Kapitel 5

 

Johannes kam abends aus dem Baumarkt und steuerte seinen Einkaufswagen auf den Parkplatz zu. Auf dem Weg zu seinem Wagen beobachtete er, wie eine brünette junge Frau in einem hellblauen Sommerkleid verzweifelt versuchte, einen großen Karton in ihrem Auto unterzubringen. Doch wie sie ihn auch drehte und wendete, der Karton passte nicht auf die Rückbank, geschweige denn in den Kofferraum.

Johannes ging spontan auf die junge Frau zu und fragte sie: Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

„Oh, ja gern“, freute sich die junge Frau über die angebotene Hilfe und strich sich unbewusst mit den Händen ihre halblangen Haare hinter die Ohren.

„Ich befürchte, da wird nichts zu machen sein. Der Karton ist einfach zu groß. Wo müssen sie denn hin?“

„Nach Brüllesau.“

„Oh, das liegt ja fast auf meiner Strecke. Wenn sie möchten, nehme ich sie mit und Morgen, wenn es hell ist, holen sie ihren Wagen hier wieder ab. Den wird schon keiner klauen.

Die junge Frau lächelte Johannes erleichtert an.

Prima. Das wäre super. Das ist sehr nett von Ihnen.

Gemeinsam verfrachteten sie den großen Karton in Johannes Auto, dann fuhren sie los.

„Wie heißen sie?“

„Yvonne. Sie dürfen ruhig du sagen. Und wie heißen sie?“

„Johannes. Nenne mich einfach Johannes. Was ist eigentlich in dem Karton?“, fragte Johannes und musterte Yvonne dabei unauffällig von oben bis unten.

„Ach, das ist ein Schrank für unser Kinderzimmer, ein Sideboard.

„Du hast Kinder?“

„Ja, eine Tochter, Anna heißt sie.“

„Anna?“, erschrak Johannes.

„Ja, und. Gefällt dir der Name nicht?“

Johannes Blick senkte sich.

„Anna hieß meine Tochter.“

„Wieso redest du in der Vergangenheit?“

Johannes Stimme wurde leiser.

„Sie ist tot.“

„Oh, das tut mit leid. Was ist passiert? War sie krank?

„Sie hatte einen Unfall, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Sie ist verbrannt, in unserer Scheune.“

Das ist ja furchtbar. - Ich erinnere mich schwach. Da habe ich mal etwas in der Zeitung gelesen. Ist noch gar nicht so lange her. Ein paar Monate vielleicht.

Johannes Stimme wurde wieder lauter.

„Schon möglich. Diese Journalisten schreiben ja alles Mögliche, nur nie die Wahrheit.“

„Wie meinst du das?“, fragte Yvonne verwundert.

„Ich meine, dass es gar kein Unfall war“, antwortete er gereizt.

Yvonne platzte fast vor Neugier.

„Sondern?“

„Mord!“, schrie Johannes.

Yvonne schaute Johannes erschrocken an, ihr Mund stand offen. War es nur das Wort Mord, das sie so schockierte, oder war es auch Johannes bedrohliche Stimme?

„Mord?“

„Ja, Mord“, wiederholte er mit gleicher monotoner Stimme.

Jetzt wollte Yvonne es genau wissen.

„Und wer soll das gewesen sein? Weiß man es? Oder weißt du es nur?“

„Niemand weiß es, außer mir. Ich allein nur kenne den Mörder meiner kleinen Anna.“

Johannes Stimme wurde aggressiver. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

„Ich werde den Mörder finden.“

„Du kennst ihn?“, fragte Yvonne in einer Tonlage, als ob sie ahnte, dass Johannes den Mörder seiner Tochter kannte.

Johannes betonte jedes einzelne Wort: „Ja, ich kenne sie.“

„Eine Frau?“

„Ja, eine Frau, eine junge Frau.“ Johannes schaute wieder zu Yvonne rüber. „Ungefähr so alt, wie du. Auch brünett.

Yvonnes Stimme wurde leiser. Etwas ängstlich sagte sie: „Ich war es aber nicht.“

„Ich weiß.“

„Wo fährst du hin? Wir hätten doch hier abbiegen müssen“, wunderte sich Yvonne und schaute ängstlich aus dem Wagen.

Johannes antwortete nicht. Sein Blick war starr nach vorn auf die Straße gerichtet.

„Hey, ich habe dich was gefragt.“

Yvonne schubste Johannes mit ihrem linken Arm, doch er sagte kein Wort. Wenig später hielt er an.

„Wo sind wir hier? Was willst du hier?, fragte Yvonne verwundert.

„Steig aus! Wir sind da.“

Yvonnes Stimme wurde lauter.

„Was hast du vor? Willst du mir etwas antun?“

Johannes stieg aus, rannte zur Beifahrertür, zerrte Yvonne aus dem Wagen, hielt sie mit der rechten Hand am Arm fest. Mit dem linken Arm holte er seine Flinte aus dem Kofferraum und drohte ihr.

„Sei still! Komm mit! Sonst bring ich dich um.

Sie gingen ins Haus. Johannes schwitzte, war hochrot im Gesicht.

„Zieh dich aus! Setz dich da auf den Boden! Mach schnell! Beeil dich!

Yvonne stand tausend Ängste aus, zitterte am ganzen Körper. Sie tat, was Johannes ihr befahl, zog sich aus, bis auf die Unterwäsche, sie schämte sich, hielt ihre Arme vor ihre Brüste. Nichts ahnend setzte sie sich an dieselbe Stelle, an der bereits wenige Tage zuvor für eine junge Frau ein furchtbares Schicksal seinen Anfang nahm. Johannes band ihr die Hände auf dem Rücken zusammen. Dann setzte er sich neben sie auf den Boden, schäumender Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, seine Stimme klang verändert, bedrohlich, kühl.

