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Jürgen Schneider saß am Montagnachmittag an seinem Schreibtisch und aß, wie täglich um diese Zeit, zwei Hefeteilchen und trank einen Pott viel zu dünnen Kaffee aus dem Automaten dazu.

„Wirst du als Pensionär auch jeden Tag deine Vesper abhalten?“, fragte ihn Frank Eller.

Schneider, in Gedanken versunken, schaute zu ihm auf.

„Wenn du mir die Teilchen jeden Tag persönlich nach Hause lieferst, so, wie ich das immer mit dir mache, ja.“

„Habt ihr denn keinen Bäcker in eurem Dorf?“

Richtige Bäcker, dass ich nicht lache, die Zeiten sind längst vorbei. Seit einem Jahr, als der letzte Bäcker aus Altersgründen schließen musste, gibt es nur noch diese großen Ketten in den Supermärkten mit ihren chemischen Backwaren. Da wird mir schon schlecht, wenn ich nur daran denke. Heutzutage will keiner mehr Bäcker werden. Das frühe Aufstehen und die Krankheiten, die durch das Mehl entstehen, schrecken alle ab.

Schneider war verzweifelt. Noch immer gab es keine heiße Spur des Hochsitzmörders. Einerseits wunderte er sich, dass der Hochsitzmörder schon seit Wochen nicht mehr von sich hören ließ, andererseits war er froh, dass ihm nicht noch mehr junge Mädchen zum Opfer gefallen sind.

„Gib mir bitte mal die Zeitung rüber! Ich brauche mal etwas Ablenkung, forderte Schneider seinen potentiellen Nachfolger auf.

Er las in der Zeitung, wie immer, zunächst nur die Schlagzeilen: Vierzig Tote bei Zugunglück in Indien – Ist das Klima noch zu retten? – Wieder Vogelgrippefälle in Deutschland. Dann blätterte er auf den Lokalteil: Scheune abgebrannt, Obdachloser gerettet. Das interessierte ihn dann doch etwas näher und er las den zugehörigen Text: Bei einem Brand in einer Scheune in Muggelhausen konnte sich ein Obdachloser, der sich auf der Tenne einquartierte, quasi in letzter Sekunde retten. ... Anders als bei dem Brand in Hollerfeld, bei dem vor sechs Monaten ein Mädchen von ihrer Freundin an einen Balken gefesselt wurde, und somit grausam verbrennen musste, konnte sich der Obdachlose nur durch einen Sprung ins Freie selbst retten, da die Leiter bereits Feuer gefangen hatte. Der Obdachlose sagte aus, dass er es gewohnt war, von dieser Höhe zu springen, da er im Sommer das eine oder andere Mal auf Hochsitzen im Wald übernachtete.

Schneider sprang, wie von der Tarantel gestochen auf. Das ist es. Jetzt wird mir es auch klar. Frank, ich befürchte, du hattest tatsächlich recht. Das ist unsere letzte Chance. Der Hochsitz, die Tenne, welche Ähnlichkeit. Mensch Frank, ich muss doch blind gewesen sein. Komm mit Frank! Wir haben den Hochsitzmörder. Schnell! Beeil dich! Wir dürfen keine Zeit verlieren.

„Wie kommst du auf einmal drauf?“, wunderte sich Eller mit großen Augen.

Schneider nahm seinen Mantel und eilte aus dem Zimmer. Eller nahm hastig seine Lederjacke folgte ihm im Laufschritt. Auf dem Weg zum Wagen sagte Schneider: „Der Bauer Sandgruber war es, wie du es schon immer vermutet hast. Die Opfer auf dem Hochsitz waren alle gefesselt, genau wie das Mädchen Anna auf der Tenne der abgebrannten Scheune.

„Und warum auf einmal diese Einsicht? Mir wolltest du nicht glauben“, wollte Eller wissen.

Schneider ignorierte Ellers Frage und erzählte weiter: Es war eindeutig Selbstjustiz. Sandgruber beschuldigte die Freundin seiner Tochter, obwohl sie gar nicht dafürkonnte.

„Aber das sage ich doch schon die ganze Zeit.“

„Ich kann mir nur noch nicht erklären, wer die Frau war, die uns am Brunnen die Nachricht hinterlassen hat.“

„Vielleicht wollte uns jemand auf eine falsche Fährte locken“, meinte Eller.

„Vielleicht ist sie aber gar nicht tot.“

„Wie soll das denn gehen?“

„Warten wir‘s mal ab.“

Sie stiegen in ihr Dienstfahrzeug, Schneider startete den Wagen und sagte: Tut mir leid, Frank. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, zuzugestehen, dass du die ganze Zeit schon recht hattest. Zumal die Beweise ja auch nicht hundertprozentig waren. Wir hatten ja bisher nur Indizien und auf Indizien kann man noch lange keinen Haftbefehl erlassen.

Natürlich hatte ich den Sandgruber auch auf meiner Liste der Verdächtigen. Aber ich habe den Verdacht verdrängt, konnte es nicht glauben, habe immer gehofft, dass der Hochsitzmörder letzten Endes doch ein Anderer war. Aber das war wahrscheinlich ein großer Irrtum. Ich glaube, ich habe einen nicht wieder gut zu machenden Ermittlungsfehler gemacht.“

Eller schwieg für einen Augenblick, er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Dann sagte er: „Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wie kann man nur so stur sein, du unfehlbarer Kommissar? Dabei lag der Fall klar auf der Hand. Der Sandgruber hat durch seinen Unfall während des Rettungsversuches seiner Tochter einen psychischen Schaden erlitten und wollte sich nun an allen brünetten Mädchen rächen, die annähernd so aussahen, wie die Freundin seiner Tochter.

Ich weiß, Frank. Das war mir auch klar. Ich habe es einfach verdrängt, habe es nicht glauben wollen. Verstehst du?“

„Nein! Aber warum rächte er sich dann nicht an der Freundin selbst?“, wunderte sich Eller.

„Weil er wahrscheinlich nicht wusste, wo sie wohnt.“

„Das würde ja bedeuten, dass der Mörder den Wohnort jetzt herausbekommen hat, nachdem er schon lange nicht mehr zuschlug.“

„Genau so wird es sein“, gab ihm Schneider recht. „Ich merke, du kannst schon ganz gut kombinieren.“

„Und als Nächstes ist Marie dran, die Freundin seiner Tochter.“

„Das könnte man schlussfolgern. Er wartet bestimmt nur auf einen günstigen Zeitpunkt oder will sie noch ein wenig schmoren lassen. Vielleicht verübt er auch Telefonterror und diese Marie traut sich nicht, zur Polizei zu gehen.“

Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte Eller.

