Kapitel 7

 

Das Wetter bei Karlas Beerdigung war trüb an diesem schwülen Spätsommertag. Kein Lüftchen war zu spüren. Die unwetterartigen Gewitter der Nacht hatten sich verzogen. Morgendlicher Nebel stieg auf, hüllte den Friedhof ein und verwandelte ihn ungewollt in eine märchenhafte Unwirklichkeit. Die schemenhaften Umrisse der Bäume bildeten gespenstige Figuren. Es war bereits das zweite Mal innerhalb weniger Monate, dass das Dorf fast vollzählig versammelt war. Damals war es Anna, der die letzte Ehre erwiesen wurde, diesmal geleitete man Karla zur ewigen Ruhe.

Die Trauerzeremonie begann. Der katholische Pfarrer sprach die letzten rührenden Worte am Grab.

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. - Liebe Gemeinde, wir sind heute hier zusammengekommen. Weil wir Abschied nehmen, wollen von unserer lieben Karla Sandgruber. Wir sind tief in unserem Herzen berührt und wir wissen gar nicht, wie wir Trost finden können. Wir wollen nicht glauben, was geschehen ist und wir verstehen es auch nicht wirklich.“

Fast zehn Minuten dauerten die tröstlichen Worte des Pfarrers, die den Trauergästen die Tränen in die Augen trieben. Nach der Rede wurde der Sarg heruntergelassen und jeder warf eine Handvoll Blüten aus einem Korb darauf. Ganz hinten, ihr Gesicht in einen schwarzen Schleier verhüllt, stand auch Marie. Sie schaute immer wieder diskret nach den anderen Trauergästen. Doch keiner der Gäste erkannte sie. Noch bevor die Gemeinschaft kondolierte, verschwand Marie wieder in den grauen Nebelschwaden.

 

*

Als Johannes um die Ecke bog, sah er bereits von Weiten das schummrige Licht in den Fenstern der Villa „Rose“. Die drei doppelten Cognacs, die er zuvor trank, verliehen ihm den nötigen Mut schnurstracks auf den Eingang zuzugehen und an der Tür zu klingeln. Zunächst schaute nur jemand durch den Spion. Nach wenigen Augenblicken öffnete Lola.

Johannes, das ist aber eine Überraschung. Entschuldige bitte, wir müssen jetzt etwas vorsichtig sein, wegen des Hochsitzmörders. Aber zu uns alten Schabracken kommt der bestimmt nicht. Der ist nur scharf auf Frischfleisch. Ist das nicht furchtbar?“

Johannes schaute verdutzt und antwortete: „Ja, furchtbar. Hoffentlich kriegen die ihn bald, damit der ganze Spuk bald mal ein Ende hat.“

Wo warst du denn die ganze Zeit? Komm rein!

Nachdem Lola die Tür hinter Johannes verschlossen hatte, sagte er traurig und blickte dabei auf den verschlissenen roten Teppichboden: „Habt ihr es denn nicht mitbekommen? Es ist etwas Furchtbares passiert. Meine Frau ist letzte Woche tödlich verunglückt.“

Nein. Oh, wie schrecklich. Verunglückt? Mein herzliches Beileid. War das der Unfall hier auf der Landstraße?“

Johannes nickte.

„Wir wussten nicht, dass es sich bei der Toten um eine Bewohnerin der Gemeinde gehandelt hat. Im Grunde genommen erfahren wir gar nichts, was hier in Hollerfeld passiert. Aber vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Und wie geht es nun weiter?“

„Ich weiß noch nicht. Entweder ich bringe mich um oder ich suche mir vorübergehend erst einmal eine Aushilfe für den Hof.