„Keine Angst, ich tu dir nichts. Ich möchte nur etwas mit dir spielen. Du bist so hübsch.“

Er fasste ihr an den Busen, küsste sie. Yvonne ekelte sich, doch sie ließ ihn gewähren. Völlig verängstigt fragte sie: „Bist du, bist du etwa der Hochsitzmörder?“

Johannes erschrak, als hätte er diese Worte in diesem Augenblick nicht von Yvonne erwartet. Von keinem Menschen auf der Welt hätte er diese Worte erwartet. Er wollte sie nicht hören, nichts wollte er hören. Er hielt sich nicht für einen Mörder. Er wollte doch nur seine Tochter rächen.

Was redest du da? Ich bin kein Mörder. - Sei endlich still, sonst verbinde ich dir den Mund“, schrie er sie an, wie ein ungehobelter Bauernbengel.

Yvonne schwieg, fing an zu weinen, ihr Puls raste, das Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie begriff, dass sie sich in einer schwierigen, ja fast aussichtslosen Situation befand, bangte um ihr Leben. Sie reagierte nur noch instinktiv, sie wollte nicht sterben, kämpfte um ihr Leben.

„Gefällt dir das?“, fragte Johannes und streichelte die Innenseiten von Yvonnes Schenkeln.

Yvonne nickte wie auf Befehl, ihre zitternden Lippen blieben stumm, Tränen liefen ihr aus den roten verweinten Augen.

„Zeig mir, was du unter Deinem weißen Höschen versteckst!, forderte Johannes sie auf.

Yvonne schluchzte: „Bitte tu mir nichts, ich möchte noch nicht sterben. Ich tu alles, was du möchtest, aber bring mich nicht um. Du bist der Hochsitzmörder. Stimmt’s?

Johannes lachte laut, riss ihr Slip und BH vom Leib und zog seine Hose aus. Yvonne verspürte panische Angst. Doch so unglaublich es für sie erschien, diese Angst erregte sie. Sie konnte es selbst nicht verstehen. Johannes nahm ihre Füße, streichelte sie und leckte an ihren Fußsohlen. Yvonne konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Es war makaber. Sie lachte laut, obwohl sie ahnte, dass sie in wenigen Augenblicken von dem vermeintlichen Hochsitzmörder vergewaltigt und höchstwahrscheinlich anschließend Jeanne D’Arc-mäßig, wie auf einem Scheiterhaufen, qualvoll verbrannt werden würde. Es war ihr bewusst. Ihr war aber auch bewusst, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. Sie war ihrem Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dieser unlösbare innere Konflikt erregte sie sexuell, erregte sie dermaßen, wie sie es noch nie zuvor erlebte. Voller Erwartung spreizte sie ihre Beine und servierte ihm alles, was sie zu bieten hatte, wie auf einem silbernen Tablett.

Johannes sah die glänzende Feuchte ihre Geschlechts, die ihre Schamlippen glitzern ließen, und atmete tief den Duft ein, der ihren wollüstigen Schenkeln entstieg. Yvonne ahnte, dass es wohl ihr letztes Mal sein würde. Deshalb wollte sie noch einmal mit allen Sinnen genießen. Wie hypnotisiert ließ sie alles mit sich geschehen.

Während Yvonne darauf wartete, ja vielleicht sogar darauf hoffte, dass Johannes endlich in sie eindrang, streichelte er stattdessen nur ihren Körper. Er war sehr zärtlich und Yvonne genoss es, obwohl Johannes genau das Gegenteil von dem tat, was sie in ihrer unstillbaren Lust von ihm eigentlich erwartete. Es schien, als spielte Johannes mit ihr, mit ihren Gefühlen.

Erst als sie Johannes Worte: Du kannst dich wieder anziehen! vernahm, meinte sie, dass nun ihre letzte Stunde geschlagen hätte. Sie wusste jedoch nicht, ob sie sich nun ärgern sollte, weil ihr die Henkersmahlzeit in Form eines letzten Höhepunktes verwehrt wurde.

Plötzlich war sie wieder da, die Angst. Sie war größer als zuvor und steigerte sich noch als Johannes ihr ein großes Pflaster auf den Mund klebte. Yvonne war der Ohnmacht nahe, hörte, wie Johannes sagte: „Wir müssen noch etwas erledigen.

Yvonne weinte, ahnte, welches Procedere nun seinen Anfang nehmen würde, wollte laut schreien, doch sie konnte ja keiner hören. Johannes fasste Yvonne am Arm und zerrte sie gewaltsam aus dem Haus bis in seinen Wagen.

Es war kurz nach Mitternacht, als er losfuhr. Diesmal jedoch in eine völlig andere Gegend, viel weiter von der Stadt entfernt als das erste Mal. Johannes benötigte sehr lange, um einen geeigneten Hochsitz für sein schreckliches Vorhaben zu finden. Yvonne saß auf dem Rücksitz seines Wagens und weinte.

In einem größeren Waldstück fuhr er einen kleinen Weg hinein und steuerte unmittelbar auf eine Schonung zu, die sich etwa 400 Meter abseits der Straße befand. Dort erblickte er einen alten fast verfallenen Hochsitz. Er stand sehr günstig, weit weg von den Bäumen des kleinen Waldstücks.

Johannes wusste ganz genau, dass diese alten Hochsitze viel besser brennen, als die neu erbauten, bei denen das Holz noch nicht richtig ausgetrocknet ist. Er stoppte seinen Wagen unmittelbar davor und stieg aus. Als er sich vergewisserte, dass niemand in der Nähe befand, zerrte er Yvonne aus dem Wagen und zwang sie auf den Hochsitz zu klettern. Er folgte ihr und hoffte, dass der Hochsitz nicht einstürzte und sein Vorhaben in Gefahr geraten könnte. Als sie oben angelangt waren, band er sie mit einer Wäscheleine an den Holzbalken fest.

Anschließend stieg er hinab, häufte unter dem Hochsitz eilig etwas trockenes Holz an. Johannes hörte deutlich Yvonnes Winseln. Es klang entsetzlich, doch er hatte kein Mitleid mit ihr. Mit einem zynischen Lächeln holte er seinen Benzinkanister aus dem Kofferraum und stieg wieder hinauf. Ein letztes Mal schaute er Yvonne an, sah ihr flehendes angstverzerrtes Gesicht.

Es war kein Mensch, der wie ein Häufchen Elend vor Yvonne stand, es war ein Werwolf, eine schreckliche Bestie.

