|133|Ohne FRIEDEN ist alles nichts

Haben Sie Feinde?

Ich bin mit einer kleinen Maschine von Tempelhof nach Friedrichshafen geflogen. Der Mann neben mir hatte den Platz bereits raumgreifend besetzt – mit seiner Zeitung. Versuchen Sie dann einmal, jemanden ein Stückchen zurückzudrängen. Sie wollen schließlich auch lesen, fuchteln aber in der engen Reihe rum, weil Sie Ihre Arme am Körper halten müssen. Während ich krampfhaft überlegte, wie sagst du ihm, dass wir die Lehne doch teilen könnten, merkte ich, wie die Wut langsam in mir hochstieg, weil er seinen Arm immer weiter herüberschob und ich mich immer beengter fühlte. Und plötzlich schien es so, als ob ich ihn einengen würde … Hier ging es um nichts, und das Ganze dauerte auch nur anderthalb Stunden. Aber wenn es um etwas gegangen wäre, wir hätten wohl bald Krieg geführt …

 

Ich stelle vier Fragen, die jeder für sich beantworten kann:

Haben Sie Feinde (gehabt)?

Mit welchen Gefühlen haben Sie Feinde?

Was wünschen Sie ihnen?

Können Sie (Ihre) Feinde lieben?

 

Ich musste die Erfahrung machen: Die Feinde kann ich lieben, nur meine Feinde nicht. Die Menschheit liebe ich auch; »diesen Kuss der ganzen Welt«. Aber die Menschen! Wenn nur die Menschen nicht wären, könnte ich auch die Menschheit lieben. Und wenn es nur die Feinde an sich gäbe, wäre alles nicht so schlimm. Ich ertappe mich, wie ich anderen, die »richtige« Feinde haben, rate, sie sollten doch mit diesen ein bisschen netter umgehen.

Wer von der Feindesliebe redet, ohne einmal reale, gar mörderische Konflikte erlebt zu haben, redet wie ein Blinder von |134|Farben. Er hat noch nicht erlebt, was Feinde aus uns und was wir aus unseren Feinden machen, wenn sie uns zu Feinden gemacht haben. Wer keine konkreten Feinde hat, kann sich den Luxus der Feindesliebe leisten, für den ist das, was Jesus in der Bergpredigt provozierend sagt, »kein Problem«. Wie anders soll denn aber Frieden werden, wenn nicht Friede mit dem Feind wird? Wir Menschen machen meist Friede ohne den Feind, indem wir alles tun, dass er verschwindet, unschädlich gemacht oder liquidiert wird. Das ist nicht Friede – das ist Siegfrieden. Die wohl schwerste Herausforderung bei unserem Kampf gegen das Böse ist: nicht selber des Bösen zu werden. Das ist das, was das Neue Testament in vielen Variationen einzuschärfen versucht. Martin Luther hat den Konflikt mit großer Ehrlichkeit in ein Gebet gefasst:

 

Siehe, mein Herr Christus,

da hat mir mein Nächster Schaden zugefügt.

Er hat mich in meiner Ehre gekränkt.

Er hat sich an meinem Eigentum vergriffen.

Das kann ich nicht ertragen.

Darum wünsche ich ihm den Tod an.

Ach mein Gott, lass dir das geklagt sein!

Eigentlich sollte ich ihm verzeihen,

aber ich kann es leider nicht!

Siehe, wie ich so ganz kalt, ja so ganz erstorben bin.

Ach Herr, ich kann mir nicht helfen!

Da stehe ich nun; machst du mich anders,

so kann ich nach deinem Willen

und nach deiner verzeihenden Liebe handeln.

Wenn nicht, dann muss ich bleiben, wie ich bin.

Ich kann nicht anders.

 

Wie verhindert man aggressive Handlungsweisen, von denen man weiß, dass sie einen selber zerstören? Es geht darum, sich aus der Spirale von Hass, Gewalt und Gegengewalt rechtzeitig auszuklinken. Wer Konflikte menschlich bestehen will, muss möglichst präventiv handeln. Wer die destruktiven Hassantriebe nicht vorsorglich durcharbeitet, wird im Ernstfall noch schneller |135|zum Opfer seiner Negativgefühle. Das heißt, darüber nachzudenken, was in mir steckt und was in mir weckbar ist. Das heißt auch, so zu leben, dass ich mir Feinde zu Freunden mache und alles dafür tue, dass Freunde nicht zu Feinden werden und ich nicht so werde, wie meine (abschreckenden) Feinde sind. Der Feind repräsentiert für uns alsbald das Böse – und für ihn sind wir das Böse. Das ist der Teufelskreis, aus dem auszubrechen ist. Schwer genug. Aber genau das ist es, was Jesus uns im Verzicht auf den Gegenschlag zumutet.

Kain und Abel in mir (an)erkennen

In mir stecken ein Räuber und ein barmherziger Samariter. Ich kenne viele Leute, die noch nichts von dem Räuber in sich wissen – dem, der sein Recht mit Macht und notfalls ohne Recht durchsetzt. Und andere wollen nichts von dem mitfühlenden Menschen in sich wissen, weil sie nicht als weich gelten wollen. Was steckt in jedem von uns? Ein treu sorgender Familienvater und – zumal auf Befehl! – ein Exekutor des Vaterländischen oder der »historischen Notwendigkeit«. Das Abraham- oder Milgram-Experiment wurde gemacht, als der Vietnamkrieg tobte und die US-Amerikaner sich nicht erklären konnten, dass liebenswürdige Familienväter nach kurzer Zeit in diesem barbarischen Krieg gegen »den Vietcong« alle zivilisatorischen Maßstäbe vergessen hatten und sich neben abgehackten Köpfen von Vietcong fotografieren ließen. Das waren dann keine Menschen mehr, sondern Vietcong. Sie wurden auch in deutschen Nachrichten so bezeichnet. Wie konnte das alles geschehen?

Das Abraham-Experiment ergab, dass 95 Prozent der Menschen bereit sind, im Interesse einer guten Sache (wenn ihnen das als notwendig eingeredet wird) Menschen auf Anweisung oder Befehl zu quälen; nur 5 Prozent sagten: »Nein, das mache ich nicht mit«. Damals wurde eine Debatte darüber ausgelöst, ob die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg einmalig in der Welt seien. Was von Deutschen angerichtet wurde, bleibt |136|wohl als eklatanter Zivilisationsbruch unvergleichlich. Zugleich erkennen wir, dass Gewalttaten, zumal im Krieg, eine Gefährdung sind, vor der wir stehen. Die Haut der Zivilisation ist dünn, sehr dünn.

Kain und Abel – das sind wir. Abel ist der Arglose schlechthin. Abel nennt man heute die Blauäugigen, die Warmduscher, die Gutmenschen. Ich kenne einige Zyniker, die meinen, dass alle, die noch irgendetwas für gut und richtig halten, solche Gutmenschen seien. Sie selber scheinen nach der Devise zu leben: Ich Schwein, du Schwein, alle Schweine. Was willst du noch? Du weißt nur noch nicht, dass alle Schweine sind!

Abel ist in der biblischen Geschichte tatsächlich gefährlich arglos. Er denkt, es ginge alles klar. Der Rauch seines Opfers steigt zum Himmel auf. Was soll er sich Gedanken machen?! Muss sich nicht Abel auch Gedanken um Kain machen, damit Kain nicht Kain wird, damit z. B. der in seiner Ehre Gekränkte, Zurückgesetzte, der Unterlegene oder nur kulturell anders Geprägte eine gleichberechtigte Chance hat?

Kain – das ist die Geschichte einer Selbstverfinsterung. Kain krümmt sich in sich selbst, sieht nicht mehr auf, wird seiner destruktiven Antriebe nicht mehr Herr. Da fragt ihn die Stimme Gottes, die Stimme des Gewissens: Kain, warum bist du so finster? Sieh, die Sünde lagert vor deiner Tür wie ein wildes Tier. Du aber herrsche über sie. Kain ist aber schon – wie Martin Luther das ausgedrückt hat – ein homo incurvatus in se (der in sich selbst verkrümmte Mensch).

Was ist in uns weckbar? Diese Frage müssen wir uns als Menschen selbst stellen, wenn wir erklären wollen, was Feindschaft ist, wie Feinde zu Feinden werden und wie Feindschaft überwunden werden kann. 1933 bis 1945 im Volk der Dichter und Denker: welche Hassverblendung, welche Revanche- und Rachegelüste, welche Siegesräusche … Wenn ich meine deutschen Mitbürger ansehe, kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, was aus diesem, meinem Volk für ein Unheil kommen konnte. Wenn ich das Tagebuch meines Vaters aus dem sogenannten Russlandfeldzug von |137|1942 lese, bin ich erschüttert, was er alles mit ansehen musste und was von Deutschen angerichtet worden ist. Ich kann wahrlich froh sein, dass ich nicht in seiner Zeit gelebt habe. Aber das ist nicht nur Gnade. Das ist eine Verpflichtung!

