|51|Demokratie braucht VERTRAUEN und PARTIZIPATION

Einen Staat machen

»Mit denen ist kein Staat zu machen«, stöhnen viele der sogenannten Normalbürger über die sogenannten Staatsdiener und noch mehr über die Parteien. Haben sie dabei lediglich an die politische Klasse gedacht, oder beziehen sie sich selbstkritisch mit ein?

»Einen Staat machen« – das ist eine höchst komplizierte, eine so verlockende wie zuzeiten riskante Sache. Diktatoren wissen zu gut, wie man Untertanen gefügig macht, die selbst für nichts verantwortlich sind, sondern nur so ängstlich wie macht- oder karrierebesessen gehorchen, gar so begeistert wie finster mitmachen oder einfach abgeduckt und abgestumpft mitlaufen. Die Demokratie als eine weiche Machtentfaltung lebt davon, dass es genügend aktive, mündige, selbstverantwortliche, sach- und problembewusste Bürger gibt, denen das freiheitliche und sozialstaatliche Gemeinwesen eine Herzenssache ist, weil sie nie vergessen, was Diktatur anrichtet.

In Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik wird die Funktion des Staates grundlegend als ein Dienst am Menschen beschrieben: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Der Staat ist für uns Bürger da, nicht wir für ihn! Das ist die revolutionäre Umkehrung in unserer deutschen Geschichte und fordert das Engagement der Politiker genauso wie das aller Bürger!

Einen demokratischen Staat zu machen, das heißt: Teilhabe und Teilnahme beständig zu ermöglichen und einzufordern. Politiker haben sich – Recht und Gewaltenteilung achtend – ausdauernd zu bemühen, die Handlungsspielräume aller Bürger zu erweitern, zu fördern, soziale, ökonomische und politische Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen zu gewährleisten und zu (re-)aktivieren.

|52|Der Ausbau erfahrbarer Mitgestaltungsmöglichkeiten ist das eine, die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten ist das andere. Inzwischen werden »die Politiker« mit einer mehr oder weniger kultivierten Enttäuschungsattitüde selbstentschuldigend für das wachsende Desinteresse, für eigene Lahmheit, Denkfaulheit und eine daraus resultierende Räsonierhaltung verantwortlich gemacht. Es ist schon mehr als ein Alarmsignal, wenn z. B. im November 2006 in Halle an der Saale nur noch 27 Prozent der Wahlberechtigten sich daran interessiert zeigen, wer ihr Stadtoberhaupt wird. Das demokratische System könnte uns aus den Händen gleiten, sowie eine charismatisch-autoritäre Persönlichkeit sich geschickt dieser »enttäuschten Masse« annimmt, sich ihrer bedient und sich dabei leicht zu schürende Ressentiments zunutze macht. Wir haben’s gesehen …

Der Homo politicus und die res privata sind nicht mehr im Gleichgewicht. Jeder Bürger und jede Bürgerin sollte einen kleinen Teil seiner/ihrer Zeit und Kraft für Belange der res publica aufwenden – das käme dem Gemeinwesen wie jedem Einzelnen zugute. Oder wollen wir es wirklich zulassen, dass die diversen Funktionsträger des Staates uns in Deutschland erneut zu unmündigen Staats-Dienern bzw. zu beliebig manipulierbaren Konsumenten machen?

»Wenn Freiheit das Geheimnis der Demokratie ist, dann ist es eine Freiheit zur Beteiligung und zur Mitverantwortung«, sagte Richard von Weizsäcker. Wir brauchen einen Staat, in dem wir die Subjekte des Handelns sein können und auch tatsächlich werden. Dieser Staat braucht uns: Wir selbst haben unseren Staat auszufüllen, darin (Mit-)Verantwortung als freie Bürger zu übernehmen. Er bedarf eines alltäglichen, wachen Einsatzes für die Bewahrung seiner rechtsstaatlich-freiheitlichen Grundlagen. Er lebt letztlich von unserer – freien – Zustimmung zu seiner menschenrechtlichen Basis. Gleichgültigkeit, Apathie und Verachtung sind die Schaufeln für das Grab der Demokratie. Und unser demokratischer Staat sollte uns das Geld wert sein, das er kostet, z. B. um über die Machtmittel zu verfügen, die er braucht, um im Konfliktfalle sein Recht gegen Rechtsbrecher, gegen die Gegner |53|der Toleranz, gegen jede Gewaltverherrlichung und alles rassistische Gebaren oder gar gegen Kriegsverbrecher durchsetzen zu können – oder aber auch, um in diversen Notlagen oder Katastrophen einspringen zu können.

Was »weniger Staat« praktisch bedeuten kann, haben die Opfer des Hurrikans Katrina im August 2005 in New Orleans bitter erfahren müssen. Das dortige Katastrophenmanagement darf uns kein Beispiel, sondern muss uns Warnung sein! Also: Kein Absterben des Staates, auch keine Privatisierung öffentlicher Güter und Aufgaben (z. B. der öffentlichen Sicherheit und der entsprechenden Sicherheitsdienste), sondern Förderung eines Gesetzesrahmens, der freie Entfaltung und solidarisches Auffangen ermöglicht, sollte unsere – europäische – Devise bleiben!

Der vorsorgende und der nachsorgende Sozialstaat, der die Initiative und die Leistungsbereitschaft in einem freiheitlichen Gemeinwesen stimuliert, soll unser gemeinsames Ziel bleiben. Deshalb haben die Politiker auch dafür Sorge zu tragen, dass öffentliche Güter – Wasser, Natur- und Kulturreichtümer – nicht bedenkenlos privatisiert und damit – gnadenlos! – kommerzialisiert werden. Gesundheit, Bildung, Kultur und Sicherheit sind Bereiche, in denen das Primat der Politik durch die Regierenden sorgsamst zu behaupten ist. Was verloren ist, ist verloren. (Als Beispiel sei der massenweise Verkauf von städtischem Wohnraum genannt. Nach einer gewissen Schamfrist werden die Mieter zu spüren bekommen, was es heißt, dass Wohnung nur noch ein Wirtschaftsgut ist und möglichst hohe Rendite abwerfen soll.) Und wir Bürger tun gut daran, unseren Staat zu behaupten – gegen seine äußeren und inneren Feinde und gegen alle, die ihn andauernd schlechtreden und jene miese Stimmung beklagen, die sie selbst befördern wie einige Medien, die daraus Gewinn zu schlagen trachten.

Gegen »den Staat«, »die Parteien«, »die Bürokratie« zu wettern ist populär und wird häufig bedenkenlos populistisch ausgenutzt. Das geschieht an Stammtischen genauso wie an den feinen Tafeln der »Neuen Mitte« – oder in Redaktionsstuben und |54|in Fernsehstudios. Das dumme Volk kann leicht von »Brüllern« animiert werden, ehe es wieder (mit-)brüllt.

Die einen polemisieren unablässig gegen die »zu hohe Staatsquote«, stellen alle Ausgaben, die der Weltmarkttauglichkeit nicht dienen, infrage, fordern mehr Entscheidungsspielraum, Verantwortungs- und Risikoübernahme durch den Einzelnen, auch bei der Vorsorge vor den Lebensrisiken Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Sie haben ihre Schäfchen längst im Trockenen und treten jetzt nach unten. Wahrscheinlich vermuten sie, dass sie selbst in ihrem Leben nicht mehr auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sein werden.

Andere schimpfen bloß auf »die da oben« und zweifeln, dass Politik überhaupt noch etwas bewirken kann. Sie sind befallen von jener ansteckenden Tatenlosigkeit, die bereits 1992 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt wurde: »Politikverdrossenheit«. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte den Parteien seinerzeit zu Recht vorgeworfen, sie seien »machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgaben«. Politiker sollten wahrlich in sich gehen und überlegen, warum seit den frühen 90er Jahren Parteien- und Politikverdrossenheit immer größere Teile der Bevölkerung befällt und sich mittlerweile schon zur »Volkskrankheit« ausgeweitet hat. Und die von den Regierenden Enttäuschten sollten ebenso ernsthaft nachdenken darüber, was hilfreicher ist: politische Partizipation oder völliger Rückzug aus der Mitverantwortung. Den Staat lebendig zu halten kann in der Demokratie nur eine gemeinsame Sache sein. Ohnmachtsgefühle verstärken die Ohnmacht und verleiten zur Passivität.

Es stinkt im Staate Deutschland, von oben bis unten. Ausmisten ist allemal besser als – ganz von draußen! – über den Gestank zu klagen – oder sich gelangweilt, frustriert, empört abzuwenden, nicht einmal mehr zur Wahl zu gehen. Mittlerweile sind das mehr als 50 Prozent! Tägliche Erfahrung bringt einen zu der bestürzenden Schlussfolgerung, dass mindestens ein Drittel »des |55|Volkes« mit einer Dummheit geschlagen ist, die eben diese Dummheit unbeirrbar als besondere Weisheit deutet.