Schneider nahm mit der rechten Hand die Zeitung und schaute auf den Artikel, dann antwortete er: „Nach Hollerfeld. Wir müssen verhindern, dass dieser Mörder noch ein weiteres Mal zuschlägt.

„Aber dorthin fahren wir fast eine halbe Stunde, das sind mehr als 30 Kilometer.“

„Wat mut, dat mut.“

„Du immer mit Deinen norddeutschen Sprüchen. Wärst Du doch bloß in Hamburg geblieben.“

„Hast du etwa was gegen Norddeutsche?“

„Ach was, wie kommst du denn da drauf?“

 

*

 

Pünktlich 15 Uhr betrat Johannes die Scheune. Suchend schaute er sich um, bis er Vroni in der hintersten Ecke auf einem Strohballen sitzen sah. Langsam ging er auf sie zu. So verführerisch hatte er Vroni noch nie gesehen. Wie ein Raubvogel, der seine Beute ins Visier nimmt, ließ er von nun an seinen Blick nicht mehr von ihr ab. Mit jedem einzelnen Schritt, der ihn näher zu ihr brachte, erblickte er mehr Details ihres aufreizenden Körpers. Der rosafarbene Bademantel, der ihren nackten Körper einhüllte, war nur locker zusammengebunden und verdeckte kaum ihre Brüste.

Als er den letzten Schritt getan hatte, blieb er vor ihr stehen und tastete mit seinen Augen jeden Zentimeter ihres Körpers ab. Lasziv lehnte sich Vroni nach hinten und stützte sich mit den Ellenbogen ab. Das rechte Bein stellte sie auf den Strohballen und langsam öffnete sie den Bademantel. Johannes Blick verharrte auf dem dunklen Dreieck ihres Venushügels. Vroni senkte ihren Kopf nach hinten, sodass ihre Haare das Stroh berührten. Mit einem aufreizenden Lächeln sagte sie: „Komm zu mir! Ich hab schon sehnsüchtig auf dich gewartet.“

Johannes kniete sich wortlos vor sie hin. Vroni nahm Johannes rechte Hand und führte sie zunächst an ihren Busen und dann an das dichte Vlies ihres Schamhaares. „Zieh dich aus!“, hauchte sie.

Johannes öffnete langsam die Knöpfe seines Hemdes und streifte es ab. Dann stand er auf, immer den Blick auf Vroni gerichtet, und zog seine Hose aus.

Vroni rutsche etwas zur Seite und sagte: „Hier ist noch genügend Platz für dich. Komm zu mir!“

Johannes legte sich neben Vroni auf den Strohballen. Sie hatte vorsorglich eine große Decke über das Stroh gelegt.

„Was machst du mit mir? Was hast du vor?“, fragte Johannes wie in Trance.

Vroni hielt den Zeigefinger an ihre Lippen. Dann zog sie ihren Bademantel aus und setzte sich einen Schleier vors Gesicht.

Johannes erkannte diesen Schleier sofort wieder und erschrocken sagte er: „Lisa, du bist es?

„Ja, ich bin Lisa.

Oh, mein Gott. Der hellgrüne Nagellack. Wieso bin ich da nicht gleich drauf gekommen? Ich habe mich damals noch so gewundert, weil ich noch nie hellgrünen Nagellack gesehen habe.

Lisa erschrak: „Johannes, da habe ich selbst nicht dran gedacht, dass ich immer noch diesen hellgrünen Nagellack benutze. Das wäre ja beinahe schief gegangen.“

„Aber dein Gesicht, dein Gesicht habe ich nicht wiedererkannt“, stellte Johannes fest.

Konntest du auch nicht. Als Lisa habe ich doch immer einen Schleier getragen. Da kannst du mal sehen, was solch ein Schleier ausmacht. - Johannes, ich muss dir noch etwas sagen.“

„Was denn? Willst Du wieder aufhören bei mir? Gefällt es dir bei mir nicht?

„Nein, ich will nicht aufhören. Es gefällt mir super bei dir, bei euch. Ich bin froh, dass es mit der Anstellung so gut geklappt hat. Aber …“

„Was aber? Was ist? Ist es etwas Schlimmes?“

„Johannes, ich habe dich angelogen.“

„Das hast du mir doch bereits gesagt, dass du nicht Vroni, sondern Lisa bist.“

„Nein, Johannes, ich bin auch nicht Lisa. In Wahrheit bin ich Rosi.“

Johannes war angesichts der vielen Namen ein wenig irritiert und fragte: „Lisa, Rosi, Vroni? Was redest du für ein wirres Zeug? Wie heißt du denn nun richtig?“

„Roswitha.“

Johannes erschrak und bekam große Augen: „Heiliger Josef, du bist Maries Mutter? Du bist die Mutter meiner Tochter?“ Man sah ihm an, dass er sich darüber freute.

Rosi nahm Johannes Begeisterung wohlwollend zur Kenntnis. „Ja, die bin ich und du hast es die ganze Zeit nicht bemerkt.“

„Das kann nicht wahr sein. Warum habe ich dich nicht erkannt? Ich weiß nur, dass du mich immer an jemand erinnert hast. Auf die Rosi wäre ich nie im Leben gekommen. Wie hast du mich gefunden?“

Das war gar nicht so schwer. Über das Einwohnermeldeamt.“

„Dann war das wohl gar kein Zufall, dass du in diesem Bordell hier gearbeitet hast?“

Na ja, sagen wir mal, es war eher ein Glücksfall. Eigentlich wollte ich mal nie in einem Bordell arbeiten. Eine Bekannte hat mich überredet. Wir arbeiteten vorher zusammen als Kellnerin in einem Gasthaus. Aber dort verdiente man nicht viel. Sie ging gleich nach der Eröffnung als Erste hier her. Ich zögerte noch. Erst als ich von Marie erfuhr, dass du hier wohnst, folgte ich ihr.

Ich habe dich lange gesucht und dann, als ich endlich deine Adresse kannte, wollte ich natürlich in deiner Nähe sein. Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages bei uns in der ‚Villa Rose‘ aufkreuzt. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch, denn die meisten Männer gehen irgendwann mal in den Puff. Doch lange wollte ich nicht mehr warten. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich jemand auf dich angesetzt, der dich in die ‚Villa Rose‘ mitgenommen hätte. Ich hätte mir da schon was einfallen lassen.

„Das ist unglaublich“, sagte Johannes und schüttelte den Kopf. Zufälle gibt es.