Wenn nur so wenige dem Verbrechen auf Befehl wirklich widerstehen, müsste ich – statistisch gesehen – davon ausgehen, dass ich nicht zu den wenigen gehören würde. Das zu erkennen ist hart, aber unausweichlich. Wie schwer es fällt, sich nicht herauszureden, Ausreden oder Rechtfertigungen zu suchen, zeigte 2003 wieder der große Zoff bei der Wehrmachtsausstellung in Halle an der Saale. Die Nazis, die SS waren verbrecherisch, aber die Wehrmacht war sauber. So hörte man es immer wieder. Das ist genauso falsch wie die Denunziation aller Wehrmachtsangehörigen als Verbrecher. Ich hatte die Ausstellung vor vielen Jahren in Potsdam besucht. Sie hatte mich auch erschüttert, aber nicht besonders überrascht, weil ich längst das Tagebuch meines Vaters kannte.

Das Dunkle, das Böse, das Verwerfliche nicht von sich und in sich abspalten und es nicht auf andere projizieren, sondern es mutig bekämpfen, bloßlegen, minimieren und umformen. Mein eigener Feind bin ich, solange ich nicht lerne, mich mit mir anzufreunden. Mich mit mir anzufreunden heißt auch, mutig meinen eigenen Abgründen zu begegnen. Ich nenne ein Beispiel aus der »Washington Post« vom 5. Mai 2004. Die Zeitung, die die Folterfotos von Abu Ghuraib als erste nicht beschönigte und auch das Wort Folter nicht mied, schrieb: »Es ist eine Lüge in Zeiten des Krieges, dass der Ruhm dem ganzen Lande gehöre, die Niederlagen und Grausamkeiten aber einzelnen Übeltätern. Diese Fotos – das sind wir.«

Es ist unglaublich hart, das auszusprechen. Aber nur das hilft. Alles, was du in dir verleugnest, das versuchst du alsbald auf andere zu projizieren. Deshalb brauchen wir Menschen wahrscheinlich immer ein paar Feinde, einfach aus einem fatalen Psychohygienebedürfnis heraus. Und was macht der Feind mit mir? Er beurteilt mich und mein Volk genauso wie ich ihn. Versuche in dir nicht das abzuspalten, was du deinem Feind zuschreibst. |138|Sonst könntest du sehr erschrecken, wie sehr du ihm schon gleichst.

Kritische Selbstreflexion ist noch keine ausreichende Barriere gegen tödliche Vereinfachungen, aber sie ist eine der wichtigen Voraussetzungen, um sein eigenes Tun und Lassen kritisch zu bewerten. Ein weltpolitisches Grundproblem ist heute, dass an der Spitze der Welt ein Mann steht, der zur Selbstkritik und -distanz kaum in der Lage scheint. Für ihn ist die Welt ganz einfach, nämlich eingeteilt in Gut und Böse, Willfährige und Feinde. Er schärft seinen Mitarbeitern ein, er wolle »keine Politik«. Politik hieße nämlich Differenzierung. Er will ganz einfach wissen, wie es ist: so oder so.

Freund oder Feind – Hass macht alle blind

Der Staatsrechtler Carl Schmitt meinte in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass das Freund-Feind-Denken das Prinzip von Politik überhaupt sei. Seine Thesen sind in der Nazizeit ausgiebig missbraucht worden und haben in der Weltpolitik seit dem 11. September wieder Hochkonjunktur. Dem Feindschema und dem daraus erwachsenden Hass zu widerstehen heißt zunächst, ein reflexiver Menschen zu bleiben, der stets vor sich selbst auf der Hut bleibt, sich nicht von Stimmungen treiben lässt, schon gar nicht von Mehrheitsstimmungen und Massenhysterie, die alles »auf die Feinde lenkt« und dem Feind alles Böse zutraut, sich selber alles Gute zuschreibt.

Die Weltherrschaftsansprüche der jetzigen amerikanischen Administration sind totalitär. George W. Bush verlangt von allen Freunden, dass sie ganz an seiner Seite stehen: »Wer nicht mit uns ist, der ist mit den Terroristen«. Das ist geforderte Vasallentreue, keine Freundschaft. Das ist Unterwerfung, keine Partnerschaft. Man muss das Kritikwürdige am Freund ihm sagen und es konkret benennen können. Die Wildsau am Spieß konnte im Sommer 2006 nicht darüber hinwegtäuschen, wie groß die Distanz der Mehrheit der Deutschen gegenüber diesem Kriegspräsidenten |139|ist. Aber er bekam davon nichts zu sehen. Als »Supergau« für die Sicherheit wurde ein Plakat bezeichnet, das kurzzeitig am Kirchturm gehangen hatte: »No Nukes – No War – No Bush!« Erst Offenheit macht aber Freundschaft aus.

Das Bedenkenswerte beim Feind zu sehen ist ebenso wichtig, wie dessen Beweggründe zu analysieren. Nicht alles Üble soll man bei ihm ablagern. Solche Mechanismen aber erleben wir als Individuen, und das funktioniert häufig in der Politik ganz genauso – bis in die Parteien hinein, nicht nur zwischen den konkurrierenden Parteien, die sich in ihrer Kritik nichts ersparen.

»Der Mensch ist ein Seil, gespannt über dem Abgrund von Tier und Übermensch« – so resümiert Friedrich Nietzsche. In jedem stecken ein Liebender und ein Hassender, ein Sanftmütiger und ein Wütiger. Wir sind ein Seil, gespannt über einem Abgrund – passiv und aktiv. Wenn ich den Gouverneur von Texas, der 2000 auf zweifelhaftem Wege Präsident geworden war, sprechen höre, fällt es mir meist sehr schwer hinzuhören, nicht nur hinzuhören, sondern auch mit ansehen zu müssen, wie all das, was er tut, auf optimale Wirkung hin einstudiert ist: seine Gestik, seine Mimik, seine Rhetorik. Mir fällt es schwer, ihn anzusehen. Ich muss über mich nachdenken. Fängst du schon an, ihn zu hassen? Ich habe starke Abwehrgefühle, seit ich weiß, wie seine Reden zustande kommen und welche Redefiguren aus welchem Denk-Trust kommen, wie es z. B. zu der problematischen Metapher »Achse des Bösen« gekommen ist.

Mir wird unheimlich. Schon länger. Ich kenne ein paar Leute, denen es ähnlich geht. Aber ich muss aufpassen, dass ich mich nicht auf ihn, sein Gesicht, seine Sprache, seine einstudierten Posen des patriotischen Machtgehabes fixiere. Mir fällt es schwer, wenn Bush z. B. als Tom-Cruise-Performer im Kampfanzug aus seinem Kampfjet springt und sich als Sieger feiern lässt. So geschehen am 1. Mai 2003 auf dem Flugzeugträger »Abraham Lincoln«. Da landet er als ein Held am Seil eines »Shock and Awe«-Bombers. Er springt medienwirksam-sportlich aus dem Cockpit und zeigt alles, was er hat, einschließlich seines hervorgehobenen |140|Gemächtes. Perfekt inszenierte Macht der Bilder. Dann hält er eine seiner »freien« Reden, die links und rechts in den Monitoren ablaufen. Er spricht von der Befreiung des Irak. Kein Wort der Trauer über die in einem Krieg zwangsläufig umgekommenen unschuldigen Opfer bei den Gegnern und in den eigenen Truppen. Hinter ihm stehen professionell aufgereiht junge Soldatinnen und Soldaten.

Nicht der Verachtung der Mächtigen zu verfallen – das hatte ich schon lange üben müssen, bei Breschnew und bei Honecker. Dieses hohle und dazu noch völlig wirkungslose Pathos! Wenn ich Breschnew sah, dachte ich, dümmer ginge es gar nicht mehr. Solche geistlosen Leute mit so viel Macht!

Immer wieder wird meine Friedfertigkeit auf eine harte Probe gestellt. Anmaßung, Manipulation, Lüge und Heuchelei quellen beinahe täglich in mein Arbeitszimmer. Ich sehe zu viel »fern« – etwa in das verschlagen wirkende Milchgesicht Wladimir Putins, als er nach dem tragischen Kursk-Unglück im Sommerhemd auf der Krim bleibt und banal abwiegelt. Unerbittlichkeit in Person. Ich sehe die Mütter, die Frauen und Bräute, die verzweifelt weinen. Und er bleibt in der Sonne. Da hat er sich zu erkennen gegeben. Mir fällt Smerdjakow, der Undurchsichtige, in Dostojewskis »Brüder Karamasow« ein. Oder wurde je ein Wort der Trauer um die tschetschenischen Bürger gehört, die noch übrig geblieben sind nach den Verwüstungen durch die russische Soldateska? Da wird Machtpolitik exekutiert und auf das Barbarische mit barbarischen Aktionen reagiert. Die tschetschenischen Rebellen lassen sich in Sachen Brutalität auch nicht lumpen – bis hin zur Geiselnahme in einem Moskauer Theater oder in der Schule in Beslan. Der Tschetschenien-Konflikt kann nicht mit kompromissloser Härte gelöst werden, im Gegenteil, dadurch wird die Lage noch aussichtsloser, und der Konflikt droht weiter zu eskalieren.

Putin, dieser Möchtegern-Zar, der so gerne auf roten Teppichen schreitet und auf einem Schimmel reitet, hielt im Bundestag eine Rede und erntete stehende Ovationen im Hohen Hause. Seine Berater hatten ihm sehr geschickt aufgeschrieben, was man in Deutschland so gerne hört. Nach diesem Auftritt wusste ich |141|wieder, wie wichtig es gewesen war, dass mein Vater uns immer wieder Märchen erzählt hat. Etwa das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein. Wie wichtig Märchen sind – wegen der Kreide. Wegen der Unbefangenheit des Kindes vor des Kaisers neuen Kleidern.