„Gleich ist es vorbei. Gleich bist du bei Anna. Sie wartet schon auf dich. Sie hat schon eine Kerze für dich angezündet, für ihre beste Freundin.

Johannes übergoss Yvonne und den gesamten Hochsitz mit dem Inhalt des gesamten Kanisters und fuhr anschließend seinen Wagen ein paar Meter vom Hochsitz weg.

Mit seinem Feuerzeug zündete er schweißtriefend und mit zitternden Händen das Benzin an. Sofort brannte alles lichterloh. Das Feuer knisterte laut, sodass Yvonnes entsetzlichen Jammerlaute übertönt wurden. Schnell stieg er in seinen Wagen und verließ den Ort des grausamen Verbrechens. Abermals rief er an der nächsten Telefonzelle die Feuerwehr an und wenige Minuten später sah er, wie mehrere Wasserwerfer mit Höchstgeschwindigkeit an ihm vorbei fuhren. Er winkte ihnen zu und mit einem Lächeln auf den Lippen schaute er den Fahrzeugen hinterher.

An diesem Abend fuhr er nicht in sein Landhaus zurück, sondern auf den Bauernhof. Alle schliefen bereits, bis auf Alma, die wieder einmal unter Schlafstörungen litt. Sie stand am Fenster und erblickte Johannes, wie er auf dem Hof ankam. Sie hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Dann legte sie sich wieder zur Ruhe.

 

*

 

Hauptkommissar Jürgen Schneider sagte zu seinem Kollegen Frank Eller: „Weißt du Frank, jetzt ist genau jene Situation eingetreten, die wir hätten verhindern müssen, weil es die verängstigten Menschen aus der Umgebung einfach von uns erwarten. Jetzt stehen wir wieder ganz am Anfang. Du glaubst gar nicht, wie frustriert ich bin.

Schneider stellte sich vor die detaillierte Landkarte an der Wand, auf der sämtliche Orte aus der ferneren Umgebung eingezeichnet waren, und strich sich mit der linken Hand über seine Haare, die hinten mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten wurden. Das tat er immer, wenn er angestrengt überlegte. In der rechten Hand hielt er den Zeigestock, den er wie eine Antenne raus und reinschieben konnte.

Wir sind keinen einzigen Schritt vorangekommen. Halten wir mal fest: Die beiden Tatorte liegen über 50 Kilometer voneinander entfernt. Die Reifenspuren haben uns ebenfalls nicht weiter gebracht. Wir wissen zwar, dass es sich um einen Mitsubishi handelt, aber bis wir in der Umgebung alle Wagen dieses Typs überprüft haben, würden Wochen vergehen. Die Zigarette stammt tatsächlich von einer Frau. Eine Frau kann aber die Tat unmöglich begangen haben und die Fingerabdrücke finden wir in keiner Datenbank. Es muss also ein bisher noch unbescholtener Bürger gewesen sein. Das ist alles, was wir wissen. Ach ja, noch etwas: Es gibt keine eindeutigen Hinweise darauf, dass die Opfer vergewaltigt wurden. Sexualität als Mordmotiv fällt also höchstwahrscheinlich weg.

Escher staunte: „Vielleicht ist in der Familie des Hochsitzmörders irgendetwas vorgefallen, eine Entführung, ein Unfall oder ein Verbrechen“, ergänzte Frank Eller die Ausführungen Schneiders.

Ja, und? Aber wie wollen wir das herausfinden? Vielleicht ist es aber auch ein familiäres Schicksal, von denen wir überhaupt keine Kenntnis haben. Schau Dir mal den infrage kommenden Kreis an!“ Schneider zeigte auf die Karte. Da leben weit über dreihunderttausend Menschen. Wollen wir die im Ernst alle befragen?

Ellers Antwort klang gewohnt schulmeisterlich: „Die Meisten fallen schon einmal raus. Erstens sind die Hälfte Frauen. Zweitens fallen die Säuglinge, Kleinkinder und Greise weg. Dann bleiben vielleicht fünfzigtausend übrig. Das ist schon mal besser als dreihunderttausend.“

Da war er wieder, dieser Ton, den Schneider so hasste, er fühlte, wie ihm der Puls bis in den Hals schlug.

„Na, klar, die haben wir doch in ein oder zwei Tagen durch, scherzte Schneider. „Das ist Quatsch, ich denke eher, dass eine gewisse Symbolik dahinter stecken muss. Die zwei Fälle gleichen sich doch, wie ein Ei dem anderen. Zweimal Hochsitz, alle Opfer sehr jung, dunkelhaarig und gefesselt. Was hat das alles zu bedeuten?

„Vielleicht ist der Täter gar ein Jäger, warf Eller ein.

Schneider schaute Eller in die Augen, so als ob Eller gerade den richtigen Tipp gab.

„Nein, das wäre zu offensichtlich. Aber da liegst du vielleicht gar nicht mal so falsch. Auf alle Fälle muss er ein Naturmensch sein. Ein Stadtmensch weiß unter Umständen überhaupt nicht, was ein Hochsitz ist. Außerdem würde er schon Probleme beim Hochklettern bekommen“ lachte Schneider und fuhr fort: „Ich tippe, er kommt auf jeden Fall vom Land. Lass uns mal zu dem Hochsitz fahren, vielleicht finden wir ja noch etwas, oder uns fällt etwas auf.“

„Etwas habe ich noch vergessen zu sagen“, ergänzte Schneider auf dem Weg zum Wagen. „Es können keine Zufallsopfer sein und es waren auch keine spontane Taten.“

Auf der Fahrt zu diesem Hochsitz, der am Vortag noch Schauplatz einer grausamen Hinrichtung war, sagte Schneider etwas wehmütig: „Frank, ich muss Dir was sagen. Das LKA drängelt. Die wollen eine SOKO bilden, wenn wir nicht bald Erfolge bei der Fahndung vorweisen.“

„Aha, und wie soll die SOKO heißen? Vielleicht SOKO HOMO oder HOMÖ? Nein, das erinnert mich an was ganz Schmerzhaftes.“ Eller kniff die Augen zusammen.

