|15|FREIHEIT ohne Grenzen ist Willkür

Freiheit und Brot

Jedem Einzelnen wird etwas zugetraut – zugetraut, an der Befreiung anderer teilzunehmen: nicht auf bessere Zeiten zu warten, nicht auf die Großen zu warten, nicht mehr endlos darüber nachzudenken, was anders werden müsste, nicht bloß zu appellieren und demonstrieren, sondern selber etwas zu tun, etwas zu riskieren. Der Prophet Jesaja rief dem Volk zu:

»Laß los, die du mit Unrecht gebunden hast, laß ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst. Reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte.« (Jesaja 58, 6–8)

Das Erste, für das wir einzustehen haben, ist die Freiheit: den anderen aus dem Joch lösen. Es folgt sogleich die Gerechtigkeit – genauer gesagt: Dem Befreien folgt das Mahl der Freien. Es gibt keine Freiheit ohne Brot. Die Freiheit, die das Brot nachordnet, ist immer die Freiheit der Habenden. Und umgekehrt gilt auch: Nicht zuerst das Brot, wenn um des Brotes willen die Freiheit verkauft wird. Albert Camus meinte, dass es für uns nur eine einzige Parole geben könne: »In nichts nachgeben, was die Gerechtigkeit betrifft, und auf nichts verzichten, was die Freiheit angeht. Die Freiheit wählen heißt nicht, gegen die Gerechtigkeit wählen. Wenn euch jemand euer Brot entzieht, beraubt ihr euch gleich eurer Freiheit, aber wenn jemand euch eurer Freiheit beraubt, dann wisst, dass euer Brot bedroht ist, denn es hängt nicht mehr von euch und eurem Kampf ab, sondern von der Eigenmächtigkeit irgendeines Herrn. Je weiter die Freiheit an Boden verliert, desto mehr wächst das Elend und umgekehrt. |16|Die Unterdrückten wollen nicht mehr nur von ihrem Hunger befreit sein, sondern auch von ihren Herren.«

Soweit Camus. Freilich: Wer erst einmal wohltemperiert lebt, dem vergehen die radikalen Gedanken. »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«, singt Mäckie Messer in der »Dreigroschenoper«. Aber Wohlstand verführt dazu zu vergessen, woher man kommt, was man hinter sich hat, wofür man und wem man dankbar sein kann. Wo es Menschen zu gut geht, geht es um nichts mehr als um noch mehr. Hohem Blutfettspiegel folgt alsbald Herzverfettung. Und Fettprobleme haben sicherlich viele Deutsche. Daher boomt die Fitnessreligion als Leibesexerzitium.

Nie ist man im Denken träger als nach einem fulminanten Essen. Das hat wohl jeder schon erlebt: Da fließt alles Blut in den Magen und nicht mehr in den Kopf. Wer zu satt ist, verdrängt allzu schnell, wie es zuzeiten von Hunger und Unterdrückung gewesen war. Vergessen wir in Deutschland nie die wiedergewonnene und gefahrenüberwindende Freiheit – ob in Erinnerung an zwölf Schreckensjahre rassistischer (Selbst-)Versklavung oder an vierzig Jahre Welterlösungsdiktatur.

Satte Zeit kann unmerklich tote Zeit werden. Nie ist es langweiliger, als wenn man alles hat und nichts mehr will oder nur noch krampfhaft behalten will, was man hat – unabhängig davon, ob man es braucht.

Aber die fetten Jahre sind vorbei – Anfang des 21. Jahrhunderts ist in Deutschland Satt-Sein nicht mehr für alle selbstverständlich. Viele, zu viele müssen heute Abstriche am Lebensnotwendigen machen. Sie beutelt die pure Existenzangst.

Der Berliner Millionär, Immobilienhändler und Playboy Rolf Eden antwortete in der Berliner Zeitung am 27. August 2004 auf die Frage: »Leiden Sie unter der Steuerlast?« – »Überhaupt nicht, wer clever ist, braucht nur wenig zu zahlen. Da gibt es so viele Abschreibungsmöglichkeiten.« – Auf die Frage: »Haben Sie angesichts der armen Berliner ein schlechtes Gewissen?« »Die anderen müssten eins haben, weil sie mehr arbeiten sollten.« – Und auf die Frage, was das Schönste am Reichsein sei, antwortet er: »Dass man frei ist, total frei.«

|17|Ist Freiheit im Wesentlichen eine Frage des Geldes und gibt es nicht mehr für alle Freiheit und Brot, befindet sich der soziale Rechtsstaat der Bundesrepublik in einer Schieflage.

Freiheit muss Entfaltungsraum für jeden bieten; sonst ist sie nur Freiheit für die, die sie sich leisten können. Jeder will und soll seinen Platz in der Freiheit finden. Er muss ihn aber auch ausfüllen können. Die Freiheit braucht Regeln, damit sie nicht zu Selbstsucht aller oder zur Willkür Einzelner degeneriert. Gerade im Interessenkampf um die Güter des Lebens kommt es darauf an, sich an Regeln zu halten, an Verpflichtungen aller Einzelnen einer Gemeinschaft für das Gemeinwohl.

Unser Grundgesetz formuliert eine solche Regel auf überzeugende Weise. In Artikel 14, erster Absatz heißt es, das Eigentum werde gewährleistet. Damit wird Leistung anerkannt und Entfaltungsraum gelassen. Aber sodann folgt im zweiten Absatz: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Das Wort »zugleich« verdeutlicht den Zusammenhang von Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung, und an diesem »zugleich« muss sich unsere Gesellschaft messen lassen. Wird in der globalisierten Welt die Einheit von Freiheit und Gerechtigkeit nicht gewahrt, werden wir im Terror der Ökonomie untergehen. Dieser global entfesselte Terror wird noch schlimmere Auswirkungen haben als alle Terroristen zusammen, denn er wird noch weniger zu fassen sein, Reichtum und Armut weiter potenzieren und die Gesellschaften noch tiefer spalten.

Die Moral des Marktes

»Die Kaufleute haben unter sich eine allgemeine Regel. Das ist ihr Wahlspruch und die Grundlage aller Geschäfte. Sie sagen: Ich kann meine Ware so teuer verkaufen, wie ich es vermag. Sie halten das für ein Recht. Tatsächlich aber ist damit der Habsucht Raum gegeben, und der Hölle sind alle Türen und Fenster geöffnet.« (Martin Luther)

|18|Heute beherrschen uns nicht mehr die Politiker, es herrscht der globale Finanzmarkt. Durch seine Deregulierung können ganze Volkswirtschaften ruiniert werden, wie sich an dem im Prinzip reichen Land Argentinien sehen ließ. Die global operierenden Konzerne entmachten die lokale Politik. Der Markt reguliert lebenswichtige Austauschbeziehungen zwischen Menschen im unmittelbaren Lebensumkreis, in und zwischen den Staaten und schließlich in der Welt. Den Markt zu dämonisieren wäre aber ebenso falsch, wie ihn einfach zu sanktionieren. »Man kann nicht leugnen, daß Kaufen und Verkaufen ein notwendig Ding ist, das man nicht entbehren und wohl christlich brauchen kann, sonderlich in den Dingen, die zur Notdurft und in Ehren dienen«, schrieb Martin Luther. Wo allerdings die Not der einen den Gewinn der anderen steigert, dort werde unchristlich und unmenschlich gehandelt. Luther meinte, dass ein Greuel folgen müsse, wo als Recht gilt: »Ich mag meine Ware so teuer verkaufen, wie ich kann.«

Die herkömmlichen Marktgesetze kollidieren mit dem christlichen Menschenbild, weil sie auf dem Recht des Stärkeren und des Größeren aufbauen, also auf der Verdrängung des Erfolglosen und Schwächeren, auf der Durchsetzungsbereitschaft und -fähigkeit aller Beteiligten, auf dem materiellen Anreiz, verbunden mit (Verfügungs-)Macht und Kampf um Standortvorteile, Territorien und Ressourcen, sowohl für Einzelpersonen wie für Personengruppen und ganze Nationen. Der Markt fordert und schafft eine Durchsetzungskultur und einen Menschentyp, der bereit und fähig ist, sich durchzusetzen. Der Markt weckt und stärkt das Eigeninteresse und verleitet den Gewinner dazu, Macht über Unterlegene auszuüben, sowohl individuell als auch kollektiv, und zu expandieren. Dass Menschen, die sich auf dem Markt zu behaupten wissen, dennoch auch aus Verantwortung gegenüber anderen denken und altruistisch handeln, ist nicht zu bestreiten. Es ist aber nicht den Marktprinzipien selbst immanent, sondern wirkt im ökonomischen Denkschema sogar eher kontraproduktiv. Denn die Moral des reinen Marktes ist einfach. Sie lautet: Gewinn und Effizienz.

|19|Sofern der Markt nicht völlig ungehemmt regiert, ist wirtschaftliches Gedeihen – also ökonomischer Erfolg von Einzelnen, von Firmen, von Ländern – an und für sich moralisch nicht negativ zu bewerten. Die wachstumsorientierte Wirtschaftsweise in der Industriegesellschaft hat ja unbestreitbare Erfolge erzielt und einen in der Menschheitsgeschichte bis dahin unvorstellbaren allgemeinen Wohlstand gebracht. Dieser Erfolgsweg lässt sich jedoch nicht fortsetzen. Der Datenreport 2006 des Statistischen Bundesamtes enthielt eine gute und eine schlechte Nachricht: Der Anteil der Deutschen, die in Armut leben, ist von 13,7 Prozent im Jahr 2003 auf 13,2 Prozent im Jahr 2005 gefallen. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung aber hat zugenommen: Während die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung über nicht einmal 10 Prozent der Einkommen verfügten, erhielten die reichsten 20 Prozent der Bürger 35,9 Prozent aller Einkommen. Mit anderen Worten: In Deutschland wird die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer und breiter.

Das also ist das Ergebnis der sogenannten »neuen sozialen Marktwirtschaft«.