Wenn ich den Pentagon-Chef Rumsfeld lachen hörte und sah, dann wusste ich, warum ich nicht in die Hölle will. Vergessen kann ich auch nicht Chomeinis unbeweglich-erbarmungslose Heiligkeit. Manche Menschen sind so »heilig«, weil sie völlig unbeweglich erscheinen, ganz dem normalen Menschenleben entrückt, obwohl sie ganz normale Stoffwechselkreisläufe haben. Als die Jugendlichen des Iran in jenem Krieg gegen den Irak verbluteten, wurden sie einfach zu religiösen Märtyrern erklärt.

Besagter Donald Rumsfeld und der ganze Westen bestückten einst den so grausam wie hypertroph-neurotischen Saddam Hussein mit Waffen, auch mit C-Waffen, im Krieg gegen den Iran. Auf iranischer wie auf irakischer Seite gerierten die Staatslenker sich wie Halbgötter.

Man erinnere sich an die Bilder aus Bagdad mit dem stets krankhaft kraftstrotzenden Saddam – bis zum bitteren Ende, bis zur öffentlichen Demütigung durch die Amerikaner bei seiner Gefangennahme in einem Erdloch. So entwickelt sich abgrundtiefer Hass auf Amerika. Und der Hass Bush Juniors auf Saddam rührt unter anderem her vom Hass Saddams gegen Bush Senior. Hass macht alle blind. Die Lüge wird sein Geselle und der Hightech-Krieg seine Folge. Nachdem alle Lügen, die zur Begründung für den Irakkrieg gedient hatten, in den USA (durch einen offiziellen Untersuchungsbericht) im August 2006 regierungsamtlich offengelegt wurden und die Republikanische Partei die Kongresswahlen im November unter anderem wegen der Eskalation des Terrors im Golfstaat verlor, entließ Bush Verteidigungsminister Rumsfeld. Der Präsident bleibt im Amt. Er spricht nicht mehr von Sieg und gibt zu: »Wo Fehler gemacht wurden, liegt die Verantwortung bei mir.« Die im Irak stationierten US-Truppen sollen um mehr als 20 000 Mann aufgestockt und eine neue Offensive gegen Aufständische vor allem in |142|Bagdad gestartet werden. Seit Beginn des Krieges im März 2003 bis Dezember 2006 sind fast 3000 amerikanische Soldaten und mehr als 50 000 Iraker getötet worden. Die CIA behält ihre Sondervollmachten bei der weltweiten Jagd auf Terroristen und alle, die sie dafür hält. Sie unterhält illegale Lager, entführt, wohin sie will, foltert, schränkt die für Demokratien verbrieften Rechte ein. New War heißt das alles.

Die große Mehrheit der Iraker war zwar froh, dass sie vom Diktator und seinem furchtbaren Joch befreit wurde. Aber sie haben erfahren, dass es keine Konzeption für den Tag »nach Saddam« gab und durch die anhaltende Besatzung der Amerikaner ganz neue Konflikte aufbrachen – in diesem nachkolonialen Kunstgebilde »Irak«. Die Unterhöhlung der Autorität der gewählten, alle drei großen Volksgruppen umfassenden Regierung wird mit jedem Bombenanschlag dramatischer.

Jetzt verbindet viele Iraker die gemeinsame Wut auf die Besatzer, die in diesem Lande als die neuen Herren empfunden werden und sich auch so aufführen. Demütigungen haben Langzeitfolgen – nicht nur die Folter, sondern die zugleich beabsichtigte Demütigung der Gefolterten – auf die häufig nach Razzien Einsitzenden. Leidtragende sind insbesondere unschuldige Iraker und junge Amerikaner, die zu Militärmonstern ausgebildet wurden, und Militärstrategen, die nach ihrem Rausch der Unverwundbarkeit und eines »Shock and Awe«-Blitzkrieges ihre Verwundbarkeit bitter erleben müssen.

Wenn erst einmal Streit oder Krieg begonnen hat, bekommen sie eine schreckliche Eigendynamik. Wer Unrecht erlitten hat, möchte Unrecht sühnen, vergelten, zurückschlagen; Trauer, Wut, Verzweiflung münden in Hass. Hass generalisiert. Hass entlädt sich, wird aber nicht wirklich befriedigt durch die Entladung oder Genugtuung, weil er Ursache wird für neuen Hass. Hass zerfrisst. Hass macht nicht frei. Hass ist irrational und deshalb rational oder argumentativ nicht auszuhebeln, moralisch nicht aus der Welt zu schaffen. Hass wird zu einer Daseinsweise, indem der Hassende mit seinem Hass geradezu identisch wird, wobei er alles Böse in sich selbst abspaltet und auf das Hassobjekt |143|projiziert. Den Hass wieder loszuwerden ist eine so schwere wie langwierige Aufgabe. Die Menschheitsgeschichte ist voll von destruktiver Kraft des Hasses, bis zur Vernichtungslust gesteigert: Völkermord im »entdeckten« Amerika, »Magdeburgisieren« im Dreißigjährigen Krieg, der Holocaust an den europäischen Juden, Völkermorde in Armenien, im Sudan, in Kambodscha, Ruanda, Srebrenica, Grosny.

Hass hat Ursachen, aber er verselbständigt sich und nährt stets den Hass der jeweiligen Gegner. Hass wirkt ansteckend. Wer sich ihm entzieht, sobald ein ganzes Volk in Kriegsrausch gekommen ist – entweder in den Siegesrausch oder in den Rausch der Vergeltungsphantasien nach erlittenem Unrecht –, bekommt es als »Agent des Feindes« mit »den Seinen« zu tun.

Tapferkeit vor dem Freund

»Es ist ein paar Jahrzehnte her, da war Amerika ein Garant für Demokratie und Menschenrechte. Auch heute weisen die USA der Menschheit noch den Weg. Es ist der Weg ins Verderben. Heuchelei, Arroganz und Korruption bestimmen das Gebaren der Herrschenden und das Alltagsleben der Bürger. Amerika taumelt, bockt und keilt wie Frankensteins Monster, blind für die Zerstörung, die es bewirkt. Oft laufe ich am Capitol und am Weißen Haus vorbei, den Monumenten unseres einst so großen Staatswesens, und ich kann mir nicht helfen, ich empfinde Trauer und Bestürzung beim Gedanken an das, was aus meinem Land geworden ist.«

Am 17. August 2001 stand das im Magazin der Süddeutschen Zeitung, geschrieben von Jacob Heilbrunn, einem Kolumnisten der Los Angeles Times. Im August 2001!

Heilbrunn urteilte als ein trauriger Patriot, nicht als ein Hasser. Manchmal muss man über sich selber oder über sein Land und die Gemeinschaft, zu der man gehört, das sagen, was man sagen muss – aus der Traurigkeit des Wahren kann wieder etwas Heilend-Kämpferisches werden.

|144|Die entscheidende Probe hat die Weltmacht USA nach dem 11. 9. 2001 nicht bestanden. Diese Administration hat nach diesen furchtbaren Anschlägen grundfalsch reagiert, aber sie schuf – und fügte sich – Volksstimmungen der Vergeltung. Sie hat sich nicht die Fragen gestellt: »Warum hassen sie uns so? Und was können wir gegen diesen Hass tun?« Präsident Bush verkündete so selbstbewusst wie drohend: »Wir finden euch, wir schlagen euch, wir räuchern euch aus.« In jedem Volk kann ein Zustimmungsrausch fürs Draufschlagen leicht geweckt werden. Die Reaktion auf erfahrene Schläge kann »ultimativer Präventivschlag« heißen. Oder Zuschlagen, bevor »die Achse des Bösen« zuschlägt! Volkswut ist weckbar, in jedem Volk. Und Völker, die Opfer wurden, können zu Tätern werden, bis sie wieder zu Opfern werden. Gewalt führt in mörderische Kreisläufe.

Diejenigen, die jene andere Frage stellten – »Warum hassen sie uns so?« –, mussten alsbald um ihr Leben fürchten, wie Susan Sontag. Wenn man so fragt, rechtfertigt man nicht, was am 11. 9. an Schrecklichem geschehen war. Wenn man aber diese Frage nicht stellt, verschärft man das Problem und gerät in die Sackgassen bloßer Vergeltung.

