|243|Der künftigen Generation ins Stammbuch geschrieben

Zu jeder Zeit gibt es einen Konflikt zwischen Jungen und Alten; er nimmt in einer so schnelllebigen, Traditionen abräumenden und immer älter werdenden Gesellschaft neuartige Formen und noch ungeahnte Dimensionen an.

Ich wende mich an die Nachgeborenen, weil sie mir nicht egal sind, weil ich nicht mein Genüge daran habe, dass ich es gut hatte, weil Vergangenheit für Zukunft wichtig bleibt und weil unser fast ausschließlich beherrschender Umgang mit der Welt ein Ende finden muss, damit die Menschheit sich nicht selbst an ihr Ende wirtschaftet.

I.

Mir macht Sorge, was aus euch wird und wie ihr zu dem steht, was vergangen ist. Wohl jede Generation meint, mit ihr beginne ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte. Die Jungen wollen sich nicht einfach auf ein Gleis setzen lassen, das die Alten gelegt haben, schon gar nicht akzeptieren, dass sie auch noch die Weichen stellen. Sie wollen etwas ganz Eigenes. Das führt zu Konfrontation und Konflikt. Der Dialog der Generationen kann zeitweilig verstummen, mitunter gibt es Scherben, nichts als Scherben. Aber ohne ausgetragenen Konflikt kein Erwachsen- und Selbständig-Werden!

Erich Frieds Maxime »Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt«, sollte jeder beherzigen. Und ihr Jungen dürft euch erst recht nicht abfinden mit dem, was ist, und nicht einfach funktionieren. Ihr dürft nicht so weiterleben wie wir, die wir mit unserer Wachstumsideologie voranzukommen glaubten. Wenigstens diese Einsicht möchte ich weitergeben. |244|Zugleich möchte ich eure Neugier auf unsere Erfahrung wecken. Ich kann und will euch keine Vorschriften machen, aber ich möchte euch bestimmte Erfahrungen ersparen. Ich wünschte, ihr verrennt euch nicht in Sackgassen, aus denen es kein Zurück mehr gibt.

Jede Generation lebt von den Erfahrungen vorangegangener, die auch einmal jung, ahnungslos, draufgängerisch, radikal waren. Auch wir wollten litaneiartige Erzählungen von »früher« nicht hören, haben widersprochen und versuchten, es ganz anders zu machen. Hätten wir genau darauf gesehen und gehört, wohin das Verhalten und Denken unserer Großeltern und Eltern führte, wären uns und unseren Nachkommen sehr folgenschwere Dummheiten erspart bleiben: Dass man z. B. nie wieder einem nationalistischen Rausch folgen oder einer utopischen Welterlösungsideologie vertrauen und einer selbsternannten Avantgarde nachlaufen, gar auf Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln setzen sollte, statt zu begreifen, dass Krieg der Ausdruck des Scheiterns von Politik ist.

II.

Ich verstehe, dass ihr es oft einfach satt habt, immer wieder zu hören, »wie es uns ergangen ist«. Wie ärmlich, wie kalt, wie hart es in jenen Nachkriegsjahren war. Wie bedrückend es war, als 1961 um unser kleines abgespaltenes Deutschland eine Grenze mit Todesstreifen gebaut wurde. Wie bitter es war, alternativlos zu leben, wie schwer, in einer Kollektivgesellschaft seine Identität zu bewahren. Wie wunderbar, ein begehrtes Buch zu ergattern oder eine Tüte Apfelsinen zur Weihnachtszeit. Und dass »nicht alles schlecht« war, wirklich nicht, weil es hier geistreiche, humorvolle, ehrliche, verlässliche, begabte Menschen gab, die neben dem offiziellen ein gelingendes privates Leben organisierten und aufrecht in der »Bück«-Gesellschaft gingen. Nicht überall hinreisen zu dürfen, öffnete die Augen für das Schöne, das vor der Tür lag. Sich-wehren-Müssen, das machte auch stark.

|245|Wir sahen eine Utopie wie einen bunten Luftballon platzen. Wir erlebten (dumme) Funktionäre und viele brav-geduckte »Staatsbürger der DDR«, die funktionierten. Parteilügen schienen zu triumphieren. Befreiend wirkten Gedichte von Reiner Kunze, Volker Braun oder Wolf Biermann. Eine plötzlich aufblitzende Idee, nach so vielen Rückschlägen (1953, 1956, 1968) kam durch die Verbindung von Gerechtigkeit und Freiheit, Demokratie und Sozialismus durch Michail Gorbatschow aus Moskau seit 1985.

Und dann erlebten wir den mutigen Aufbruch eines entmündigten Volkes, das kluge, besonnene, entschlossene Abschütteln einer Weltbeglücksideologie. Eine Feier-Abend-Revolution und jene berauschende Nacht im November, als die Leute plötzlich die Mauer stürmten und Ost- und Westdeutsche sich in den Armen lagen. Viele friedliche Demonstrationen für die Freiheit im Schatten der Angst in Deutschland, in osteuropäischen Staaten – das hatte keiner erwartet.

Wir haben die Grenzen des Kalten Krieges gesprengt. Ihr werdet mit den Grenzen zwischen der EU und afrikanischen Staaten sowie den Barrieren zwischen Arm und Reich fertigwerden müssen. Ihr habt den Alltag in einer unübersichtlich gewordenen, multipolaren und multikulturellen Welt zu bestehen. Euer fehlender Arbeitsplatz hat auch mit der Börse in Hongkong und mit Konzernen in Seoul zu tun.