Rede nicht solch einen Schmarrn! Umbringen. Das Leben geht weiter. Du bist so ein starker und hübscher Mann. Du findest bestimmt schnell wieder eine Frau. Was sollte sie denn alles können?“

„Für den Haushalt habe ich ja immer noch Christin, sie kümmert sich aber ausschließlich um das Essen und um die Sauberkeit des Hofes. Nebenbei wäscht sie Wäsche und bügelt. Das reicht mir aber nicht. Mir fehlt jemand, der die Kühe melkt, die Ställe ausmistet, die Hühner und Schweine füttert, weißt du? Die leichteren Arbeiten eines Bauernhofes eben. Lukas und ich, wir schaffen das nicht allein.“

„Da wird sich doch was finden lassen. Vielleicht können wir dir dabei helfen. Ich frage mal die Mädels.“

„Nein, warte.“

„Warum denn? Meine Mädels haben überall hin Beziehungen. – Lisa, Babette, Veronika, Kristin kommt mal ganz schnell!“

Lola klatschte in die Hände. Die Mädels kamen sofort geeilt als hätten sie angenommen, dass etwas passiert sei. Lisa erkannte Johannes sofort wieder und sah auch, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

„Johannes, du siehst so bedrückt aus. Was ist passiert?, fragte sie.

Lola fiel ihr ins Wort: „Lasst ihn, seine Frau ist tödlich verunglückt. Er braucht erst einmal eine Abwechslung. Lisa und Babette kümmert euch um ihn. Er bekommt heute eine Sonderbehandlung. Ach, was ich euch fragen wollte. Kennt eine von euch eine zuverlässige Haushaltshilfe, die wir Johannes vermitteln könnten?“

Na, das dürfte überhaupt kein Problem sein. Wir werden sicher eine attraktive Hilfe für Johannes finden“, sagte Babette. „Das wird doch zu machen sein.“

„Das denke ich auch“, meinte Lola. Gib uns deine Telefonnummer und wir rufen dich an, wenn sich etwas ergeben hat. - So, Johannes braucht jetzt ein wenig Trost von euch. Macht schon, damit er wieder etwas optimistischer drein schaut.“

Lisa und Babette nahmen Johannes am Arm und führten ihn in ihr Zimmer.

Unser herzliches Beileid, Johannes. Es tut uns sehr leid. Komm, lass dich heute mal von uns verwöhnen. Zieh dich aus und leg dich hier aufs Bett.“

Lisa und Babette halfen Johannes beim Ablegen der Kleider, dann legten sie sich neben Johannes ins Bett, eine rechts, die andere links und begannen ihn zu streicheln. Doch nach wenigen Augenblicken stand er plötzlich auf und zog sich wieder an.

„Tut mir leid, mir ist heute nicht danach. Vielleicht ein anders Mal wieder.“

Lisa war etwas traurig, sie sagte: „Schade, dabei hätten wir dich so gern verwöhnt. Na ja, verschoben ist ja nicht aufgehoben.“ Sie stand auch auf. In dem Moment, als Johannes die Tür öffnen wollte, sagte Lisa: „Sag mal, Johannes, hast du diese Marie mal wieder getroffen?“

Johannes wunderte sich über diese Frage, schloss die Tür wieder.

„Wieso fragst du? Kennst du Marie?“

„Nein, ich kenne sie nicht. War nur mal so eine Frage. Du sagtest doch mal, dass du Marie seit dem Unfall nicht mehr gesehen hast.“

„Und da fällt dir gerade jetzt diese Frage ein?“, wunderte sich Johannes.

 

*

 

„Johannes, wir müssen mal miteinander reden“, sagte Lukas, als er zusammen mit Johannes den Rinderstall ausmistete.

Johannes war nicht nach Reden zumute. Seit Tagen schon dachte er über sein Leben nach, grübelte er fast unentwegt. Er bereute alles, was er getan hatte, konnte sich einfach nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, dass er drei unschuldige junge Frauen auf so entsetzliche Weise töten konnte. Immer wieder wünschte er sich, dass es nur ein Traum gewesen sei. Doch dagegen sprachen die Zeitungsausschnitte, die er ständig im Haus fand. Johannes wimmelte ab: „Ein anderes Mal.“

„Johannes, wenn wir jetzt nicht miteinander reden, wird es kein anderes Mal geben.“

Johannes schaute Lukas entsetzt an. Mit dieser Äußerung hätte er wohl nicht gerechnet.