So wie Freundschaft blind macht, blind für die Kritikwürdigkeit des Freundes, so macht Feindschaft blind für das Bedenkenswerte, das in meinem Feind und seinem Lebensinteresse steckt. Freundschaft macht blind für die dunklen Seiten – auch meines Freundes. Die Tapferkeit vor dem Freund ist dem abverlangt, der einen ehrlichen, tragfähigen Frieden will. Im Freitag vom 7. Mai 2004 erklärte Willy Wimmer in einem Interview: »Heute besteht die Gefahr, dass sich ein Volkskrieg im Irak entwickelt und zur Vorstufe eines großen schiitischen Imperiums wird … Als die Amerikaner in den Irak hineingegangen sind, haben sie in diesem Raum unwiderruflich die Büchse der Pandora geöffnet.« Das sagt Wimmer, der lange Zeit der Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE war, also für multilaterale Vereinbarungen eingestanden ist und es gewagt hat, sich zu seinen Freunden in seiner Partei (der CDU) quer zu stellen. Nach seinem Rat an die US-Regierung gefragt, empfiehlt er, |145|wieder »den Weg des Ausgleichs einzuschlagen. Wieder berechenbare transatlantische Beziehungen herzustellen. Wieder im Verhältnis zu Indien, zu China oder zu Russland auf Kooperation zu setzen. Wir bekommen keine globale Sicherheit, wenn nationale Interessen nicht innerhalb der multilateralen Einrichtungen, die wir dafür haben, abgeglichen werden.« Interessen abzugleichen und dafür einzutreten ist Sache jedes Subjekts der Weltbürgergesellschaft, also jeder Frau und jedes Mannes. Die Summe dieser mitverantwortungsbereiten Subjekte ist als Weltöffentlichkeit die dritte große Kraft, auf die Immanuel Kant in seiner Vertragsfriedensutopie »Zum ewigen Frieden« vor über 200 Jahren gesetzt hat. Was individuell zwischen Menschen gilt, das trifft auch kollektiv-strukturell zu – und umgekehrt.

Dem Hass widerstehen – Frieden machen

Ich durfte einen kämpferisch-sanften, so nüchternen wie mitfühlenden Peacemaker kennenlernen. Er hat mich tief berührt. Täglich zieht er viel Hass auf sich, gerade weil er ein Liebender geblieben ist. Und er versucht, (Feindes-)Liebe in Politik zu übersetzen. Es ist Uri Avnery von Gush-Shalom in Israel. Er versucht mit all seiner Kraft, sich mit den Palästinensern fair zu einigen, und kämpft für die Rechte der Palästinenser innerhalb des israelischen Parlaments. Er versucht unablässig, die israelisch-palästinensische Konfliktkonstellation auch mit den Augen der Palästinenser zu sehen, deren Interessen und Gefühle beachtend. Dein Feind braucht Frieden. Dein Feind braucht ein Land. Dein Feind braucht einen Staat. Dein Feind will leben und muss leben dürfen. Mit solcher Haltung zieht er viel Feindschaft, auch Verachtung und Häme auf sich. Auf der palästinensischen Seite hat er Verbündete wie z. B. die Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser.

Wo Gewalt und Hass sich aufschaukeln und jede Gewalttat nur noch als legitime Rache mit künftiger Abschreckungswirkung verstanden wird, da wird jeder zum Nestbeschmutzer |146|gestempelt, der sich der wogenden Volksstimmung widersetzt. Die mutigen Friedensmacher mit dem Feind ziehen viel Schmach auf sich. Wer sich den Stimmungen, die allzu verständlich sind, nicht ausliefert, ist eigentlich klug, denn er weiß: Wenn ich mich Antistimmungen überlasse, werde ich nur das verschlimmern, was ich beseitigen will – die Feindschaft und den Hass nämlich. 1953 sagte dem 21-jährigen – zu sieben Jahren Haft verurteilten – Jiří Stránský ein mitgefangener älterer tschechischer Lyriker in einem Gefängnis der Stalin-Ära: »Bewahre dich vor dem Hass auf alle, die daran schuld sind, dass du unschuldig im Gefängnis leiden musst. Lass den Hass nicht in dich hinein. Du wirst sein erstes Opfer. Der Hass zerstört zuerst dich selbst.« Und Jiří konnte sein Leben lang das Wunder vollbringen, nicht zu hassen.

Eine ebenso fast übermenschliche Leistung des Nichthassens hat Nelson Mandela (nach 27 Jahren verschärfter Haft!) vollbracht und so sein Land ohne Bürgerkrieg in die Befreiung geführt – in eine Demokratie, in der heute noch Schwarze bis spät nachts, ja bis frühmorgens vor den Wahllokalen Schlange stehen, um ihre Stimme abgeben zu können. Sie haben in Erinnerung behalten, was es hieß, Abgespaltene, Ausgegrenzte, Minderbewertete und Minderberechtigte zu sein. Sie wissen die Demokratie nachhaltig zu schätzen.

Ich selber habe einen Menschen treffen dürfen, der viel durchgemacht hat, aber ein großer Liebender geblieben ist – Lew Kopelew. Was er durchlitten hat, hat er in seinem Buch »Aufbewahren für alle Zeit« aufgeschrieben. Warum war er lange in der Todeszelle der Sowjetarmee? Weil er sich gegen die Übergriffe sowjetischer Soldaten auf deutsche Zivilisten in Ostpreußen ausgesprochen hatte – er, ein Propagandaoffizier der Roten Armee auf dem Vormarsch, hinter sich verbrannte russische Erde, die Deutsche zurückgelassen hatten. Und Lew hat sich, nachdem er durch die Vermittlung Heinrich Bölls in die Bundesrepublik ausreisen durfte, unablässig für Menschen eingesetzt, die aus politischen Gründen in Gefängnisse gesperrt wurden, bis zum letzten Atemzug. Mit seinem alten Freund Wolf Biermann |147|überwarf er sich – weil jener seiner Meinung nach zu einem Hassenden geworden war.

Sebastian Haffner hat in seinen großartigen Erinnerungen »Geschichte eines Deutschen« geschrieben:

»Man will sich nicht durch Hass und Leiden seelisch korrumpieren, man will gutartig, friedlich, freundlich, nett bleiben. Wie aber Hass und Leiden vermeiden, wenn täglich das auf einen einstürmt, was Hass und Leiden verursacht? Es geht nur mit Ignorieren, Wegsehen, Wachs in die Ohren Tun. Und es führt zur Verhärtung aus Weichheit und schließlich wieder zu einer Form des Wahnsinns: zum Realitätsverlust, Sich-Abkapseln. Ich habe kein Talent zum Hass. Ich habe immer zu wissen geglaubt, dass man schon durch ein zu tiefes Sich-Einlassen in Polemik, Streiten mit Unbelehrbaren, Hass auf das Hässlichste etwas in sich selber zerstört – etwas, das wert zu erhalten und schwer wiederherzustellen ist. Meine natürliche Geste der Ablehnung ist Abwendung, nicht Angriff. Auch habe ich ein sehr deutliches Gefühl für die Ehre, die man einem Gegner antut, wenn man ihn des Hasses würdigt – und genau dieser Ehre scheinen mir die Nazis nicht würdig. Ich scheute die Intimität mit ihnen, die schon der Hass auf sie mit sich bringt; und als stärkste persönliche Beleidigung, die sie mir antaten, empfand ich nicht so sehr ihre zudringlichen Aufforderungen mitzumachen – die lagen außerhalb der Dinge, an die man irgendeinen Gedanken oder Gefühl wendet – als die Tatsache, dass sie mich täglich durch ihre Unübersehbarkeit zwangen, Hass und Ekel zu empfinden, wo doch Hass und Ekel mir so gar nicht ›liegen‹.«

 

Wie selten gibt es solche Seelenstärke, und wie wichtig ist es doch, dass wir in Konflikten bestehen und möglichst über solche inneren Mächte reflektieren, bevor sie uns überfallen – dass wir offene Ohren behalten, uns nicht verhärten, sowie der Hass uns überfällt, gerade wenn es Ursache für Hass gibt.

Albert Camus hat noch vor Ende des Krieges seine Landsleute vor dem Hass auf die Deutschen gewarnt. Und in einer Zeit, in der der Hass seine Urständ feierte – eben auf Grund des |148|Erlittenen –, hat Camus in der Résistance sich für Versöhnung mit den Deutschen eingesetzt. Es gehört immer besonderer Mut dazu, für den Feind ein Wort einzulegen und in einer angespannten Situation für Versöhnung zu wirken, dem Hass und dem Gegenhass entgegenzutreten. Václav Havel, der dreimal in Gefängnisse (für insgesamt fünf Jahre) geworfen wurde, hat in einer Rede in Oslo im August 1990 gesagt:

»Ein hassender Mensch begreift nicht das Maß der Dinge, das Maß seiner Möglichkeiten, das Maß seiner Rechte, das Maß seiner eigenen Existenz und das Maß von Anerkennung und Liebe, die er erwarten kann. Er verlangt, dass ihm die ganze Welt gehört, und die Anerkennung der Welt soll grenzenlos sein. Er versteht nicht, dass er das Recht auf das Wunder der eigenen Existenz und auf ihre Anerkennung durch eigene Taten erkämpfen und verdienen muss. Im Gegenteil, er betrachtet dieses als etwas automatisch ein für alle Mal ihm Gegebenes, von keiner Grenze Eingeschränktes und durch niemand jemals in Frage Gestelltes … Ich beobachte, dass alle Hassenden ihren Nächsten beschuldigen – und durch sie die ganze Welt –, sie seien böse. Im Hass steckt sehr viel Egozentrik und eine große Selbstliebe. … Goldgräberhass übt geradezu eine magnetische Anziehungskraft aus und kann auch Menschen in seinen Sog ziehen, die vorher scheinbar unfähig waren, zu hassen … und dem suggestiven Einfluss der Hassenden unterliegen.«

 

Bert Brecht hat 1938 in seinem Gedicht »An die Nachgeborenen« geschrieben, dass er wohl auch gerne weise wäre und Böses mit Gutem vergelten wolle und dass er auch wisse, dass Hass auf die Niedrigkeit die Züge verzerre. Und er, der den Boden bereiten wollte für Freundlichkeit, konnte selber nicht freundlich sein. Und dieses Nicht-Freundlichsein-Können empfindet er als Bruch, ja auch als Schuld. Also ist vor allem anderen etwas dafür zu tun, dass der Boden bereitet wird für Freundlichkeit. Dazu braucht es Mut, viel Mut, auch gegenüber sich selbst und seinen Freunden. Das haben die großen »Liebesprediger« Jesus, Gandhi, King besonders drastisch erfahren müssen. Sie kannten |149|nur zu gut die Realität von Feindschaft und Hass und wollten die Läuterung des Feindes durch die eigene Läuterung.