Schneider lachte: „Was, in deinem Alter schon. - Nein, im Ernst. Wir müssen was unternehmen. Speichelproben, Rasterfahndung. Das Problem ist nur, dass wir kein verwertbares Material haben. Nur einen Reifenabdruck.

Apropos Reifenabdruck. Weißt du, was mir gerade einfällt, Jürgen?“

„Hoffentlich nichts Schlimmes.“

„Ich weiß nicht. Sag mal, fährt der Sandgruber nicht auch einen Mitsubishi? Du hast Dir doch den Wagen damals etwas genauer angeschaut.“

„Ja, so einen silberblauen LG 200. Aber warum fragst du?“

„Na, ja. Beim Hochsitz wurden doch auch Reifenspuren eines Mitsubishis gefunden. Und außerdem hatte der Sandgruber damals diesen entsetzlichen Unfall, als seine Scheune abbrannte.“

Schneider wehrte ab.

„Ach was, der Sandgruber war‘s nicht. Der ist viel zu anständig. Der könnte keiner Fliege was zuleide tun. Außerdem ist er ein unbescholtener und im Ort angesehener Bürger. Ich glaube, da würden wir ihm Unrecht tun, wenn wir ihn verdächtigen würden.“

Eller war fassungslos.

Du widersprichst dich, Jürgen. Merkst du das denn nicht? Einerseits sagst du, dass der Mörder ein bisher unbescholtener Bürger sein muss. Und andererseits verteidigst du den Sandgruber haargenau mit dieser Eigenschaft. Wieso glaubst du nur so fest an die Unschuld von Sandgruber? Einige Indizien sprechen für ihn, als Mörder. Mir fällt es schwer, deine Argumentation nachzuvollziehen.“

„Das ist kriminalistische Intuition. Die bekommst du auch noch. Da gibt es manchmal auch Widersprüche, Abweichungen von der Regel. Die muss man nur richtig zu deuten wissen“, scherzte Schneider.

„Wenn du dich mit deiner Intuition nicht mal gewaltig irrst“, entgegnete ihm Eller.

Schneiders Stimme wurde lauter, klang gereizt.

„Weißt du eigentlich, was man mit einer falschen Verdächtigung alles anstellen kann? Der Sandgruber hat seine Tochter verloren, das ist schlimm genug. Das muss er erst einmal verarbeiten. Wenn wir ihn jetzt verhaften, ohne eindeutige Beweise, dreht der vielleicht noch durch. Und am Ende ist er doch unschuldig.“

 

*

 

Nachdem sie an dem Ort ankamen, wo vergangene Nacht die junge Yvonne so bestialisch hingerichtet wurde, suchten sie die Umgebung um den total verkohlten Hochsitz, der noch immer den markanten Geruch von verbranntem menschlichen Fleisch verbreitete, noch einmal nach Spuren ab.

Warum betrieben sie den ganzen Aufwand? Trauten sie der Spurensicherung nicht? Oder war es einfach nur eine Aktion der Verzweiflung? Die Suche blieb erwartungsgemäß ohne Erfolg. Wie konnte es auch anders sein, die Kollegen der Spurensicherung leisteten wieder einmal ganze Arbeit. Schneider wusste ganz genau, wie diese Exkursion enden würde. Warum machte er sie dann?

Wieder zurück im Büro ordnete Jürgen Schneider, aus dem Zwang heraus, irgendetwas im Fall ‚Hochsitzmörder‘ tun zu müssen, Straßensperren und -Kontrollen an; täglich an einem anderen Ort und in einem Umkreis von 100 Kilometern. Irgendwie musste er ja auf dieses zweite Verbrechen des Hochsitzmörders reagieren, um nicht gänzlich die Glaubwürdigkeit unter der Bevölkerung zu verlieren. Auch wenn er überhaupt keine Anhaltspunkte von dem gesuchten Hochsitzmörder besaß. Er wollte unbedingt die Bildung der SOKO verhindern, denn dann würde sein Traum vorzeitig zunichtegemacht.

Zum ersten Mal in seiner Laufbahn hegte er Zweifel, Zweifel an seinen eigenen Ermittlungsmethoden, an seinen eigenen Theorien. Es schien, als wäre er mit seinem Latein am Ende.

War es Eller, dem er zeigen wollte, dass er der große Macker war? Oder war es seine eigene Arroganz oder Überheblichkeit, sich über andere Meinungen hinwegzusetzen, auch wenn sie näher an der Wahrheit gelagert waren, als seine eigene.

Schneider musste aufpassen, dass er sich in diesem Fall nicht zu sehr in seine eigenen Widersprüche verwickelte, nicht zu sehr in eine Sache verrannte, die ihn am Ende ohne Erfolg dastehen ließ.

Schneider wollte diesen Fall lösen, unbedingt und da sollte auch nur Schneiders Meinung gelten, keine andere, etwa von einem aus der Schule.

Schneider vollführte eine gefährliche Gradwanderung, die ihm auch das Genick brechen könnte. Wenn er mit seiner Sturheit recht behält, wäre es sein größter Erfolg, wenn nicht, sein Ende.

 

*

 

In den Semesterferien half Ruben ab und zu auf dem Hof. Er war auf dem Weg in die Scheune, um eine Schubkarre zu holen. Dort traf er Lukas. Er lag auf der Tenne, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und kaute auf einem Strohhalm.

„Was machst du denn hier?“, fragte Ruben.

„Ich denke nach.“

„Über was?“

„Über alles, über Johannes, über mich, über dich“, antwortete Lukas.

Neugierig fragte Ruben: „Und was denkst du über mich?“

Lukas schwieg einen Augenblick, stieg die Leiter der Tenne hinunter und sagte schließlich, nachdem er den Strohhalm aus dem Mund nahm und wegwarf: „Ruben, findest du nicht auch, dass es an der Zeit ist, endlich das Kriegsbeil zu begraben? Wir sind alt genug und sollten uns nicht verhalten, wie zwei Schulkinder. Seit dem Unfall hat sich viel verändert hier auf dem Hof. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert, Johannes hat sich verändert. Wir beide sollten zusammenhalten und uns mehr um Johannes kümmern. Er hat immer noch unter dem schmerzlichen Verlust von Anna zu leiden. Er braucht dringend unsere Hilfe.