Johannes, ich konnte dich in den ganzen Jahren nicht vergessen. Ich wollte keinen Mann wieder, denn ich war damals unwahrscheinlich in dich verliebt. Ich wusste auch, dass ich nie wieder einen Mann kennenlernen würde, der so ist wie du. Deshalb habe ich es erst gar nicht versucht. Ich bin ja so froh, dass es so gekommen ist.

„Aber Marie hat auch erzählt, dass sie mich über das Einwohnermeldeamt gefunden hat“, unterbrach sie Johannes.

„Marie wollte immer schon ihren Vater kennenlernen, von Kindheit an. Als sie dann endlich 18 war, begann sie gezielt nach dir zu suchen. Und ich half ihr dabei. Ich war auch neugierig, was du wohl jetzt machen würdest. Ich hatte dich nach ein paar Jahren total aus den Augen verloren. Also suchten wir dich gemeinsam.“

„Und hier, in Hollerfeld habt ihr mich schließlich gefunden.“

„Ja, Johannes. Es war ein sehr glücklicher Umstand, dass ich gerade in der Gemeinde arbeitete, in der du wohnst. Marie hat sich Anna geangelt, damit sie besser an dich ran kommt und ich habe immer in der Villa auf dich gewartet.“

Johannes überlegte eine Weile, dann fragte er: „Hat dir Marie von mir erzählt?“

„Ja, ich weiß alles.“

„Auch …“

„Ja, ich weiß auch, dass du der Hochsitzmörder bist.“

Johannes erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Jesus Maria. Du weißt alles.“

„Ja, Johannes. Ich werde niemand etwas verraten. Ich kann dich verstehen. Ich weiß, dass du unter Annas Tod sehr leiden musstest. Ich weiß auch, dass du eine schwere Kopfverletzung hattest und, dass Du des Öfteren unter diesen psychotischen Störungen leiden musstest.“

„Die habe ich nicht mehr. Ich bin jetzt wieder ganz gesund. Es tut mir ja so leid, was ich getan habe.“

„Ja, Johannes, ich habe dich lieb, egal, was geschieht.“

Johannes schaute Rosi ungläubig an und Rosi sagte weiter: „Johannes, freust du dich, dass ich es bin, die Rosi vom Pink Floyd Konzert, die niedliche Rosi mit dem Pferdeschwanz und dem Muttermal auf der linken Arschbacke?“

Johannes nickte und lächelte Rosi an. Rosi fragte: „Auch, dass du jetzt wieder eine Tochter hast?“

„Ja, ich freue mich sehr.“

„Glaubst du endlich, dass es ein Unfall war?“

„Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke. Von Tag zu Tag glaube ich mehr, dass es ein Unfall war.“

Sieh endlich ein, dass Marie es nicht absichtlich getan hat.“

Vielleicht war sie eifersüchtig“, mutmaßte Johannes. Aber seine Worte klangen nicht, als ob er sie aus tiefster Überzeugung sagte. Sie klangen eher so, als ob er sie nur so daher plapperte, wie ein Bühnenschauspieler, der die Worte seiner Souffleuse wiederholte.

„Auf wen sollte sie denn eifersüchtig sein?“, fragte Rosi verwundert.

„Auf ihre Schwester?“

„Unsinn.“

„Marie war nicht eifersüchtig. Sie hat sich gefreut, ihre Halbschwester kennengelernt zu haben. Sie liebte sie. Außerdem wollte sie über Anna an dich herankommen.“

Das war sicher der Hauptgrund, dass sie sich mit Anna anfreundete.“

Johannes denke nicht immer so negativ. Schau, du hast wieder eine Tochter und vielleicht auch bald wieder eine Frau. Ich bin glücklich mit dir.“

Johannes schaute Rosi lange Zeit ungläubig an: „Und was ist mit der ‚Villa Rose‘?“

Rosi war froh, dass diese Frage kam: „Das ist längst Geschichte. Wenige Tage, nachdem ich bei dir angefangen habe, habe ich Lola mitgeteilt, dass ich nicht mehr kommen werde. Ich erzählte ihr alles von dir, aber kein Wort von dem Hochsitzmörder. Ich soll dir übrigens liebe Grüße ausrichten. Sie wünscht uns beiden alles Gute und viel Glück. Was willst du mehr, Johannes? Alles wird gut werden. Ich liebe dich. Wir fangen noch mal ganz von vorn an.

Endlich lächelte Johannes wieder.

„Warum wolltest du dich unbedingt hier in der Scheune mit mir treffen?“, fragte Johannes neugierig.

„Deshalb.“

Rosi holte einen Strick hervor, welchen sie unter der Decke versteckt hatte.

Johannes war schockiert: „Was soll das? Was hast du vor? Leg den Strick weg!“

„Nein, Johannes, ich möchte, dass du wieder ganz gesund wirst, dass du endlich Deine Psychose überwindest. Ich möchte dir zeigen, wie schön das sein kann.“

„Nein, Rosi, da mache ich nicht mit. Das funktioniert bei mir nicht. Außerdem bin ich doch wieder ganz gesund, wehrte Johannes ab.

Johannes wollte wieder aufstehen, doch Rosi hielt ihn fest: „Warum soll das nicht funktionieren? Und, wenn ich dich ganz sehr darum bitte. Tu es mir zuliebe! Bitte! Nur dieses eine Mal.

Einen Augenblick sagte Johannes kein Wort. Dann hielt er Rosi die rechte Hand hin und später auch die linke.“

„Fass diesen Balken an“, sagte sie und band beide Hände an dem Balken fest.

 

*

 

Verdammt noch mal. Diese Umleitung hat uns gerade noch gefehlt“, sagte Schneider. Das kostet uns mindestens fünf entscheidende Minuten.

Frank Eller schlug vor: „Lass uns einfach weiterfahren. Vielleicht kommen wir durch. Meist gibt es Schleichwege.

„Und wenn nicht, dann fahren wir die ganze Strecke wieder zurück. Was haben wir dann gekonnt? Nein, wir fahren die Umleitung. Diese fünf Minuten machen das Kraut auch nicht fett.“

Schneider setzte sich durch. Sie bogen links ab, in die Umleitungsstrecke. Schneider sagte: „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl.“

Warum? Hast du Blähungen?“, scherzte Eller.

„Nein, im Ernst, ich befürchte, wir werden zu spät kommen. Ausgerechnet heute. Es ist wie im Oktober 1984 in Hamburg.

„Was war da?“, fragte Eller neugierig.

„Wir wurden telefonisch von Nachbarn informiert, dass sich in einem Mietshaus ein Ehedrama abspielte. Der Ehemann schlug seine Frau und bedrohte sie mit einer Waffe. Die Nachbarn hörten die entsetzlichen Schreie der Frau.