Der Macht der Gewaltlosigkeit trauen. Gewalt gegen Gewalt ist nie eine Lösung, sondern nur Ausdruck eines Scheiterns wirklicher Lösungen. »Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg« – sagte Gandhi. Das könnte Jesus gesagt haben. Jedenfalls ist es dir gesagt. Wer Frieden machen will, muss selber friedfertig sein, wenn er Durchhaltekraft und Glaubwürdigkeit behalten will. Deshalb einige Merksätze für Menschen des Friedens zum täglichen Gebrauch:

  • Friede beginnt in dir, mit dir, zwischen dir und den anderen: deinen Feinden und deinen Freunden.

  • Mit all deinem Tun und Unterlassen versuche so zu leben, dass auch andere Menschen würdig leben können. Neben dir, fern von dir, nach dir.

  • Suche Menschen, die du verstehst und von denen du verstanden wirst. Dort findest du Heimat.

  • Suche Kontakt zu denen, die dir fremd oder feind sind. Vermeide alle Abwertungen und lerne alle achten, weil du doch weißt, dass die Würde des Menschen unantastbar sein muss – dir und allen zugute.

  • Wo du selber deine Angst überwindest, musst du anderen keine Angst mehr machen.

  • Inmitten der Gewalt-Welt suche beharrlich kluge Alternativen zum Gegenschlag. Dazu brauchst du viel Mut, der dir zuwächst, wo du dich traust und wirklich etwas wagst.

  • In dir selbst wirst du Spannungen, Konflikte, Widersprüche spüren. Sieh zu, dass du sie nicht auf andere überträgst. Trainiere deshalb die Tapferkeit vor dem Freund, die Courage im zivilen Leben – mit dem Wagnis, auch allein zu stehen.

  • Wenn du aufrecht lebst und vor dir selbst bestehen kannst, deine Niederlangen und deine Schuld einzugestehen lernst, wirst du dich stark fühlen und deinen Weg aufrecht gehen – voll Vertrauen, ohne Hochmut.

  • Deine Fähigkeiten und Kräfte setze für eine Gesellschaft ein, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer wird.

  • |150|Je friedfertiger du bist, desto besser gelingt es dir, Frieden zu stiften. Der kleine Frieden ist auf den großen aus, und der große Frieden braucht den kleinen. Der Friede braucht dich.

  • Lass dich – mitten in der Welt zerstörerischer Überlegenheitslogiken und alltäglich zermürbender Konkurrenzen – zur Vernunft des Friedens bringen.

Also: Alles für Prävention tun! Im Inneren Abgründe ausloten und sich nicht in sie stürzen, zur Reife kommen und alles uns Mögliche dafür tun, dass die Gewalt uns nicht in die Hassspirale reißt. Wenn uns das Unglück erst ereilt, sind wir schnell verloren. Wenn der Feind oder Gegner aber spürt, dass er nicht abgewertet oder gehasst wird, werden ihm seine Würde und sein Selbstbewusstsein zurückgegeben, und er definiert sich nicht mehr über Feindschaft, sondern über Interesse und Konkurrenz, die den je anderen leben lässt.

Das bedeutet global: Es geht um eine internationale Rechtsprechung, darum, dass alle Völker zusammenkommen und sich auf Friedfertigkeit einigen, gemeinsame Sicherheit auf der einen Welt suchen. Das Recht soll stark sein, nicht der Stärkere soll sich das Recht nehmen.

Auch für jeden persönlich muss die Devise »gemeinsame Sicherheit« lauten, wenn wirklich Friede sein soll. Der Prophet Jesaja hat mit bitteren Worten beklagt, wie häufig die Führer der Völker verblendet sind und wie oft Völker sich verblenden lassen. Aber: Es ist Wandel, es ist Einsicht möglich. Sie beginnt bei jedem, und sie betrifft jeden. Wir alle können Zeichen des Friedens setzen.

Zeichen setzen 1: Umschmieden und umdenken

Im September 1983 wurde in Wittenberg auf dem Lutherhof unter dem Jubel vieler hundert junger Menschen ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet. Dazu wurde geklatscht, gesungen, gebetet. Man hielt den Atem an. Ein Zeichen war verboten |151|worden. Dort zeigten wir in aller Öffentlichkeit an einem nächtlichen Feuer, wie man es macht: dass ein Schwert, das Tod bringt, zu einer Pflugschar umgeschmiedet wird, die Brot bringt. Das Problem ist nach fast 25 Jahren nicht erledigt. Im Gegenteil. Wettrüsten beginnt wieder.

Das Umschmieden geht von einer sehr alten Vision aus, die der Prophet Jesaja der Menschheit vererbt hat. Da heißt es: »Zur letzten Zeit werden alle Völker zusammenkommen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, dass er uns seine Wege lehre und wir wandeln auf seinen Steigen. ER wird richten unter den Völkern und alle zurechtweisen. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Winzermessern machen, und kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fernerhin nicht mehr lernen, Krieg zu führen.« (Jesaja 2, 2–5)

Das ist es: Nicht mehr lernen, Krieg zu führen, sondern lernen, in Frieden zu leben, und die Konversion – diese Umkehrung – endgültig machen. Von unserem deutschen Land und unserem geschundenen europäischen Kontinent soll nie wieder Krieg ausgehen. Wir haben endlich zur Friedfertigkeit gefunden. Wir haben ein vereinigtes Europa, das schmerzlichste Kriege hinter sich hat. Krieg soll der Vergangenheit angehören. Friedliche Konfliktregelung soll gelten für alle Konfliktherde auf der Welt. Der Krieg ist nicht mehr Vater aller Dinge, sondern der Frieden Bedingung allen Lebens! Die wertvollen Rohstoffe werden nicht mehr vergeudet für Instrumente, die den Boden mit Blut tränken, sondern alles wird dazu dienen, dass die Erde Getreide hervorbringt und alle zu essen haben. Genauso sollen die Winzermesser immer Winzermesser bleiben, die den Wein schneiden, und nicht zu Spießen geschmiedet werden, um den Feinden in den Leib getrieben zu werden. Brot statt Tod und Wein statt Blut. Brot und Wein werden geheiligt. Genau daran knüpft das Abendmahl bei den Christen an. Jesus – mitten in der Machtwelt des Imperators und seiner Vasallen, in der Verratswelt des Judas und seiner Hintermänner – nimmt Brot, bricht und verteilt es, nimmt den Wein, dankt und teilt ihn aus. »Für |152|Euch!«, sagt er. Das ganz Natürliche – das, was Hunger und Durst stillt und zugleich Freude macht – wird zum Geheiligten.

Es ist schon ein bleibendes sprechendes Symbol, dass die Skulptur mit dem Schmied, der ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet, in New York vor der UNO steht.

Zeichen setzen 2: Eine Kirche des Friedens

Wenn wir als Kirchen heute den Mächtigen ins Gewissen reden und zum Frieden raten, dann können wir das nur aus der Demut redlicher Erinnerung an unsere Schuldgeschichte tun. Ein Beispiel: in der von der protestantischen Obrigkeit genehmigten und in das landesherrliche Magdeburgische gebrachten Agende von 1740 ist die immer wieder wiederholte allgemeine Fürbitte zu finden »für gehorsame Untertanen, sieghafte Heere, Soldaten, die den Eid gehorsam nachleben«, und die Bitte, »dass Gott des Königs Armeen Glück und Sieg verleihen möge, damit ein redlicher und allgemeiner Friede beständig erhalten werde«. Es ging stets um den Sieg-Frieden. Und für die Christen als Einzelne blieb die Generalbitte für die Obrigkeit, die ich als Jugendlicher sonntäglich aus dem Munde meines Vaters im sogenannten »allgemeinen Kirchengebet« noch in den Ohren habe: »… dass wir unter ihrem Schutz und Schirm ein geruhiges und stilles Leben führen mögen, in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.« Solch ein Satz wurde während der barbarischen Nazizeit, während des totalen Krieges und auch unter atheistisch-kommunistisch-kirchenfeindlicher Herrschaft gebetet. Nichts vom Wirken der Kirche im Geiste Jesu für den Frieden, nichts vom wachen Selbstbewusstsein, von helfender Begleitung für Schwache, von Suche nach der Wahrheit, Suche nach Frieden, Suche nach Gerechtigkeit, sondern eine gewisse Abduckmoral – gottselig und ehrbar leben. Irgendwie unbeeindruckt von dem, was in der Welt geschieht, und unter dem Schirm einer Obrigkeit sicher sein geruhsam-gehorsames Leben führen. In der Agende von 1981 ist der Tonfall ganz anders – dazwischen lag eine politische und eine liturgische Aufbruchsbewegung – die |153|katholische und evangelische Kirchen erreicht hatte. (Die Holländer waren uns vorangegangen.) Da heißt es: »Dass in allen Landen Gerechtigkeit und Wahrheit siege, dass alle Ungerechtigkeit abgetan werde und wir im Gehorsam gegen dich ein ruhiges und stilles Leben führen können. Gewähre in deiner Barmherzigkeit Frieden unter den Völkern. Bewahre uns vor Aufstand und Blutvergießen und gib, dass wir einträchtig beieinander wohnen.« Zu solchen Sätzen kann ich mein Amen aus vollem Herzen sagen.