Erinnert sich noch jemand, wozu soziale Marktwirtschaft eigentlich erdacht worden ist? Ihr Ziel war die Vereinbarkeit der größtmöglichen Freiheit mit den Prinzipien der Gerechtigkeit. Der Staat behielt sich als Sozialstaat das Recht vor, gegebenenfalls umverteilend in das Wirtschaftsleben einzugreifen, um so soziale Gerechtigkeit und Gleichheit der Bürger zu gewährleisten. Die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sollte gesichert und die Bürger sollten vor Notlagen bewahrt bzw. ihnen sollte im Fall der Not Hilfe angeboten werden. Die soziale Marktwirtschaft schien das System zu sein, das am ehesten die Gesetze des freien Marktes und Gemeinwohl ökonomisch-sozial und ordnungs-politisch versöhnen konnte. Den Markt an die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu binden, das war, ist und bleibt eine wichtige Idee, ja eine überlebensnotwendige Aufgabe. Nicht umsonst genießt das Sozialstaatsprinzip neben der Menschenwürde und den Menschenrechten den Schutz durch die Ewigkeitsklausel (Art. 79, Abs. 3) unseres Grundgesetzes. |20|Doch nur solange starke Interessengruppen sich für eine Bändigung des total freien Marktes einsetzen und die Wirtschaft prosperiert, lassen sich die Markt-Mächtigen auf die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit ein. Im härter gewordenen Kampf um die Marktanteile in der globalisierten Wirtschaftswelt wird der soziale Ballast als Erstes über Bord geworfen.

Wir nähern uns immer mehr dem totalen Markt. Dessen Gesetze sind Darwin’sche Gesetze, sind Machtgesetze, sind Verdrängungsgesetze. Das Gesunde überlebt, das Schwache wird vom Stärkeren verdrängt und verschwindet. Besser und stärker sein heißt, effizienter zu sein. Die Mitte allen Denkens und Handelns ist das Börsenwohl, d. h. das Wohl der Aktionäre. Alles, was dem Markt dient und die Marktchancen verbessert, gilt als gut. »Rechnet es sich?« Das ist heute die alles entscheidende Frage. Was sich nicht rechnen lässt, ist nichts. Nicht, ob etwas gewollt ist – »schön und gut« –, ist entscheidend, sondern ob das Geld dafür da ist, wer es hat, wer es erarbeitet, wer darüber so verfügt, dass er es »locker machen« kann. Gewinner werden geliebt und hofiert; Verlierer werden bedauert und bald vergessen. Jeder will Erfolg haben, jeder auf seine Weise vor sich und vor anderen bestehen können. Das einzige Gemeinschaft stiftende Band zwischen den Menschen ist »das nackte Interesse«, »die gefühllose bare Zahlung«. So hat es Marx schon 1848 im Kommunistischen Manifest formuliert.

Wir erleben seit Jahren die ständige Effizienzsteigerung der Wirtschaft. Durch Modernisierung wird mehr und mehr lebendige Arbeit erübrigt, und Menschen werden massenhaft »freigesetzt«. Oder Produktion wird ausgelagert in »Billiglohnländer«. Hemmungslos geworden ist der ungebändigte Kapitalismus. Die alleinige Orientierung am Profit hat eine Kluft entstehen lassen zwischen denjenigen, die (noch) für den Arbeitsmarkt verwertbare Leistungen erbringen können, und denjenigen, die aus ökonomischer Sicht nicht mehr verwertbar erscheinen und aussortiert werden. Die menschliche Arbeitskraft ist zu teuer und schwerer abzuschreiben als Maschinen – also wird der Arbeiter abgeschrieben, bevor er überhaupt eingestellt wird.

|21|Es gibt verräterische Unworte, die den Menschen in seinem Menschsein beschädigen, ihn ins Mark treffen. Sie sind eindeutige Zeichen dafür, dass etwas nicht mehr stimmt im Verhältnis von Moral, menschlicher Würde und Markt. Die »Freisetzer« sind Arbeitgeber, die Arbeitnehmer »Freigesetzte«. Wohin oder wofür wird ein Mensch frei-gesetzt? Ausgesetzt, zum Bittsteller gemacht, der sich abstrampelt, damit er wieder marktfähig wird und wieder eingesetzt werden kann!

Die lange erkämpften Sozialstandards werden ausgehebelt. Die Suppenküche, die durch den Ausbau staatlicher Praktiken sozialer Unterstützung einmal Geschichte gewesen ist, hat in der Bundesrepublik wieder Hochkonjunktur.

Moderne Almosen: Hartz IV

Der bisherige deutsche Sozialstaat ist an die Massenerwerbsarbeit und den sogenannten Generationenvertrag gebunden. Das funktioniert immer weniger, weil hauptsächlich Geld »arbeitet« und dies global, wobei die Großaktionäre sich der sozialen Verantwortung für das Gemeinwesen weitgehend entziehen.

Arbeitslosigkeit, geringer Wirtschaftsaufschwung und Überalterung treffen aufeinander. Der Generationenvertrag ist wegen der demographischen Schieflage immer weniger einlösbar. Wenn der Sozialstaat alter Prägung nicht mehr finanzierbar ist, ist uns aber gleichzeitig »die System-Frage« gestellt. Wenn in den Zeiten des schon lange beklagten »Raubtierkapitalismus« das in unserem Grundgesetz verankerte Staatsziel des sozialen Bundesstaates Deutschland immer weniger erfüllt werden kann, beschädigt das den Kern unserer Demokratie. Unsere Gesellschaft droht zu zerbrechen, wenn ihre Reichtumsproduktion das Gefälle zwischen Arm und Reich weiter wachsen lässt. Freiheit und sozialer Ausgleich gehören in der Demokratie zusammen – soweit die Theorie im Grundgesetz. In der Praxis aber entscheiden normalerweise Bessergestellte über Schlechtergestellte, und zwar in der Regel zu Lasten der Schlechtergestellten. Oder die |22|Einfluss-Reichen drohen, dass sie ins Ausland abwandern, sobald ihre Interessen nicht ausreichend bedient werden. Mit ihrem Kapital sowieso, aber auch mit ihren Investitionen. Und solange man mit dem Abspecken nicht bei den »Fetten«, sondern bei den »Mageren« beginnt, wird es einen Wut-Stau geben. Wer in einem sozialen Bundesstaat lebt, hat die Pflicht, sich entsprechend seiner Leistungsfähigkeit an den Aufgaben der Gemeinschaft zu beteiligen. Also muss man von jenen entsprechende Abgaben zur Finanzierung des Sozialstaates fordern, die in relativ gesicherten Positionen leben, statt die Ärmeren und Arbeitslosen immer weiter einseitig zu belasten. Sonst wird der soziale Frieden in Deutschland nachhaltig gefährdet sein. Vielleicht werfen Sie jetzt ein: »Aber die Reicheren werden doch schon durch die Steuern viel stärker belastet als diejenigen, die weniger verdienen!« Natürlich, in Deutschland folgt die Einkommenssteuer dem Modell der Steuerprogression. Höhere Einkommen werden mit einem höheren Steuersatz belegt. Aber es gibt etliche Faktoren, die die Steuerprogression überlagern: der proportional sinkende Aufwand für die Sozialversicherung, die Senkung der Steuern für Kapitalgesellschaften, die Abschaffung der Vermögenssteuer. Dazu kommt, dass die Möglichkeiten, das zu versteuernde Einkommen zu reduzieren, umso größer werden, je höher dieses ist. Lesen Sie es nach in den Armuts- und Sozialberichten von Bund und Ländern! Der Landessozialbericht 2004 von Nordrhein-Westfalen kam z. B. zu dem Schluss, dass eben nicht die stärksten Schultern am meisten tragen, wie uns oft beteuert wird.

Erst durch den Ausgleich sozialer Gegensätze ist die Schaffung einer gerechten Sozialordnung möglich. Wir müssen also erneut über eine Umverteilung des Reichtums zwischen Begüterten und Bedürftigen nachdenken, wenn wir nicht zulassen wollen, dass Arme arm bleiben und Reiche immer reicher werden.

Wer nach sieben Jahren rot-grüner Steuerpolitik mit der Umverteilung des Reichtums von unten nach oben im Jahr 2005 darauf gehofft hatte, wenigstens eine Große Koalition wäre in der |23|Lage, einseitigen Interessen der Wirtschaftslobby entgegenzutreten und unpopuläre Maßnahmen gegenüber Vermögenden gemeinsam zu verantworten und durchzusetzen, der muss heute ernüchtert sein. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge beurteilte in einem Interview in der Berliner Zeitung vom 31. Juli 2006 die bisherige Arbeit der CDU/SPD-Regierung so: »Die Politik der Großen Koalition vertieft die gesellschaftliche Spaltung – beispielsweise durch Rentenkürzungen, den Ausbau eines Niedriglohnsektors, die Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie das Senken der Unternehmens- und Erbschaftssteuern gerade für die Reichsten im Land. Daneben stehen die Hartz-Gesetze für eine Abkehr vom Sozialversicherungsstaat und eine Hinwendung zum Almosen- und Suppenküchenstaat. Ich sehe sie weniger als arbeitsmarktpolitisches, sondern eher als ein gesellschaftspolitisches Projekt. Hartz IV ist darauf gerichtet, Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein normal werden zu lassen. Gleichzeitig wächst der Reichtum jeden Tag.«

Arbeitsmarktstimulierende Maßnahmen wie Hartz IV bei gleichzeitiger Steuerentlastung für die Großbetriebe bringen nicht mehr Arbeit, aber weniger Geld in die Staatskasse. Wirtschaftspolitik heißt heute unter den Zeichen der Liberalisierung vornehmlich: Entgrenzen, Entbürokratisieren, Entstaatlichen. Der Mainstream desavouiert den Staat nach wie vor als Akteur im Wirtschaftsleben; »dem Staat« wird verfehlte Planwirtschaft, Bürokratie, Korruption, Insuffizienz und Marktverzerrung vorgeworfen; Deregulierung und Flexibilisierung gelten als Zauberworte. Die Starken (oder Guido-Halbstarken) haben sich im öffentlichen Diskurs durchgesetzt. Sie brauchen den Staat natürlich weniger als die Schwachen. Ich stimme ihnen zu: Leistungsfähigkeit und Leistungswille müssen honoriert werden. Und ich halte ihnen entgegen: Leistungsanreiz und Leistungsverteilung sind zwei Seiten einer Medaille. Ein Staat ist auch für die Verteilungsregeln zuständig: Stärkere Schultern können mehr tragen als schwache. Bei unverschuldeter Armut oder Unfähigkeit, für sich zu sorgen, muss die Solidargemeinschaft helfen.

|24|Die Regierenden drohen die Kompetenz zur Regelung sozialer Missstände zu verlieren. Die Freiheit, unverschämt zu verdienen, wird größer. Weniger Staat heißt auch: immer mehr Macht für die, die das Geld haben und mit dem Geld Einfluss auf alle Gesellschaftsbereiche bekommen. Diese Einflussnahme wird nicht mehr demokratisch kontrolliert, sondern ist einzig eine Frage der ökonomischen Potenz.