„Was ist?, fragte er kurz angebunden. Mir ist heute nicht nach Reden zumute.

„Johannes, es geht so nicht weiter mit uns. Seitdem das mit Karla passiert ist, bekommst du kaum noch was auf die Reihe. Sie fehlt uns, und vor allem, dir an allen Ecken und Enden. Fast die ganze Arbeit lastet auf mir. Ruben ist nur am Wochenende da. Johannes, ich kann bald nicht mehr. Verstehst du? Ich kann dich ja verstehen, aber wir müssen etwas ändern, und zwar sofort. Entweder wir stellen noch eine Hilfe ein, oder ...“

„Oder?“, fragte Johannes mit lauter Stimme, als wollte er Lukas drohen. „Oder was? Willst du etwa gehen? Dann geh doch. Es hat sowieso keinen Sinn mehr. Je eher, desto besser. Bald wird es den Hof nicht mehr geben. Ich ahne es.“

„Sag nicht so etwas. Den Hof wird es noch hundert Jahre geben. Wenn wir es nur wollen. Johannes, lass uns noch einen Knecht einstellen, bitte! Dann wird es hier bald wieder bergauf gehen.

Johannes schwieg eine Weile, dann schlug er vor: „Lass uns eine Nacht darüber schlafen. Und jetzt entschuldige mich, ich muss noch etwas erledigen.“

 

*

 

Johannes fuhr in die Stadt, direkt zum Polizeirevier. Er ging hinein, sah die vielen Zimmer, las die Namen an den Türen, Winkler Kommissar, Schmidt Leutnant, Schneider Hauptkommissar. Dann setzte er sich auf einen Stuhl in einem Raum, wo noch eine Reihe anderer Personen geduldig warteten.

Er wartete fast eine halbe Stunde lang. Während dieser Zeit liefen die letzten Monate seines Lebens wie in einem Film vor ihm ab. Er bereute alles, was er den drei jungen Frauen angetan hatte, doch es war zu spät. Er wusste, dass er ein ganzes Leben lang nicht mehr auf freien Fuß kommen würde, wenn er jetzt ein Geständnis ablegen würde.

Einerseits war er nun allein, hatte außer Alma und Jakob niemanden mehr, den er auf dem Hof versorgen musste. Andererseits hatte er Marie, seine Tochter, schöpfte gerade in dieser schwierigen Situation neuen Lebensmut, neue Hoffnung. Er wollte auf keinen Fall ins Gefängnis. Im Gegenteil, er wollte ein neues Leben anfangen, noch einmal ganz von vorn beginnen.

Einige Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, überlegte er, grübelte, wägte Für und Wider sorgfältig ab. Dann stand er plötzlich auf und verlies das Polizeirevier, fuhr auf dem kürzesten Weg nach Hause, ging zu Lukas und sagte: „Lukas, du hast recht. Wir werden noch jemanden einstellen. Gleich morgen werde ich mich darum kümmern.“

„Johannes, was ist mit dir? Wieso auf einmal diese schnelle Einsicht?“, wunderte sich Lukas.

„Ich habe mir alles genau durch den Kopf gehen lassen. Du hast recht, Lukas. Das mit Karla hat mich sehr mitgenommen. Aber wir werden den Hof nicht aufgeben. Wir werden noch einmal ganz von vorn anfangen. Alles wird wieder so, wie es früher mal war. Karla wird eine würdige Nachfolgerin bekommen und ich vielleicht eine neue Frau.“

Lukas freute sich. Er ging zu Johannes drückte ihm die Hand und umarmte ich.