Wer wollte Dietrich Bonhoeffer widersprechen, der erklärte, es sei ganz entscheidend, ob die Machthaber sich mehr von der Klugheit des Volkes beflügeln lassen oder ob sie sich mehr von der Dummheit und der Verdummungsbereitschaft versprechen. »Bosheit trägt den Keim der Selbstzersetzung in sich, aber gegen Dummheit sind wir wehrlos, weil Gründe nicht verfangen, Tatsachen einfach nicht zur Kenntnis genommen werden, Vorurteile strikt festgehalten werden. Dumme sind in der Regel restlos mit sich selbst zufrieden. Einen Dummen durch Gründe überzeugen zu wollen, ist sinnlos und gefährlich.« (Das schrieb Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1942/43 – zehn Jahre nach Hitlers Machtergreifung und nach zehn Jahre währender Verirrung der meisten Deutschen.)

Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Menschen werden dumm gemacht und lassen sich dumm machen, ohne noch wahrzunehmen, wie das ihr Denken und Fühlen beeinträchtigt. Es wird in unserer medial dominierten Welt darauf ankommen, ob die Mächtigen (in Politik, Wirtschaft, Kirche und Medien) sich mehr von der Dummheit und manipulativen Lenkbarkeit der Menschen oder aber mehr von innerer Selbständigkeit, Kritikfähigkeit und Klugheit versprechen.

Alles Lug und Trug? Das Vertrauen in die Demokratie

Wichtigstes Gut der Demokratie ist das Vertrauen ihrer Bürger in die Verlässlichkeit ihrer Regeln sowie das Vertrauen in Personen, die die Demokratie auf Zeit repräsentieren. Die Staatsform »Demokratie« braucht eine generelle Zustimmung zu ihren Grund-Prinzipien, nicht bloß partielle Zustimmung für diese oder jene Partei bei den Wahlen. Dort, wo die Bürger ihr die Akzeptanz entziehen, sich enttäuscht, resigniert oder wütend zurückziehen, nicht einmal mehr den Weg in die Wahllokale schaffen, kommt die Demokratie in Gefahr. Sie wird hohl – ganz |56|zu schweigen von der Weigerung, an einer Diskussion über anstehende politische Programme oder konkrete Entscheidungen sachkundig und beharrlich, statt vorurteilsvoll und aktionistisch teilzunehmen.

Die innere Grundlage für Vertrauen in die Demokratie kann der Staat nicht mit Gesetzen, Appellen oder äußeren Machtmitteln herstellen oder sichern. Vertrauen gibt es einerseits als freien Vorschuss – mit allem Risiko! –, und es ist andererseits Resultat von guter Erfahrung. Regierende können Vertrauen immer wieder neu rechtfertigen und ausbauen oder es wieder und wieder verspielen, indem sie gleichgültig oder arrogant Raubbau an dieser lebenswichtigen Ressource der Demokratie betreiben.

Wähler erwarten mit Recht von den Gewählten, den Beamten und Angestellten auf allen Ebenen Regelungskompetenz und von allen Funktionsträgern im jeweiligen Verantwortungsbereich eine selbstverständliche Gesetzestreue, ein bürgerfreundliches Auftreten sowie ein erkennbares Bemühen um Annäherung zwischen Reden und Verhalten (also Glaubwürdigkeit) und – bei allem Machtwillen – ein gerüttelt Maß an uneigennützigem Engagement. Die Bürger haben ein Recht darauf zu wissen, woran sie wirklich mit wem sind. Sie haben einen Anspruch darauf, dass der, der ein Amt ausübt, dies mit Sachkompetenz, persönlichem Einsatz und einer bestimmten Adäquatheit – oder sagen wir besser: Würde – ausübt. Ein wenig mehr Demut, ein wenig Selbstdistanz und Selbstkritikfähigkeit, ganz wenig Arroganz – das wär’s.

Demokraten können selber als Totengräber der Demokratie fungieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger zunehmend den Eindruck gewinnen, dass viele ihrer Repräsentanten die Bodenhaftung längst verloren haben, an ihren Ämtern und Titeln kleben, sich geschickt von anstehenden Sachproblemen fernhalten, eine Sprechblase nach der anderen absondern, ausgedroschene Floskeln aneinanderreihen und sich wünschelrutenartig an populistischer Zustimmungsfähigkeit orientieren. So wird z. B. einerseits die Lage auf dem Arbeitsmarkt oder die Lehrstellensituation schöngeredet, während man andererseits ökologische, |57|gesundheitliche und soziale Folgekosten – z. B. einer Megamastanlage für Schweine – oder Belastungen – durch Aufhebung von Nachtflugverboten – einfach wegredet. Meist wohnt man selber weit weg vom Gestank und Lärm.

Zustimmungssüchtige lassen sich von Stimmungen oder vom Zeitgeistigen treiben – und sei es, dass ein immer schneller wechselnder Zeitgeist feuilletonistisch-antreiberisch auf sie wirkt. Was sagt WELT, was der SPIEGEL, was erst der Fakten-Fakten-FOCUS? »Wie kann ich mich ins rechte BILD setzen?« – solche Prüffragen scheinen für manchen Mandatsträger das einzige Problem zu sein, über das er sich fortdauernd Gedanken macht.

Im Medienzeitalter lassen sich Politiker dazu verführen, besonders an ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrem Image, zu arbeiten und dabei den Inhalt dessen, was sie vertreten, immer flexibler und gekonnter vage zu halten, damit sie auf nichts wirklich festgelegt sind. Den Leuten soll einfach nur ein guter Eindruck vermittelt werden. Um wie andere Interessen- oder Firmenvertreter gut rüberzukommen und auf Beliebtheitsskalen obenan zu stehen, halten sich Mandatsträger hochbezahlte Imageberater, Coaches, die ihnen zu einem ansprechenden Outfit verhelfen – was ihre Haartracht, ihre Brille und ihre Garderobe betrifft. Darüber hinaus üben sie ihre Auftritte und Redefiguren. Gut bezahlte, aber für nichts haftbare Berater entscheiden, wann sie wohin gehen und wie sie sich in welcher Presse inszenieren. Die Hauptsache wird der Effekt, der schöne Schein, nicht das Denken und Handeln. Was in der Sache versäumt wird, soll im Image wettgemacht werden. Das ist schlicht eine teuer bezahlte Täuschung. Sind die Bürger misstrauisch genug und erkennen, wenn eine schöne Hülle bloß die inhaltliche Leere und Beliebigkeit verdecken soll?

Eine generelle Schelte über »die da oben« wäre indes genauso falsch wie faul. Wer genauer hinsieht, wird feststellen, dass es nicht wenige Politiker gibt, denen man mit guten Gründen vertrauen kann. Sie verdienen und bedürfen Beachtung und Achtung. Gerade deshalb sollte sich jeder einzelne Politiker klarmachen, wie leicht Misstrauen und Enttäuschung in pauschale Wut |58|umschlagen können. Die Frage, ob sein Handeln integer erscheint und es auch tatsächlich ist, sollte jeder für sich bejahen können. Der Maßstab sollte für diejenigen, denen wir als Volkssouverän Macht über uns in die Hände gelegt haben, nicht allein die Legalität ihres Tuns sein.

Welche Signale haben die von uns Gewählten, die Beamten und Angestellten des Bundes in den letzten Jahren an uns Bürger gesandt? Thomas Leif, Vorsitzender des Netzwerks Recherche und Chefreporter Fernsehen beim SWR, hat den Kontrast zwischen dem Verwaltungsfilz in der Bundesagentur für Arbeit und seinen Opfern – den Arbeitslosen, die vor der Kamera ihren Unmut kundtaten – eindrucksvoll vorgeführt. Mit jeder Sendeminute wuchs bei einem Zuschauer, der noch eine Arbeit hat, Angst und Grausen. Man möchte nur ja nicht in die Maschinerie dieser Mammutbehörde BA geraten!

Der jetzige BA-Chef Weise erklärte kalt, das Arbeitsamt habe »keinen sozialen Auftrag«. Was aber 90 000 Mitarbeiter in 650 BA-Geschäftsstellen in Deutschland mit einem Gesamtbudget von etwa 50 Milliarden Euro ohne sozialen Auftrag eigentlich anfangen, das ist eine Frage, die sich wohl jeder Zuschauer jener Recherche stellte.

Offensichtlich funktionieren die Seilschaften durch alle Kontrollgremien hindurch, denn diese Schildbürgerei der Arbeitsagentur stieß nirgends auf Kritik. Nicht einmal Franz Müntefering wies jene programmatische Aussage des BA-Chefs zurück, dass die BA »keinen sozialen Auftrag« habe. Das Ganze hat eine äußerst fatale Vorgeschichte: Der als Reformer eingesetzte Florian Gerster sollte als ein hochbezahlter Boss die BA zu »einem modernen Dienstleistungsunternehmen« umbauen. Er beanspruchte und bezog nicht nur ein fulminantes Salär, sondern behandelte Mitarbeiter wie ein autokratischer Chef einer Privatfirma. Er ging mit dem Geld um, als wäre es sein eigenes Unternehmen. Gerster hat viel Vertrauen in die Agentur selbst verspielt. Zu Recht war die Empörung in der Öffentlichkeit groß, als bekannt wurde, dass er dem Beratungsunternehmen WMP Eurocom einen millionenschweren PR-Auftrag erteilt |59|hatte, der zuvor nicht einmal ordnungsgemäß ausgeschrieben worden war.