Die »neue soziale Marktwirtschaft« kann als Feigenblatt des Neoliberalismus dienen. Eine sozialdemokratische oder eine christliche Partei, die »nötige Abstriche« nur bei den Ärmeren verlangt und nicht in angemessener, also proportionaler Weise die Reicheren nötigt, ihren Anteil zum Funktionieren des Gemeinwesens beizutragen, fährt sich selbst in die Sackgasse und wird ihrer gesellschaftlichen Funktion, politischer Anwalt der Schwächeren zu sein, nicht mehr gerecht. Das haben die Leute verstanden und bei den letzten Bundestagswahlen 2002 und 2005 den großen Parteien eine Absage erteilt. Die Lehre aus schlechten Umfragewerten zog im Sommer 2006 offenbar der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Er warnte seine Partei, die CDU, nicht als eine kapitalistische Partei zu erscheinen, und mahnte in deutlichen Worten, sich von »ökonomischen Lebenslügen« zu verabschieden, wie der, dass Steuersenkungen zu mehr Arbeitsplätzen führen würden. Doch das war nur eine einzelne Stimme und führte (natürlich) nicht zur Änderung der offiziellen Parteipolitik. Warum traut sich niemand, die Stärkeren nach ihren jeweiligen Möglichkeiten »zur Kasse zu bitten«, statt die Schwächeren einseitig zu belasten? Wäre es nicht ein Symbol und Signal, wenn alle Gehälter von Personen, die im öffentlichen Raum mehr als 3500 € Brutto verdienen, um 10 Prozent gekürzt würden und alle Gehälter über 10 000 € um 25 Prozent?

Wie krank ist eine Gesellschaft, in der ein Manager eines »feindlich übernommenen Konzerns« 770 000 € wegen Lebensstandardsicherung aufgrund seiner jungen Frau erfolgreich einklagen kann?! Was muss eigentlich jemand leisten, wenn er 300 000 € oder gar 7,8 Millionen € Jahresgehalt bekommt? Wie klein, wie leistungsschwach oder wie unfähig muss sich angesichts |25|solcher Zahlen ein normaler Mensch vorkommen, der täglich mit ganzem Einsatz seine Arbeit tut?

Es ist in Deutschland längst eine nicht mehr hinnehmbare Gerechtigkeitslücke entstanden. Und den meisten Politikern fällt nichts anderes ein, als fortlaufend zu beschwichtigen bzw. die Arbeitslosen zu diffamieren. Die Regierenden gaben lange vor, die Kritik an den Hartz-IV-Maßnahmen gehe vor allem auf ein Vermittlungsproblem zurück. Man müsse den Menschen die Sache »besser erklären« und das Prinzip Fördern und Fordern konsequenter umsetzen. Wenn es aber tatsächlich ein Problem der Vermittlung gibt, dann hat es einen anderen Kontext: Viele Politiker haben offensichtlich keine Ahnung mehr, wie es ihren Wählern ergeht. Sich in die Betroffenen von Hartz IV hineinzuversetzen, gelänge ihnen vielleicht erst dann, wenn auch ein entlassener Minister nach einem Jahr Arbeitslosigkeit mit 345 € auskommen müsste. Man könnte ja dann auch ihn damit »beruhigen«, dass er noch Wohn- und Heizungskostenzulage bekommt – natürlich nur, wenn seine Familie nicht in der Lage wäre, ihn mitzuversorgen.

Liebe Politiker, eine Frage: Geht es euch eigentlich persönlich etwas an, was ihr da entscheidet? In euren Gesichtern zumindest ist nicht ein Deut Mitgefühl zu erkennen mit denen, die fürchten müssen, in existenzielle Armut zu kommen und entwürdigt leben zu müssen. Stattdessen begegnet uns allzu oft eine maßlos menschenverachtende Arroganz im Umgang mit der Problematik. Welche Sprache war das, die im August 2005 in der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit herausgegebenen Broschüre »Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat« bemüht wurde? Dort wurde – ohne konkrete Belege heranzuziehen – der Eindruck erweckt, dass ein großer Teil der Arbeitslosengeld-II-Empfänger die Unterstützung nicht rechtmäßig erlange. Es wurde Stimmung gemacht gegen »Schmarotzer«, »Trittbrettfahrer« und »Parasiten« des Sozialstaats. Solche Worte waren harte Schläge ins Gesicht aller Arbeitslosen, und sie signalisierten, dass zu den bestehenden Rissen in unserer Solidargemeinschaft |26|ein neuer Graben zwischen den »Anständigen« und den »Abzockern« kommen sollte.

Wenn die Regierenden ihre Bürger zu diffamieren beginnen, um von der eigenen Hilflosigkeit abzulenken, beschädigt das vor allem die Regierungsparteien und unser demokratisches System selbst. Die Wahlbeteiligungen und -ergebnisse zeigen seit Jahren, dass die bisherigen Volksparteien dabei sind, ihr Image zu verlieren, vor allem aber ihre Substanz. Die Politiker sollten wissen, dass durch eine inhaltlich bessere Vermittlung von Absichten und Vorteilen der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Die Verantwortlichen müssten auch Antworten geben auf die Frage, die Jürgen Rüttgers aufgeworfen hat: Soll nicht jemand, der längere Zeit Arbeitslosengeld eingezahlt hat, auch mehr bekommen als der, der nur kurz eingezahlt hat? Wie lässt sich so etwas praktisch gerecht regeln, zumal wenn derjenige, der noch nicht länger eingezahlt hat, einfach nur das Pech hatte, nicht länger einzahlen zu können?

Werden durch die Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf 12 bis 18 Monate besonders diejenigen betroffen sein, die sparsam gelebt und gespart hatten, und diejenigen belohnt, die alles Geld ausgegeben haben?

Die entscheidende Frage ist aber: Ist Hartz IV die einzige und die einzig richtige Antwort auf die Unbezahlbarkeit von hoher Arbeitslosigkeit? Hatte nicht vielleicht Oskar Lafontaine Recht, wenn er den Keynesianismus unter heutigen Bedingungen weiterführen und so eine stärkere Nachfrage schaffen wollte – statt eine bloß angebotsorientierte Politik? Staatlich initiierte Konjunkturprogramme hätten zwar zunächst die Staatsverschuldung noch weiter erhöht, aber den Wirtschaftsaufschwung wahrscheinlicher gemacht. Die meisten Politiker haben nach schnellen Lösungen für die Probleme gesucht, und mit Hartz IV wurde eine Antwort gefunden, die den Sozialstaat durch ein Suppenküchen-Prinzip ersetzt hat.

Staatliche Unterstützung ist heute wieder ein Almosen, das die Bessergestellten geben, um weiterhin ihren Reichtum genießen zu können.

|27|Natürlich: Die Freigesetzten des Marktes sind tatsächlich auf die staatliche und karitative Notversorgung angewiesen. Die Solidarität der Bessergestellten mit den Schlechtergestellten ist gefragt. Sie müssen zeigen, dass sie bereit sind, ihren Beitrag zu leisten, statt den anderen nur zu sagen, dass »der Sozialstaat erschöpft« sei und jeder mehr Eigenverantwortung übernehmen müsse. Die Leistungsfähigeren können ja durchaus »besser gestellt« sein und Vermögensunterschiede toleriert und rechtlich abgesichert bleiben. Verantwortung ist aber immer auch Mit-Verantwortung. Die Forderung nach einer Solidargemeinschaft zielt ja nicht auf die totale Egalität aller Deutschen, vielmehr auf eine Balance der Interessen und die Verringerung der sozialen Unterschiede.

Der soziale Frieden ist ein hohes Gut, das es zu bewahren gilt. Relatives Wohlbefinden nützt allen. Luther schrieb 1542 an die Grafen von Mansfeld, es sei besser, reiche Untertanen zu haben, als selbst reich zu sein. »Denn selbst reich ist bald vertan; reiche Untertanen können allezeit helfen.« Er spielte auf die segensreiche Wirkung eines Volkswohlstandes an, statt eines immer weiteren Auseinanderfallens zwischen Armen und Reichen. Nicht zuletzt helfen die Arbeitslosen als Almosenempfänger den Reicheren dabei, ihr schlechtes Gewissen zu entlasten. Dazu war die Almosenpraxis ja schon im Mittelalter gut!

Der Arm-Reich-Gegensatz verschärft sich jedoch weiter, wenn der Staat nur noch den Rechtsanspruch auf Existenzsicherung garantiert, aber Wohlstandssicherung für alle obsolet wird. Die Suppenküchen-Politik marginalisiert die Bezieher von »Transferleistungen« weiter. Durch bloßes Management des Elends rührt niemand an den Kern des Problems. Es ist also eine grundlegende Frage, ob man an dem mit Hartz IV eingeschlagenen Weg festhält – und die staatlichen Leistungen immer weiter zurückfährt – oder zu anderen gesetzlichen Regelungen kommt, die soziale Marktwirtschaft als ein globales Projekt versteht und daraus Politik mit Langzeitperspektive entwickelt.

Meiner Meinung nach stünde die Einleitung eines Epochenwechsels an, wie ihn der Soziologe Oskar Negt in seinem Buch |28|»Arbeit und menschliche Würde« eindrücklich dargelegt hat. Arbeitslosigkeit muss langfristig als tiefgreifendes gesellschaftliches Problem begriffen werden, das viel mehr Dimensionen hat, als sich in den Kosten-Nutzen-Rechnungen erfassen lässt, die in der politischen und medialen Debatte dominieren. Oskar Negt beschreibt die Arbeitslosigkeit als Gewaltakt, der dem Menschen seine Würde nimmt. Ob das stimmt, kann jeder leicht an sich selbst überprüfen: Stellen Sie sich zuerst vor, wie vergiftet die Atmosphäre in den Betrieben sein kann, wenn klar wird, dass in der nächsten Zeit einige Angestellte oder Arbeiter »freigesetzt« werden müssen. Füllen Sie dann einmal diesen demütigenden 16-seitigen Fragebogen für sich aus – in der Hoffnung, als Almosenbittsteller nicht abgewiesen zu werden. Und versuchen Sie zu guter Letzt, einen Monat lang mit 350 € zu leben. Könnten Sie verreisen? Wohl kaum. Könnten Sie überhaupt Ihre sozialen Kontakte aufrechterhalten? Wie oft könnten Sie es sich leisten, eine Gaststätte oder eine Kulturveranstaltung zu besuchen? Oder einfach mit den Kindern ins Kino zu gehen? Was tun, wenn die Waschmaschine repariert werden muss oder das Fahrrad? Brauchen Sie gar einen Zahnersatz? Kurz: Wie frei und menschenwürdig lässt sich ein Leben führen, dessen Bedingungen von Hartz IV diktiert werden?