„Denkst du vielleicht, ich leide nicht darunter?“, fragte Ruben.

„Wir alle haben immer noch damit zu kämpfen, aber Johannes hatte diesen Unfall mit dem Balken. Ich bin mir sicher, dass dabei etwas zurückgeblieben ist. Er ist nicht mehr der, der er früher einmal war und das gibt mir zu denken. Außerdem habe ich eine schreckliche Vermutung.“

Ruben horchte auf, schaute Lukas mit großen fragenden Augen an: „Was für eine Vermutung? Sag schon!“

„Ich weiß nicht. Ich kann mich auch täuschen. Ich möchte deinen Vater nicht grundlos verdächtigen. Mir fehlen die Beweise, aber einige Dinge lassen die Vermutung aufkommen, dass ...“

„Was für eine Vermutung? Sag endlich, was du vermutest!“, drängte ihn Ruben.

Lukas senkte seinen Blick und schwieg einen Augenblick, dann sagte er: „Der Hochsitzmörder. Ich vermute, Dein Vater ist der Hochsitzmörder.“

Ruben war außer sich über diese gewagte Behauptung von Lukas, reagierte gereizt und aggressiv, packte Lukas mit beiden Händen am Kragen seines Jacketts.

„Hast du sie nicht mehr alle? Mein Vater ein Mörder. Das ist eine unverschämte Unterstellung. Von wegen Kriegsbeil begraben. Wie sollen wir das Kriegsbeil begraben, wenn du derartige Unterstellungen machst?

Plötzlich verstummte Ruben, ließ von ihm los, setzte sich auf die Schubkarre, sein Blick war starr nach unten gerichtet und sagte zur Überraschung von Lukas: „Entschuldige bitte! Ich glaube, du hast recht.

Lukas schaute Ruben mit großen Augen an. Mit dieser plötzlichen Wende rechnete er wohl nicht. Ruben redete in ruhigem Ton weiter.

Ich habe Vater einen Tag vor der letzten Tat des Hochsitzmörders dabei beobachtet, wie er von seinem Wagen Benzin in einen Kanister abfüllte. Er hat mich nicht gesehen, hat sich aber immer wieder umgedreht und geschaut, ob ihn jemand dabei beobachtete. Außer mir hat ihn sicher keiner gesehen. Ja, ich glaube langsam auch, dass er der schreckliche Mörder ist. Ich will es einfach nicht wahrhaben, er ist doch mein Vater.

„Und was machen wir nun, zur Polizei gehen?“, fragte Lukas, indem er ein Stück von Ruben weglief und dann stehen blieb.

Genau genommen sollten wir es tun. Aber ich kann meinen Vater nicht an die Polizei verraten, er ist krank. Er kann nichts dafür. Er will das doch alles gar nicht. Er will doch nur Anna rächen.

Lukas drehte sich um und sagte: „Die Polizei sieht das bestimmt anders. Aber ich bin auch dafür, dass wir unseren Verdacht vorerst für uns behalten. Sollen die doch selbst drauf kommen. Das ist schließlich ihr Job. Wir sollten uns mehr um ihn kümmern; mehr für ihn da sein. Vielleicht wird er dann wieder gesund. Ruben wollen wir uns wieder vertragen?“

Ruben schaute Lukas an als hätte er sehnsuchtsvoll auf dieses Angebot gewartet. Lukas kam näher, stellte sich vor Ruben und schwieg. Sie schauten sich in die Augen. Ruben begann zu lächeln, dann umarmte er Lukas.

Lukas, versprich mir, dass du nie wieder ein böses Wort zu mir sagst!

Lukas wischte sich eine Träne aus den Augen: „Versprochen!“

„Komm, darauf trinken wir einen!

Sie gingen gemeinsam in die Küche und holten eine angefangene Flasche Obstler aus dem Kühlschrank. Lukas goss zwei große Gläser ein und beide leerten die Gläser in einem Zug.

 

*

 

Johannes lief über den Hof. Dabei begegnete ihm Alma. Sie wollte in den Hühnerstall um ein paar Eier für das Abendessen zu holen.

„Na, Johannes. Du siehst müde aus. Du solltest dir ein wenig mehr Ruhe gönnen, früher ins Bett gehen.“

Johannes blieb stehen und fragte: „Wie meinst du das? Woher weißt du, wann ich ins Bett gehe.

Alma schaute Johannes tief in die Augen.

„Ich sehe dich manchmal spät abends nach Hause kommen, wenn ich nicht schlafen kann und aus dem Fenster schaue.“

„Was geht dich das an?“, fragte Johannes ohne Almas Blick zu erwidern.

„Du bist schließlich mein Sohn und ich mache mir große Sorgen um dich. Eine Mutter spürt, wenn etwas mit ihrem Kind nicht stimmt.

„Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, entgegnete er ihr und ging weiter.

Alma rief ihm hinterher: „Johannes, ich werde niemandem etwas verraten.“

Johannes blieb stehen, drehte sich um, sagte jedoch kein Wort. Dann ging er weiter und verschwand in der Scheune.

 

*

 

Die Sonne war soeben untergegangen und es begann zu dämmern. Johannes verabschiedet sich am frühen Abend von Karla: „Schatz, ich schlafe heute in der Hütte. Ich muss morgen früh den Zaun reparieren. Wahrscheinlich haben ihn wieder die Wildschweine beschädigt. Ich komme erst am späten Nachmittag zurück.“

Karla verzog keine Miene. Sie schien eiskalt und geistesabwesend, brachte nur das obligatorische „Pass schön auf dich auf!“ über ihre Lippen. Doch es klang seltsam, fast unheimlich.

„Mach ich“, rief Johannes noch beim Hinausgehen und verschwand.

Karla stand auf, ging ans Fenster und schaute Johannes hinterher. Sie war skeptisch, wusste nicht, ob sie Johannes trauen konnte. Wenige Sekunden, nachdem Johannes vom Hof gefahren war, fuhr ihm Karla nach. Sie wahrte genügend Abstand, um nicht von Johannes bemerkt zu werden.