Wenn man sich zudem vor Augen hält, wer alles bei jener hochbezahlten Imageberaterfirma tätig ist und großes Geld abschöpft, das aus Beitragszahlungen von vielen kleinen Arbeitnehmern kommt, dann meldet sich verständlicherweise kalte Wut. Dass in dieser Image-Mogel-Firma ehemalige Chefs der BILD-Zeitung arbeiten, wird in jenen Kreisen offenbar als Ausweis besonderer Kompetenz angesehen.

Ein zweites Beispiel: Nur massiver, massenhafter Protest führte bei der Deutschen Bahn zur Rücknahme eines neuen Preissystems und zur Wiedereinführung der Bahncard 50. Und nun? Jährlich fünf Prozent Preissteigerung! Der Drang zur Börse zwingt offenbar zu gesteigerter Kundenunfreundlichkeit. Was stört das den hochdotierten Boss, der sowieso so gut wie gar nicht Bahn fährt? Die Dienstleistungen in kleinen und mittleren Bahnhöfen werden auf null heruntergefahren. Nicht nur ältere Menschen stehen etwas ratlos vor den Automaten; die Bahnhofshallen sind vielerorts nicht mehr zugänglich oder werden früh geschlossen. Eine Gepäckaufbewahrung, bei der man auch unhandliche größere Gepäckstücke abgeben kann, gibt es nur noch an wenigen großen Bahnhöfen. Selbst dort reicht die Zahl der – im Übrigen sehr teuren – Gepäckautomaten nicht aus. Es gibt für solche Art Missstände keine Ansprechpartner mehr. Die Bahn ist ein Unternehmen, bei dem einzelne Privatkunden keine Stimme haben.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch der landeseigenen Bankgesellschaft riss Berlin seit 2001 hinab in eine dramatische Haushaltsnotlage. Unglaublich ist, wie viele Politiker in den Skandal verwickelt waren, und noch unglaublicher, wie viele Verantwortliche sich schadlos zu halten gewusst hatten! Die Berliner Bürger werden hingegen durch die Folgen auf noch unabsehbare Zeit hart belastet bleiben. Drastische Haushaltskürzungen bestimmen seit jenem Mega-Skandal die Politik. Wird die Hauptstadt je wieder aus der Verschuldung herausfinden können?

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Richard Göhner kann jahrelang neben seinem Abgeordnetenmandat Hauptgeschäftsführer |60|beim Bundesverband Deutscher Arbeitgeber (BDA) sein. Und der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion Norbert Röttgen wollte ab Ende des Jahres 2006 neuer Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) werden. Er wie auch der berühmte Bierdeckel-Merz halten ihre Nebenbeschäftigungen für den Ausweis ihrer besonderen Fähigkeit, als Abgeordnete mitten im Leben zu stehen und somit persönlich unabhängig von ihren Parteien zu bleiben. Unabhängig? Gilt nicht die alte Weisheit: Wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing’? »Monitor« hat im Oktober 2006 berichtet, dass Abgesandte der Industrie in Ministerien arbeiten und sogar an Gesetzesentwürfen mitwirken. Seither wurden weitere Fälle auf Bundes- und Länderebene aufgedeckt. Das System ist also bereits durch und durch verfilzt.

 

Was mochten die Arbeitslosen in Sachsen-Anhalt denken, als ihr ehemaliger Verkehrsminister, sodann einfacher Landtagsabgeordneter Jürgen Heyer sein Mandat im Dezember 2003 »wegen Überlastung« abgab? Überlastung durch seine Beratertätigkeit für die Deutsche Bahn, die er seit einem Jahr ausübte. Als Verkehrsminister von Sachsen-Anhalt hatte er im Februar 2002 noch mit Hartmut Mehdorn einen für die Bahn äußerst lukrativen Nahverkehrsvertrag abgeschlossen. Ohne Ausschreibung. Natürlich kann dieses Zusammentreffen Zufall sein. Solche Zufälle tragen jedenfalls dazu bei, dass das Vertrauen der Bürger in die politische Unabhängigkeit der Volksvertreter ruiniert wird. Die diversen, sehr gut dotierten Nebenjobs von prominenten Bundestagsabgeordneten in einer Zeit, in der die Politiker über die mageren Zuverdienstmöglichkeiten von ALG-II-Empfängern debattieren, sind schlicht zynisch. Wir müssten »nachdenken, ob dies mit den Zuverdienstmöglichkeiten so sinnvoll ist«, befand Franz Müntefering in der Frankfurter Rundschau vom 19. August 2006. Und im SPIEGEL-Interview vom 21. August 2006: »Das ALG II hat eine Form des Kombilohns geschaffen, die so nicht geplant war. Deshalb werden wir – wenn wir über den Niedriglohnsektor reden – prüfen, ob man da was verändern |61|muss.« Aber welcher Politiker prüft die Nebenverdienste von Politikern im Hoch- und Höchstlohnsektor? Wo bleibt da die Forderung nach Selbstbegrenzung? Ist alles nur ein einträgliches Spiel? Nimmt jeder, wo er kriegt, Sonderkonditionen für sich selbst an? Was hat es auf sich mit den merkwürdigen Interessenverquickungen, wenn Vorsitzende von Bundestagsausschüssen in Aufsichtsräten von Firmen sitzen, auf die Ausschussentscheidungen gravierende finanzielle Auswirkungen haben. (Grüne eifern auch dabei längst Liberalen nach!)

Wer durchschaut noch, wie stark die Lobbys der Pharma- oder Rüstungsindustrie in der parlamentarischen Gesetzgebung mitwirken?

Instinktlos, schamlos, geldgierig – so funktioniert das ganze gewinnbesessene System, in dem demokratischer Firnis auf die Herrschaft des Kapitals geschmiert wird. Das muss ja geradezu den Verdacht verstärken, die meisten Politiker seien besonders gewiefte Abzocker oder gar »Volksbetrüger«, wie viele Bürger inzwischen verächtlich bemerken. Genau das können sich die zweifelhaften Verächter der Demokratie von rechts populistisch-demagogisch zunutze machen.

Ein abschließendes prominentes Beispiel: Eine der letzten Amtshandlungen Gerhard Schröders war 2005 die Übereinkunft zwischen der deutschen Bundesregierung und dem russischen Großkonzern Gazprom, eine Erdgasleitung durch die Ostsee zu verlegen. Nach seiner Wahlniederlage wurde Schröder Aufsichtsratsvorsitzender der NEGP Company, deren Mehrheit der russische Gaslieferant hält. Was ist so etwas? Korruption? Oder einfach Vorteilnahme? Oder Ausdruck verlässlicher Freundschaft zwischen Deutschland und Russland? Es mag ja sogar alles – rein juristisch – mit rechten Dingen zugegangen sein. Und doch bleibt mindestens ein schaler Beigeschmack. Im Oktober 2006 legte der Altkanzler mit der denkbar geschicktesten Vermarktung seine Erinnerungen ausgerechnet mit zeitgleichen Vorabdrucken bei BILD und SPIEGEL vor, die ihn 2005 so gnadenlos »heruntergeschrieben« hatten. Worum geht es ihm eigentlich? Um sich und um sich und vielleicht auch noch um |62|ein besonders sattes Honorar für sein Buch? Der »Unterschicht« im Hartz-IV-Keller bleibt die Spucke weg. Da sage noch einer, man käme nicht von unten nach oben, wie es der Schröder vorgemacht hat!

Sind Politiker wirklich »alle korrupt«, wie man das heutzutage oft hört? Diesem Eindruck durch Handeln, nicht bloß durch Worte entgegenzutreten wird dringlich. Wenn der Bürger denkt, alles sei auf allen Ebenen doch nur Lug und Trug, sieht er selbst auch nur zu, wie er sich zu seinem eigenen Vorteil am Lug und Trug – z. B. durch Schwarzarbeit oder mit diversen Steuervermeidungstaktiken – eigensüchtig beteiligen kann.

Wer über Missbrauchsverlockungen von ALG-II-Empfängern klagt, sollte den Missbrauch von Vergünstigungsmöglichkeiten in der Oberklasse nicht beschwichtigend übersehen oder Empörung darüber lediglich als Neiddebatte abtun.

Natürlich: All diese Beispiele rechtfertigen nicht eine allgemeine bequeme Abmeldementalität von allem Politischen, eine fortschreitende – medial geschickt inszenierte – Selbstverblödung und passive Räsonierkultur, der sich viele erwachsene Bürger »bewusstlos« hingeben.