Die persönliche und existenzielle Erfahrung des Abrutschens in die – unverschuldete! – Armut ist eine ernste Angelegenheit, die sich zu einem kollektiven psychologischen Problem der Deutschen auszuwachsen droht. Psychotherapeutische Lösungsversuche (mit Erklärungen, Tröstungen und Beschwichtigungen) reichen wahrlich nicht aus. Angegangen werden muss zugleich das sich dramatisch zuspitzende Problem bedarfsgerechter Verteilung des in einer Gesellschaft erarbeiteten (oder zugefallenen) Reichtums. Auch sollten wir uns über die Grundfragen unseres Staatsaufbaus und seiner Legitimationsbasis und heutige Aufgaben des Staates in Bezug auf Wirtschaft und Soziales verständigen. Auf welchem Weg ist unser Sozialstaat, wenn schon heute Arbeitslosen die Bezüge immer weiter gekürzt, Langzeitarbeitslosen ja sogar sämtliche Leistungen – inklusive Wohngeld |29|– gestrichen werden können? Schlimm ist, dass in unserer Gesellschaft offenbar die Meinung vorherrscht, solche Maßnahmen seien Akte sozialer Gerechtigkeit. Es stehe ja sogar in der Bibel: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen«. Natürlich, aber dieser Satz galt in einer Klassengesellschaft, in der die einen sich von der Arbeit der anderen nährten und die Arbeitenden gleichzeitig darbten. Die Forderung »Jeder soll an der Beschaffung der äußeren Lebensmittel mitwirken« müsste heute heißen: »Jeder soll an der Beschaffung der äußeren Lebensmittel mitwirken dürfen«. Trotzdem werden uns Langzeitarbeitslose in den Medien vor allem als Arbeits- und Leistungsverweigerer vorgeführt. Und wir scheinen uns langsam mit dem neuen unsozialen Denken zu arrangieren. Auf die Frage: »Ist es nicht gerecht, dem die Bezüge zu streichen, der nicht arbeiten will?«, würden sicherlich viele Deutsche mit »Ja« antworten und dies sogar ganz selbstverständlich finden. Das sagt schon sehr viel darüber aus, wie der Mainstream »soziale Gerechtigkeit« buchstabiert – als Tauschlogik: »Leistungen nur bei Gegenleistungen«. Ein solches Verständnis ist für Christoph Butterwegge »mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes unvereinbar. In den Artikeln 20 und 28 unserer Verfassung steht ja nicht: ›Die Bundesrepublik muss sozial sein, wenn ihr dies der Hilfebedürftige dankt.‹ Vielmehr wird der Staat ohne jede Bedingung zur Unterstützung von Bedürftigen verpflichtet. Leider ersetzt man die Bedarfsgerechtigkeit immer mehr durch Leistungsgerechtigkeit.«

Sozialpolitische Entscheidungen werden immer mehr unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Effizienz und der Standortfrage getroffen. Somit wird Sozialpolitik letztlich soziale Ungleichheiten fördern, statt sie auszugleichen. Es geht also in den aktuellen Debatten über Reformen nicht bloß um Detailfragen zu Hartz IV, es geht ganz substanziell um den Grundansatz von Politik und um deren Verhältnis zur Wirtschaft. Soll der Staat weiter zugunsten der Freiheit des Marktes zurückgedrängt werden? Oder sollte der Markt stärker politisch reguliert werden? Glauben wir tatsächlich, der Markt würde alles |30|regeln, wenn man ihn nur ließe? Ist es nicht eher so, dass der Markt und seine »Führer« nichts anderes als herrschen wollen und gewinnen, wenn man sie nicht in das Gemeinwesen integriert?

Luther interessierte sich schon 300 Jahre vor Karl Marx für die (Wolfs-)Gesetze des Marktes, die keinen sozialen Kriterien folgen. Er fragte sich, wie sich der Preis einer Ware redlich bestimmen lässt und welche Aufgabe der Obrigkeit in diesem Zusammenhang zukommt: »Ja, wie teuer darf ich denn verkaufen«, fragst du vielleicht. Wie treffe ich Recht und Billigkeit, damit ich meinen Nächsten nicht übervorteile und betrüge? Die Antwort: Das wird mit keiner Schrift und mit keiner Rede je geordnet werden. Es hat auch noch niemand unternommen, den Preis einer jeden Ware festzulegen, zu steigern oder zu senken, und das aus dem Grunde, dass nicht alle Waren gleich sind. Die eine holt man von weiter her als die andere, eine verursacht höhere Kosten als die andere, so dass hier alles ohne Festlegung ist und auch bleiben muss, man ebenso wenig etwas Allgemein-Verbindliches festlegen kann, wie man einen einzigen festen Ort bestimmen kann, woher man alle Waren holt oder feste Kosten, die auszugeben wären. Denn es kann geschehen, dass ein und dieselbe Ware aus ein und derselben Stadt auf ein und derselben Straße eingeführt in diesem Jahre mehr kostet als in einem Jahre, weil vielleicht der Weg und das Wetter schlechter sind oder sonst ein Umstand eintritt, der zu größeren Unkosten zwingt als zu einer anderen Zeit. Nun ist es aber recht und billig, dass ein Kaufmann an seiner Ware so viel verdient, dass seine Unkosten bezahlt sowie Mühe, Arbeit und sein Risiko belohnt werden. Ein Ackerknecht braucht doch auch Nahrung und Lohn für seine Arbeit. Wer kann umsonst dienen oder arbeiten? Das Evangelium sagt: ›Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.‹ Um aber nicht ganz dazu zu schweigen, es wäre der beste und sicherste Weg, wenn die weltliche Obrigkeit hierfür vernünftige, redliche Leute einsetzte und sie beauftragte, die verschiedenen Waren mit ihren Kosten zu überschlagen und danach Maßstäbe aufzustellen dafür, wie teuer sie sein sollten, damit der Kaufmann zurechtkommen kann |31|und sein geziemendes Auskommen davon hat, wie man an einigen Orten Wein, Fisch, Brot und dergleichen preislich festgesetzt hat.«

Es bedarf also – nach Luther – politisch gesetzter Maßstäbe, die das Lebensrecht aller am Arbeitsprozess Beteiligten angemessen berücksichtigen. Der Markt hat sich mit seinen Gesetzen in das zivilisatorische Projekt der Demokratie, des Volkswohlstandes, der Menschenrechte einzufügen. Die Wirtschaft muss für den Menschen, nicht bloß für die Profiteure und deren Profite da sein! Es gilt also in Deutschland, den Primat von Politik gegenüber der Dominanz der Ökonomie zurückzugewinnen und Freiheit wieder an Gerechtigkeit zu binden.

Die Parteien und Regierenden täten gut daran, die zunehmende Unfähigkeit des Staates, auf ökonomische Prozesse Einfluss zu nehmen, nicht zu verschleiern. Man muss darauf hinweisen, welche Folgen die ungesteuerte Globalisierung und die Entfesselung der Märkte hat – nämlich höhere Produktivität, weniger Bedarf an lebendiger Arbeit und Raubbau an der Natur. Nur aus der Offenlegung und Kenntnis der »schwierigen Wahrheit« kann ein breites politisches Bewusstsein dafür erwachen, welche Politik man im nationalen und internationalen Rahmen anzustreben gedenkt. Denn Hartz IV war sicherlich nicht das Ende, wahrscheinlich eher der Anfang sozialer Einschnitte.

Wiewohl gewiss keine Experten, werden wir uns fernerhin um »sozialverträgliche« Rahmenbedingungen kümmern und mit Konzepten, die auf wirtschaftliche Effizienz setzen, beschäftigen müssen. Wir dürfen »die da oben«, wo immer »oben« sei, nicht allein agieren lassen. Uns zuliebe. Ein erster Schritt wäre, angesichts der sogenannten Reformen nicht zu resignieren. Akzeptieren wir also nicht leise maulend, was sie uns abverlangen, sondern artikulieren wir unsere Vorstellungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ausdauernd und laut!

|32|Nicht resignieren – protestieren!

Am 4. September 1989 waren 1200 Menschen nach einem der traditionellen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche auf die Straße gegangen und hatten für Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit demonstriert. Immer mehr taten es ihnen dann Woche für Woche nach, bis schließlich Hunderttausende in vielen ostdeutschen Städten mit dem Ruf »Wir sind das Volk« gegen die politischen Verhältnisse protestierten. Die Montagsdemonstrationen waren Anstoß des einzigartigen Prozesses der friedlichen Revolution und zeugen von der Veränderung, die möglich ist, wenn viele ihren Stimmen öffentlich Gehör verschaffen.

2004 gingen wieder viele Menschen auf die Straße. Die Demonstranten belebten die Parole »Wir sind das Volk« neu und stellten sich mit ihren Protesten gegen Hartz IV in die Tradition der Montagsdemonstrationen. 15 Jahre zuvor hatten die Menschen die Systemfrage in einer Diktatur aufgeworfen – nun ging es bei den Montagsdemonstrationen um Systemfragen in einer Demokratie, in der das Gleichgewicht von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verlorengegangen ist.

Hatte man 1989 für nötige Reformen demonstriert und »denen da oben« keine Reglungskompetenz und keinen Regelungswillen unterstellt – so richteten sich die Proteste jetzt gegen Reformen, die das Gemeinwesen in eine gefährliche Schieflage zu bringen drohen. Länger aufgestaute Enttäuschung fand in Hartz IV nun ein Ventil. Im Westen lösten die Proteste wiederum länger aufgestaute Wut über die »versickerten Hilfen« für den Osten aus: Die Ostdeutschen seien nicht nur undankbar, sondern stellten nun auch noch das demokratische System durch erneute Montagsdemonstrationen infrage.