Denn: Die Kirche versäumt eine ihrer zentralen Aufgaben, wenn sie sich mit dem innerkirchlichen und interkonfessionellen Streit verbraucht, statt selber zu einer Kirche des Friedens zu werden, die zwischen den Zerstrittenen vermittelt und mithilft, die Methoden zu entwickeln, die zu einem dauerhaften Frieden führen.

Die Kirchen in der DDR hatten versucht, die Konsequenzen aus einer gewalt- und kriegsrechtfertigenden Geschichte der Kirche zu ziehen, indem sie z. B. der Entfeindung und der Abrüstung zugleich das Wort redeten und mahnten, Vertrauen gegen das zerstörerische Misstrauen zu wagen, gerade gegenüber denen, die uns feind sind. Zur Ökumenischen Versammlung in Dresden haben wir am 30. April 1989 in ökumenischer Gemeinschaft mit evangelischen, katholischen und freikirchlichen Kirchenvertretern sowie den Gruppen zwei biblische Zentralbegriffe konkret durchbuchstabiert: Schalom und Umkehr. Umkehr brauchen wir als Einzelne und als (Welt-)Gesellschaft angesichts der Weltungerechtigkeit, des Weltunfriedens und der Schöpfungszerstörung in den Schalom. Schalom als eine Gabe, eine Aufgabe und eine Verheißung Gottes an die Welt. Friede fand nach unserer Auffassung seine politische Gestalt in einem kooperativen Verständnis von Frieden: Statt weiter der jahrhundertelang dominanten Idee des Sieg-Friedens zu folgen, eine Konzeption »Gemeinsamer Sicherheit« zu entwickeln. Was bedeutet es, Kirche des Friedens zu werden, fragten wir und antworteten:

  • die Last der Geschichte und Schuld bekennen

  • den Platz im eigenen Land annehmen

  • im ökumenischen Horizont denken und handeln

  • ein gemeinsam verbindliches Zeugnis ablegen. 

|154|Die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hat in ihren drei Sessionen (1988–1989) einen wesentlichen Anteil daran, dass es zu einem friedlichen Umbruch in der DDR kam. Christen sind in den Jahren der Ost-West-Trennung Scharniere zwischen den Menschen geworden, aber auch Türöffner im politischen Bereich. Besonders die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) befruchtete den KSZE-Prozess.

Eine Ökumene des Friedens hat sich vielleicht erstmalig im gemeinsamen Widerstand gegen den Irakkrieg ergeben. Ich habe auf der großen Friedensdemonstration in Berlin am 15. Februar 2003 als Vermittlungskandidat der östlichen und westlichen, der katholischen und evangelischen Friedensgruppen geredet und versucht zu bündeln, was an gemeinsamem christlichem Engagement gegen eine präventive amerikanische Kriegsstrategie entstanden war. Ich sah geradezu eine Ökumene des Friedens, die über die einzelnen Kirchen, Religionen, Weltanschauungen weit hinausreichte. Die entscheidende Erkenntnis war, dass es nicht mehr darum gehen kann zu fragen, welcher Krieg »gerecht« sei, sondern entschlossen Schritte auf einen »gerechten Frieden« hin zu suchen und zu gehen. Hier waren sich Christen in aller Welt fast aller Konfessionen einig: Krieg ist keine Lösung. Ursachenbekämpfung soll die Langzeitstrategie bleiben – das soziale Elend und die Demütigungen bilden Nährboden für Terrorismus. Die UNO als internationales Friedensinstrument muss gestärkt und weiterentwickelt werden. Dialog muss möglich gemacht werden. Gerade der Bischof von Rom fand bestechend klare Worte: »Krieg ist immer eine Niederlage der Menschheit«.

Die Logik des Friedens

Wie wird Friede? – Das ist heute in vielen Regionen der Welt eine verzweifelte Frage.

Die militärische Logik zur Beantwortung dieser Frage ist die Logik des Sieges über Menschen, die man verallgemeinernd |155|Feinde nennt und deren effizientes Töten sodann zum höchsten Ziel wird. Militärische Logik ist die Logik des Todes, die Logik des Tötens und die Logik des Sieges über andere.

Natürlich gibt es Beispiele, wo nur noch militärischer Einsatz vor verbrecherischen Banden schützen kann und sollte wie in Ruanda 1994 oder Darfur seit 2003. Hier war, hier ist der Schutz durch die internationale Gemeinschaft unabdingbar. Es gibt Feinde, mit denen keine Einigung möglich ist und die nur durch gemeinsame Anstrengung oder gar durch Kampf der Völkergemeinschaft bezwungen werden können. Dies gilt für Terroristen wie Bin Laden. Auch Hitler-Deutschland ließ sich nicht mit Friedensfähnchen besiegen.

Das kann aber nur mit einer stärker gemachten UNO geschehen, die auch dort Gewalt anwenden kann und muss, wo schreckliche Gewalt nicht anders eingedämmt werden kann – allerdings bitteschön nur nach Völkerrechtsnormen und dort, wo keine primären strategischen oder Ölinteressen vorliegen. Alles andere ist grundverlogen und unterhöhlt die Substanz des freiheitlich-demokratischen Systems.

Das Einander-Leben-Lassen nach Rechtsnormen ist das Mindeste, was wir Menschen einander schuldig bleiben – notfalls mit der Härte des Gesetzes, mit Anklagen vor dem internationalen Gerichtshof. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde die UNO nach 1945 gegründet. Die Menschenrechte müssen für alle gelten. Auch heute in Guantánamo. Ausgerechnet die Vereinigten Staaten – jedenfalls die jetzige Administration – handeln globalstrategisch unilateral aus ihrem Recht der Stärke heraus. Die westliche Führungsmacht hat inzwischen ihre Führungs- und Vorbildfunktion so eingebüßt, dass Freiheits- und Menschenrechte zum missbrauchten Kampfbegriff geworden sind. Sie führt die Welt in eine gefährliche Sackgasse.

Die Logik des Friedens ist die Logik ziviler Lösungen, die Leben lässt und Leben schafft, die Konflikte mit aller Kraft und mit allem Mut zum Leben angeht.

Es gibt beglückende Erfahrungen mit friedlichen Konfliktlösungen beim Feindbildabbau und bei der Abrüstung. In Europa |156|gehört der KSZE-Prozess dazu, ohne den die Mauer wohl noch stünde oder aber gar nichts mehr stünde. Wir erinnern uns, wie kurz die Vorwarnzeiten für Kurz- und Mittelstrecken-Atom-Raketen und wie marode die Raketensysteme im Ostblock gewesen waren. Solche gelingenden Beispiele können und müssen ermutigen. Peacemaker sind keine Stubenhocker, keine Helden des feigen Rückzugs, sondern Menschen, die die Tapferkeit der Zivilität einüben, Leute, die nicht einfach über den Feind zu gewinnen versuchen, sondern den Feind zu gewinnen versuchen. Sie wollen rechtzeitig die Ursachen ausräumen, statt im Nachhinein den Schutt wegzuräumen. Denn: So, wie der Krieg sich im Herzen meines Feindes eingenistet hat, so beginnt auch der Friede im Herzen meines Feindes. Er beginnt in meinem Herzen, indem ich – mühsam! – verstehen lerne, warum der andere so von Hass erfüllt ist und was ich tun kann, damit der Hass geringer wird. Man muss zugleich nach den sozialpolitischen Ursachen des Hasses fragen, statt alles allein moralisierend oder psychologisierend zu erklären.

Man muss auch nach Strukturen, nach Interessen und nach Macht fragen. Wer sich die Frage nach dem Feind, den Feindbildern und der Versöhnung stellt, muss wissen, dass individual-psychologische, ethische, kommunikative, strukturelle und machtpolitische Aspekte unentwirrbar ineinander verwoben sind. Die einen reden hauptsächlich von Strukturen und Interessen (also meine linken Freunde, sobald ich individuell oder ethisch argumentiere). Sie werfen mir vor, ich hätte nichts von Strukturen begriffen. Und dann begegne ich den anderen, die alles personalisieren und psychologisieren: Da wird dann der Irakkrieg nur als ein Krieg verstanden, den der Sohn Bush geführt hat, um sich vor seinem Vater zu beweisen.

Keine verallgemeinernde Aussage trifft die Komplexität der Feindschaft in der Welt.

Wir, die wir in ganz geordneten Verhältnissen leben, können uns kaum vorstellen, was der Hass mit uns tun würde, wenn wir Bewohner von Gaza oder von Tel Aviv wären, als Muslime in Falludscha oder als GIs in Bagdad lebten. Hass, Gewalt und Erniedrigung |157|haben in anderen Gegenden der Welt eine noch ganz andere Härte, als wir sie hier in Deutschland erleben. Aber die Negativwirkung von Hass, wenn einem Hass begegnet, der zerstören will, ist vergleichbar. Und vergleichbar ist, ob du die Kraft findest, aufrecht zu bleiben und dir deine Würde zu bewahren, dich nicht dem Hass und der Verbitterung zu überlassen. Der Bazillus Feindschaft überträgt sich allzu leicht.