Unsere Demokratie beruht auf gemeinsam akzeptierten Werthaltungen. Für deren praktische Gültigkeit zu sorgen ist wohl Sache aller, zuvörderst aber derer, die das demokratische System repräsentieren. Die politische Klasse braucht mehr Klarheit darüber, welch hohen Akzeptanzverlust unser politisches System bereits erlitten hat und wie leicht das von Gegnern der Demokratie im Namen des »Nationalen« genutzt werden kann. Der Vertrauensverlust betrifft nicht nur die Regelungskompetenz und den Regelungswillen der einzelnen Politiker, sondern – und das ist schlimmer! – alle Politik, letztlich die Staatsform Demokratie selbst. Jede Enttäuschung über die Demokratie ist autoritär zu missbrauchen. Das sollten Demokraten keinen Moment lang vergessen.

|63|Agenten im Dienst der Demokratie

Kein Staat meint, auf einen eigenen Geheimdienst verzichten zu können. Und alle Geheimdienste arbeiten im Verborgenen. Das liegt in der Natur ihrer speziellen Aufgabe und stellt in einem demokratischen Staat ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Trotz aller Konspiration muss deren Wirken nämlich transparent – also auch kontrollierbar – bleiben. Wir Bürger können nicht blind darauf vertrauen, dass der Bundesnachrichtendienst einzig und allein zum Schutz der Demokratie mit den einer Demokratie angemessenen Methoden arbeitet. Demokratische Kontrolle der »geheimen Kontrolleure« ist für das Vertrauen in die Demokratie unabdingbar. Kontrolle ist manchmal nicht nur besser als Vertrauen, sondern sogar notwendig! Wer will schon Agenten vertrauen müssen? Spitzeln wird leicht zur Sucht, Verselbständigung zur Gefahr, Geheimdienstler werden zu oft jedem dienstbar: Die »Organisation Gehlen« als Vorläufer des BND bestand im Wesentlichen aus einstigen Gefolgsleuten – Fachleuten! – des Nazisystems. Die Nazis selbst arbeiteten dem NKWD in die Hände und umgekehrt.

Lenin selbst wurde 1917 mit Unterstützung des Deutschen Reiches geheim nach Russland geschleust. Und sein Aufenthalt in Zürich war ihm als »nützlichem Idioten« auch finanziert worden. Stasiüberläufer wurden für den BND tätig. Zur Zeit des Kalten Krieges haben die Geheimdienste in Ost und West gegenseitig wichtige, gar reale Bedrohungsanalysen gefertigt und bisweilen eine akut bedrohliche Kriegsgefahr gemeldet und sie entschärft – fern aller Propaganda für die Öffentlichkeit diesseits und jenseits des »Eisernen Vorhangs«. Sie haben auch gegenseitig systemaufweichend gearbeitet. Wie haben BND und Verfassungsschutz zur Zeit des Kalten Krieges gewirkt? Wer wurde von wem angeworben und abgeschöpft? Wer war wann Spitzel für welche Zwecke?

2005 wurde aufgedeckt, dass der BND viele Jahre lang Journalisten überwachen ließ, die kritisch über den Geheimdienst berichtet hatten wie Andreas Förster, Redakteur der Berliner |64|Zeitung. Ein erschreckendes Ausmaß an eigenmächtigen und selbstherrlichen Gesetzesübertritten durch die Agenten aus Pullach wurde deutlich.

Der ehemalige Stasi-Mitarbeiter und spätere BND-Zuträger Uwe Müller schilderte die Treffen in der Berliner Zeitung vom 17. Mai 2006 folgendermaßen: »Wir saßen drei, vier Stunden zusammen, haben gut gegessen und Witze gerissen, vor allem über Politiker. … Der Zustand der Republik hat sie [vom BND] sehr belustigt.« Also: Einmalig war die Stasi – jedenfalls in ihrer Außenspionagepraxis – nicht. Und sie war unter Markus Wolf ziemlich effektiv. Heute nennt man das »hochprofessionell«.

Bewegte sich der Geheimdienst während des letzten Irakkrieges innerhalb unserer rechtsstaatlichen Vorgaben? Oder handelte er eigenmächtig und ohne Wissen der Regierenden? Dann hätte der Geheimdienst nach ganz eigenen Regeln gespielt, als ein Staat im Staat, entbunden von jeglicher demokratischen Kontrolle und Verantwortung. Das wäre prekär für das Vertrauen, das wir noch in unsere demokratische und freiheitliche Grundordnung setzen können. Und falls der BND im Irak doch mit dem Wissen und ganz im Sinne der Regierung zugunsten des US-Militärs agiert hat? Das wäre mindestens genauso schlimm: Denn wie sehr würde unser Vertrauen in die Politik gestört, da die Regierenden öffentlich erklärt hatten, dass sie »für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen«.

Wir müssen uns dringend grundlegende Gedanken darüber machen, ob unsere parlamentarischen Kontrollmechanismen noch funktionieren und wie es um die (Selbst-)Gefährdung von Menschen durch und in derartigen Institutionen steht. Den pseudokommunistischen Tschekismus des Sowjetsystems habe ich glücklicherweise hinter mir, nun erschrecken mich verbrecherische Praktiken im Namen der Freiheit, ja die dunkle Verselbständigung der Geheimdienste selbst in demokratischen Staaten – insbesondere in den USA.

Der Weg zu Menschenzerstörung und Menschenverachtung durch Geheimdienste ist nie sehr weit. Es gibt immer wieder Menschen, die sich nicht im Krimi, sondern in realen dunklen |65|und verdunkelnden Tätigkeiten abreagieren und auch nachträglich kaum ein Schuldbewusstsein haben, weil sie ja von Staats wegen und wegen der »guten Sache« ihr zwielichtiges Geschäft betreiben.

Freilich ist die Demokratie noch halbwegs intakt, solange verfassungswidrige Übergriffe öffentlich diskutiert und – sowie das Geheime ans Licht kommt – untersucht werden. Das wäre in der DDR völlig undenkbar gewesen. Trotzdem scheint mir in der Bundesrepublik zweierlei geboten:

Das eine ist die Aufarbeitung des Wirkens des bundesrepublikanischen Geheimdienstes seit den Tagen der »Organisation Gehlen«. Sie hat eine sehr problematische NS-Vergangenheit (einschließlich der Mitarbeit von etwa 100 früheren SS-Angehörigen). Deshalb ist eine Akteneinsicht und wissenschaftliche Aufarbeitung der teilungsbedingten Tätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes für eine differenzierende und umfassende Sicht auf die geteilte deutsche Geschichte nach 1945 unabdingbar. Oder sollte der BND keine geheimen Zuträger in den SED-Führungsetagen gehabt haben? Neben der Birthler-Behörde mit ihrem Stasiunterlagengesetz bedürfte es eines BND-VS-Unterlagengesetzes, also einer Akteneinsichtsbehörde in BND- und Verfassungsschutzakten. Die schützenswerten Staatsgeheimnisse sowie ganz persönliche Daten mögen unberührt bleiben; aber dazu bedürfte es rechtlicher Klärungen, was als »Staatsgeheimnis« gelten muss und was aus allzu durchsichtigen Gründen verborgen gehalten wird. Kommen wir nicht zu einer solchen Ergänzung der Vergangenheitsbetrachtung unter den Bedingungen der zweigeteilten Welt, dann bleibt weiterhin der fatale Eindruck zurück, dass es im Blick auf die DDR immer noch ausschließlich um »Siegergesetzgebung« geht und dass allein die Staatssicherheit des Übels Kern darstellen würde.

Die Geheimdienste an sich sind zumeist das Übel, dem sie wehren wollen. Also: Keine Relativierung der menschenverachtenden, menschenzersetzenden Tätigkeiten der Staatssicherheit – aber eine Einordnung in die Zusammenhänge während der |66|Zeit des »Wettkampfes der Systeme« täte um der Wahrheit und der Verhältnismäßigkeit willen not. Stattdessen werden IT-gestützt Schnipsel aus Stasi-Säcken aufwendig zusammengeklebt. Lediglich die Stasi bleibt »Objekt der Neugier« – vor allem durch einige ewig im Gestrigen verhaftete Bürgerrechtler und einige medienwirksame, mit antikommunistischen Reflexen aufgeladene Westler. Aber wir sollten nicht auf einem Auge blind bleiben und den Machenschaften der Geheimdienste nachgehen.

Es wäre nach aller Erfahrung fahrlässig, blind auf die Legitimität aller Machtmittel zu vertrauen, die im Namen der staatlichen Sicherheit eingesetzt werden. Neben parlamentarischen Untersuchungsausschüssen bedarf es ständiger Wachheit und des Widerspruchswillens der Bürger gegenüber geheimen staatlichen Machenschaften, die dem Grundgesetz und den Gesetzen widersprechen. Der »Fall Masri« und der »Fall Kurnaz« beleuchten ein wenig die dunklen Machenschaften diverser Geheimdienste in demokratischen Staaten, insbesondere der CIA oder der NSA, die sich auch kaum um die Souveränität befreundeter Nationen scheren und weltweit agieren – mit einem Rabatt für Menschenrechte aufgrund des »Antiterrorkrieges«. Es gilt auch hier, unsere grundlegenden Werte praktisch zu schützen, selbst wenn dies Konflikte mit großen Freunden einschließt.

Von Niedergang und Notwendigkeit der Bürgerbewegung

Im vereinten Deutschland spricht man gemeinhin von den Widerständlern gegen das SED-Regime und von »ehemaligen Bürgerrechtlern« als Inspiratoren und Anführern des revolutionären Umbruchs in der DDR. Das suggeriert, nur in der DDR hätte es der Bürgerrechtler bedurft, in der Demokratie würden sie nicht gebraucht. Dagegen halte ich: In Ost wie West ist eine bedenkliche Abstinenz und Müdigkeit gegenüber allen politischen Prozessen zu beobachten. Doch ohne wache und einsatzbereite Bürger, wie sie sich in Attac, in Amnesty-International-Gruppen, |67|in diversen überregionalen oder lokalen Bewegungen und Initiativen sammeln, wird unsere Demokratie ausgehöhlt.