Angesichts des bürgerlichen Aufbegehrens fragte der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement in der Leipziger Volkszeitung vom 6. August 2004 erzürnt: »Wo leben wir eigentlich?« Ziviler Ungehorsam gegen die Arbeitsmarktreform sei völlig fehl am Platze. Also bitte: Setzen, die Reformen schlucken und dann den Mund halten!

|33|Den Bezug auf die Proteste der DDR-Bürger 1989 kritisierte er scharf: »Schon der Vergleich ist eine Zumutung, eine Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen und der Zivilcourage, die viele Ostdeutsche damals gezeigt haben.« Das sahen freilich viele der damals Beteiligten ganz anders. Christian Führer z. B., Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche und Begründer der Friedensgebete 1982, erklärte: »Es kann nicht nach dem Motto gehen: ›Wir begrüßen, dass Ihr gegen die Kommunisten auf die Straße gegangen seid, aber jetzt habt Ihr die Klappe zu halten‹. So geht das echt nicht.« (Süddeutsche Zeitung, 9. August 2004) Er sagte auch, dass der zweite Teil der friedlichen Revolution von 1989 noch ausstehe. Das war freilich kein Aufruf zum Sturz der demokratischen Regierung, das war vielmehr die eindringliche Erinnerung daran, dass Freiheit und Gerechtigkeit zusammengehören.

Auch heute müssen wir uns immer wieder vor Augen halten: Ein Land, das nicht sozial und demokratisch ist, wird kein menschliches Land sein können. Soziale und bürgerliche Rechte sind gleichrangig. Gerechtigkeit ohne Freiheit ist so unmenschlich wie eine Freiheit von Starken und Reichen auf Kosten von Armen und Schwachen. Mit dieser Mahnung müssen wir die Öffentlichkeit konfrontieren und die politische Meinungsbildung beeinflussen, und zwar nicht erst dann, wenn der Überdruck sehr groß geworden ist und wir selbst existenziell betroffen sind. Zu viele Leute kommen erst dann aus ihrer Vereinzelung, wenn es »so weit ist«, wenn die Probleme sie persönlich erreicht haben und es oft schon zu spät ist für eine Korrektur. Dann beklagen sie sich zwar laut-stark – aber die Gefahr ist groß, dass die politische Meinungsäußerung der Vielen auf ein Dampfablassen hinausläuft – ohne jedes Nach- und Weiterdenken. Solches Desinteresse an konkreten Problemlösungen entwertet berechtigte politische Proteste. Vielleicht verlegt sich die Menge auch auf dumpfe Gewalt, oder sie verfällt diversen Rattenfängern. Diese kommen heute wieder nationalistisch-sozialistisch daher. Während der Hartz-IV-Proteste versuchten sich z. B. Neonazis in die Demonstrationen einzureihen und sie für ihre Belange zu |34|instrumentalisieren. Ich verstehe und teile weithin die Besorgnis, die Wut und die Angst vieler Menschen, die ihre Hilflosigkeit gern auf die Straße bringen und so ihre Ohnmacht in verändernde Aktion münden lassen wollen. Aber nie wieder lasse sich ein Enttäuschter oder Wütender vor den Karren hirnloser Brüller spannen! Die werden immer vorgeben, es besser zu wissen, es besser zu können und besser zu sein als »die da oben«, ohne Wege zur Umsetzung ihrer Forderungen zu suchen.

Die Kirchen können sich bei den Protesten verdient machen: Sie können in ihren Gemeinden den Betroffenen Netzwerke und organisatorische Unterstützung bieten, sie können sich direkt vor Ort einmischen und vor allem den Wert der Menschlichkeit gegen die bloß ökonomische Ver-Wertbarkeit menschlicher Arbeitskraft setzen. Einige Gemeinden laden zu Gebeten für die soziale Gerechtigkeit ein und halten das schon über Jahre durch – wie einst die Friedensgebete. Gebete, die auf akute politische Problemlagen zu reagieren versuchen, müssen Reflexion, Diskussion und Information mit Meditation und Fürbitte (als Entlastung, Orientierung und Hoffnung) und schließlich mit Aktion zu verbinden wissen. Aktionen, die aus den Kirchen »in die Welt« führen, helfen Vorurteile abbauen und sind auf glückende, also lösungsbereite Kommunikation von Betroffenen und Entscheidungsträgern – ähnlich wie 1989 – ausgerichtet. So können beharrliche, inhaltlich sorgsam vorbereitete »Gebete für soziale Gerechtigkeit« als Scharniere wirken – einerseits zwischen den psychischen und den sachlich begründeten Ängsten, andererseits zwischen den von Sozialabbau betroffenen Personen und den Personen bzw. Institutionen, die politische Entscheidungen auf den Weg zu bringen oder sie in parlamentarisch geregelten Verfahren zu treffen haben.

So kann die Kirche mit ihren situationsbezogenen Gebeten und anschließenden Foren ihren Beitrag zu unserer demokratischen Kultur leisten, denn mit populistischen »Weg mit«-Sprüchen und Gebrüll lassen sich die Probleme nicht lösen. Gelingender Protest muss politisches Denken und Handeln vereinen. Das heißt zum einen, präventiv, differenziert, konkret |35|und lösungsorientiert zu denken, also zu klären, was man wie realistisch (also auch finanzierbar) unter zivilisierten Bedingungen geregelt haben will. Zum anderen, sich mit anderen zu verbünden, Mehrheiten zu finden und Kompromisse zu suchen. Die Menge braucht gute Fürsprecher, die den Protest aufgreifen und in politische Wege umzusetzen verstehen.

Der Organisator der Magdeburger Demonstrationen, der 42 Jahre alte, 14 Jahre arbeitslose Andreas Ehrhold, war ein solcher Fürsprecher. Zwar scheiterte er bei seinem Versuch, in die Politik zu wechseln. Er wurde nicht gewählt, aber das Zeug zum Volksvertreter hat er durchaus. Er gab einige treffende Sentenzen zu Protokoll:

  • »Wir sind nicht nur das Volk, sondern auch Ihr Arbeitgeber, Herr Schröder.«

  • »Man kann ein Volk nicht dafür bestrafen, dass jeden Tag tausende Arbeitsplätze abgebaut oder ins Ausland verlegt werden.«

  • »Ich werde viel nachgefragt, aber ich bin nicht gefragt.«

  • »Mir wäre es lieber, wenn sich 20 000 Frauen einen Pelzmantel leisten können, als wenn sich eine Frau 20 000 Pelzmäntel kaufen kann.«

  • »Wenn beim Stuhltanz die Musik aufhört und die Hälfte der Leute keinen Platz gefunden hat, hilft es nicht, wenn man ein schnelleres Lied spielt.«

Ehrhold verlangte, dass ein anderes Spiel gespielt wird. Da meldete sich ein Pfiffiger aus dem Volk, der nicht resigniert hatte, und hielt den Regierenden listig einen Spiegel vor.

Die während der Hartz-IV-Proteste geäußerte Forderung »Wir wollen Arbeit und soziale Gerechtigkeit« war schlicht eine Einforderung des Programms, mit dem sich die SPD 1998 zur Wahl gestellt hatte. Dort hieß es doch: »Wir wollen die sozialen Gräben in unserer Gesellschaft zuschütten und die innere Einheit unseres Landes vollenden. Wir wollen Arbeit und Wohlstand für alle. Wir verstehen uns als Gemeinschaft der Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren.«

2004 machten die Bürger zum einen ihrem Unmut über die damals Regierenden und deren Politik Luft. Zum anderen lassen |36|sich die Montagsdemonstrationen als Zeichen dafür sehen, dass sich bei immer mehr Leuten der Eindruck durchsetzt, dass es in Deutschland ein hohes Maß an »Freiheit nach oben« gibt, aber auch die »Freiheit nach unten« groß ist. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit hat längst die »Neue Mitte« erreicht. Es wächst auch die Sorge derer, die noch Arbeit haben, dass sie nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ganz unten sein könnten, das zum Teil mühsam Ersparte aufbrauchen müssen bzw. auf Sozialhilfe angewiesen wären. Jeder ahnt, dass es ihn morgen treffen kann. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur jene Bürger auf die Straße gehen, die schon betroffen sind (und deren Resignation nicht schon so groß ist, dass sie nicht mehr protestieren!), sondern insbesondere jene, die Zukunftsängste haben.

Es artikulierte sich Zukunftsangst und Wut auf den Montagsdemonstrationen. Sie waren auch Zeichen von Optimismus und eines tiefen Glaubens an soziale Gerechtigkeit. Aus den Gesichtern der Demonstranten sprach die Überzeugung, dass sich tatsächlich etwas verändern lässt, wenn der Druck von der Straße lange genug aufrechterhalten wird. Und tatsächlich: Nachbesserungen bei Hartz IV gab es erst nach den Demonstrationen – nicht nach Artikeln, Fernsehsendungen, Thesen und Leserbriefen. Dies ist eine wichtige Erfahrung. Wenn die Leute die Vorteile der Demokratie nicht geringschätzen, das Demonstrieren – ohne Gewalt anzuwenden – als selbstverständliches Recht wahrnehmen und sicher sein können, dass sie abends wieder nach Hause kommen.

Die Massenproteste gegen Hartz IV können also durchaus Mut machen für die Zukunft. Wir müssen auch weiterhin auftreten gegen ausgrenzende Praktiken in der Arbeitsmarktpolitik und gegen ein Menschenbild, das nur noch für den Markt verwertbare oder für den Markt nutzlose Menschen kennt. Über die bei den Montagsdemonstrationen erhobene Forderung nach der Schaffung von Arbeitsplätzen müssen wir grundlegend nachdenken, denn Arbeit meist ein ganz elementares Betätigungs- und Bestätigungsbedürfnis des Menschen.

|37|Arbeit los – Brot los – Sinn los

Heute gehen in Deutschland die einen daran kaputt, dass sie zu viel arbeiten müssen, die andern daran, dass sie keine Arbeit mehr finden. Die einen haben Reichtumssorgen, die andern Armutssorgen. Diese Zweiteilung der Gesellschaft könnte zu einer neuen Klassenkampfsituation führen. Wie soll es also weitergehen, wenn wir tatsächlich am Ende der Arbeitsgesellschaft angelangt sind, wie es viele Wissenschaftler angesichts der seit Jahren ansteigenden Arbeitslosenzahlen prophezeien? Wir müssen grundlegend überdenken, was Arbeit für uns bedeutet.