Auf dem Weg dahin nahm uns so ein dussliger Radfahrer die Vorfahrt, wir konnten nicht mehr ausweichen und stießen mit ihm zusammen, er stürzte, wurde aber nicht ernsthaft verletzt, nur eine kleine Schürfwunde. Selbst Schuld.

An unserem Wagen entstand nur ein kleiner Kratzer, das Fahrrad war so alt, dem hat das nichts ausgemacht. Diese verdammten Radfahrer. Die denken auch, die können sich alles erlauben. Doch das interessiert heutzutage keinen Bullen, das gibt keine Punkte.

Nach wenigen Minuten fuhren wir, nachdem wir die Personalien des Radfahrers festgestellt hatten, weiter. Doch diese Minuten waren lebensentscheidend. Als wir in der Wohnung ankamen, war die Frau bereits tot, der Mann verschwunden. Er hatte seine Frau gefesselt, an den Gasherd angebunden und das Gas ausströmen lassen. Zehn Minuten eher und wir hätten die Frau mit Sicherheit retten können.“

Und habt ihr den Mann noch gefasst?“

„Ja, er kam nicht weit. Er war betrunken und landete wenig später in einem Straßengraben. Er brach sich nur den rechten Arm. – Schau, da ist die Umleitungsstrecke zu Ende. Wie viel Zeit haben wir verloren?“

„Vier, fünf Minuten vielleicht.“

„Siehst du, genau, wie ich es dir gesagt habe. Wir kommen zu spät.“

„Sei nicht so pessimistisch, Jürgen, heute werden wir es schaffen. Du musst nur ganz fest daran glauben. Das sagst du doch immer.

„Das tu ich doch die ganze Zeit. Ich glaube, heute kann uns nur noch der liebe Gott helfen.“

 

*

 

Nachdem Rosi Johannes am Balken festgebunden hatte, beugte sie sich über ihn und küsste ihn. Mit den aufgerichteten Knospen ihrer vollen Brüste streichelte sie zärtlich seinen Körper. Sie sah, dass der Anblick ihrer nackten Reize Johannes bereits in Verzückung gebracht hat. Gefühlvoll setzte sie sich auf seinen entblößten Schoß und sagte: „Das hast du dir doch schon immer gewünscht.“

In diesem Augenblick ging für Johannes eine lange Abstinenz zu Ende. Sehr lange hatte er keine Frau gehabt. Er spürte, wie seine Sinne betäubt wurden, während er langsam in sie eindrang. Mit geschlossenen Augen genoss er das wunderbare Gefühl. Er umarmte sie, streichelte und nuckelte wie ein Neugeborenes an ihren Brüsten.

Als er seine Augen wieder öffnete, sah er plötzlich den unverkennbaren Schatten einer Waffe an der Wand unmittelbar hinter Rosi und eine vertraute Stimme rief: „Jetzt könnt ihr gemeinsam in die Hölle fahren.“

Johannes war zu Tode erschrocken. Er erkannte die Stimme sofort, am liebsten wäre er vor Scham über seine missliche Situation im Erdboden versunken. Völlig verdutzt rief er: „Karla, wo kommst du denn auf einmal her? Ich dachte Du wärst tot.“

Karla lachte laut: Ha, ha, das hättest du dir wohl gewünscht. Aber so einfach mache ich es dir nicht.“

„Wo warst du die ganze Zeit?, fragte Johannes erstaunt. Du hattest doch einen tödlichen Unfall und wir waren alle auf Deiner Trauerfeier.“

Roswitha saß immer noch auf Johannes Schoß, dessen Erregung jedoch schlagartig abgeklungen war. Mit beiden Händen bedeckte sie ihre Brüste, ängstlich verfolgte sie den Dialog von Karla und Johannes, ohne selbst ein Wort zu sagen.

Karla sprach weiter, jetzt in ruhigem Ton und immer noch die Waffe auf sie gerichtet. „Ich werde euch alles genau erzählen. - Als ich damals abgehauen bin, nahm ich am Ortsausgang eine Anhalterin mit. Es war eine Tschechin, Helena hieß sie. Sie war etwa in meinem Alter und sah mir auch sonst sehr ähnlich. Sie sprach etwas deutsch und sagte mir, dass sie den letzten Bus verpasst hatte und schnell in die Stadt wollte. Ich weiß nicht, wer sie war und was sie in Hollerfeld gemacht hat. Wir redeten nicht viel, mir war nicht nach Reden zumute. Helena merkte, dass ich sehr aufgewühlt war, deshalb bot sie mir an, das Steuer zu übernehmen. Ich war sofort einverstanden, denn auch ich spürte, dass ich mich nur schlecht auf das Autofahren konzentrieren konnte.

In einer scharfen Linkskurve, wir fuhren etwa mit 100 Stundenkilometern, verlor Helena plötzlich die Kontrolle über das Auto. Der Wagen rutschte regelrecht von der Straße, überschlug sich und prallte gegen einen Baum. Das Auto fing Feuer und brannte völlig aus. Ich flog vor dem Aufprall aus dem Wagen und blieb, bis auf wenige unbedeutende Blessuren, unverletzt.

Ich stand nur leicht unter Schock, erinnerte mich sofort wieder an meine Kindheit, sah meine Eltern vor Augen, wie sie qualvoll im Wagen verbrannten und ich ihnen nicht helfen konnte. Ich weiß nicht, ob Helena sofort tot war, oder ob sie im Wagen bei lebendigem Leib verbrannte. Ich las später in der Zeitung, dass ihre Leiche jedenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt war und, dass man natürlich davon ausging, dass ich am Steuer saß.

Vroni schaute Karla nicht an. Sie angelte sich mit der rechten Hand ihren Bademantel und zog ihn langsam an. Johannes, dagegen, starrte Karla tief in die Augen. Tränen rollten seine Wange hinab. Johannes war überrascht über Karlas Aussehen. Sie hatte sich total verändert. Sie schien stark gealtert. Ihre Gesichtszüge waren kalt. Sie wirkte ungepflegt, ihre Haare waren strähnig und fettig. Er schüttelte den Kopf und sagte mehrmals: „Nein, nein. Ich glaub es nicht.“

Karla unterbrach für einen Augenblick ihre Ausführungen, dann sprach sie weiter: Weit und breit war kein Auto zu sehen, das uns zu Hilfe eilen konnte. Ich flüchtete von der Unfallstelle. Leicht benommen irrte ich anschließend stundenlang durch die Gegend.