Am 3. August 1990, exakt zwei Monate vor dem »Tag der deutschen Einheit«, richtete einer der wichtigsten Inspiratoren der Friedens- und Bürgerbewegung in der DDR, der damalige Superintendent an der Kreuzkirche in Dresden, Christof Ziemer, einen Brief »an die Bürgerbewegungen in der DDR«. Er schrieb: »Ich sehe mit Sorge, dass die Bürgerbewegungen ihre Kraft und Kreativität verlieren. … An die Stelle einer breiten, bürgernahen Basisbewegung tritt die Sorge ums politische Überleben. An die Stelle der Sachorientierung auf nötige Veränderung tritt das Ringen um politische Mandate. An die Stelle der notwendigen gemeinsamen Suchbewegung tritt die Aufsplitterung in einzelne Initiativen und die Durchsetzung partieller Interessen. Das Erscheinungsbild der Bürgerbewegungen wird nicht durch die Sachanliegen und Aktivitäten an der Basis, sondern durch das Verhalten im Parlament bestimmt. Es wäre verhängnisvoll, wenn die Bürgerbewegungen im tagespolitischen Macht- und Interessenstreit ihre Kraft vergeuden. … Das A und O der Bürgerbewegung ist ihre breite, außerparlamentarische Präsenz und Entfaltung. Gerade die sehr wünschenswerte parlamentarische Aktivität hat nur eine reelle Chance, wenn sie von einer intensiven Basisarbeit getragen wird. Das gilt umso mehr, als die Bürgerbewegungen in absehbarer Zeit keine parlamentarische Mehrheit erlangen werden. Das Hauptziel muss deshalb darin liegen, eine breite Zustimmung zu wichtigen Veränderungen – unabhängig und quer zu den politischen Parteien – bei den Bürgern zu erreichen.«

Was man als Parteien-, dann als allgemeine Politikverdrossenheit bezeichnet, zeichnete sich bereits 1990 ab, als die Parteien alle Initiative an sich rissen. Die Bürgerrechtsbewegung in der DDR war ein Zweckbündnis unterschiedlichster Menschen gewesen, die vor allem eines verband: dass sie die kommunistische Einheitsgesellschaft unter Führung der SED ablehnten und freie Bürger sein wollten. Den Übergang in die Demokratie, den damit verbundenen politischen Pluralismus und ökonomisch alle |68|Lebensbereiche beherrschenden Kapitalismus hat sie insgesamt nicht überlebt.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brauchen wir keinen Mythos der vergangenen Bürgerbewegung, sondern aktive, sich zu Wort meldende und eingreifende Bürgerrechtler! Denn die Fragen der Bürgerbewegung stellen sich neu, ob in Hinblick auf diverse Diktaturen oder auf das, was in Guantánamo oder Grosny, in Tel Aviv oder Ramallah, in Beirut oder Haifa, bei den Praktiken der Geheimdienste im Kampf gegen den Terror sowie durch Regime geschieht, die den Terror schüren und finanzieren. Anna Politkowskaja hat – ebenso wie viele andere Journalisten – ihren Mut, ihre politische Unabhängigkeit, ihre Klarheit und ihr Mitgefühl mit den Opfern des Tschetschenienkrieges mit dem Leben bezahlen müssen. Die Reaktion Putins zeigt sowohl dessen Kälte als auch die Fragilität der Demokratie im heutigen Russland.

Für Proteste gegen die Überwachungspläne von Innenminister Wolfgang Schäuble in Deutschland 2006 hätte es wacher Bürger bedurft, die vehement gegen jedes Beschneiden der Bürgerrechte aufgrund angeblicher Sicherheitsnotwendigkeiten eintreten. Schon bei Schilys sogenanntem »Otto-Katalog« waren aber kaum Stimmen von Bürgerrechtlern vernehmbar, schon gar nicht aus den Reihen der ewigen Stasi-Aufarbeiter mit ihrer Blindheit für die Machenschaften anderer entsprechender »Dienste« bis 1989 und seither.

Die Zukunft des bürgerschaftlichen Widerstandes und Engagements wird in neuartigen Bündnissen wie Attac liegen. Diese globalisierungskritische Bewegung hat – unterstützt von den Gewerkschaften ver.di und Erziehung und Wissenschaft, dem BUND oder Pax Christi bis hin zu kapitalismuskritischen Gruppen – verschiedenste Aktionsformen und Methoden entwickelt. Inzwischen gibt es über 200 Ortsgruppen in Deutschland. Wenn bei den zweimal jährlich stattfindenden Attac-Vollversammlungen Erfahrungen ausgetauscht werden, Entscheidungen im Konsensverfahren getroffen werden und alle Anwesenden – gleich ob Mitglied oder nicht – Rede- und Stimmrecht haben, dann ist das gelebte Demokratie im Kleinen. Die bundesweiten Kampagnen |69|»Internationale Steuern«, »Bahn für alle« und zum G8-Gipfel 2007 in Deutschland, aber auch lokale Protestaktionen gegen Sozialabbau werden wahrgenommen. Das sollte Mut machen und zu eigenem Engagement und kritischer Beobachtung unserer Demokratie auffordern. Verstetigt sich das Engagement, kommt man allerdings nicht ohne institutionalisierte Formen aus – mit allen Problemen, die jede Institutionalisierung aufwirft.

Wie leicht auch eine »erwachsene Demokratie« sich selber abschaffen kann, konnte Italien erleben, ehe es mit knappster Mehrheit der (Selbst-)Unterwerfung durch einen reichen Demagogen – vorläufig! – entrann. Demokratie ist ein stets gefährdetes Projekt, eben weil Menschen, einmal an der Macht, schwer davon lassen können und allzu leicht autokratische Züge bekommen. Macht und Machtmittel müssen um der Bürger wie um der Machtinhaber willen selbst begrenzt bleiben. Die Machtübergabe muss rechtlich klar geregelt sein. Man erinnere sich an die Entgleisung Gerhard Schröders in der Wahlnacht 2005. Er präsentierte sich als bockiger Abgewählter, der so gar nicht mehr »nach Volkes Pfeife«, ja nicht mehr nach demokratischen Regeln tanzen wollte.

 

Die Politik in der Demokratie droht am Anfang des 3. Jahrtausends zur Beute von Parteien, von Lobbyinteressen der Expertokraten, von Medien unter Quotendruck und von Beraterfirmen zu werden. Und »das Volk« wird zur passiven Verfügungsmasse, wenn sich nicht viele Bürgerinnen und Bürger für eine lebendige Demokratie engagieren, um der Ökonomie das Primat der (Welt-)Herrschaft wieder zu entreißen. Mangel an politischem Interesse und an – durchaus anstrengender, lustferner – politischer Bildung und politischer Bindung erweitern für jene das Terrain, die nicht auf den mündigen Bürger setzen, sondern auf den gefügigen Kunden oder Nutzer von »niedrigschwelligen Medien« wie BILD, »Unterschichtenfernsehen«, Killer- und Gewaltvideos und Gewaltspielen. Was und wieviel Sie sich davon reinziehen, dürfte Sie mehr beeinflussen, als Sie meinen.

|70|Acht Prozent der Bevölkerung gehören – laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2006 – zum »abgehängten Prekariat«. Im Westen zählen vier Prozent zu dieser Unterschicht, im Osten bereits jeder Vierte. Die Betroffenen sind sozial isoliert und antriebslos geworden, sehen für sich keine Chance mehr, den Anschluss wiederzugewinnen oder eine Arbeit zu bekommen.

Zu den Autoritätsorientierten, Geringqualifizierten zählt die Studie 7 Prozent, zu den selbstgenügsamen Traditionalisten 11 Prozent, zur bedrohten Arbeitnehmermitte 16 Prozent, zu den zufriedenen Aussteigern 13 Prozent, zum engagierten Bürgertum 10 Prozent, zur kritischen Bildungselite 9 Prozent, zu etablierten Leistungsträgern 15 Prozent und zu den sogenannten Leistungsindividualisten 11 Prozent. Bei den (noch) Etablierten wächst die Unsicherheit, ob sie nicht auch bald ins Prekariat fallen könnten. Solche Angst ist sowohl in der sogenannten Arbeitnehmerschaft, beim Mittelstand als auch bei Akademikern ausgeprägt.

Man mag darüber streiten, ob die in der Studie genannten Kategorisierungen treffend sind; aber die Zahlen sollten ein Alarmsignal sein. Zumal, wenn wir uns klarmachen, dass fast 39 Prozent der Ostdeutschen für Niedriglöhne arbeiten. Jedes vierte ostdeutsche Kind lebt unterhalb der Armutsgrenze, im Westen schon jedes Neunte. Niedriglöhne sowie die sogenannten 400-Euro-Jobs führen zu einem drastischen Abbau normaler Beschäftigungsverhältnisse zu Tarifbedingungen. Zugleich häufen sich die Meldungen, wie sich die Vorstände der Großkonzerne selber kräftig mit Gehaltsaufbesserungen (bis zu 30 Prozent) bedienen, während sie Zigtausende entlassen.