Es gehört zu den großen emanzipatorischen Zielen der Menschheit, von der Mühsal der Arbeit, vom Sichaufbrauchen und -abrackern in »entfremdeter Arbeit«, vom »Leben fristen« endlich freizukommen und sein Menschsein entfalten zu können außerhalb der Notwendigkeiten. Durch die kapitalistische Produktionsweise ist die globalisierte Welt in folgende widersprüchliche Situation versetzt: Während es für mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung ums nackte Überleben geht, kämpfen die reichen Länder, die auf den Weltmärkten miteinander konkurrieren, mit den Folgen der erhöhten Produktivität und mit dem Überfluss an Waren. Die neuen Arbeitssklaven – hochmoderne Maschinen und Informationssysteme – haben den Menschen als Arbeitskraft immer entbehrlicher gemacht, so dass immer mehr Menschen von der Lohnarbeit freigesetzt werden. Die reichen Länder der nördlichen Halbkugel wären zwar tatsächlich so reich, dass sie diese »mit durchfüttern« und sie ihre Freiheit genießen lassen könnten. Die meisten Betroffenen aber können darin keine Befreiung erkennen, sie empfinden sich vielmehr nun selbst als überflüssig, verlieren die Selbstachtung und Kontrolle über sich. Sie sind aus einem Sinngefüge herauskatapultiert worden. Der Verlust von Arbeit wird von ihnen als Lebensverlust bewertet.

Dies hängt damit zusammen, dass zum einen produktive Tätigkeit ein Grundbedürfnis des Menschen ist und zum anderen seit vielen Generationen volle gesellschaftliche Akzeptanz |38|nur derjenige findet, der arbeitet. In Ermangelung anderer Sinnstiftungen ist Arbeit zum Selbstbegründungs-Mythos unserer modernen Gesellschaft geworden, sie dient den Meisten als alleiniger Identitätsstifter und als Sinnanker schlechthin.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir nicht nur durch den Verlust der Arbeit bedroht, sondern vielleicht mehr noch durch das (kollektive) Vakuum, das dieser in den Betroffenen hinterlässt. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit ist Arbeit nämlich als dominierender Sinngeber, Selbstwertbeschaffer und Gemeinschaftsproduzent überfordert. Wenn wir trotzdem daran festhalten, bewegen wir uns mit dem enormen Schwinden vergegenständlichter und Gegenstände produzierender Arbeit geradewegs in eine soziale, politische und psychologische Krise.

Wir stehen also vor einer Organisations-, Rechts-, Ökonomie-, Bildungs- und Mentalitätsfrage von epochalem Ausmaß. Wir brauchen alternative Konzepte der Sinnstiftung. Die Arbeit an uns selbst wird in diesem Zusammenhang zur entscheidenden ersten Arbeit der Zukunft werden. Ich stelle Ihnen vier Fragen:

  • Haben Sie (noch) Arbeit?

  • Und falls ja, was bedeutet sie Ihnen?

  • Können Sie sich ein Leben ohne Arbeit gut vorstellen?

  • Und falls nicht, warum?

Sie werden vielleicht antworten, dass Sie sich ein Leben ohneArbeit deshalb schwer vorstellen können, weil Ihre Arbeit Sie – und dies ist der Idealfall – nicht nur anstrengt, sondern auch ausfüllt, erfüllt. Arbeit bietet uns also die Möglichkeit der Selbstfindung, Selbstbestätigung und Sinnerfüllung, sichert Anerkennung, selbst wenn wir durch die nur an Profit orientierten Arbeitsprozesse längst von unserem Arbeitsprodukt entfremdet sind. Der Mensch möchte etwas schaffen, das bleibt, während er selber älter wird. Arbeit ist auch immer Flucht vor den Depressionen unserer Vergänglichkeit. In dem zum Wachstum gezwungenen Wirtschaftsprozess wird Viel-Wind-Machen als Leben und Stillstehen als Tod erfahren. Denken Sie daran, wie viele Pensionäre die Lust am Leben verlieren, wenn sie nicht mehr am Arbeitsprozess teilhaben |39|können. Sie haben das Gefühl, sie seien zu nichts mehr nutze. In ihrem Leben ist alles vorbei, bevor es vorbei ist. Warum ist es ihnen nicht möglich, in der Pflege des Gartens, im Verreisen oder im Da-Sein für die Familie eine ähnliche Bestätigung zu finden wie in ihrem Job? Warum können sie ihr Dasein nicht auf einen neuen Grund stellen?

Diese Frage führt zum Kern der individuellen und sozialen Probleme, die es im Angesicht des Endes der Arbeitsgesellschaft zu lösen gilt. Arbeit, Brot und Sinn scheinen einen unauflöslichen Zusammenhang abzugeben. Die Arbeitsgesellschaft lebt nämlich von einer Beherrschungs- und Unterwerfungsideologie, in der der Mensch sich erst dann die Dinge aneignet, wenn er sie sich unterworfen hat. Die Rangfolge ist in den letzten Jahrhunderten vom Sinn auf die Zwecke, vom Verstehen zum Beherrschen, vom Bestaunen zum Aneignen, vom Intensiven zum Extensiven gewechselt. Tätigkeit wird also folgerichtig nur dann zum Sinnanker schlechthin, wenn sie als zeitlich geregelte Erwerbstätigkeit unter permanentem Konkurrenzdruck stattfindet. Da ist Zeit Geld und Geld Zeit. Es ist nicht bloß das Tätig-Sein, das uns die Arbeit so wichtig werden lässt, sondern die Gratifikation, in der wir unseren Wert ausgedrückt sehen. Unser Selbstwert misst sich zumeist am Geldwert. »Arbeit um jeden Preis« ist angesichts der heutigen Problemlagen die falsche Antwort auf die Preis-Frage »WIE, WAS, WOZU, WANN, WIE LANGE arbeiten wir?« Die Gleichsetzung von produktiver Erwerbsarbeit und erfüllender Tätigkeit muss aufgehoben werden, wenn wir nicht durch kollektive Sinn-Losigkeit krank werden wollen.

Der in sich reiche Mensch

Die meisten Menschen in unserem reichen Land brauchen Arbeit, weil sie mit ihrer Lebenszeit ohne Arbeit wenig anfangen können. Immer müssen sie etwas anfangen oder es muss mit ihnen etwas angefangen werden. Außerhalb ihrer Arbeit sind sie in erster Linie Konsumenten, z. B. der Unterhaltungsindustrie. |40|Zum gemachten Produkt ist nach den Regeln des Marktes das gemachte Bedürfnis gekommen, es ist den Menschen erst zur wohligen Gewohnheit und dann zur zweiten Natur geworden. Der Waren produzierende und konsumierende Mensch wird selber eine Ware, die »bei Laune zu halten« ist. Nur passiv kann er noch genießen, doch mit der gewonnenen Freizeit nicht mehr umgehen: Der äußerlich reiche Mensch ist in sich arm geworden.

Was macht aber einen in sich reichen Menschen aus? Luther meint, dass der Mensch zur Arbeit geboren sei wie der Vogel zum Fliegen – diesen Vergleich muss man ernst nehmen. Der Vogel schafft nicht mehr herbei, als er zum Leben wirklich braucht. So hat er Zeit zum Da-Sein. Das Fliegen des Vogels liegt stets zwischen der Absicht von Nahrungssuche, der freien Selbstbewegung in der Schöpfung schlechthin, dem Ausfliegen in ein Revier und der Rückkehr ins Nest, wobei der notwendigen Sorge auch das natürliche Singen entspricht. Der Vogel singt beim Fliegen. Schöpferisch und fröhlich zu sein bei seiner Tätigkeit und nicht erst nach seiner Arbeit oder etwa durch das Produkt seiner Arbeit oder den Gewinn von seiner Arbeit ist der eigentliche Sinn menschlichen Tätigseins.

Der in sich reiche Mensch bedarf nicht der Arbeit als Erwerbstätigkeit, wenn er die Ideen findet, etwas mit sich, mit der ihn umgebenden Welt und mit den anderen anzufangen, und zwar so, dass er Welt erfährt, erlebt, durchspielt. Dazu gehört es, den Sinn in einer Tätigkeit in der Tätigkeit selbst zu suchen – und zu finden! –, nicht außerhalb ihrer im Geldumsatz oder in anderer Ver-Wertbarkeit. Ein solches Tun ist zwar zweckfrei, aber nicht sinn-los.

Es muss wohl wieder gelernt werden, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, aus freien Stücken und in einem Sinnhorizont. Eigenbestimmte Tätigkeit, in der ein Mensch sich erprobt an einer Aufgabe oder an einem Gegenstand oder in einer Gemeinschaft von Menschen, ist erst wirkliche Freiheit. Der in sich reiche Mensch kann die Anschauung für gleich wichtig halten wie die Veränderung, die Kontemplation in gleichem Maße wie die Produktion schätzen, ihm bedeutet das Verstehen der Vorgänge |41|mehr als das Beherrschen der Dinge, er setzt dem ästhetischen Erlebnis das kulinarische nicht nur gleich, und er kann, in einer bestimmten Absichtslosigkeit, in einer Beschaulichkeit das Sein bereichernd erfahren.

Das im Alltäglichen zu üben und sich zu einem in sich reichen Menschen zu entwickeln – dies ist die Arbeit, die jeder an sich selbst leisten kann, um durch das Ende der Arbeitsgesellschaft keinen seelischen Schaden zu erleiden. Gleichzeitig müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Gesellschaft in sich reicher Menschen ermöglichen.

1. Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass das Recht auf Arbeit eine der zentralsten Forderungen der Emanzipation ist. Dem Recht auf Arbeit muss künftig ein Recht auf Faulheit hinzugefügt werden, nicht zuletzt um die zu schützen, die geradezu arbeitssüchtig geworden sind und dabei nicht merken, wie sie anderen, die auch arbeiten wollen, faktisch die Möglichkeit dazu nehmen. Deshalb haben die glücklichen Besitzer von Arbeit daran mitzuwirken, dass der Mehrheit der Menschen das Bedürfnis zu arbeiten nicht weiter vorenthalten wird. Viele menschliche Tätigkeiten, die bisher minder geachtet wurden, müssen als Arbeit anerkannt werden. Denn Arbeit bleibt ein bevorzugtes Feld menschlicher Identitätsfindung und gesellschaftlicher Wertschätzung. Doch nicht alle Arbeit ist Erwerbsarbeit.