 

Auch heute haben freilich Leute, die hochkommen wollen, »Rückenprobleme«, auch heute gibt es Mutige und Feige, Bornierte und Kreative. Obwohl es jetzt bei uns alles im Überfluss gibt, leiden Menschen unter Mangel. Immer mehr Leute kommen zu den Suppenküchen und holen sich das Notwendigste von den Tafeln für die Armen. Nicht alle Eltern können mit ihren Kindern verreisen.

Unser einfaches Leben war auch ein reiches Leben. Überfluss macht keineswegs automatisch glücklich.

|246|III.

Auch wenn die Welt sich globalisiert, wie es heute jeden Tag in der Zeitung steht, werdet ihr in einem abendländisch-christlichen Lebensraum groß werden. Unsere Kultur wird sich ihr Profil nur dann erhalten, wenn sie andere Kulturen gelten lässt, aber das Eigene nicht vernachlässigt. Das wird eure Aufgabe sein, denn wo alles gleich wird, wird alles gleichgültig. Zu viele Menschen wissen von unseren Wurzeln nichts mehr und sind so abgestumpft, dass sie davon auch nichts mehr wissen wollen, geschweige denn verstehen. Die Menschheit häuft immer mehr Wissen an, paradoxerweise führt das zu immer größerer Verdummung und innerer Entwurzelung. Wir meinen, viel zu wissen, aber können oft Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden. Unsere Seele bewältigt die Fülle nicht mehr, die auf Tiefe verzichtet.

Ich bin überzeugt, dass es gut für jeden Menschen ist, wenn er weiß und spürt, wo er wurzelt, wo also seine Lebensgrundlagen sind und wo er sich festhalten kann, was trägt, was über den Tag hinaus gilt und jedem Leben Sinn gibt.

Ich sehe unsere westliche Welt auf eine kulturelle, moralische und seelische Dürrekatastrophe zusteuern. Es gehört zwar zur Freiheit, jeden Schrott herzustellen. Es gehört zur Freiheit, jeden Schrott zu sehen, zu kaufen und zu konsumieren. Es gehört aber auch zur Freiheit, darauf zu verzichten. Das erfordert täglich bewusste Entscheidungen und wertebestimmte Koordinaten. Jeder kann und muss selbst erkennen, auf welche Weise man lediglich zum Konsumenten degradiert wird oder wie man durch mediale Beeinflussung regelrecht verblödet. Das wichtigste Kriterium könnte sein, sich immer zu fragen, wie einem sein Subjektsein erhalten bleibt bzw. wodurch es gestärkt wird und wodurch man sich zum Objekt machen lässt.

Die vergangene sozialistische Welt machte den Einzelnen zum Rädchen, die heutige kapitalistisch-marktwirtschaftliche zum Konsumenten. Es wird darauf ankommen, wie viel dem |247|Einzelnen seine Freiheit wert ist, wie viel er für diesen »ideellen Wert« einzusetzen bereit ist, selbst wenn er sich seiner Ohnmacht bewusst wird. Und Freiheit wird ohne Verantwortung zur Willkür. Es gilt, Verantwortung für sich und für seine Mitmenschen zu übernehmen.

IV.

Die Weisheiten der Alten mögen euch ein Achselzucken wert sein. Hört einfach mal hin. Genau. Behaltet einen differenzierten Blick auf das Vergangene – manches könnte für euer künftiges Leben von Wert sein. Lasst euch weder entmutigen von den großen Leistungen der Altvorderen, noch ignoriert ihre Fehler, verachtet und belächelt nicht, was sie getan haben. Prüft alles! Nichts einfach übernehmen, sondern aneignen, transformieren. Macht euch das Gute zu eigen, löst das Unabgegoltene, noch Unerreichte ein. Denkt voraus! Was jeder tut oder unterlässt, hat Folgen für künftige Zeiten.

Bewahrt Gottes wunderbare Schöpfung, lernt von der Natur, statt sie beherrschen zu wollen. Die uns anvertraute Erde ist vergiftet, verödet, vergammelt. »Die Bewältigung des Klimawandels stellt eine Feuertaufe für die im Entstehen begriffene Weltgesellschaft dar«, mahnen Wissenschaftler. Und es gibt weitere große Risiken und Gefahren, z. B. die Atommeiler, die Waffenarsenale und den Terror. Werdet bessere Haushälter als wir, erhaltet die Erde als Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Menschen, sorgt für Frieden und mehr Gerechtigkeit.

Einen Rat, eine Bitte habe ich noch: Begnügt euch nicht damit, gut drauf zu sein und selber gut durchzukommen, cool zu sein oder alles cool zu finden (stets vom Kick zum Event getrieben!), sondern gestaltet die Welt mit. Bleibt und werdet »politisch«, mischt euch in das öffentliche Leben ein (res publica), damit auch euer persönliches Leben gelingt.

In der Bibel heißt es: »Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.« (Römer 8,16) Wir sind |248|Vorübergehende. Ihr auch. Das Glück des Augenblicks, des glücklichen Augenblicks, macht unser Leben einmalig.

Die Dichterin Rose Ausländer schrieb:

 

Vergesst nicht

Freunde

wir reisen gemeinsam.