Wen kann es da noch wundern, wenn das Vertrauen nicht nur in die Handlungsfähigkeit der Demokratie, sondern auch in die Seriosität wirtschaftlichen Handelns abnimmt und über Ressentiments wieder zu Stimmungslagen führt, die von Rechtsradikalen ausgenutzt werden. Die Parolen der Neonazis in Sachsen oder Mecklenburg sind zwar an Primitivität kaum zu übertreffen, aber sie treffen den Nerv vieler von der Gesamtentwicklung »enttäuschter Deutscher«, die einen »Nationalen Aufbruch« |71|wünschen und »die Ausländer« für soziale Probleme der Deutschen (mit-)verantwortlich machen. Deshalb schüren sie Fremdenfeindlichkeit. Sie sind im ursprünglichen Sinne »National-Sozialisten«, die ganz und gar darauf verzichten, an das zu erinnern, was Nazis angerichtet haben.

Widerspruch wagen

Angesichts der Globalisierung gebe es keine Alternative zum Umbau des Sozialstaats, wird uns erklärt. Die oben genannten Zahlen belegen jedoch, dass der Sozialstaat zur Disposition gestellt wird. Es steht nicht mehr und nicht weniger zur Debatte als Artikel 1 unseres Grundgesetzes (die Würde des Menschen ist unantastbar) und die Gültigkeit von Artikel 14, wonach Eigentum geschützt wird, aber zugleich dem Gemeinwohl dienen soll.

Alle am Gedeihen des demokratischen Staatsgebildes interessierten Bürger müssen alles tun, damit die soziale Wirklichkeit den Verfassungsgrundsätzen nicht Hohn spricht. Das erfordert alltägliche Zivilcourage.

 

Die »Tapferkeit im Felde« sei den Deutschen eigen, aber nicht die Tapferkeit im zivilen Leben, merkte der liberal-konservative Bismarck bitter an, nachdem er im Parlament einmal mit seiner Meinung allein dagestanden hatte, aber andere ihm hernach beteuert hatten, sie dächten wie er. Wohl jeder kann ähnliche eigene Erfahrung beisteuern: Wenn man mit Berufskollegen oder Parteifreunden zusammensitzt und gemeinsam über seine Gegner herziehen kann, dann sind alle ganz mutig und übertreffen einander in ihrer Polemik. Äußert aber einer unter Freunden, die sich ganz einig scheinen, eine eigene, abweichende Meinung – gar zugunsten des gemeinsamen Gegners –, so werden die anderen in der Regel sehr zurückhaltend oder schweigen klug.

In unseren Parteien zumal entwickelt sich ein zunehmender Gleichschaltungsdruck. Ihr Führungspersonal reagiert in der |72|Regel ziemlich empfindlich gegenüber interner Kritik. Und eine geradezu bigotte Presse beklagt entweder lautstark die Gleichschaltungstendenzen in den Parteien bei wichtigen politischen Entscheidungen, oder aber sie stürzt sich auf die Partei, die sich in einem offenen oder gar öffentlichen Diskussionsprozess in komplizierten Fragen befindet. Dem Normalbürger ist das faktisch »imperative Mandat« äußerst anrüchig geworden, da es im Widerspruch zum Grundgesetz steht, wonach der Abgeordnete nur seinem eigenen Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist (Artikel 38). Nun wünscht sich derselbe Bürger aber auch eine klare Linie in den Parteien und Entschlüsse, die Mehrheiten finden, um durchgesetzt werden zu können.

Was nun? Will »der Bürger« von Politikern mehr individuelle Unabhängigkeit oder mehr politische Durchsetzungsfähigkeit? Es war schon mutig, als Angela Merkel in der Mitteldeutschen Zeitung vom 22. Juli 2004 zugab: »Es gibt keine Gewissheit über den einzig möglichen Weg, sondern wir leben auch von der Erfahrung, ob sich etwas bewährt oder nicht. … Ich glaube aber auch, dass der Irrtum eine produktive Kraft hat.« Warum sollen Parteien untereinander nicht streiten, bevor sie zu einem differenzierten und sachdienlichen Entschluss kommen? Warum wird die zunächst kontroverse Suche nach Lösungen nicht öffentlich honoriert? Warum wird die politische Kontroverse auch in den Parteien stets mit Schlagzeilen über konzeptionelles Durcheinander, strukturelle Uneinigkeit oder persönlichen Machtkampf quittiert? Besteht nicht eine Partei – eine Volkspartei zumal – aus selbstständig denkenden Individuen?

Demokratie lebt auch vom Streit, der freilich nicht immer öffentlich ausgetragen werden muss. Sie bedarf einer Atmosphäre, in der Streiten in der Sache möglich bleibt und die Kompetenz der Einzelnen genutzt wird. Der obwaltende Uniformierungszwang ist inzwischen dramatisch zu nennen: Wer unbequeme Wahrheiten in die Diskussion einwirft, wird oft als Querulant denunziert, wer den Sozialstaat verteidigt, dem wird Reformunfähigkeit, Besitzstandswahrung und Blockadeverhalten vorgeworfen. |73|Das haben etwa Norbert Blüm und Heiner Geißler ebenso erlebt wie Otmar Schreiner und Andrea Nahles. Die meisten Menschen wollen bei der Mehrheit sein und wollen stets mit-siegen: ob bei Wahlen, beim Niederkonkurrieren des Anderen, beim Sport oder im vaterländisch-patriotischen Ernstfall. Wo einer ausschert, ist man schnell mit Wortkeulen zur Stelle: Abweichler, Betonkopf, Dissident, Nörgler, Egozentriker, Heißsporn. Freilich: »Aus Prinzip dagegen zu sein« und sich stets querzustellen ist tatsächlich ein charakterlich beschwerliches, sozial schwer verträgliches Querulantentum. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit dagegen zu sein, seine eigene Meinung zu haben und sie dort zu vertreten, wo es darauf ankommt, sich der Mehrheit oder der Macht aus eigener Einsicht oder auf Grund seiner Überzeugungen bewusst entgegenzustellen – das ist Zivilcourage. Also, jeder möge sich prüfen!

Wer sich (unsinnigen oder unsittlichen) Befehlen widersetzt, die Tapferkeit beim staatlich organisierten und legitimierten Töten des Feindes verabscheut und die Tapferkeit vor dem Freund übt, braucht viel Zivilcourage. Im Kriegsfall muss er gar mit Todesurteil oder immerwährender öffentlicher Schande (als Deserteur, Feigling, Vaterlandsverräter) rechnen. Selbst Soldaten, die am Ende des Zweiten Weltkrieges desertierten, wurden in Deutschland jahrzehntelang nicht rehabilitiert!

Wo einer den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes (ohne Anleitung eines anderen, gar ohne jede Anweisung!) zu bedienen (also tätig zu werden, statt nur vor sich hin zu räsonieren!), zeigt er Zivilcourage. Auch Helga Schöller, die Buchhalterin Klaus Essers, hatte Zivilcourage. Während des Mannesmann-Prozesses 2004 beteuerte Esser unablässig, er habe sich völlig korrekt verhalten. Seine Buchhalterin war indes aufs äußerste empört angesichts der Überweisungen, die sie für ihn tätigen sollte. Sie hielt sie zurück, rief einen Wirtschaftsprüfer zu Hilfe und musste die Gelder schließlich doch überweisen. Ihr verschlägt es noch heute die Sprache. Sie fragte sich ganz schlicht, wie die Zahlungen zu begründen, mit welchen besonderen Leistungen solche Summen zu rechtfertigen seien. Sie hat sich ein |74|natürliches Gefühl für Redlichkeit bewahrt. Sie sagte: »Ich hätte mich geschämt, zusätzlich noch Geld zu nehmen.« Aber für Klaus Esser war und ist das Wort Scham offenbar ein Fremdwort. Stattdessen erstritt er sich nach dem Prozess noch zusätzliches Schmerzensgeld. Bei den Normalbürgern hinterließen der spektakuläre Prozess und sein Ausgang kalte Wut, dumpfe Ohnmachtsgefühle oder schlicht Fassungslosigkeit.

Die vornehmen, ohne jede Maske sofort in der »Dreigroschenoper« auftrittsfähigen Absahner berührte die Frage der Legitimität ihres Verhaltens in keiner Weise; sie versuchten vielmehr, mit zahlreichen Finessen und teuren Anwälten die Legalität ihres Handelns nachzuweisen. Ende November 2006 konnten sie sich endgültig rauskaufen, weil dem Gericht der Sachverhalt kaum klärbar erschien. Sie gelten nun nicht als vorbestraft. Aber sie könnten den Schlusschor von Brechts »Mahagonny« übernehmen: »Für Geld gibt’s alles/und ohne Geld nichts/drum ist es das Geld nur/woran man sich halten kann.«

Unvergesslich bleibt, wie der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sich vor dem Prozessbeginn in Siegerpose hatte ablichten lassen und dann spöttisch verkündete: »Da muss Deutschland durch. Deutschland ist das einzige Land, wo die, die Werte schaffen und erfolgreich sind, vor Gericht stehen.« Herr Ackermann bekommt für seine besondere Leistung zwischen 8 und 10 Millionen Euro Jahresgehalt und kann sich wohl kaum vorstellen, dass es andere gibt, die auch »Werte schaffen«, kompetent und fleißig sind, aber weniger als ein Zweihundertstel dessen verdienen, was er bekommt. Ackermann kann locker 3,2 Millionen € berappen, auf die sich Verteidiger und Staatsanwaltschaft im Mannesmann-Prozess einigten. Die Sache ist erledigt. Auch für Klaus Esser, der 1,5 Millionen zahlt, und vier weitere Beschuldigte. Sie haben doch nur für die Aktionäre das Beste getan. Staatsanwaltschaft und Richter erklärten nach dem »Vergleich«: »Das ist kein Handel mit der Gerechtigkeit«. Die Einstellung des Prozesses werde »allen Interessen weitestgehend gerecht«.

