker! Ehrlich, Waldi!“

„Schwester Monika!“, rief die andere Spielerin. „Schwester Monika!“

Da kam endlich die Schwester von vorhin um die Ecke gebogen, erfasste die Situation mit einem Blick und eilte auf den Seniorenheim-Casanova zu. „Herr Gruner! Was machen Sie denn schon wieder! So geht das doch nicht!“ Sie packte ihn an der Hand und zog ihn zu seinem Zimmer zurück, während sie leise auf ihn einredete und einen entschuldigenden Blick in Franks Richtung sandte. „Man muss zuerst ein paar Komplimente machen“, sagte sie zu Ewald, „eine Frau zum Tee einladen. Und irgendwann, viel, viel später, kommt auch das andere dran. Und Sie haben sich Ihren Hintern auch nicht abgewischt!“

Frank, der durch diese Softpornoszene abgelenkt worden war, wandte sich wieder Olga Arth zu, die ihn mit einem strahlenden Lächeln bedachte und „Georg, mein Georg!“ stammelte.

Nur mit Mühe konnte er sich schließlich von Olgas Hand losmachen, und auch nur deshalb, weil er ihr versprach, bald wiederzukommen.

Muss man ein Versprechen gegenüber Leuten halten, die geistig nicht mehr auf der Höhe sind und das Versprechen eine Minuten später schon vergessen haben?, fragte er sich, als er zum Aufzug ging. Aber warum sollte er nicht wiederkommen? Er war jetzt eingeführt, und Liva konnte ihm im Augenblick nicht dazwischenfunken.

„Hallo!“

Frank hörte von links den unbeirrten Halmaspieler und ahnte schon, was jetzt kommen würde.

„Spielst du eine Runde mit?“

Er hatte nicht den Nerv darauf einzugehen und tat so, als ob er die Bitte überhört hätte.

„Das sagt er immer!“, erklärte ihm die weißhaarige Frau, die noch genauso auf ihrem Platz saß wie vorhin.

Das sagt sie immer, dass er das immer sagt, dachte Frank.

Als er sich in sein Auto setzte und langsam losfuhr, kam ihm die ganze Szene auf dem zweiten Stock des Seniorenheims so abgefahren, so unwirklich vor, dass er den Eindruck hatte, er sei eben im Kino gewesen. Aber die breiten Fenster von Haus Eichengrund, die bunte Wiese und der immergrüne Bambus neben der Eingangstür sahen sehr wirklich aus.

Er hätte nie gedacht, was man alles innerhalb einer Stunde in einem Seniorenheim erleben konnte: Ewald ohne Hosen, Karten spielende Frauen, Olga, die in ihm ihren lange ersehnten Georg sah. Vor allen Dingen aber – und das machte ihn immer mehr fertig, je länger er darüber nachdachte – war da der Verdacht, dass Liva ihrem Bruder schon einmal etwas Ähnliches angetan hatte wie Nadja!

Er spürte ein dumpfes Gefühl im Magen und legte seine Hand auf die Gegend um den Bauchnabel. Sicher, es war nur eine Vermutung, und Livas Mutter konnte da auch irgendetwas verwechselt haben. Trotzdem hatte es ihn kalt erwischt, und seine schöne Theorie von Melvins Mord, ausgeführt von einer Schauspielerin, war in sich zusammengebrochen. Vor noch nicht einmal einer Stunde war Frank überzeugt gewesen, dass Liva unschuldig war. Und jetzt stand er wieder am Anfang.

Er dachte nach. Wie konnte er herausbekommen, was damals mit Georg passiert war? Er konnte Liva nicht fragen. Es würde bis nach der Verhandlung keine Besuchserlaubnis geben, das hatte er in Erfahrung gebracht.

Und wenn es nun stimmte? Wenn Liva wirklich ihren Bruder die Treppe hinuntergeworfen hatte? Wer wäre der nächste? Er selbst vielleicht? Und wo waren die ganzen Verflossenen geblieben, von denen Olga gesprochen hatte? Waren sie vielleicht gar nicht verflossen, sondern gefallen?

Seine Zuneigung zu Liva schrumpfte auf ein Minimum zusammen. Er sah sie in einem anderen Licht. Und die Amnesietheorie wurde wieder greifbarer. Gab es das, dass man ein traumatisches Erlebnis – also den Sturz von Georg – wie unter Zwang bei anderen wiederholen musste?

Liva als tötende Psychopatin! Er bekam eine Gänsehaut.

Frank schaltete in den zweiten Gang zurück und bremste ab, weil ein Fußgänger am Zebrastreifen stand.

Es gab schon eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden: Er musste Georg finden und ihn direkt fragen! Aber ob Georg überhaupt hier wohnte ...?

Gut, das konnte man über das Internet herausfinden. Er brauchte nur „Georg Arth“ einzutippen und abzuwarten, was passierte.

Die Fahrbahn war frei und Frank fuhr wieder an.

Heute Abend Sonderprobe Kantorei, und nach dem Wochenende fing die Arbeit wieder an. Wenn er Georg besuchen wollte, müsste es also morgen oder übermorgen passieren.