Als ich langsam wieder zu mir kam, begriff ich nach und nach, was passiert war. Da kam mir in meiner Benebelung eine Idee und ich beschloss unterzutauchen. Ich suchte Kathrin, eine ehemalige Freundin aus dem Heim, auf und erzählte ihr alles. Sie hatte Mitleid mit mir und verhalf mir umgehend zu einer neuen Identität, einem neuen Namen, neuen Papieren. Keiner ahnte, dass in Wirklichkeit Helena am Steuer saß. Sie wird bis heute vermisst. Kathrin war es auch, die sich am nächsten Tag nach der Toten erkundigte.

Ich habe euch, den Hof, in den letzten Wochen einige Male heimlich beobachtet. Einmal habe ich sogar mit Ruben gesprochen, verschleiert, natürlich. Ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat. Hat er es euch berichtet.

Du warst es wirklich. Wir dachten, er hätte sich das alles nur eingebildet“, sagte Johannes erstaunt.

„Ja, ich war es wirklich. Jetzt bin ich gekommen, um mit euch abzurechnen. Ich habe nichts zu verlieren. Karla gibt es offiziell nicht mehr. Sie liegt auf dem Friedhof und ist bereits von Würmern zerfressen.“

Johannes bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und fragte mit großen Augen: „Was hast du vor?“

„Du fragst, was ich vorhabe. Kannst du dir das nicht denken? Johannes, du hast mein Leben zerstört. Ich habe immer an dich geglaubt, habe alles für dich getan. Immer in der Hoffnung, dass es mit dir einmal besser wird. Aber dann diese Morde an diesen jungen Frauen. Das habe ich nicht verkraftet. Mit einem Mörder kann ich nicht zusammenleben. Du hast mich enttäuscht.“

Karla zielte nun direkt auf Johannes. Er flehte sie an: Karla, sei vernünftig! Wenn du uns jetzt tötest, kommst du ein Leben lang in ein Gefängnis. Möchtest du das wirklich? Wir könnten einen neuen Anfang wagen. Das hier mit Rosi ist doch nur, weil ich dachte, du wärst tot. Ich liebe dich doch, Karla. Ich habe dich immer geliebt.“ Rosi schaute Johannes enttäuscht an.

Karla sprach weiter: Aber ich liebe dich nicht mehr, Johannes. Mein Leben ist zerstört und nun werde ich dein Leben zerstören. Ich habe meine Tochter verloren und meinen Mann auch, an eine Nutte.“ Karlas Stimme wurde lauter. „Gibt es etwas Schlimmeres? Mein Leben ist zu Ende.“

 

*

 

Schneider und Eller fuhren mit weit über 100 Stundenkilometer durch den Wald in Richtung Hollerfeld. Plötzlich, nach einer Linkskurve, mussten sie die Geschwindigkeit stark drosseln. Vor ihnen befand sich eine lange Schlange von Autos, die alle die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern fuhren. Entgegenkommende Fahrzeuge gaben größtenteils Lichthupe.

Jetzt wurde auch Eller nervös: „Heute scheint wirklich nicht unser Tag zu sein. Schalte endlich mal dieses verdammte Blaulicht an!“

„Ich dachte, wir kommen nach Hollerfeld, ohne gleich das ganze Dorf auf uns aufmerksam zu machen.“

„Im Dorf kannst du es ja wieder ausschalten.“

Schneider stellte das Blaulicht aufs Dach und schaltete die Sirene ein. Die Autos vor ihnen fuhren zur Seite, sodass sie links an ihnen vorbeifahren konnten. Die entgegenkommenden Fahrzeuge hielten an.

„Dass die immer gerade dort blitzen müssen, wo gar keine Gefahr besteht“, sagte Schneider.

„Jetzt machst du aber Witze. Ist die starke Linkskurve keine Gefahr“, wollte Eller ihn aufklären.

„Ach jetzt meldet sich wieder der Hochschulabsolvent. Fein aufgepasst in der Schule. Eins, setzen.“

„Blödmann!“, flüsterte Eller und schaute aus dem Wagen.

Nachdem sie die Kolonne passiert hatten, schaltete Schneider sowohl das Blaulicht als auch die Sirene wieder ab.

 

*

 

Johannes kämpfte verzweifelt und mit aller Kraft darum, Karla von ihrem schrecklichen Vorhaben abzubringen. Er hatte große Angst um sein Leben.

„Karla, bitte, lass das Gewehr fallen. Ich flehe dich an. Rosi ist keine Nutte. Ich kann dir alles erklären. Bitte schieß nicht!“

„Nein, Johannes. Ich habe keine Kraft mehr. Ich möchte nicht mehr. Nach alledem, was passiert ist. Ich möchte nicht mit einem Mörder unter einem Dach leben.“

„Wir könnten noch einmal von vorn anfangen. Es wird alles gut.“

Karla entsicherte das Gewehr. Ihre Hände zitterten. Johannes hörte das Geräusch und schrie aus voller Kehle: „Nein, Karla, ich liebe dich. Du kannst mich nicht töten. Du liebst mich doch auch. Ich bin doch dein Mann.“

Karla drückte ab und traf Rosi am Kopf, sie war sofort tot und fiel nach vorn auf Johannes. Ihr Blut schoss aus ihrem Kopf und bildete schnell eine rote Lache auf Johannes nacktem Körper. Johannes schrie laut: „Nein, Karla, tu es nicht! Ich will noch nicht sterben. Es tut mir alles leid. Eine Tote reicht.

„Ich habe keine andere Wahl, Johannes.“

Karla legte das Gewehr erneut an, zielte auf Johannes. Ein Schuss hallte durch die Scheune, traf Johannes in der Brust, er sackte in sich zusammen, Blut lief ihm aus dem Mund. Sein Kopf lag neben dem von Rosi. Doch er war noch nicht tot. Ein letztes Mal schaute er Karla an und flehte ganz leise: „Bitte verzeih mir. Ich habe doch alles nur aus Liebe zu euch, Anna und dir getan. Karla, ich liebe dich doch.“ Dann schloss er seine Augen für immer.

Als sich Karla davon überzeugte, dass beide tot waren, ging sie ganz langsam noch etwas näher ran, das Gewehr immer noch im Anschlag. Sie zitterte am ganzen Körper, Schweiß lief ihr von der Stirn, ihre Augen sahen aus, als wollten sie aus ihren Höhlen heraustreten. Hass zeichnete ihr Gesicht. Sie hielt das Gewehr an Johannes Schläfe, kniff ihre Augen fest zusammen und drückte ab. Wieder spritzte Blut, traf sie auch im Gesicht. Dann hielt sie das Gewehr auf Rosis Rücken und schoss das gesamte Magazin leer.