Mut machte hingegen, als im Juli 2004 gerade einer aus dem |75|Kreis der Bankiers versuchte, so altmodisch scheinende Begriffe wie Redlichkeit, Maß, Demut, Gemeinwohl, ja Ethos überhaupt in die Debatte der heutigen smarten Geldleute einzubringen. Der ehemalige Chef der Westdeutschen Landesbank Ludwig Poullain wollte bei einem Festakt eine Rede über den Sittenverfall im deutschen Bankenwesen halten. Man ließ ihn einfach nicht reden, weil der 84-Jährige die kritischen Passagen seines Vortrages nicht hatte streichen wollen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien dann am 16. Juli 2004 die »Ungehaltene Rede eines ungehaltenen Mannes«. Dieser redet seinen Kollegen ins Gewissen, ganz und gar nicht aus der Position eines Selbstgerechten, sondern aus der eines »Bankiers«, der sich ein Ethos bewahrt hat, das er fundamental gefährdet sieht – durch Ignoranz und Arroganz der »Banker«, die stets karrierebesessen schweigen, lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und ohne jedes Verantwortungsgefühl handeln.

»Seit jeher«, heißt es dort, »ist es unbequem, eine eigene Meinung zu haben; noch beschwerlicher kann es werden, wenn man sie auch von sich gibt.« Selbstverständlichkeiten spricht er aus, die inzwischen vergessen sind: »Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur der Generator unserer Gesellschaftsordnung, sie ist auch ihr moralisches Korsett. … Nicht die mit ihr Unzufriedenen – weil sie zu wenig Soziales abwirft – noch die sie kritisierenden Werteverbesserer können sie gefährden; dies vermögen allein die in ihrem Zentrum Agierenden, wenn sie nicht endlich die Balance zwischen ihrem Eigennutz und der Verantwortung, die sie für unser Land tragen, finden. Darum, ihr Bankleute, wartet nicht, bis die Tide kippt und sie euch zu neuen Ufern trägt. Schwimmt schon jetzt los, gegen den Strom dieser Zeit. Erforscht euch einmal selbst, wischt euch den Puder von der Backe, achtet weniger auf euer Image als vielmehr auf das Standing – das eurer Bank ebenso wie das persönliche. Sagt, was ihr denkt, tut, was ihr sagt. Öffnet eure Gesichter.«

 

Seinen Kollegen ins Gesicht sagen, was man denkt! Darauf vertrauen, dass die Angesprochenen zuhören und sich ändern |76|können. Das ist jener so nötige Mut, in der eigenen Gruppe Widerspruch zu wagen, das ist es, was Ingeborg Bachmann als »Tapferkeit vor dem Freund« bezeichnete. Durch ein solches Verhalten nimmt man freilich das Risiko erheblicher selbstverantworteter Nachteile bzw. existenziell bedrohlicher Sanktionen auf sich. Allzu oft wird man einsam, wenn man sich gegen die Freunde stellt. Aber ein Mensch mit Zivilcourage begegnet auch Hochachtung und erfährt – meist späte – Anerkennung. Vor sich selbst bestehen, sich im Spiegel sehen können und aufrecht gehen, tut auch gut und stärkt das Selbstwertgefühl. Man spürt sein Selbstvertrauen ohne Selbstüberhebung wachsen!

Starke neigen zu Skrupellosigkeit, während Sensible häufig mit Skrupeln kämpfen. Die Unbeachteten, die Stillen, Zurückhaltenden wachsen in entscheidenden Momenten oft über sich hinaus. Manchmal sind es gerade die vermeintlich Ängstlichen, die dort großen Mut haben, wo jene, die stark erscheinen, einfach nur feige sind. Zumal Frauen haben oft einen besonderen »Mut des Herzens« gezeigt. Man denke an die Witwen der Männer des 20. Juli, an Hildegard Hamm-Bücher oder Regine Hildebrandt.

Wo das Zusammenleben von Menschen gedeihlich bleiben soll, braucht es immer wieder Menschen mit Zivilcourage, die sich einsetzen: für die gefährdeten Güter der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, des Schutzes der Schwachen, die Minderheiten oder die Fremden. Wenn in einer Runde über einen Abwesenden hergezogen oder übel geredet wird – nicht schweigen, wo einer gemobbt wird, ihm zur Seite stehen, bevor man selbst betroffen ist. In einer Partei nicht nur den Gegner kritisieren, sondern auch seinen Freunden gegenüber offen und kritikfähig sein. (Ich erinnere an Günter Gaus, Wolfgang Ullmann, Gräfin Dönhoff und deren Lebenswege und couragierte Einmischungen in Konfliktlagen.)

So, wie es ansteckende Angst gibt, so kann auch Mut anstecken: ganz alltäglich wahrhaftig und solidarisch zu sein – mit einem Wort: ein Mensch zu sein, auf den man sich verlassen kann, in guten Tagen, in schweren Tagen, auf höheren Ebenen, auf alltäglichen Ebenen. Mut tut gut. Und Mut macht Mut.

|77|Zivilcourage ist nichts Außer-Ordentliches; sie ist jedermann abverlangt – gegen die in jedem von uns schlummernde Feigheit. Zivilcourage ist positive Ethik. Es reicht nicht, gemäß dem Strafgesetzbuch untadelig zu leben, man muss sich aus eigener Initiative fragen, was zu tun ist und sodann aus eigenem Entschluss handeln. Man muss wissen, was es heißt, ein Mensch zu sein: ein Mitmensch zu sein. Nicht die Kraft zum Außergewöhnlichen, die Kraft zum Gewöhnlichen fehlt uns meistens. Dabei macht nichts so müde wie das, was wir nicht tun. Homo homini lupus? Homo homini homo! Der Mensch sei den Menschen ein Mensch, nicht ein Wolf. Wir Menschen brauchen einander. Heute ich dich und morgen du mich. Ein Mensch mit Zivilcourage ist ein Mensch mit aufrechtem Gang. Das ist manchmal schmerzhaft, aber es ist einfach wunderbar, wenn man vor sich und vor anderen bestehen kann. Volker Braun schrieb vor über 20 Jahren:

 

Aber in dieser Zeit

 

begann ein

neues, härteres

Training

des schmerzhaften

und

wunderbaren

aufrechten Gangs.

 

Demokratie wagen heißt, höhere Ansprüche an sich selbst und an andere zu stellen und darin das Glück der Freiheit wie das Glück wahrgenommener Mit- und Selbst-Verantwortung zu finden. Für seine Meinung mutig auf- und einzustehen, das ist gelebte Demokratie. Sie erlaubt und erwartet von uns, dass wir uns äußern und beteiligen. Nicht erst erneute Unfreiheit sollte den Geschmack an der Demokratie wecken. Wir haben die Wahl. Gerade noch.

|78|Schnauze voll! Wahlverweigerung in der Demokratie

Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern fiel die Wahlbeteiligung von 71 Prozent (bei den Wahlen 2002) auf 59 Prozent im September 2006. In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt blieben im März 2006 sogar 56 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zu Hause, als Landtagswahlen anstanden. Im Jahre 2002 waren wenigstens noch 56 Prozent hingegangen. Da Demokratie aber von Beteiligung lebt, steht unser politisches System durch den Wählerschwund auf dem Prüfstand! Mehrheiten allein sind nie ein ausreichendes Kriterium, aber aus der Mehrheit der »Abstinenzler« ließe sich etwas formen, was für unsere Demokratie zu einer Existenzfrage werden kann.

Mit Stolz berichten viele, sie seien als Strafe für die Politiker nicht zur Wahl gegangen, und glauben, das sei Mut, als ob man noch in der DDR lebe, wo es tatsächlich eines gewissen Mutes bedurft hatte, kein gefügsamer Zettelfalter zu werden. Wer Wegbleiben als Stimme wertet, die andere gefälligst zu hören hätten, und Stummbleiben zum Widerstand hochstilisiert, irrt sich gewaltig.

Seinerzeit enthielt sich nur eine verschwindende Minderheit der Stimme: 1,18 Prozent – jetzt sind es 56 Prozent! Anscheinend hat die Hälfte der Menschen »keinen Bock« mehr auf Politik, die nicht mehr viel bestellen könne. Natürlich fragt die globalisierte ökonomische Macht nicht danach, wie viele Arbeitsplätze noch verlorengehen, wenn es um Weltmarktanteile und Aktienkurse geht, aber sie schlägt lokal zu Buche.