Soldatsein als Gefährdung unseres Menschseins

Ich erinnere an ein Plakat, das wir 1987 zum Olof-Palme-Friedensmarsch getragen hatten und das uns damals entrissen wurde: »Für die Entmilitarisierung der Wälder, des Himmels und des Denkens«. Auch heute geht es wieder um die Entmilitarisierung unseres Denkens – zugunsten der Zukunft der Menschheit, aber auch zugunsten unseres eigenen Mensch-Seins.

 

Soldat Soldat in grauer Norm

Soldat Soldat in Uniform

Soldat Soldat, ihr seid zu viel

Soldat Soldat, das ist kein Spiel

Soldat Soldat, ich finde nicht

Soldat Soldat, dein Angesicht Soldaten sehn sich alle gleich

Lebendig und als Leich.

 

Ein Foto aus einem Bombentrichter vor Verdun mit einem toten französischen und einem toten deutschen Soldaten – es könnte mein vermisster Großvater sein – hatte ich ebenso vor Augen wie das Kriegstagebuch meines Vaters, als ich dieses Gedicht Wolf Biermanns 1988 im Magdeburger Dom bei der 2. Session der Ökumenischen Versammlung zitierte. Gottfried Forck entgegnete mir damals erregt, damit hätte ich alle jene beleidigt, die sich zum Dienst in der Volksarmee entschlossen hätten. Fast alle, die einmal in einer Armee gedient haben – und sei es in der »Wehrmacht« –, unterstellen schnell eine selbstgerechte |158|Überhöhung von Wehrdienstverweigerern und pauschale Diffamierung von Soldaten.

Unverständlich war mir manche Polemik in der Debatte um meinen Beitrag. Was daran war verletzend, pauschal, perfid, verleumderisch, und wer wurde zum »verabscheuungswürdigen Wesen« erklärt? Wo schien eine »pervertiert-naive Welt von Gut und Böse« durch? Was war undifferenziert oder oberlehrerhaft?

Ich hatte den Soldaten nicht »pauschal« ihr Menschsein abgesprochen oder ihnen unmenschliche Verhaltensweisen unterstellt.

Ich wollte und will vielmehr auf Gefährdungen hinweisen, die mit einer Struktur zusammenhängen und »im Ernstfall« Entladungen mit sich bringen – was alle Armeen betreffen kann, wie alle historische Erfahrung lehrt.

Ich kann Fernsehaufnahmen von der brutalen Erstürmung irakischer oder palästinensischer Wohnungen nicht vergessen. Sie erschüttern mich nicht minder als die Razzien von Truppen Saddams in Kurdistan oder die Terroranschläge der Hamas. Serbische Tschetniks und kosovarische UCK haben sich in ihrer Brutalität nichts genommen – anders als einseitige Propaganda glauben macht, indem sie letztere zu Freiheitskämpfen stilisiert. Deutsche Verteidiger der »Festung Breslau« waren ebenso wenig Unmenschen wie sowjetische »Angreifer« – aber sie wurden es durch diesen Krieg. Wenn deutsche Soldaten heute bei der KFOR ihren schweren Dienst tun, bewirkten sie doch bisher nichts weiter als die Trennung der Hassparteien. Wenn sie weggingen, ginge es wieder los. Deshalb bleiben sie.

Ich möchte zudem darauf hinweisen, was in einem Befehlssystem durch Kasernierung, durch täglichen Umgang mit Waffen und systematische Weckung von Angst und Tötungsphantasien – Manöver genannt – mit ganz normalen Menschen geschieht. Erst recht im Falle realer militärischer Auseinandersetzung! Das Konzept der »inneren Führung« hat Auswüchse weitgehend verhindert. Ich kenne Soldaten und Offiziere (verschiedener Nationen), denen ich keineswegs ein beschädigtes Menschsein attestiere, und ich bewundere sogar, wie sie innerhalb |159|militärischer (Denk-)Strukturen »zivil« bleiben konnten. Es gibt nicht nur die »Menschenführung von Millionen junger Soldaten bei der Bundeswehr im Kasernenalltag«; es gab auch die seelsorgerliche Begleitung Billy Grahams im Vietnamkrieg für Präsident Nixon oder die deutscher Militärpfarrer in den Jahrhunderten unserer militaristischen Tradition.

Ich habe nicht mit Tucholskys nachdenkenswertem Frontbericht »Soldaten sind Mörder« argumentiert – den so schwierigen wie mutigen Einsatz von Soldaten demokratischer Staaten zur Abwehr von Verbrechen vor Augen, wiewohl auch dort »Entgleisungen« passieren. Man denke nur an das Verhalten niederländischer UNO-Soldaten während der Massaker in Srebrenica 1995 oder an die Übergriffe von UN-Blauhelmen im Kongo seit 2003.

Ich will aber gerade nicht Steine auf »Staatsbürger in Uniform« werfen, sondern auf eine prinzipielle Problematik des »Wehrstandes« hinweisen. Jeder Krieg wird geführt gegen Feinde, und er braucht ein Bild vom Feind, wodurch die Tötungshemmung nicht nur vermindert wird, sondern es zur totalen Enthemmung kommt. Der »andere« darf kein Mensch mehr sein, sondern wird bloßes Hassobjekt. Welche Sprache sprechen Fotos über den Feldzug der Roten Armee in Afghanistan oder über den »sauberen Krieg« der USA? Immer sollen es bei Übergriffen nur Einzelne gewesen sein. Das Gute wird dem Ganzen zugemessen, das Böse dem Einzelnen angelastet. Krieg provoziert offenbar destruktive Antriebe und weckt eine diabolische Lust am Töten oder Quälen. Wird Töten auf Befehl zur Pflicht, ist der Gegner zu vernichten und der Feind kein Mitmensch mehr. Keine Armee ist vor Exzessen gefeit. Das zeigen uns die Bilder von Kriegen bis heute.

Der ehemalige Chef der Grenztruppen der DDR, Generaloberst Baumgarten, erklärte: »Lehnte ein Grenzer den Gebrauch der Schusswaffe ab, so wurde er in Ausbildungs- oder rückwärtige Einheiten versetzt. Wir haben unsere Grenzsoldaten … zur Achtung des Lebens als höchstes Menschengut erzogen.« Kein Wort verlor er indes über die Toten an der Grenze. Als ob es eines Beweises bedurft hätte, wie konsequent Militärs jede Kritik abwehren.

|160|Der Krieg gegen den Terror als Gefährdung unserer Gesellschaft

Es gilt heute nüchtern festzustellen, dass es Feinde gibt, denen eine demokratische offene Gesellschaft nicht passt und die ihre (terroristischen) Aktionen mit unterschiedlichem ideologischreligiösem Überbau garnieren. Und es gilt festzuhalten, dass gegen sie in gemeinsamer Anstrengung oder gar im Kampf der Völkergemeinschaft vorgegangen werden muss. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, wie problematisch ein solcher Kampfzustand für unsere Gesellschaft ist.

Die Gefahr in jeder Auseinandersetzung mit einem »Feind« besteht darin, dass man sich ein Bild von ihm macht und dieses so sehr generalisiert, dass die so Etikettierten tatsächlich so werden (müssen), wie man von ihnen denkt. Man selbst merkt hingegen nicht, wie ähnlich man ihm im Kampf mitsamt dem Feindbild wird. Der Kampf gegen den Islam als Kampf gegen islamistisch-aggressiven Fundamentalismus ist eine solche Gefahr für die Substanz unserer laizistischen bzw. säkularen demokratischen Gesellschaften.

Der »New War« dauert nunmehr seit Jahren an als ein Krieg gegen einen kaum fassbaren Weltfeind. Da lohnt es sich endlich wieder zu leben, zu kämpfen, sein Leben hinzugeben für die große Sache des Volkes und dem Feind »bis in die verborgensten Winkel der Welt« zu folgen und für angetanes Unrecht – auch emotionale – Genugtuung zu suchen. Bin Laden als Hauptverantwortlicher für die Anschläge vom 11. 9. 2001 ist inzwischen zu einem wirkmächtigen Phantom mutiert. Man kann heute gar nicht mehr so sicher sein, ob alles daran gesetzt wird, ihn selbst zu fassen, oder ob dieses Phantom den Bekämpfungsstrategien gar besser dient, solange er so anonym aktiv bleibt. Es muss die Frage gestellt werden: Kämpfen wir tatsächlich gegen reale Feinde? Oder (ge)brauchen wir wieder Feindbilder?

Jede Gesellschaft ist zur Hysterisierung fähig, sowie sie sich auf ein kollektives Bedrohungsszenarium verständigt, das sich an einem konkreten Anlass entzündet, aber sogleich zur Generalisierung |161|führt und Abwehrreflexe mobilisiert. Ein gemeinsames, möglichst kräftiges, emotional aufgeladenes, angstbesetztes und so zu besonderer gemeinsamer Gegenwehr anspornendes Feindbild bindet eine Gesellschaft (wie jede kleine oder größere Gemeinschaft) offenbar kraftvoller zusammen, als das jede positive Idee, jede Utopie und jedes Leitbild vermag.