Johannes fuhr nicht zur Hütte, sondern geradewegs in die Villa Rose. Das Auto stellte er ein paar Straßen entfernt ab. Niemand sah, wie Johannes in der Dämmerung in die Villa Rose ging.

Karla wartete solange im Wagen, bis er nach einigen Minuten wieder herauskam. Er stieg sofort in seinen Wagen und Karla sah, wie er mit dem Handy telefonierte. 30 oder 40 Sekunden lang. Dann fuhr er los. Doch auch diesmal fuhr er nicht zur Hütte, sondern nahm Kurs in die Stadt. Zielgerichtet steuerte er eine bestimmte Straße an, hielt vor dem Haus, stieg aus und klingelte unten an der Tür. Karla beobachtet alles in gebührendem Abstand.

Johannes wartete vor der Tür, lief hektisch auf und ab. Nach wenigen Minuten ging die Haustür auf und eine junge Frau kam heraus. Es gab einen kurzen Wortwechsel, dann sah sie, wie die junge Frau in Johannes Auto stieg.

Karla begann zu weinen. Fragen drängten sich ihr auf. Hat Johannes etwa eine Geliebte? Wer ist sie? Warum macht er das? Bin ich nicht mehr attraktiv genug für ihn? Oder ist Johannes etwa der Hochsitzmörder?

Nein, das wollte sie nicht wahrhaben. Traurig und etwas deprimiert fuhr sie wieder zurück.

 

*

 

„Was hast du dir eigentlich damals im Gasthaus dabei gedacht?“, fragte Johannes das junge Mädchen. Pia war ihr Name, wie Johannes vor wenigen Augenblicken erfuhr.

„Ich fand dich so niedlich, wie du da mit deinen Kumpels dein Bier trankst und so traurig drein blicktest. Ich wollte dich ein wenig anmachen, provozieren.“

Das ist dir ganz gut gelungen. Und wieso bist du heute allein? Wo ist dein Freund?“

Sepp hat heute Training. Jeden Dienstag und Donnerstag trainieren die Türsteher. Danach unternehmen sie immer noch was gemeinsam. Mal spielen sie Skat, mal gehen sie bowlen oder kegeln. Ich habe dafür montags Weiberabend. So gleicht sich das aus.“

„Und wann kommt er zurück, dein Sepp?“, fragte Johannes nicht ohne Hintergedanken.

„Meist erst früh am Morgen, wenn überhaupt. Manchmal schläft er bei irgendeinem Kumpel, weil er nicht mehr fähig ist, nach Hause zu gehen oder zu fahren. Aber das ist mir egal. – Wie weit ist es noch, bis zu deiner Hütte?

„Wir sind gleich da, fünf Minuten noch. Oh, verdammt, eine Straßensperre. Schnell mach dich auf den Rücksitz und deck dich mit der Decke zu. Die Polizei darf dich nicht sehen.

„Warum nicht? Ich bin doch schon achtzehn.“

„Das ist egal, die von der Polizei hier aus der Gemeinde kennen mich alle. Die würden sich wundern, wenn ich mit einer fremden Frau zu meiner Hütte fahre. Du weißt, wie schnell so was in so einem kleinen Kaff die Runde macht.

Pia kletterte nach hinten und deckte sich zu. Es war dunkel. Es fiel nicht auf, dass da noch jemand unter der Decke lag. Johannes hielt an der Straßensperre an.

Johannes grüß Gott. Fährst du wieder auf deine Hütte?“, fragte der Beamte.

„Ja, die Wildschweine haben letzte Nacht wieder meinen Zaun beschädigt. Den muss ich morgen in der Früh reparieren“, antwortete ihm Johannes. Seine Stimme zitterte.

Der Beamte schaute ihn für einen Moment in die Augen.

„Bist du irgendwo dem Hochsitzmörder begegnet?“

„Dem Hochsitzmörder? Wie soll er denn aussehen?“

„Schon gut, Johannes, du bist ja von früh bis spät auf dem Feld. Dort kannst du ihm nicht begegnen. Na, dann. Gute Fahrt und gute Nacht.“

Johannes fuhr los. Die Polizisten haben nicht in seinen Wagen geschaut. Pia kam wieder von hinten hervor und Johannes sagte zu ihr: „Hast du gehört, die kannten mich?“

Pia war erleichtert: Das ist ja noch mal gut gegangen. Was ist, wenn deine Frau plötzlich in der Hütte erscheint?“

„Das wird nicht passieren. Sie war erst ein- oder zweimal da oben und das ist schon ein paar Jährchen her.“

„Du schwitzt auf einmal so. Bist du aufgeregt?, fragte Pia erstaunt. Pia nahm die rechte Hand von Johannes und führte sie an ihre Brust. „Das kann ich verstehen, bei diesen prallen Aussichten.“

Johannes zog seine Hand wieder zurück, nahm ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Machst du so etwas öfter?“, fragte Johannes.

„Was?“

„Na, ja, fremde Männer verführen.“

Pias verschmitztes Lächeln bedurfte keiner Antwort, doch sie unterstrich ihre Geste mit den Worten: „Soll ich den ganzen Abend gelangweilt auf der Couch rum hängen?“

„Wir sind da. Steig aus!“

„Hey! Warum so plötzlich dieser Befehlston? Kannst du es nicht erwarten, mich zu vögeln?“

Johannes nahm Pia am Arm, schloss die Tür auf und schob sie in die Hütte.

„Du bist aber grob. Willst du etwa SM-Spielchen mit mir machen? Ich habe meine Lederkluft aber nicht mit.“

Johannes schwieg, zog seine Jacke aus, holte einen Strick aus der Küche.

Los setz dich dahin!“

Pia setzte sich genau an die Stelle, wo vorher bereits Babsi und Yvonne gesessen haben. Johannes fesselte ihre Hände auf dem Rücken.