Sachsen-Anhalt muss seit 1990 mit der Bürde eines dramatischen Strukturwandels leben. Ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos, perspektivlos, fühlt sich zu nichts nütze. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird immer geringer. Hier ist nicht gut leben. Das Gefühl, dies sei »unser Land« oder gar unsere Heimat, für die jeder mitverantwortlich ist, wo Bürger einander brauchen, fehlt weithin. Hier war einmal ein Kulturland. Es ist ein Teufelskreis: Die Flexiblen, Leistungsstarken, Innovativen gehen. Zurückbleiben jene, die auch woanders keine Chance fänden.

|79|Mit der Aktion der »Heimatschachteln« sollte im Frühjahr 2006 dieser Problematik begegnet werden. Sie wurden an abgewanderte 18- bis 30-Jährige verschickt, um die verlorenen Landeskinder zur Rückkehr zu ermuntern. »Die Pakete enthalten auch kleinere Geschenke, die positive Erinnerungen wecken und die Magdeburg-Identität stärken sollen: Gutscheine für Bars, regionale Produktproben, ein Zeitungs-Abonnement oder ›Heimat-Magneten‹ für den Kühlschrank im neuen Zuhause.« (Berliner Zeitung, 16. März 2006)

Ausgedacht hatte sich die Aktion Christiane Dienel, einst Professorin an der Hochschule Magdeburg, dann Parlamentarische Staatssekretärin. Seien wir ehrlich: Ein Kabarettist hätte es sich nicht besser ausmalen können! Eintrittskarten des Magdeburger SC, Burger Knäckebrot und ein Heimat-Krimi sind ein schönes Präsent für die Abgewanderten, aber sicherlich keine politische Lösung für die massiven Probleme, die dazu geführt haben, dass aus Sachsen-Anhalt zwischen 1990 und 2003 250000 Einwohner (12,2 Prozent) abgewandert sind.

Es ist beunruhigend, auf der Straße zu hören: »Dieses System ist nicht in der Lage, unsere Probleme zu lösen. Es ist völlig egal, wer in Magdeburg oder in Berlin regiert, weil über Zukunft an der Börse in New York, nicht an Kabinettstischen in Deutschland entschieden wird.« Die Erwartungen an den Staat sind hierorts so groß gewesen, dass sie jetzt auf dem Enttäuschungspegel null angelangt sind. Kein Engagement, kein Protest, keine revolutionäre Radikalkritik, sondern apathisches Abwarten ohne jedes Erwarten. Entpolitisierung ist Verweigerung jeglicher Mitverantwortung, ja ein stilles Einverständnis damit, fortan nurmehr Objekt des Handelns anderer zu sein – ob benennbarer Mächtig-Reicher oder ferner anonymer Mächte. Der Citoyen – sofern er kurzzeitig 1989 aufgestanden war – meldet sich ab, macht die Bierflasche auf und stellt Comedy an. Ansonsten äußert er sich abfällig über alle, die es »geschafft haben«, die »überall nur abzocken«. Meinungen werden auf Schlagzeilen-Niveau reduziert. Wehe uns, dieses Potential würde mit kräftigen Ressentiments wach gemacht oder mit großsprecherischen |80|Parolen gefüttert. Wie viel destruktive Kraft sich angesammelt hat, konnte man beim Landtagswahlkampf 2006 erleben, wo Politiker wie Abtreter behandelt wurden. Machten sie konkrete Versprechen, wurden sie als »Lügner« gescholten, machten sie keine, wurde ihnen »Konzeptionslosigkeit« vorgeworfen.

Bei manchen Wahlveranstaltungen konnte einem schon angst und bange um die politische Kultur werden, dominierte doch dort bisweilen ein jede Sachdiskussion konterkarierender Plebs mit verächtlichen Ein- und Anwürfen an »die Politiker«. An ein Ausreden war überhaupt nicht zu denken. Die beschimpften Repräsentanten brauchten viel Selbstbewusstsein und Gelassenheit, um nicht auszurasten. (In Berlin wurden 2006 bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Wahlhelfer tätlich angegriffen.) Dahinter verbirgt sich reale Verzweiflung, tiefgehender Frust, der endlich einen vermeintlichen Ansprechpartner gefunden hat.

Vertrauen in die Parteien siedeln Demoskopen ganz unten an. Es ist nicht Zeit, »Alarm zu schlagen«, aber es ist Zeit, sehr unruhig zu werden. Wenn der Datenreport 2006 zeigt, dass die Akzeptanz der Staatsform Deutschlands in den letzten Jahren gesunken ist, dann ist das ein dramatisches Signal für den Zustand unserer Demokratie, die von gestaffelter Beteiligung lebt und bei Dauerabstinenz erlischt. Besonders hoch war der Zustimmungsverlust in Ostdeutschland: Nur noch 38 Prozent der Befragten sagten, dass die Demokratie in Deutschland die beste Staatsform sei, die relative Mehrheit von 41 Prozent glaubte das nicht. Immerhin schon 22 Prozent der Ostdeutschen vertrauen der »Demokratie an sich« nicht mehr. Bei der Befragung 2000 waren es nur 8 Prozent gewesen, die eine andere Staatsform für besser hielten. Wer die Demokratie nicht für die beste Lösung hält, hat freilich noch keine Antwort darauf gegeben, welches die bessere Lösung sei, und schon gar nicht darauf, wie diese in die Realität überführt werden könnte. Mit der Absage an die Demokratie verleihen die Befragten einem grundsätzlichen Unbehagen über die gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse Ausdruck. Konkret meinen sie:

  • |81|»Dieses System löst unsere Probleme nicht, sondern verschärft sie noch.«

  • »Die Parteien denken nur an sich, sind verfilzt, unfähig und vertreten uns Bürger nicht.«

  • »Weil durch Wahlen nichts gelöst wurde, gehen wir nicht zur Wahl. Vielleicht können wir die Politiker durch Nichtbeachtung (oder Verachtung) wenigstens irgendwie ärgern.«

  • »Bei der Wahl haben wir sowieso keine Alternativen. Die Politiker sind ja doch alle gleich.«

  • »Uns geht es schlecht. Die Politiker lassen sich’s aber gut gehen, erhöhen sich selber ihre Diäten.«

Regelmäßige attestieren Politiker und westlich sozialisierte Professoren Ostdeutschen aufgrund solcher Befragungen generell mangelnde Freiheits- und Demokratiefähigkeit. Dabei ignorieren sie:

1. Nicht die Demokratie wird grundsätzlich abgelehnt, sondern der politische und ökonomische Rahmen, der Reiche immer reicher und Ärmere immer ärmer werden lässt. Die Menschen weigern sich, dies zu den Selbstverständlichkeiten des demokratischen Systems zu zählen.

2. Es waren doch die Politiker, die den Menschen 1990 versprochen hatten, es würde vielen besser und keinem schlechter gehen. Nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch und einem gewaltig-gewaltlosen demokratischen Aufbruch fand sich die große Mehrheit der DDR-Deutschen aber alsbald auf der Verliererseite. Sie mussten Platz nehmen auf der Nachsitzer-, Bittsteller-, Anklage- oder Rechtfertigungsbank. Das nährte immense Enttäuschung und Misstrauen gegenüber Politikern in der Demokratie. Und viele fingen an, die Vorteile des Lebens hinter der Mauer mit den Belastungen des Lebens in der Freiheit zu verrechnen.

Demokratie ist besonders gefährdet, wenn die Menschen keine genaue Erinnerung an autoritäre und diktatorische Systeme mehr haben. Den Ostdeutschen, die sich über die Demokratie beklagen, rufe ich deshalb zu: »Vergesst nie, was wir hinter uns haben, und packt an, was vor uns liegt.« Zur Wahl gehen – das ist |82|der kleinste Beitrag zur Partizipation, den wir aus der Mitverantwortung für unser Land heraus zu leisten haben.

Zu viele Menschen in diesem reichen Land haben kaum mehr die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten einzubringen bzw. wenige Kompetenzen zur Selbstentfaltung entwickelt. Sie haben zwar die bürgerliche Freiheit zu sagen, was sie denken, sich mit anderen zu versammeln, um Interessen gemeinsam zu vertreten; sie können reisen, wohin sie wollen, wenn sie das Geld dazu haben. Aber sie fangen an, gar die Freiheit als hohen Wert infrage zu stellen, wenn Freiheit nicht mehr mit Gerechtigkeit gepaart ist. Es geht darum, möglichst vielen, die für das Funktionieren der Wirtschaft nicht gebraucht werden, ein Selbstwertgefühl zu vermitteln und ihnen Chancen zur Teilhabe am sozialen Leben zu eröffnen.

Wie können wir in unserem demokratischen System sozialen Ausgleich zusammen mit nachhaltigem wirtschaftlichem Aufschwung befördern? Die Antwort auf diese Frage müssen wir als Deutsche gemeinsam suchen. Es wäre für unser Zusammenleben kontraproduktiv, wenn im Osten weiter West-Enttäuschung, im Westen Ost-Wut geschürt würde. Wo vorgestrige Konflikte wieder aufleben oder erneut angeheizt werden: Lasst es gut sein und tut etwas, damit es besser wird!