Wenn ein innerer Zerfall droht, dient ein äußeres Bedrohungsszenarium zur Stabilisierung des Staates. Zumeist ist hiermit auch der Abbau demokratischer Freiheitsrechte verbunden. Denn: Ein Phantom erfordert in seiner Allgegenwärtigkeit und Ungreifbarkeit gesteigerte Wachsamkeit und kann drastische politische Maßnahmen als die einzig wirksamen Mittel im Kampf gegen den Feind rechtfertigen. »Um des gemeinsamen Kampfes gegen den Feind willen« müssten die Freiheitsrechte eben eingeschränkt werden. Zudem müsse die Wachsamkeit erhöht werden, denn der innere Feind arbeite mit dem äußeren zusammen, oder er sei gar dessen fünfte Kolonne. Wer da anfängt zu differenzieren, macht sich angeblich der Verharmlosung schuldig. Wer der Vereinfachung entgegentritt, stört das nationale Volksempfinden, wird unpatriotischer Gesinnungen geziehen. Wo eine Gesellschaft kein lohnendes gemeinsames Ziel mehr benennen kann, muss sie wenigstens einen Feind haben, um im Kampf gegen diesen einig zu sein und alle Kräfte zu mobilisieren. Wer da kritisch rückfragt, wird leicht als (unbewusster) Agent des Feindes denunziert oder mindestens verdächtigt, ihm »objektiv« in die Hände zu arbeiten, ihm vorwerfend, er würde die Gefahr verharmlosen und mache sich mitschuldig an künftigem Unglück.

Um die Abwehrbereitschaft der Bürger auf hoher Stufe und einen bestimmten Pegel an Hysterisierung zu erhalten, muss es auf der Gefahrenskala ständig Bewegung geben: Wie oft gab es in den Vereinigten Staaten seit dem 11. 9. den »Code Orange«, zumal kurz vor besonders wichtigen politischen Entscheidungen? Es war zwar nichts passiert, aber der Angstpegel war wieder hochgegangen! Die bisher völlig ungeklärten Anthrax-Anschläge dienten ebenso zur Steigerung des permanenten |162|Gefahrenbewusstseins wie auch alle seither weltweit eingeführten Sicherheitsvorkehrungen mit diffizilen Abtast-Ritualen beim Betreten diverser öffentlicher Gebäude etc. etc.

Und wir in Deutschland? Wohin soll denn der Eurofighter fliegen, der das »Rückgrat der europäischen Luftwaffen für die kommenden dreißig Jahre« werden soll? Er kann, wie IP meldet, »zwanzig Ziele in der Luft gleichzeitig verfolgen und Gegner schon aus 130 km Entfernung bekämpfen«. Wo aber ist der Feind für ihn? Muss er noch gesucht und gefunden werden, um seine Kosten zu rechtfertigen? Er wird sich schon finden lassen … Immer gibt es Feinde, die einem den Gefallen tun, als Feindbild herzuhalten.

Dabei sollten wir doch aus der Vergangenheit gelernt haben und hochsensibel sein für die mögliche Instrumentalisierung von Feindbildern. Ein Rückblick in unsere deutsche Geschichte ist doch auch ein Blick in Abgründe: Hitler wäre kaum zu solcher Machtentfaltung gelangt und hätte die hysterische Zustimmung der Mehrheit des deutschen Volkes nicht bekommen, wenn die Nazis nicht die Feindbilder vom Bolschewismus, von der Weltverschwörung des Judentums, von amerikanischer Finanzoligarchie samt Versailler »Schandvertrag« gebraucht hätten. Dazu kam die Abwertung alles »Nicht-Arischen«, das die Barrieren für dessen Vernichtung oder Versklavung mitten in einem Kulturvolk niedrig machte. Schließlich verbanden sodann gemeinsam verübte – ob unter Befehl oder als Befehlsgeber – Verbrechen in geschürter Angst vor der Rache der Gegner.

Die Strategie besteht stets darin, dem Gegner alles zu unterstellen, was »böse« ist, sich selbst das Gute zuzurechnen bzw. sich selbst auf der Seite der »Guten« zu sehen. Die Kommunisten kannten dieses Muster und spielten auch darauf mit der Lenin’schen Frage: Wer wen? Das ideologisch untermauerte Feindbild vom aggressiven Imperialismus konnte alles rechtfertigen: die GULAGs, die Schauprozesse, die Ermordung Trotzkis, die Zensur, die Einmärsche in die Tschechoslowakei und in Afghanistan. Ein Feind(-Bild) macht eine politische Aktion immer politisch-strategisch stimmig und im Volke zustimmungsfähig. |163|Wer 40 Jahre im kommunistischen System gelebt hat, kennt diese Mechanismen und ist nur etwas verwundert darüber, wie strukturparallel solche Vorgänge offensichtlich selbst heute in demokratischen Gesellschaften ablaufen.

Demokratien, die sich auf die Verwirklichung der Allgemeinen Menschenrechte als eines ständig gefährdeten und zugleich lohnenden Prozesses einlassen, muss aber daran gelegen sein, im Kampf gegen die Feinde ihres Gesellschaftsmodells nicht allmählich die Handlungsprinzipien ihrer Gegner zu übernehmen. Vielmehr müsste »das feine Metier der Diplomatie«, wie Johannes Paul II. das nannte, wirksam werden zusammen mit einer »Volksdiplomatie« – als Versuch der Verständigung der Völker zur Unterstützung internationaler Institutionen, die den mühsamen Weg des Interessenausgleiches zur Existenzsicherung aller (samt allen unvermeidbaren Konflikten) suchen.

Das ist die zu jeder Zeit von allen persönlich und politisch abverlangte zivilisatorische Leistung – es sei denn, man bliebe sich einig in seinen Vor-Urteilen: Die Amerikaner sind arrogant und geschmacklos, die Russen gefährlich und grob, die Muslime tendenziell terroristisch, die Ukrainer mafiös, die Wessis großfressig, die Ossis jammervoll, die Katholiken falsch, die Protestanten freudlos, die Politiker machtgeil, die Parteien opportunistisch, die Unternehmen gewinnsüchtig, die Gewerkschafter betonköpfig. Nur wir selbst sind ganz in Ordnung!

Voraussetzung für den Frieden ist der Abbau von Vorurteilen und Feindbildern, der unermüdliche Versuch, die Ursachen von Feindschaften auszuräumen und gemeinsam mit der Stärke des Rechts gegen die zu stehen, die auf der Klaviatur von Gewalt, destruktiver Stärke, Überlegenheit, Omnipotenz, Potenzphantasien oder religiös-apokalyptischer Zerstörungsszenarien leben. Nur dann kann Frieden wirklich Frieden und nicht der Anfang eines neuen Krieges sein. Kein Sieg-Frieden, sondern fairer Ausgleich. Miteinander leben, einander ertragen, einander leben lassen auf dieser einen wunderbaren so zerrissenen Erde.

Max Frisch sagte in seiner Friedenspreisrede 1976: »Eine friedensfähige Gesellschaft wäre eine Gesellschaft, die ohne |164|Feindbilder auskommt. Es gibt Phasen, wo wir nicht ohne Auseinandersetzung auskommen, nicht ohne Zorn, aber ohne Haß, ohne Feindbild: wenn wir (einfach gesprochen) glücklich sind oder zumindest lebendig … und das durch eine Art des Zusammenlebens von Menschen, die Selbstverwirklichung zuläßt. Freiheit nicht als Faustrecht für den Starken, Freiheit nicht durch Macht über andere. Selbstverwirklichung oder sagen wir: wenn es möglich ist, kreativ zu leben. Noch immer sind wir weit davon entfernt, noch immer hoffen wir und glauben an die Möglichkeit des Friedens. Dies bleibt ein revolutionärer Glaube.«

Kann es eine solche friedensfähige Gesellschaft geben, die ohne Feindbilder auskommt? Es sind besonders innerlich gespaltene Nationen, die dazu neigen, den gefährdeten Zusammenhalt durch Feindbildprojektionen zu überwinden. Grundmuster, typische Merkmale des Feindbildes, sind immer wieder Misstrauen, Schuldzuweisung, negative Antizipation, Identifikation mit dem Bösen, Entindividualisierung und jegliche Empathie-Verweigerung. Hinter allem steht eigene Unsicherheit und Unfähigkeit, Identität positiv zu konstituieren. Wer sich nicht positiv definiert, muss sich negativ konstituieren und nach außen verlagern, was man an sich selber nicht ertragen kann. In der Feindbildproduktion kulminieren Identitäts-, Projektions- und Wahrnehmungsprobleme. Das gilt für Individuen wie für ganze Gesellschaften.

Eine reife Gesellschaft, die auf das mündige Individuum, auf Konsenssuche nach Regeln, auf Selbsterkenntnis und Einfühlung in Fremdinteressen bezogen bleibt, kann ohne Feindbilder existieren. Unser Handeln an der oben genannten Erkenntnis Max Frisch’s auszurichten und an der gemeinschaftlichen positiven Konstitution von Gesellschaft zu arbeiten, muss unser Ziel auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleiben – global, im vereinigten Deutschland und im ganz persönlichen Lebensumkreis.