»Arbeit für alle« wird sich als eine falsche Verheißung erweisen, doch »Faulheit für alle« darf keine Drohung derjenigen sein, die als Workaholics die Herrschaft über die zur Verfügung stehende Arbeit angetreten haben. Der in sich reiche Mensch kann nämlich auch die Freiheit von Arbeit genießen und Sinn und Erfüllung in Tätigkeiten finden, die nicht zur traditionellen Erwerbsarbeit gehören. Er weiß, dass es Arbeit bedeutet, sich am Leben zu erhalten, einander zum Leben zu helfen und mit der Vergänglichkeit fertig zu werden. Auch die Arbeit an sich selbst in eine Arbeit.

2. Die Annahme, der Mensch würde freier, wenn er ohne Zwang leben könnte, ist falsch. Er braucht bestimmte äußere Zwänge, um Freiheit zu erleben. Er braucht Zeitreglement, um Freizeit genießen zu können, und er braucht Zwangsgemeinschaft, um freie |42|Gemeinschaften zu bilden. Er braucht Rechtsetzungen, um zu wissen, was Gerechtigkeit ist. Der ganz freie Mensch ist der ganz verlorene, sich selbst überlassene Mensch. Fehlende Orientierung führt neben prinzipiell freier Selbstbestimmung leicht zu Beliebigkeit, Manipulierbarkeit und Regression in fundamentalistische Scheinsicherheit. Daraus folgt: Wenn der Arbeitsgesellschaft die traditionelle Erwerbsarbeit ausgeht, müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen lernen, sinnvoll mit der freiwerdenden Zeit, mit sich, miteinander und mit der sie umgebenden Natur umzugehen.

Arbeit im menschlichen Miteinander wird als Humanisierung erfahren. Insofern kann Tätigkeit als Dienstleistung aneinander Entfesselung der Arbeit von ihren Zwängen bedeuten. Die Forderung nach Humanisierung der Arbeit ist keine leere ethische Floskel. Arbeit erfüllt sich in einer Subsistenzmittel schaffenden Tätigkeit, einer gelingenden Interaktion, einer sich selbsterschaffenden wie Werte schaffenden Betätigung. In einer solcherart humanisierten Dienstleistungsgesellschaft könnten Bildung, Kultur, Sport, Kunst, Kreativität die frei werdenden Lebensräume ausfüllen und nicht Medien und Freizeitangebote, die passiv machen.

3. Die Krise der Arbeitsgesellschaft gibt uns die Chance, die Weichen für den Weg, den wir persönlich, in Deutschland und global beschreiten wollen, neu zu stellen. Wollen wir uns weiter der Moral des Marktes unterwerfen, dem reinen Profitstreben und der Effizienzsteigerung, bis wir innerlich so weit verarmen, dass für uns alles nur noch Waren-Wert hat? Oder wollen wir auf einen Paradigmenwechsel hinarbeiten – von der Erwerbsarbeitsgesellschaft hin zu einer pluralen Tätigkeitsgesellschaft, in der den Menschen durch die immer geringer werdende Erwerbsarbeit nicht alle Perspektive auf ein einkömmliches und erfülltes Leben verbaut, sondern gerade die Möglichkeit eröffnet wird, durch selbstgewählte befriedigende und sinnstiftende Tätigkeiten miteinander innerlich immer reicher zu werden.

Mit der Frage, wie wir in Deutschland dem Problem der Massenarbeitslosigkeit begegnen, mit der Frage, ob die Werte Freiheit |43|und Gerechtigkeit für alle unteilbar bleiben oder ob die Trennlinie zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die Spaltung zwischen Arm und Reich immer weiter vertieft, steht unser demokratisches Gesellschaftsprojekt zur Debatte. Es muss das Projekt der Gesamtgesellschaft, also der Summe aller Menschen, bleiben. Durch den Wiedergewinn von Muße als Gewinn von Intensität, Kreativität, Beschaulichkeit und Welterleben kann sich das Dasein des Menschen außerhalb der Zwänge der Erwerbsarbeit in sich selbst erfüllen – mit Tätigkeit, mit Brot, mit Sinn. Wenn der Mensch den entfesselten Markt nicht reguliert, geht er zugrunde, mitsamt seiner Welt. In dieser Richtungsänderung stecken natürlich Anforderungen an jeden, die Welt nicht so zu lassen, wie sie ist – damit sie bleibt.

Durch freies Wachstum in die Wüste

Die Humanisierung der Arbeit ist nicht der einzige Paradigmenwechsel, für den wir uns einsetzen müssen, wenn wir das heute laufende »globale Selbstmordprogramm« (Klaus Töpfer) stoppen wollen. Nicht der Mensch allein leidet unter dem Terror der Gewinnmaximierungsideologie, die nur etwa einem Zehntel der Weltbevölkerung materiellen Wohlstand gebracht hat. Die gesamte Schöpfung seufzt und stöhnt unter der Aus-Beutung, unter dem irreversiblen Ver-Brauch von Welt. Bleibt der kurzfristige Profit das einzige Kriterium menschlichen Handelns, erwarten uns Katastrophen, gegen die biblische Heuschreckenplagen gar nichts sind. Ein globaler Kampf um Wasser- und Ölressourcen ist im Gange. Die Lungen der Welt werden abgeholzt. Die Wüsten wachsen. Der Klimawandel verursacht derart dramatische Naturkatastrophen, dass das Wort Klimawandel eine Verharmlosung darstellt.

Maximilian Gege, Vorsitzender des Bundesdeutschen Arbeitskreises für Umweltbewusstes Management, der größten Umweltinitiative der Wirtschaft in Europa, wies im Gespräch mit Franz Alt auf die großen moralischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen hin, vor denen wir |44|stehen: »die Frage von Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Wachstum und nachhaltigem Wohlstand für alle Menschen. Zwei Milliarden Menschen ohne Strom, vier Milliarden Menschen in lebensunwürdigen Umständen, zunehmender Reichtum bei den auf der ›Sonnenseite‹ Lebenden – und eine dramatische Klimaverschärfung sowie eine stark steigende Weltbevölkerung, das kann nicht funktionieren und wird irreparable Konflikte auslösen.«

Mit den Prinzipien des freien Marktes ist das Streben nach Wachstum und Produktivitätssteigerung untrennbar verbunden. Mit der Erhöhung der Produktivität wird der Warenumschlag erhöht, der mit einem qualitativen Wertverlust einhergeht. Produkte dürfen nicht langlebig sein, denn sonst würde kein Produktionszwang entstehen, und es gäbe wiederum weniger Arbeit. Dies aber führt zu einem extremen Verschleiß der nichtregenerierbaren Ressourcen und zu einer Bedrohung der regenerierbaren wie z. B. der Wälder und des Wassers. Die meisten Produkte sind nach ihrem schnellen Verbrauch lediglich Müll, und immer weniger davon ist in den Kreislauf von Produktion und Reproduktion wieder einzuordnen. Da die Recyclingprozesse nicht mehr funktionieren, wird der Abfall zu einem Überlebensproblem. Friedensreich Hundertwasser sieht in der Lösung unseres Exkrementenproblems – in unserer »Scheiße«, wie er sich ausdrückt – das Kardinalproblem der Menschheit schlechthin. Man denke an die atomaren Rückstände, deren Abbau jedes menschliche Zeitmaß überschreitet, an die chemischen Waffen, die noch aus dem Ersten Weltkrieg in den damals beteiligten Ländern lagern oder auf dem Ostseemeeresboden als Quecksilber-Zeitbomben liegen, die Abermillionen Tonnen Müll, die wir inzwischen in der Dritten Welt ablagern, oder an jede einzelne Batterie und all die Schwermetalle, die wir in den Boden abgeben, an die Gülle und die Emissionen unserer Autos – kurz: den ganzen »Abrieb« unserer Zivilisation.

Es darf nicht um mehr Wachstum gehen: immer mehr Verbrauch von Ressourcen, mehr Energieumsatz, mehr Verkehr. Was heute so billig wie möglich produziert wird, wird morgen so teuer, |45|dass es nicht mehr bezahlbar ist. Die moderne kapitalistische Markt-Welt-Gesellschaft gefährdet den Kreislauf des Lebens, das ständige »Stirb und Werde« durch eine endgültige Ver-Wertung der Welt, die sie sich zum bloßen Material gemacht hat. Der Mensch hat den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren. In der Schöpfungsgeschichte steht nichts von Zerstören. Wir sind Teil dieser Erde. Sie ist uns anvertraut. Das betrifft nicht nur Christen zentral. Was Ende April 1989 in Dresden – auf der Ökumenischen Versammlung »Für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« – als Maximen christlichen Handelns herausgearbeitet wurde, bleibt für alle gültig. Im Abschnitt »Auf der Suche nach einer neuen Lebensweise der bedrohten Schöpfung« heißt es: »Wenn wir von der Ausbeutung der Natur zur Respektierung ihres Eigenwertes und zum zukunftsorientierten Haushalten kommen wollen, müssen wir sie besser kennenlernen. Nur was wir schätzen gelernt haben, werden wir auch liebevoll bewahren. Deshalb sind wir angewiesen auf lebendigere Beziehung zu unserer Umwelt. Die Erde ist das gemeinsame Haus aller Geschöpfe, das wir erhalten, bewahren und gestalten sollen. … Wir halten es für notwendig, unsere Lebensweise zu überprüfen und ihre Verträglichkeit für die Natur, das Leben anderer Völker, das gesellschaftliche Zusammenleben, das Leben des einzelnen Menschen und der kommenden Generation.« Der wirtschaftliche Erfolg allein darf nicht zählen, wir müssen prüfen, wie er erreicht wurde, wer oder was dafür beiseitegeräumt wurde, und wir müssen die Folgekosten für die Umwelt und die Gesellschaft einrechnen.

 

Der postmoderne Prometheus mutiert zum computerbegabten Sisyphus. Aber eines Tages könnte der Stein zum letzten Mal rollen. Klaus Töpfer richtete seine Mahnung »Es ist die eine Welt, die zur Debatte steht. Im Kleinen und im Großen« nicht nur an Konservative, alte wie neue Linke, (ehemals) grüne Politiker, Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft, sondern an jeden von uns. Nur ein Mensch, der sein Menschsein in Ehrfurcht vor den Lebenskreisläufen zu gestalten sucht, verbaut sich und anderen nicht die Zukunft.

|46|Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss in Ökonomie, Ökologie wie Sozialpolitik gelten. Nur lokal und global nachhaltige Politik ist verantwortliche Politik. Nur nachhaltiges Wirtschaften ist moralisch. Wir sollten unsere Stimme immer wieder für das 1997 beschlossene Kyoto-Protokoll erheben. Natürlich ist das noch längst kein Rettungsprogramm, sondern eher ein Signal für die richtige Richtung, damit wir nicht in Umweltkatastrophen taumeln und unsere Ökosphäre irreversibel vernichten.