Das Ganze glich einer grausigen Hinrichtung. Auf dem Boden bildeten sich große rote Blutlachen und die Wände glichen einem Graffiti aus einem Horrorfilm.

Jetzt war sie zufrieden, griff in ihre Manteltasche und holte eine halbvolle Flasche Whiskey heraus und trank einen Schluck. Dann steckte sie die Flasche wieder ein.

 

*

 

„In wenigen Minuten sind wir da“, frohlockte Schneider. In diesem Augenblick klingelte sein Handy, das Kommissariat war dran und informierte ihn, dass sich soeben eine Frau namens Alma Sandgruber, die Mutter von Johannes Sandgruber, auf dem Revier gemeldet hat. Sie hat auf dem Hof in Hollerfeld mehrere Schüsse gehört. Hab ich es dir nicht gesagt? Verdammt, wir müssen uns beeilen. Die Mutter von Johannes Sandgruber will Schüsse in der Scheune gehört haben. Wir müssen Gas geben, sonst kommen wir zu spät. Irgendetwas ist da im Gange. Hoffentlich ist es nicht bereits zu spät.

Schneider schaltete wieder das Blaulicht und die Sirene an. Seine Nervosität übertrug sich nunmehr auch auf seinen Kollegen Eller. Er wollte Schneider etwas beruhigen: „Pass bitte auf, dass uns nichts passiert! Ich möchte nicht wegen so einem Verrückten ins Gras beißen. Wenn die Oma Schüsse gehört hat, sind eh schon alle Messen gesungen, wenn wir dort ankommen.“

„Alter Pessimist! Merke dir für deine zukünftige Arbeit als Kommissar, oder gar Hauptkommissar: Wer aufgibt, hat schon verloren. Ich habe in meiner über dreißigjährigen Dienstzeit nie aufgegeben. Ich habe immer gekämpft, bis ans bittere Ende. Auch, wenn ich ab und zu auch mal eine Niederlage einstecken musste. Das gehört dazu, das spornt einem das nächste Mal umso mehr an. Aber diese Erfahrung wirst du auch noch machen.“

Frank Eller unterbrach ihn: „Bla, bla, bla. Du, Jürgen, mal eine dumme Frage. Was machst du, wenn der Hochsitzmörder ein ganz anderer ist? Und nicht Johannes Sandgruber.“

„Tja, dann habe ich mich eben geirrt. Soll auch schon vorgekommen sein. Aber hier spricht alles dafür. Wer sollte denn sonst dort so rumballern? Ich bin optimistisch. Ich denke, das Einzige, was passieren könnte, ist, dass wir zu spät kommen, nur wegen dieser blöden Umleitung und des verdammten Blitzers vorhin.“

 

*

 

Karlas Blick war leer und inhaltslos. Sie drehte sich um und wollte langsam aus der Scheune gehen. Das Gewehr hielt sie immer noch in der Hand, der Lauf war nach unten, auf den Boden, gerichtet. Doch sie kam nicht weit. Noch in der Scheune kam ihr Marie entgegen. Karla erschrak. Mit ihr rechnete sie in diesem Augenblick wohl am Wenigsten.

„Marie, wo kommst du denn her? Was willst du hier?“ Marie hielt eine Heugabel in der Hand und sagte: „Du kommst hier nicht lebend raus. Darauf kannst du dich verlassen. Ich habe alles gesehen. Du hast meinen Vater getötet. Die Polizei ist bereits informiert. Sie wird jeden Augenblick hier sein.“

Die Beiden bemerkten nicht, dass Alma am Eingang der Scheune stand. Von den Schüssen erschreckt, wollte sie wissen, was in der Scheune abging. Sofort machte sie sich auf den Weg und sah, was Karla an ihrem Sohn und an Rosi angerichtet hatte. Sie stand wie versteinert, brachte keinen Laut über ihre Lippen. Sie versteckte sich hinter einer Holztür.

Marie trieb Karla mit der Heugabel wieder zurück in die Ecke, wo die beiden schrecklich zugerichteten Toten lagen.

„Warum hast du das getan? Warum hast du meinen Vater getötet?“

Karla horchte auf. Sie verstand nicht, was Marie meinte: „Was redest du da? Deinen Vater? Johannes?“

„Ja, Johannes, meinen Vater.“

Johannes ist dein Vater? Wie kommst du darauf? Das muss ein Irrtum sein“, sagte Karla völlig verwirrt.

„Nein, das ist kein Irrtum. Johannes ist tatsächlich mein Vater und du hast ihn mir genommen. Genau so, wie ich dir deine Tochter genommen habe.

Karla bekam es mit der Angst zu tun. Obwohl sie eben zwei Menschen skrupellos hingerichtet hatte, fühlte sie sich nun in die Enge getrieben. Marie wirkte zu allem entschlossen und Karla hatte keine Waffe mehr.

„Du hast Anna …? Nein, das glaube ich nicht.“

Ja, ich war schuld, an Annas Tod. Ich hasste sie. Ich hasste die andere Tochter meines Vaters. Es war schrecklich, ihr die ganze Zeit vorzuspielen, wie sehr ich sie liebte. Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich wäre lesbisch, im Gegenteil. Am liebsten wäre ich gleich den ersten Abend, zu Annas Geburtstag mit Lukas oder Ruben oder sogar beiden ins Bett gestiegen. Aber das kann ich ja jetzt nachholen. Marie ging langsam auf Karla zu, die Heugabel in der Hand. Karla versuchte zurückzuweichen, fragte: „Warum hast du das getan?“

Die ganze Zeit habe ich immer nur auf diese eine Gelegenheit zugearbeitet, jene Nacht in der Scheune. Ich habe Anna gefesselt und wenig später absichtlich eine Kerze umgestoßen. Anna hat meine Absicht nicht bemerkt. So wie auch die Polizei mir geglaubt hat, dass Anna die Kerze umgeworfen hat. Das trockene Stroh hat sofort gebrannt wie Zunder. Alles verlief nach Plan. Anna hatte keine Chance mehr, sie konnte ja nicht weg. Sie muss sehr gelitten haben. Aber ich habe kein Mitleid mit ihr gehabt.

Karla konnte Marie nicht mehr länger zuhören. Sie versuchte selbst in die Offensive zu gehen, indem sie Marie anschrie: „Hör auf, hör endlich auf. Du verdammte Mörderin. Du bist ja eine eiskalte Killerin. Das hätte ich dir niemals zugetraut.

Schau an, was du angerichtet hast! Deinetwegen sind drei Menschen umgekommen. Von den Toten auf den Hochsitzen und der toten Anhalterin ganz zu schweigen. Du hast sie alle auf dem Gewissen.“

Karla spuckte Marie ins Gesicht. Sie wusste, dass das Magazin leer war. Wutschäumend warf sie das Gewehr weg, zog in Windeseile ihren Mantel aus, angelte sich ebenfalls eine an der Scheunenwand lehnende Heugabel, hielt sie wie ein Schwert und lief mit aller Kraft auf Marie zu und rief laut: „Du bist an allem schuld. Du musst auch sterben.“

Marie konnte Karlas Attacke geschickt abwehren, indem sie ihr ein Bein stellte. Karla stürzte zu Boden, sie stützte sich mit den Händen ab, dabei fiel ihr die Heugabel aus der Hand, sie lag neben ihr. Marie setzte ihre Heugabel auf Karlas Brust und mit grausig verstellter Stimme sagte sie: Einer von uns muss sterben. Willst du wissen wer? Jetzt ist es aus mit dir.“

Dann stieß sie kraftvoll und voller Hass zu. Aber nicht fest genug. Karla gelang es, sich noch einmal wegzudrehen, ihre Gabel zu greifen und aufzustehen. Obwohl es Marie hätte verhindern können, lies sie Karla gewähren. Sie wusste, dass Karla keine Kraft mehr besaß und ihr unterlegen war. Karla war bereits verletzt. Ihre Bluse war blutverschmiert. Mit allerletzter Kraft versuchte sie, Marie mit der Heugabel am Körper zu erwischen, doch auch diesen aussichtslosen Angriffsversuch konnte Marie leicht abwehren.

„Du kleiner hässlicher Wurm. Was willst du von mir? Du bist doch schon tot. Schau dich doch an. Du blutest schon, wie ein abgestochenes Schwein. Ich werde dich abschlachten, wie ein Stück Vieh. Du wirst schreien vor Schmerzen, aber ich werde dir nicht helfen. Ich werde genüsslich zusehen, wie du verreckst, und werde mir danach alle zehn Finger ablecken, du eklige fette Qualle.

Ihr nächster Stich traf Karla am Hals und traf ihre Schlagader. Blut schoss in kurzen Intervallen aus der klaffenden Wunde und traf Maries Kleidung. Karla fiel zu Boden, bekam kaum noch Luft, sie röchelte, ihre Augen traten heraus. Marie geriet in Trance, stach noch achtmal fest zu und warf dann die Heugabel in hohem Bogen von sich. Sie schaute eiskalt zu, wie Karla ihre letzten Atemzüge machte und qualvoll erstickte. Sie spürte kein Mitleid. Im Gegenteil, es war blanker Hass. Dann hörte sie die schrillen Sirenen der Polizei. Alma eilte aus der Scheune, niemand hatte sie gesehen. Sie war der einzige Zeuge.

 

*

 

Autotüren schlugen zu. Schneider rannte, als ginge es um sein Leben, hinter ihm Frank Eller. Beide hielten ihre Dienstpistole schussbereit in der rechten Hand.

Frank sei vorsichtig! Bleib hinter mir! Es könnte gefährlich werden“, ermahnte ihn Schneider väterlich.

Am Eingang blieben sie kurz stehen und inspizierten aus sicherer Deckung heraus das Innere der Scheune. Schnell stellten sie fest, dass sich an diesem Ort vor wenigen Augenblicken etwas ganz Furchtbares zugetragen haben musste.

Mehrere leblose Personen lagen über den Boden verteilt. Alle waren sie blutverschmiert. Auch an den Holzwänden der Scheune klebte frisches Blut. Eine junge Frau stand neben einer auf dem Boden liegenden Person und weinte. Sie hielt die Hände vor ihr Gesicht. Auch sie war voller Blut. Nun wagten sie einige Schritte ins Innere der Scheune.

„Oh, mein Gott. Das ist ja furchtbar. Sind sie verletzt, junge Frau?“

Marie schüttelte ihren Kopf.

„Nein, ich bin nicht verletzt, nur etwas außer Atem. Sie stand noch unmittelbar neben dem entsetzlich entstellten Körper von Karla. Wenige Schritte trennten sie von den beiden anderen toten Personen. Ein grausiger Anblick, wie ihn Schneider und natürlich auch Eller noch nie vorher sahen.

Frank Eller rannte sofort wieder aus der Scheune und übergab sich. Dann griff er sein Handy und rief die Polizei und den Notarzt an.

Schneider indes widmete sich Marie. „Wie ist ihr Name?“, fragte er.

„Marie Hausmann.“

„Ach sie sind Marie, da kennen wir uns ja schon. Haben wir uns nicht schon einmal hier gesehen.“

„Ja, das stimmt. Nur die Scheune war eine andere.

„Da können sie mal sehen, wie sich der Kreis schließt. Man sieht sich eben doch immer zweimal im Leben. Damals hießen sie glaube ich noch Hartmann.

Marie schaute Schneider etwas unverständlich an. Sie wusste nicht, wie sie seine Worte interpretieren sollte.

Da müssen sie sich verschrieben haben. Oder ich habe in der Hektik etwas undeutlich gesprochen. - Mir ist schlecht“, sagte sie.

Das ist möglich. - Kommen sie, gehen wir an die frische Luft.

Sie gingen aus der Scheune. Schneider fragte: „Wer ist eigentlich die tote Frau, neben der sie gestanden haben?“

„Frau Sandgruber.“

Schneider fiel aus allen Wolken: „Was sagen sie da, Frau Sandgruber? Hatte die nicht einen Autounfall und ist tot?“

„Ja, den hatte sie. Sie saß aber nicht am Steuer. Am Steuer saß eine Andere. Sie hat es eben erzählt.“

„Oh, mein Gott. Der Anruf vor ein paar Tagen. Der Zettel am Brunnen. Das war doch die Sandgruber. Ich glaube, bei diesem Fall ist alles schief gegangen. Es wird Zeit, dass ich in Pension gehe.“

Ich verstehe nicht, dass es keinem aufgefallen ist, dass bei dem Autounfall eine andere Frau am Steuer saß. Die muss man doch vermisst haben.“

„Keine Ahnung, Frank. Wer weiß, wer diese Frau war und warum sie keiner als vermisst gemeldet hat.“

„Vielleicht war es gar keine Deutsche?“

Marie mischte sich in das Gespräch ein: „Entschuldigen sie, dass ich mich einmische. Die Frau Sandgruber sagte, dass die Anhalterin eine Tschechin war.“

Schneider sagte: „Jetzt wird mir einiges klar. Wenn die Anhalterin eine Tschechin war, wird sie natürlich nicht in Deutschland vermisst. Vielleicht war es eine Prostituierte und ihr Zuhälter hat sie nicht für vermisst erklärt. Vielleicht dachte er auch, sie wäre ausgebüxt, wieder in ihre Heimat abgehauen. Die Grenzen sind ja jetzt offen, in beide Richtungen.

Schneider wandte sich noch mal an Marie: „Sagen sie, Frau Hausmann, warum ist die Frau Sandgruber auf sie losgegangen?“

„Die muss durchgedreht sein. Sie sehen doch, was sie angerichtet hat. Hat meinen Vater und seine Freundin erschossen und anschließend wollte sie mich erschießen. Die hat bestimmt bei dem Autounfall etwas am Kopf abbekommen.“

„Okay, Frau Hausmann. Reden wir morgen früh noch einmal darüber. Kommen sie bitte um neun Uhr in mein Büro! Sie können jetzt gehen!“

Marie verabschiedete sich mit einem kurzen: „Bis morgen“, verlies die Scheune und fuhr mit ihren Ford Fiesta vom Hof.

Ja, Frank, da ist es wieder nichts geworden, mit der Aufklärung eines großen Falles. Frank gehen wir wenigstens noch ein Bier trinken?

„Was, du hast noch Appetit auf Bier. Mir ist sauschlecht. Ich kriege heute nichts mehr runter.“

„Ach, was. Das geht gleich wieder vorüber.“ Schneider legte seine Hand um Ellers Schultern. Daran musst du dich gewöhnen. Denk mal an die Menschen, die die Toten nun wegräumen müssen. Aber die sind dran gewöhnt. So ist halt das Leben. Wenn diese blöde Umleitung nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht noch ein paar Menschenleben retten können.“

„Vielleicht sollte es aber auch so kommen“, sagte Eller.

„Ja, vielleicht. Wer weiß, wozu es gut war.“

„Es tut mir leid wegen dir“, versuchte ihn Eller zu trösten.

„Lass mal, das war alles nur meine Schuld. Wäre ich nicht so stur gewesen und hätte ich mal schon viel eher auf dich gehört. Das soll mir für meine restliche Zeit, die ich noch bei der Kripo bin, eine Lehre sein. Weißt du, was mich aber trotzdem ein wenig glücklich macht?“

„Na, was denn? Sag schon.“

„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass man in der heutigen Zeit noch was von den jungen Leuten lernen kann.“

„Ach so, nur ab und zu.“

„Vielleicht ist die heutige Jugend doch noch nicht verloren. Man sollte eben den Glauben an die Jugend nicht verlieren.“

Eller erinnerte sich plötzlich an den Anruf, den sie während der Fahrt zum Bauernhof erhielten: „Sollten wir uns nicht mal die Mutter von dem Johannes vorknöpfen, die bei uns angerufen hat, weil sie Schüsse gehört hat?“

„Ach, was wollen wir von der schon erfahren. Sie hat die Schüsse gehört. Das war aber auch schon alles. Denkst du, sie hat das ganze Drama beobachtet und kann uns jetzt alle Details nennen?“, wiegelte Schneider ab.

„Warum nicht. Zuzutrauen wäre den alten Leutchen alles. Die sind manchmal gar nicht so dement, wie man immer denkt.

„Glaube mir Frank, solche alten Leute sind als Zeugen nicht zu gebrauchen. Sie sehen schnell mal Dinge, die es überhaupt nicht gibt. Und dann stehst du da und musst dich mit sinnlosen Sachen beschäftigen. Das hält nur auf.“

„Jürgen, jetzt fängst du schon wieder an, meine Vorschläge zu ignorieren. Es wird Zeit, dass du in Pension gehst.“

Marie wurde vorläufig festgenommen. Bei den Anderen konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen.

 

*

 

Zwei Wochen später fährt ein blauweißer Streifenwagen der Polizei mit Martinshorn und Blaulicht durch die Stadt. Vor einem dreistöckigen Mietshaus hält der Wagen an. Zwei Beamte springen heraus, eilen zur Haustür, klingeln. Die Tür summt, sie öffnen und gehen hinein. Die Wohnungstür in der zweiten Etage ist bereits geöffnet. An der Tür steht Marie, den Kopf nach unten gesenkt.

„Marie Hausmann, sie sind verhaftet. Kommen sie bitte mit.“

Ohne ein Wort zu sagen, geht Marie mit den Beamten mit. Im Revier wartet Alma. Einer der Beamten sagt zu Marie.

„Diese Dame kennen sie ja bereits. Sie hat eine Aussage gemacht. Eine Aussage gegen sie.“

 

*

 

Obwohl Alma eindeutig bezeugen konnte, dass Marie Karla vorsätzlich getötet hatte, entging Marie mit viel Glück einer gerechten Verurteilung. Bei Gericht sagte sie unter Eid aus, dass sie aus Notwehr gehandelt habe. Angeblich wäre sie gezwungen gewesen, sich zu wehren, weil Karla sie mit dem Gewehr bedroht hat.

Dass Marie jedoch mit zehn Stichen der Heugabel Karla praktisch hinrichtete, empfand das Gericht als nicht bedenklich. Sie stand eben unter Schock und habe im Affekt gehandelt. Es gab keinen weiteren Zeugen, außer Alma, der etwas anderes behaupten könnte.

Maries Anwalt erwirkte ein Gutachten über Almas Gesundheitszustand, bei dem festgestellt wurde, dass Alma Symptome einer beginnenden Alzheimer Krankheit aufwies und somit als Zeuge unzurechnungsfähig war.

 

*

 

Ein Jahr später heiratete Marie Ruben, ihren Halbbruder, der bis zum heutigen Tag nie die ganze Wahrheit über sie erfahren hat. Sie haben zwei Kinder zusammen, die Tochter nannten sie Anna und den Sohn Lukas. Sie zogen weit weg und ließen sich nie wieder in dieser Gegend sehen.

Alma und Jakob, Annas Großeltern, konnten aufgrund ihres Alters den Hof nicht mehr allein bewirtschaften. Sie siedelten kurze Zeit später in ein Altersheim in die Stadt um. Ruben und Marie besuchen sie ab und zu. Alma erkannte Marie nicht mehr, die Krankheit war bei ihr schon viel zu weit fortgeschritten.

Seitdem stand der Hof leer. Niemand wollte ihn übernehmen und bewirtschaften. Die Vergangenheit lastete zu sehr auf ihm. Vielleicht war es gar ein böser Fluch, der den Bauernhof in Hollerfeld zu jener Zeit heimsuchte.     

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