„Was hast du vor? Ich habe Angst. Du schwitzt ja, wie ein Schwein. Lass mich wieder gehen, bitte! So habe ich mir das Date mit dir nicht vorgestellt.“

„Dein Zettel von damals. Das war eine Eintrittskarte der ‚Starlight-Disco‘. Bist du da öfter?“

„Ja, fast an jedem Wochenende. Immer, wenn Sepp, mein Freund, dort arbeitet. Warum?“

Johannes fragte mit aggressiver Stimme: „Kanntest du da eine Anna?“

„Anna, Anna, warte mal! Meinst du die Anna, die damals in der Scheune verbrannte?“, erinnerte sich Pia.

„Ja, genau, die meine ich. Anna war meine Tochter“, sagte Johannes nervös und fasste sich mit beiden Händen an seinen Kopf.

„Oh, mein Gott. Das tut mir wirklich leid.“

„Das braucht dir nicht leidzutun. Sag mir lieber, was mit ihrer Freundin ist! Du weißt, wen ich meine, diese Marie?“

„Ja, ich kann mich erinnern. Mir ist sie nur aufgefallen, weil Anna ansonsten immer mit dieser Sabine in die Disco kam. Mit Sabine habe ich auch ab und zu mal ein paar Worte gewechselt. Aber mit dieser neuen Freundin von Anna, dieser Marie, bin ich nie so richtig warm geworden. Die Beiden haben sich regelrecht abgeschottet. Ich glaube, die hatten mit niemandem so richtig Kontakt.“

„Ist dir noch irgendwas aufgefallen, an diesem Abend?“

„Nein, eigentlich nicht. – Oder warte mal! Es gab da einen kleinen Streit.“

„Zwischen wem?“

„Zwischen Marie und Lukas. Mir fiel nur auf, dass Lukas an diesem Abend noch sehr nüchtern war. Das war sehr ungewöhnlich. Ansonsten war er um diese Zeit immer schon ganz schön im Tee. Lukas war hinter Annas Freundin her, das wusste jeder in der Disco.

Anna versuchte Lukas zurechtzuweisen. Da kam es zum Streit. Lukas wurde handgreiflich, fasste Anna am Arm. Doch da kam gleich die Security und Lukas musste die Disco verlassen. Beim Herausgehen rief er Anna noch etwas zu.“

„Was rief er ihr zu?“, fragte Johannes neugierig.

„Ich habe es kaum verstanden. Es war so laut. Etwas mit ‚bereuen‘ oder so. Ich weiß es wirklich nicht. Wenig später gingen dann auch Anna und ihre Freundin.“

Kommt sie immer noch in diese Disco, diese Marie?“

Wenn du mich so direkt fragst. Seit diesem schrecklichen Brand habe ich sie nie mehr in der Disco gesehen.“

„Weiß du, wo sie wohnt?“, fragte Johannes.

„Nein, ich kenne sie nur vom Sehen. Wir haben nie miteinander gesprochen.“

„Weißt du, was ich nicht verstehe? Warum hast du eigentlich eine Eintrittskarte, wenn dein Freund an der Tür steht. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dort Eintritt zahlen musst.“

„Doch, da passen die auf, wie ein Luchs. Die kontrollieren sogar manchmal drinnen. Jeder, der ohne Eintrittskarte erwischt wird, muss 50 Euro Strafe zahlen und bekommt Hausverbot.“

Du lügst! Sepp hat an diesem Abend gar nicht dort gearbeitet und du musstest Dir eine Karte kaufen. Stimmt’s?

Pias Angst wurde größer. Sie wollte Johannes nicht widersprechen und sagte: „Ja, du hast recht.“

Johannes wurde wütend. Sein Gesicht verzerrte sich, wie eine Maske. Seine Stimme klang wie die eines Werwolfes.

„Du Lügnerin. War das Andere, was du gesagt hast, etwa auch gelogen? War vielleicht Lukas auch gar nicht in der Disco?

Johannes nahm das Heftpflaster und klebte es auf Pias Mund. Sie winselte wie ein Hund, schlug mit den Beinen um sich. Johannes schlug sie ins Gesicht, dann fesselte er ihre Hände und schrie sie an: „Du Miststück, du Schlampe. - Komm mit, Du kleine Hexe, ich habe noch eine Überraschung für dich. Weißt du, was mit solchen hässlichen kleinen Hexen, wie dich passiert? Ich werde dich jetzt zu Deinem Hexenhaus bringen.

Pia weinte, schüttelte den Kopf, versuchte krampfhaft, sich von den Fesseln zu befreien. Sie wusste, was ihr nun blühte, hoffte noch auf ein Wunder. Doch dieses Wunder blieb aus. Sie hatte keine Chance diesem sicheren Tod zu entkommen. Ihr Hexenhaus war in Wirklichkeit ein Hochsitz.

 

*

 

„Und hier noch ein Hinweis der Kriminalpolizei“, tönte es aus dem Radio. Karla drehte sofort lauter. „Gestern Nacht hat der sogenannte Hochsitzmörder erneut zugeschlagen. Das Opfer, eine junge Frau von 19 Jahren, wurde von ihm, genau, wie schon die beiden Opfer zuvor, auf einem Hochsitz gefesselt. Danach zündete der Mörder den Hochsitz mithilfe eines Brandbeschleunigers an und die junge Frau verbrannte qualvoll bei lebendigem Leib.

Die Polizei ruft alle Bürger auf, die in der Nähe von ... verdächtige Personen gesehen haben, sich umgehend bei ihrem zuständigen Polizeirevier zu melden. Vermutlich fährt der Hochsitzmörder einen Mitsubishi LG 200. Es wird eine Belohnung von 5.000 Euro ausgesetzt.

Karla drehte das Radio wieder leiser. „Einen Mitsubishi fährt er also“, dachte sie. Damit besaß sie die endgültige Gewissheit, dass nur Johannes der gesuchte Hochsitzmörder sein konnte. Sie war entsetzt und gleichzeitig auch traurig, wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Einerseits wollte sie nicht zur Polizei gehen, denn dann hätte sie Johannes für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer verloren. Andererseits konnte sie so nicht mehr weiterleben, mit einem schrecklichen Mörder unter einem Dach.