Die Verträglichkeit muss zu einem zentralen Kriterium unseres Denkens und Handelns werden: ökologisch verträglich, sozial verträglich, enkelverträglich. Unsere Fixierung auf die Gegenwart und auf unseren kleinen Lebenshorizont werden künftige Generationen bitter bezahlen. Der Markt selber schafft keine langfristigen ökologischen Steuerungen, sondern Zerstörungen mit Langzeitfolgen, weil er nur am Gewinn orientiert bleibt. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass die Markt-Mächtigen von selbst zu dieser Einsicht gelangen.

Die Erhaltung des Lebensraums für Mensch und Natur steht auf dem Spiel. Die globalisierte Welt als unbegrenzter Handlungsraum bedarf gewisser Regeln. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Ohne ein globales Ethos kommt globales Chaos. Wo sind die Träger solchen Denkens?

Die 1997 vom InterAction Council zur Diskussion gestellte »Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten« verpflichtet den Menschen auf Ehrfurcht vor dem Leben, die nicht auf das menschliche Leben beschränkt ist, sondern Tiere und Pflanzen, den Erdboden, Wasser und Luft mit einschließt. Auch im Konzept des »Weltethos« ist der nachhaltige Schutz des Ökosystems verankert. Hans Küng, Initiator des Projektes und Präsident der Stiftung »Weltethos«, hat die global verbindlichen Handlungsnormen in der sogenannten »goldenen Regel« ausgemacht, die seit Jahrtausenden in vielen religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit verankert ist. »Handele so, wie du von anderen behandelt werden möchtest.« Das ist einfach und bewundernswert weitsichtig zugleich. An dieser Regel kann sich globales Handeln und jeder Einzelne im Alltag orientieren.

|47|Wenn ich sage: »Wir brauchen nichts Geringeres als einen globalen Marshallplan mit langem Atem für die Weltgesellschaft, wenn unsere Welt weiter bestehen soll«, antworten Sie wahrscheinlich: »Das ist eine Aufgabe für Experten, Wissenschaftler, Zukunftsforscher, mich überfordert das, das ist nicht meine Welt, auf globaler Ebene kann ich doch sowieso nicht mitbestimmen.« Wir sind als Menschen verhaltensbiologisch mit einem emotionalen Revierhorizont ausgestattet. Wir können normalerweise nur für das Überschaubare unseres Lebenskreises und unserer Lebenszeit Verantwortung übernehmen. Jetzt müssen wir uns einrichten auf globales Denken mit Langzeitperspektive und in der Weltgemeinschaft langfristige Ziele formulieren. Vielleicht denken Sie, dass die Ziele utopisch sind oder ihre Verwirklichung außerhalb Ihres Einflussbereichs liegt? Dann erinnern Sie sich daran, dass jeder mitverantwortlich ist, da auf dem Globus alles mit allem zusammenhängt. Es ist eben doch Ihre Welt!

Die globalen Probleme erfordern den Abschied von einem nur auf den Menschen ausgerichteten Denken und ein neues ganzheitliches Welt- und Menschenbild. Der Dalai Lama gibt uns zu bedenken: »Kein Weltfrieden ohne Frieden mit der Natur.« Albert Schweitzer kam zu der Erkenntnis: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Wer so denkt, nimmt Rücksicht und sieht auf das Lebensrecht allen künftigen Lebens. Handeln Sie nach einer solchen Maxime?

Überall auf der Welt gibt es Einzelne und Gruppen, die als Warnmelder für die bedrohte Zukunft fungieren und sich den Herausforderungen stellen: in tibetanischen Klöstern, in wissenschaftlichen Arbeitsgruppen (Ozeanologen, Ökologen, Klimaforscher), in diversen Kommunitäten in der Dritten Welt. Auch unermüdliche NGOs wie Greenpeace, Terre des Hommes, World Watch sowie einige Journalisten lassen nicht nach, die wirklich wichtigen Fragen »nach vorn« zu bringen. Attac z. B. mit seinen 90 000 Mitgliedern mischt sich in die Weltstrukturen ein. In diesem Netzwerk werden nicht Gefahren apokalyptisch beschworen, da werden Wege gesucht.

  • |48|wie der Internationale Währungsfonds demokratisiert werden kann,

  • wie eine Steuer auf Aktiengewinne erhoben werden kann,

  • wie die Mechanik der Ungleichheit gebrochen werden kann,

  • wie der unfaire Handel beseitigt werden kann, weil das WTO-Regime wesentlich für die Rechte der Starken und nicht für die Schwachen sorgt,

  • wie die Verantwortung für die Zukunft in den Händen der Menschen bleiben, die ein Land bewohnen, statt von anonymen Konzerninteressen dominiert zu werden.

Nur wenn wir uns solchen Zielen stellen, werden wir auch Wege finden. Das wird nicht leicht, aber es ist möglich: Wer Ziele hat, findet auch Wege!

Wenn wir schon meinen, dass wir selber nicht viel tun können, sollten wir wenigstens diejenigen unterstützen und ermutigen, die sich mühen oder sich gemüht haben. Denn nur wenn die Weltöffentlichkeit – und Sie sind ein Teil davon! – sich rührt und organisiert, wird auch die Politik an ihre Verpflichtung erinnert. Wir sind gefordert, Politiker zu unterstützen (und dies auch mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu zeigen), die findig nach Wegen suchen, internationale Kriterien der ökologischen Nachhaltigkeit sowie der sozialen Verträglichkeit menschlichen Handelns, vor allen Dingen des ökonomischen Handelns durchzusetzen. Bisher werden Humanisierung und Ökologisierung als ein Gegensatz zur ökonomischen Effizienz betrachtet und gehandhabt – z. B. mit dem Argument, »das schafft doch Arbeitsplätze«.

Der Weltmarkt unterwirft sich keinen ökologischen Standards, die den Kriterien von Nachhaltigkeit folgen würden. Dringlich wird eine internationale ökologische Gesetzgebung einschließlich eines überprüfbaren »Generationenvertrages für künftige Geschlechter«. Ein holistisches Denken und Handeln ist heute mehr denn je geboten. Was die so billig produzierten Waren der Natur angetan haben und antun, bleibt außerhalb der Kalkulation. Wenn die gebeutelte Natur zurückschlägt, kann es zu spät sein. Zu viel von den Natur-Schätzen wird irreversibel |49|verbraucht. Solange die Gifte – z. B. bei der Nickel- oder Kupferproduktion – keine unmittelbaren gesundheitlichen Schäden für den Menschen verursachen, bleibt alles erlaubt, was »nützt«. Wer Fernwirkungen außer Acht lässt, ist kurzsichtig. Alles Tun und Lassen muss auf kurz-, mittel- und langfristige ökologische Folgen hin überprüft werden. Wenn wir als Spezies indes weltweit weiter auf dynamisches Wirtschaftswachstum setzen und auf eine kurzfristige ökonomische Nutzenkalkulation, wird die Erde mehr und mehr zur Wüste werden – nicht zuletzt durch eine hocheffiziente menschliche Arbeit, die mit der Natur machtförmig umgeht, in der und von der alles Leben lebt.

Aus der Wüste in die Freiheit

»Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.« (Jesaja 43,18f.)

Als der Prophet Jesaja diese Sätze seinem Volk zuruft, scheint ein Ende der Gefangenschaft in Babylon nicht absehbar. Aber da kommt in der Nachbargroßmacht ein neuer Herr auf, Kyros, der die Gefangenen freilässt. Kyros handelt nicht allein. Auch er ist einer, der nach Gottes Plan agiert, ohne es zu wissen. Letztlich steht hinter dem Handeln Gott, der die Riegel des Gefängnisses zerbricht. Er zeigte dem Volk einen Weg durch das Meer und befreite es schon einmal von der militärischen Übermacht der Ägypter.

Kein irdisch-himmlisches Popeia wird versprochen, sondern ein schwieriger, aber lohnender Weg für das Volk, das wieder und wieder die Erfahrung macht, dass es durchgetragen wird. Die Befreiung von den Ketten der Vergangenheit kostet einige Mühe. Auch vergoldete Ketten sind Ketten.

Die Befreiten sollten sich nicht vergrübeln an das Frühere. Sie sollen ihre Kraft auf das Neue richten. Wer sich immerfort umsieht, erstarrt zur Salzsäule, wird mit Seilen in seine Vergangenheit |50|zurückgezogen und nennt das seine Befreiung für die Zukunft! Wer beständig zurückblickt, erkennt nicht, was neu wird, was jetzt wächst, was ganz anders werden kann.

Bei der mühsamen, langwierigen Aufbauarbeit sieht der eine Probleme über Probleme, und der andere sieht den Weg, sie zu überwinden. Es darf nicht das »Prinzip Mäkeln« vorherrschen, denn selbst in der Wüste gibt es Wasser und Leben.

Wer Zukunft vor sich hat und an seine Zukunft glaubt, wird auch Kraft haben, sie zu gestalten. Nichts macht uns so müde wie das, was wir nicht tun. Alle Kraft für das Engagement speist sich letztlich nur aus der Freude, der Begeisterung und Dankbarkeit für diese wunderbare Welt, für dieses wunderbare Leben, für das Genießen des Brotes und des Friedens, der Pracht der Blumen, der Schönheit der Bilder, der spritzigen Säure des Weins, des Sprudelns der Töne. Im Psalm 104, 24 ist das alles poeto-theologisch vorgezeichnet: »Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.« Weise geordnet – überreich an Gütern und Güte ist die uns anvertraute Erde. Wenn wir von der Schöpfung lernen und uns einsetzen für etwas, das sinnvoll ist und Hoffnung gibt, dann bekommen wir Kraft dafür. Zuversicht ist das halbe Leben. Nur wer sich auf den Weg macht, wird erfahren, dass er gangbar ist – ganz so, wie der Appetit beim Essen kommt, kommt Kraft beim Tun.

 

Vergeudet euch nicht an irgendeine Nostalgie. Klammert euch nicht an das Vergangene – verklärt es weder als die schöne Zeit, als alles schön klar war, noch verdammt alles, was gewesen ist, was mit euch geschehen ist und wer ihr wart. Ihr könnt zu euch stehen. Und so werdet ihr auch das Neue bestehen: aufgerichteter, gerader, hoffnungsvoller, selbständiger.