Johannes war unberechenbar geworden. Karla hatte Angst, Angst, dass er eines Tages auch ihr etwas antun könnte. Sie war mit ihrer Kraft am Ende, glaubte nicht mehr an eine Besserung oder gar Heilung von Johannes Krankheit, glaubte nicht an ein derartiges Wunder.

Karla fand sich damit ab, dass Johannes unheilbar krank war. Das Böse hatte in ihm endgültig über das Gute gesiegt. Was sollte sie auch tun? Doch zur Polizei gehen? Mit Johannes über alles reden? Ihn verlassen? Noch einmal einen Arzt aufsuchen? Karlas Gedanken drehten sich im Kreis. Ihr Gehirn glich einem Karussell, welches sich immer schneller drehte. Ihr wurde schwindlig. Alles um sie herum drehte sich. Ihr wurde schwarz vor Augen.

Als sie wieder aufwachte, lag sie im Bett. Johannes saß neben ihr auf dem Stuhl und hielt ihr die Hand.

„Was war los, mein Schatz?“, fragte er Karla.

Karla begann zu weinen: „Ach nichts, Johannes. Mir wurde plötzlich schlecht. Vielleicht sind es vorzeitige Wechseljahre.“

„Bleib noch ein wenig liegen. Ich rufe einen Arzt.“

„Nein, keinen Arzt. Mir geht es schon wieder besser. Ich stehe jetzt auf und mache uns was zu essen.“

 

*

 

Schneider und Eller tappten immer noch im Dunkeln. Kurz vor Mitternacht saßen sie, wie so oft in letzter Zeit, im Büro und diskutierten. Vor wenigen Augenblicken brachte der Pizzaservice zwei Kartons. Aus den geöffneten Kartons entwich ein würziger Knoblauchgeruch und machte sich im Büro breit. Schneider war empört.

„Jetzt haben diese verdammten Spaghettifresser tatsächlich auf beide Pizzen Knoblauch getan. Ich glaub es nicht. Ich habe extra gesagt: Bitte den Knoblauch nur auf die Capricciosa.“

„Soll ich deine mitessen?“, fragte Eller scherzhaft.

„Das könnte dir so passen. Ich habe Hunger wie ein Bär. Da muss meine Frau heute durch.

Schneider nahm sich ein Segment aus dem Pizzakarton und biss hinein. Mit vollem Mund schlug er vor und es klang wieder so, als ob diese Idee die Lösung für diesen Fall bedeutete: „Wir sollten uns noch mal die Todesfälle des letzten halben Jahres hier aus der Umgebung anschauen. Es muss doch irgendein Anhaltspunkt zu finden sein.“

Eller frohlockte innerlich: Das ist doch meine Rede. Der Hochsitzmörder kann nur aus der näheren Umgebung kommen. Alle Indizien deuten auf einen Psychopathen, einen Geistesgestörten, hin. Irgendein Ereignis muss ihn zu diesen schrecklichen Morden anstacheln. Ich glaube, wir stehen unmittelbar vor der Aufklärung des Falles.“

Schneider reagierte etwas zynisch, zog Ellers Bemerkung wieder mal ins Lächerliche: „Du bist ein Genie, Frank. Wir brauchen die Patientenlisten aller Neurologen aus dem Umkreis von 100 Kilometern. Dann brauchen wir nur noch prüfen, bei wem es in den letzten Monaten einen Todesfall gab.“

Eller überlegte kurz, dann sagte er: „Wie bei dem Sandgruber vor ein paar Monaten in Hollerfeld? Nicht wahr? Wir sollten diesem Hof noch einmal einen Besuch abstatten? Was hältst du davon?

Überhaupt nichts. Das in Hollerfeld war ein Unfall. Das habe ich Dir doch bereits erklärt. Da ist längst wieder alles in Butter. Die Scheune ist wieder aufgebaut worden und die Familienangehörigen haben sich mit der Version des Unfalles abgefunden. Ich glaube kaum, dass wir dort den Mörder finden werden. Aber, wenn du unbedingt möchtest, schauen wir in dieser Woche mal dort vorbei.“

Eller freute sich über sein schwer erkämpftes Erfolgserlebnis.

„Na endlich hörst du auch mal auf mich. Vielleicht wird es ja noch etwas mit uns beiden.

„Wie meinst du das?“, fragte Schneider erstaunt. „Willst du mich etwa heiraten?“

„Vielleicht. Warum nicht.“

„Du bist unmöglich! Auf was habe ich mich nur mit dir eingelassen?

 

*

 

Johannes warf noch einen trockenen Holzscheit in das Feuer. Es knisterte laut und Funken flogen nach oben. Die drei feenhaften brünetten Mädchen tanzten lüstern und fast nackt um das lodernde Feuer herum. Ihre weißen Gewänder waren durchsichtig. Das lange volle Haar reichte fast bis zu ihrem Po.

Johannes sah die vollen Brüste der Mädchen im Takt der mystischen Klänge auf und ab hüpfen. Sie tanzten gefährlich nah am Feuer. Bei ihren ekstatischen Tänzen vollzogen sie grazile Bewegungen, ihren Kopf gen Himmel gerichtet, an dem sich der Mond in Form einer großen hellen Sichel zeigte.

Immer weiter drängte Johannes sie ins Zentrum, immer näher an das lodernde Feuer heran. Dann passierte es. Das dünne Hemdchen eines der Mädchen fing Feuer, sofort brannte es lichterloh. Das Mädchen schrie um Hilfe. Doch niemand tat sich an, ihr zu helfen. Schnell verlor sie die Besinnung und ohnmächtig stürzte sie in das llisch heiße Feuer. Die anderen Mädchen tanzten weiter, keiner von ihnen machte irgendwelche Anzeichen, ihr zu Hilfe zu eilen.

Sanft schienen sie wie Elfen über dem Boden zu schweben. Immer weiter nach oben, hoch hinaus über die Wipfel der Bäume. Nach und nach wurden sie vollständig vom dichten Rauch des Feuers verschluckt. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach Menschenfleisch, nach Tod. Johannes griff sich an den Hals, er röchelte, schien zu ersticken.

Schweißgebadet wachte Johannes auf. Es war erst vier Uhr nachts. Er drehte sich noch einmal auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen.