Kapitel 2
„Moin Mustafa!“
„Schöne gute Morgen, Herr Kommissare. Kaffee und Croissant kommen in eine Minute. Du brauchen vollen Magen. Dann besser fangen Verbrecher.“
„Sag nicht immer Kommissar zu mir! Die anderen Leute brauchen nicht zu wissen, wer ich bin.“
„No Problem, Kommissare. Soll ich sagen Sherlock Holmes?“
Schneider verdrehte die Augen.
„Das ist ja noch schlimmer. Sag einfach Jürgen. Das hab ich dir schon 1000 Mal gesagt.“
„Kommissare, ich schreiben hinter die Ohren mir. Ab Morgen du seien Jürgen“, versprach Mustafa hoch und heilig.
Mustafa, Mitte fünfzig, schwarze lockige Haare, immer mit einem flotten Spruch und ein dazu passendes Grinsen auf den Lippen, so liebten ihn seine Stammkunden. Mustafa kannte keine Hektik, er nahm sich immer Zeit für seine Gäste und sprach mit ihnen über Gott und die Welt.
Seit nunmehr fast 20 Jahren hielt Hauptkommissar Jürgen Schneider jeden früh, wenn er aufs Revier fuhr, fast immer pünktlich acht Uhr an Mustafas Kiosk mit dem Namen ‚Mustafas Oase‘, stellte sein Fahrrad ab, trank seinen, meist viel zu dünnen, Kaffee und aß ein mit Schokolade gefülltes Croissant dazu. Nebenbei las er in der Zeitung die neuesten Nachrichten. Es war keine Gewohnheit, nein es war im Laufe der Jahre ein Ritual geworden, an das er sich gewöhnt hatte, wie an das tägliche Zähneputzen.
Nachdem sich Schneider damals aus persönlichen Gründen von Hamburg hierher zur Mordkommission hat versetzen lassen, fuhr er tagein tagaus mit seinem Fahrrad die fünf Kilometer lange Strecke von seiner Wohnung bis ins Polizeirevier. Kein noch so schlechtes Wetter schreckte ihn davon ab.
Äußerlich ähnelte Jürgen Schneider eher dem ehemaligen Organisten Jon Lord von der legendären Rockgruppe ‚Deep Purple‘, mit seinen langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen ergrauten Haaren, als einem typischen Kriminalkommissar. Aber wie sieht schon ein typischer Kommissar aus? Trägt er etwa eine Brille, hat er schütteres, nach hinten gekämmtes Haar oder eine Glatze, wie Kojak?
Schneider war zu jener Zeit nur einer von vielen Zugezogenen in dieser Gegend. Mustafa, beispielsweise, kam aus Ägypten und eröffnete zufällig in der gleichen Woche seinen Kiosk, in der Schneider hier angefangen hat.
„Kommissare, Du kommen Ende nächste Monat auch zum Zwanzigsten? Ich kochen Mittag extra Fleisch von Kamele für meine Stammgäste.“
Schneider schaute grimmig, doch er verkniff sich eine Bemerkung. Der wird es wohl nie lernen!, dachte er. Da werde ich wohl den Rest meiner Dienstzeit damit leben müssen, dass er mich immer Kommissar nennt.
„Aber sicher. Seit Wochen denke ich an nichts anderes mehr, als an dein zwanzigstes Jubiläum. Auf gewisse Art ist es ja auch mein Jubiläum. Da kann ich dir gleich mal meinen neuen Kollegen vorstellen, den Frank“, antwortete ihm Schneider.
„Natürlich du bringen mit, neue Kommissar. Ich mich freuen, wie Riese.“
So sehr sich Schneider auch auf diese kleine Jubiläumsfeier von Mustafa freute, so sehr schwang auch ein wenig Wehmut mit. Schneider sollte in zwei Jahren pensioniert werden. Liebend gern hätte er noch weitergearbeitet, schwierige Fälle aufgeklärt, Verbrecher und Mörder gefasst, den ganz großen Coup gelandet. Andererseits wollte der Nachwuchs auch seine Chance haben.
Schneider bekam vor wenigen Wochen einen neuen Mitarbeiter zugeteilt, nachdem seine langjährige rechte Hand in eine andere Stadt versetzt wurde. Frank Eller kam direkt von der Polizeischule. Er war Mitte zwanzig, schlank, mit kurzen schwarzen Haaren und einem durchtrainiertem Körper. Schneider hielt nicht viel von derartigen Theoretikern.
„Denen fehlt doch die jahrelange praktische Erfahrung, die Menschenkenntnis, das kriminalistische Gefühl, die Kombinationsgabe und die Gabe, Emotionen in den Hintergrund zu drängen“, hörte man ihn immer etwas abfällig zu anderen Kollegen sagen.
Für Schneider war es wie ein Naturgesetz, dass junge Polizeibeamte einfach nicht recht haben. Niemals würde er sich dazu überwinden können, Auffassungen von jungen Kollegen zu teilen oder zu akzeptieren, auch wenn sie noch so logisch erscheinen würden. Eher würde er in sein Unglück laufen, als sich eine derartige Blöße zu geben. Diese war nur eine von Schneiders Charakterschwächen. Und jetzt, mit 58 Jahren, würde er sich auch nicht mehr ändern, ändern wollen. „Der Charakter ist angeboren. Den behält man sein ganzes Leben lang“, behauptet er immer, wenn es darum geht, ob sich ein Verbrecher nach einer Strafe ändern wird.
Nachdem sich Schneider von Mustafa verabschiedete und er ein: “Machen gut, Kommissare, bis Morgen!“ zur Antwort erhielt, nahm er sein Fahrrad und fuhr die restlichen zweieinhalb Kilometer bis aufs Revier.
*
Als Schneider sein Büro betrat, saß Eller bereits am Schreibtisch und beschäftigte sich mit den Akten des letzten großen Falles. Wie an jedem Morgen brachte Schneider seinem Kollegen ein belegtes Sandwich mit.
„Moin Frank! Na, gibt es schon Fortschritte im Fall Sparkassenräuber?“, fragte Schneider und reichte Eller die Tüte mit dem Sandwich.
Eller nahm das Sandwich aus der Tüte und inspizierte sofort dessen Belag. An seinem unzufriedenen Gesichtsausdruck konnte man unschwer erkennen, dass sich seine Freude darüber in Grenzen hielt.
„Moin Jürgen. - Jetzt gewöhne ich mir auch schon diese norddeutschen Begrüßungsfloskeln an. - Nein, leider nicht. Ich habe ständig das Gefühl, auf der Stelle zu treten.“
„Zeig mal her, was du bis jetzt erreicht hast!“
Frank Eller schob Schneider den Ordner über den Schreibtisch. Dann biss er in sein Sandwich. Schneider setzte seine Lesebrille auf und schaute sich die Akten im Ordner an, blätterte wahllos drinnen herum. Gern würde er Eller den entscheidenden Tipp geben, der zur Ergreifung des Täters führen würde, ihm beweisen, dass die langjährige Erfahrung sein stechender Trumpf ist. Doch in diesem Fall musste auch er kapitulieren und das grämte ihn. Er machte sich ernsthafte Gedanken darüber, ob vielleicht doch schon das Alter seine Spuren bei ihm hinterlassen haben könnte?
„Der Täter muss ein Profi gewesen sein ...“, sagte Schneider etwas frustriert, „... keine Fingerabdrücke, keine Personenbeschreibung aufgrund der Sturmmaske und auch keinen Hinweis auf die Nationalität, weil er alles auf Pappschilder geschrieben und kein Wort gesprochen hat. Zwar hat er ein Pappschild fallen gelassen, auf dem ‚Bitte Gelt in Tüte pakken!‘ in falschem Deutsch stand. Damit könnte der Täter uns aber auch auf eine falsche Fährte locken wollen.
Die Methoden der Gangster werden immer raffinierter. Es wird nicht mehr lange dauern, da werden sie der Polizei technisch haushoch überlegen sein. Teilweise ist es ja heute schon so. Aber es muss ja gespart werden, was das Zeug hält. Wenn wir nicht aufpassen, wird es schon bald gar keine Polizei mehr geben. In den Städten werden immer mehr Parallelgesellschaften entstehen, in denen die Aufgaben der Polizei ausländische Mafiabanden übernehmen werden. In vielen Großstädten gibt es doch schon heute Stadtteile, wo sich nicht mal mehr die Polizei hin traut. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll.
Aber was rege ich mich schon wieder auf. Lange werde ich den Job ja nicht mehr machen. Nun zu Deinem Problem. Wir sollten noch einmal einen Zeugenaufruf starten, ob den Sparkassenräuber nicht vielleicht doch jemand hat mit dem Fahrrad wegfahren sehen.“
Schneider hat noch immer einen ganz geheimen Wunsch, mehr einen Wunschtraum: Seit er vor vielen Jahren begann, als Kriminalkommissar zu arbeiten, hat er die Vision, irgendwann einmal einen ganz großen Fall zu lösen. Einen Fall, von dem man noch in zwanzig, ja sogar fünfzig oder hundert Jahren sprechen würde, etwa wie von dem legendären Postraub aus den Sechzigern. Einen Fall, bei dem sich die Hollywood-Regisseure darum reißen würden, einen Film darüber drehen zu dürfen.
Andererseits war Schneider aber auch ein Realist. Er befürchtete, dass ihn am Ende die Realität einholen könnte und dass er, so wie tausend andere Kommissare vor ihm, nach seinem Ruhestand ganz schnell vergessen werden könnte. In ein, zwei Jahren wird sich vielleicht niemand mehr an Hauptkommissar Jürgen Schneider erinnern. Deshalb wollte er den Anderen, seinen Kritikern, beweisen, dass er einer von den ganz Großen ist, an den man sich noch lange erinnern wird.
*
Die Musik in der ‚Starlight-Disco‘ war ohrenbetäubend, die Gäste konnten ihr eigenes Wort kaum verstehen. Anna und Marie mussten sich fast anschreien, wenn sie ein paar Worte wechseln wollten. Die heiße und stickige Luft war außerdem geschwängert von nebelartigem Zigarettenrauch und dem Geruch nach diversen hochprozentigen alkoholischen Getränken. All diese unangenehmen Umstände konnten Anna und Marie aber nicht davon abhalten, regelmäßig diese Disco zu besuchen.
Annas lange blonde Haare und ihre knallroten Lippen bildeten einen hervorragenden Kontrast zu ihrem schwarzen, kurzen Kleid. Marie, dagegen, trug einen roten Minirock aus Leder und dazu eine weiße Bluse, unter der die halbrunden Formen ihrer Brüste wie durch den Londoner Abendnebel hindurchschimmerten.
Als Rolf, der Barkeeper, den offiziellen Begrüßungsdrink für alleinstehende weibliche Discogäste auf den Tresen servierte, meinte er: „Hey, wie seht ihr denn heute aus, Mädels? Wen wollt ihr denn abschleppen? Ihr seht ja richtig geil aus. Da bekommt man ja gleich Appetit.“
„Appetit kannst du dir holen, aber mehr ist nicht drin. Das weißt du doch!“, gab ihm Anna, wie so oft schon, zu verstehen.
Rolf kam etwas näher und stützte sich auf der anderen Seite des Tresens mit den Unterarmen auf.
„Okay, okay. Ich würde nur gern mal wissen, wer nach dem Appetit holen bei euch auch mal naschen darf.“
Fast wie im Chor antworteten sie gleichzeitig und mit kindlicher Stimme, sodass es betont lächerlich klang: „Das verraten wir dir nicht, nein, nein.“ Marie betonte lächelnd: „Außerdem sind wir noch Jungfrauen und wollen es auch bis zu unserer Hochzeitsnacht bleiben. Das weißt du doch.“
Rolf lachte laut. Er wusste, dass Marie diese Bemerkung nicht ernst gemeint haben konnte.
„Oh, mein Gott. Jetzt geht das wieder los. Das glaubt euch sowieso keiner.“
Dann ging er zu einem anderen Gast.
„Schau mal, wer da kommt!“, sagte Anna, fasste Marie am Arm und richtete ihren Kopf demonstrativ zur Eingangstür, durch die soeben Lukas eintrat.
„Lukas, oh mein Gott, der Typ hat uns gerade noch gefehlt.“
Als Lukas die beiden erblickte, steuerte er schnurstracks auf sie zu. Anna und Marie taten nichts dergleichen. Sie nuckelten an ihrem Strohhalm und ließen Lukas links liegen.
„Hallo, ihr beiden süßen Schnecken, habt ihr denn keine Lust zu tanzen?“, fragte er sie.
„Nein“, antwortete Anna ihm recht ungehalten, fast schon trotzig.
Lukas wunderte sich über Annas abwehrende Reaktion. Seine Stimme klang, als ob er heute schon das eine oder andere Glas Alkohol zu sich genommen hätte.
„Hey, was ist los? Habt ihr schlechte Laune oder was?“
Nun mischte sich auch Marie ein.
„Ja, aber erst, seitdem du hier bist.“
Lukas lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen und stützte sich mit den Ellenbogen ab.
„Seid nicht immer so grantig zu mir. Ich habe euch doch nichts getan. Kommt, wer von euch möchte als Erstes mit mir tanzen?“
Beide schwiegen und schauten Lukas nicht an.
„Nicht gleich alle auf einmal. Streitet euch nicht! Ich geh erst mal meine Kumpels begrüßen. Lasst es mich wissen, wenn ihr es euch anders überlegt habt.“
Dann wendete er sich an Rolf. „Gib doch den beiden Zicken noch zwei Drinks. Geht auf meine Rechnung.“
Anna und Marie verdrehten die Augen. Marie flüsterte: „Hoffentlich haut der bald ab. Ich habe keine Lust, mich den ganzen Abend von Lukas bequatschen zu lassen.“
Lukas musste Maries Bemerkung von ihren Lippen abgelesen haben, denn kurze Zeit später meinte er: „Seid ihr heute mit dem linken Bein aufgestanden? Okay. Kann ja mal vorkommen. Wenn ich wiederkomme, tanzen wir. Verstanden?“ Lukas gab vorerst auf und ging.
Nach einer Weile sahen Anna und Marie ihn mit einer jungen Frau auf der Tanzfläche.
„Wer ist eigentlich die Tussi, mit der Lukas da gerade tanzt?“, fragte Anna.
„Keine Ahnung. Ich habe sie hier noch nie gesehen. Wer weiß, wo er die wieder aufgerissen hat, denn so, wie er sich an die ankuschelt, muss er sie ja schon länger kennen.“
„Das hat bei Lukas nichts zu bedeuten. Dem laufen doch alle Weiber nach. Vielleicht ist es eine seiner vielen Verflossenen. Komm! Wollen wir ihn mal ärgern?“, fragte Anna schmunzelnd.
„Wie denn?“, fragte Marie, die ziemlich ernst schaute.
Anna nahm Marie in den Arm, und als Lukas wieder einmal nach den beiden schaute, gab sie ihr einen Kuss auf den Mund. Lukas schaute überrascht und überlegte, was dies wohl zu bedeuten hatte.
„Ich glaube, er hat es mitbekommen“, nuschelte Anna, indem sie immer noch Maries Lippen mit ihrem Mund berührte, und ergänzte freudig: „Der sieht echt geschockt aus.“
„Komm, lass uns auch tanzen!“, forderte Marie Anna auf.
Sie gingen auf die Tanzfläche. Die Musik wechselte abrupt von Techno zu Schmusesongs. Die ersten Töne von Ronan Keetings Hit When You Say Nothing At All erklangen. Anna und Marie tanzten eng umschlungen und küssten sich.
Lukas, der unmittelbar neben den beiden tanzte, schaute ununterbrochen zu ihnen herüber. Er wirkte etwas verwirrt, konnte das alles nicht fassen. Noch nie sah er Anna mit einem anderen Mädchen schmusen. Doch dann kam es ihm in den Sinn: Aber auch mit einem Jungen hat er sie noch nie gesehen. Sollte sie etwa doch keine Jungs mögen? Wenn das stimmen sollte, würde für ihn sicher eine Welt zusammenbrechen, denn er hatte es immer noch nicht aufgegeben, Anna zu erobern. Mit Marie bekam Anna jedoch echte Konkurrenz. Eine ist hübscher als die andere. Und dann dieser Schock. Lukas war entsetzt. Er ließ sich den ganzen Abend nicht mehr bei den Beiden blicken. Anna und Marie waren jedenfalls nicht böse darüber.
Erst als Lukas am frühen Morgen ziemlich angetrunken die Disco verlassen wollte, schaute er noch mal bei Anna und Marie vorbei und nuschelte etwas unverständlich: „Das werdet ihr noch bitter bereuen, dass ihr heute nicht mit mir getanzt habt.“ Und nach einer kleinen Pause redete er weiter: „Passt immer schön auf, dass euch nichts passiert! Macht nichts, was ihr nicht machen dürft!“
„Puh, wir brauchen keinen Aufpasser“, entgegnete ihm Marie.
Anna versuchte Lukas zu verteidigen: „Komm, lass ihn! Du siehst doch, er ist betrunken.“
Annas Reaktion verärgerte Marie: „Jetzt nimmst du ihn wohl auch noch in Schutz? Na, prima. Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Er will uns Angst machen.“
„Ach was, Lukas ist schon in Ordnung. Er ist nur etwas eifersüchtig. Lass ihn in Ruhe! Er wird sich schon wieder beruhigen.“
*
„Hallo Omi! Warum schälst du die Kartoffeln? Wo ist Christin?“, fragte Anna verwundert, als sie in die Küche kam.
„Sie hat diesen Sonntag frei. Ihr Vater hat heute Geburtstag, den Fünfzigsten.“
„Das hat sie mir gar nicht erzählt.“
„Na ja, du warst ja in letzter Zeit nicht oft zu Hause. Du bist ja immer mit Marie zusammen. Ich weiß nicht, ob das gut ist.“
Diese Worte hätte sie von ihrer Oma nicht erwartet.
„Wie meinst du das, Omi?“, fragte Anna etwas verwundert.
„Marie wirkt mit ihren neunzehn Jahren schon viel erwachsener, viel erfahrener als du. Gegen sie wirkst du noch wie ein Schulkind. Du musst aufpassen, dass sie dich nicht auf die schiefe Bahn bringt. Du bist noch viel zu unerfahren, mein Kind. Sabine hat viel besser zu dir gepasst.“
„Ach, Omi, ich bin achtzehn, ich bin erwachsen. Außerdem ist Marie ein anständiges Mädchen. Sie bringt mich schon nicht auf die schiefe Bahn. Da brauchst du keine Angst zu haben.“
„Erwachsen ist man nicht, wenn man achtzehn geworden ist, sondern, wenn man geistig gereift ist. Ich glaube, da musst du gegenüber Marie noch eine Menge aufholen. Du solltest darauf achtgeben, dass sie dich nicht zu Dingen verleitet, die du nicht möchtest.“
Anna schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: „Omi, darf ich dich mal etwas fragen?“
„Natürlich, mein Kind! Sag schon! Was hast du auf dem Herzen? Ist es wegen Marie?“
„Ja.“
„Das dachte ich mir. Ich merke doch, dass dich irgendetwas bedrückt. Habt ihr euch gestritten?“
„Nein, nein. Es ist ganz anders.“
„Habt ihr euch in den gleichen Jungen verliebt?“
„Nein. Das heißt, ich habe mich tatsächlich verliebt.“
„Anna, du hast einen Freund? Das ist schön. Ich freue mich für dich. Wie heißt er denn?“
Wieder schwieg Anna für einen Augenblick, schaute nach unten und sagte dann leise: „Marie.“
Alma lachte zunächst laut.
„Ein komischer Name für einen Jungen.“ Dann begriff sie. „Marie. Du meinst Marie, deine neue Freundin?“
Alma unterbrach für einen Moment ihre Arbeit. Sie schien etwas geschockt zu sein und legte das Messer und die Kartoffel auf dem Tisch ab, trocknete sich die Hände an der Schürze ab.
„Oh mein Gott. Warum machst du so etwas? Du bist so ein hübsches Mädchen. Du könntest so viele Männer haben.“
„Darum geht es mir nicht, Omi. Ich kann eben mit Männern nichts anfangen. Marie ist so lieb, so zärtlich und ich verstehe mich mit ihr, so wie ich mich noch mit keinem Menschen, außer Mama, verstanden habe. Und dir natürlich, Omi.“
Alma schaute Anna an und überlegte, was sie Anna in dieser Situation raten könnte. Sie setzte sich auf einen Stuhl und ließ Anna auf ihren Schoß setzen.
„Weißt du, Anna, in der Pubertät versucht man seinen Körper kennenzulernen, seine Gefühle auszuloten. Bei jedem Menschen geschieht dies auf eine andere Art und Weise. Du bist vielleicht noch nicht so weit, dir einen Mann als Partner zu suchen. Du bist sicher noch nicht völlig aus dieser Phase heraus, wo man vom Kind zum Erwachsenen wird. Du weißt noch nicht mit deinen Gefühlen wohin. Deshalb gibst du deine ganze Liebe Marie. Pass nur auf, dass dies nicht in einer großen Enttäuschung endet. Wenn du plötzlich auch mal das Bedürfnis hast, mit einem Jungen zusammen zu sein.“
„Ich glaube, dieses Bedürfnis werde ich wohl nie haben. Jungs sind für mich einfach eklig, abstoßend.“
„Warten wir ab, was du in ein paar Monaten dazu sagst.“
Sie hörten Schritte. Es war Annas Mutter, die in die Küche kam. Anna bat Alma: „Bitte sage den anderen nichts von unserem Gespräch. Behalte es für dich! Ich weiß nicht, wie sie regieren würden.“
Alma nickte: „Ist schon in Ordnung, mein Kind. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde immer zu dir halten.“
*
Johannes kam mit dem Trecker zum Rinderstall gefahren. Der Trecker war vollgepackt mit Stroh, welches er am Morgen von dem kleinen Stadel neben seiner Berghütte heranschaffte. Er sah Karla aus dem Stall kommen. Sie fragte ihn: „Wo ist Lukas?“
„Er ist noch auf dem Feld.“
„Soll ich dir helfen, das Stroh abzuladen?“
„Gern, hol bitte schon mal die Schubkarre!“
Als Karla mit der Schubkarre zurückkam, bugsierte Johannes mit der Heugabel einen Strohballen vom Hänger und wollte ihn auf die Schubkarre legen. Doch das Stroh fiel daneben. Karla lachte. Johannes fragte: „Machst du dich etwa lustig über mich?“
Karla bückte sich, Johannes konnte tief in den Ausschnitt ihrer Bluse sehen. Karla spürte Johannes lüsterne Blicke und schaute ihn mit einem lasziven Lächeln an. Wortlos öffnete sie noch einen weiteren Knopf.
„Das gefällt dir, stimmt’s? Möchtest du noch mehr sehen?“
Johannes verstand sofort, was Karla bezweckte. „Wenn du mich so direkt fragst, aber nicht hier. Komm!“ Er schnappte Karla bei der Hand und zerrte sie in die gegenüberliegende Scheune. „Eine kleine Abwechslung wird uns ganz gut tun.“
Sie warfen sich ins Stroh. Johannes nestelte etwas fahrig an Karlas Bluse und öffnete hastig die restlichen Knöpfe. Karla liebte es, wenn Johannes sie dann und wann bei der Arbeit verführte. Ab und zu, wie an diesem Tag, ergriff auch sie schon mal die Initiative. Sie liebte diesen ungeplanten prickelnden Sex. Wo auch immer, im Freien, in der Scheune, auf der Toilette und früher sogar in der Umkleidekabine im Kaufhaus.
Johannes war jedoch kein Mann, der sich lange beim Vorspiel aufhielt. Bei ihm musste es gleich zu Sache gehen. Gerade das schätzte Karla an Johannes spontanen Aktionen. Schnell streifte sie ihren Slip ab und raffte ihren Rock hoch. Dann nahm sie Johannes rechte Hand und lenkte sie gezielt in ihre feuchte Mitte, die bereits voller Sehnsucht auf Johannes Eindringen wartete.
„Mach schnell! Ich halt es nicht mehr aus“, sagte Karla.
Johannes zog seine Hose aus und legte sich auf den Rücken ins Heu.
„Setz dich auf mich!“
Sie liebten sich wie zwei Jungverliebte, die sich wochenlang nicht gesehen haben. Johannes Hände suchten den Weg zu Karlas nackten bloßen Brüsten, deren Brustwarzen sich bereits aufgerichtet hatten und die schwer und träge wippten. Kurz aber intensiv erreichten beide schnell ihren Höhepunkt.
Karla genoss noch einige Sekunden die berauschenden Wogen, die ihren gesamten Körper durchflossen. Dabei schaute sie unterschwellig zur Tür. Was war das? Sie zuckte plötzlich zusammen, als sei sie vom Blitz getroffen worden. Marie stand in der Tür und schaute den beiden genüsslich zu. Karla brachte kein Wort über die Lippen.
„Was hast du?“, fragte Johannes erstaunt.
Karla sah Johannes an, dann wieder zur Tür. Marie war nicht mehr zu sehen. Karla schwieg einige Sekunden, dann sagte sie.
„Äh, ach, nichts, ich musste nur an etwas denken.“
„An was denkst du, wenn wir miteinander schmusen?“, wunderte sich Johannes.
„An nicht weiter. Mir fiel nur eben ein, dass Christin morgen Geburtstag hat und ich noch Blumen besorgen muss. – Lass uns weitermachen. Die Geschäfte schließen in einer Stunde.“
*
Als sie am Abendbrottisch saßen, fragte Karla Anna: „Ist Marie schon wieder weg?“
Anna wunderte sich über diese Frage.
„Wieso weg? Sie war heute gar nicht bei mir.“
Karla fiel beinah das Messer aus der Hand und fragte völlig überrascht: „Ach, wirklich?“ Sie bekam große Augen, schaute Johannes an, schwieg aber.
Johannes wechselte einen kurzen Blick mit Karla, denn er konnte sich ihre Reaktion nicht erklären.
„Warum fragst du? Hast Du Marie heute etwa schon gesehen?“, fragte Anna.
Karla nahm einen großen Schluck aus ihrer Teetasse.
„Ach, dann muss ich wohl einen Geist gesehen haben.“
*
Es war bereits nach 21 Uhr als Johannes an jenem Freitag über den Hof in den Stall gehen wollte, um nach den Tieren zu schauen, wie an jedem Abend. Plötzlich hörte er merkwürdige Geräusche aus der Scheune nach außen dringen. Anstatt in den Stall, steuerte er seine Schritte deshalb schnurstracks auf die Scheune zu. Als er sich unmittelbar vor dem Eingang befand, vernahm er flüsternde Stimmen und kindliches Gekicher.
Johannes bekam es mit der Angst zu tun, vermutete zunächst Fremde, die hier nächtigen wollten. Wie vor ein paar Jahren schon einmal, als mehrere betrunkene Wanderer seine Scheune in Beschlag nehmen wollten und Johannes sie nur mit Mühe daran hindern konnte. Damals kam es sogar zu kleineren Raufereien, die aber im Großen und Ganzen glimpflich endeten.
Es kann aber auch anders ausgehen, wenn die ungebetenen Gäste bewaffnet sind. So geschehen im Nachbardorf. Wo sich im letzten Jahr rumänische Bankräuber in einer Scheune vor der Polizei verschanzten und den Bauern als Geisel nahmen. Der Bauer konnte von Glück reden, dass die Gangster nach vier Stunden aufgaben. Und das auch nur, weil eine sympathische Polizistin des SEK ihr ganzes Verhandlungsgeschick in die Waagschale warf und somit die drei Gangster zum Aufgeben bewegen konnte.
Langsam und geräuschlos öffnete Johannes das große Tor und schaute hinein. Drinnen war es finster, er konnte kaum etwas erkennen. Eine Ratte huschte aufgeschreckt über den Scheunenboden und verschwand im Dunkeln. Die Stimmen wurden lauter, deutlicher. Es waren bekannte Stimmen. Erleichtert atmete Johannes auf.
Auf Zehenspitzen schlich er sich hinein. In völliger Dunkelheit erkundete er Stück für Stück das Innere der Scheune, in der er sich wie in seiner Westentasche auskannte. Schon bald bemerkte er in der hintersten Ecke, in einem Verschlag, der nur durch das hereinscheinende Mondlicht etwas erhellt wurde, Anna und Marie.
Johannes traute seinen Augen nicht, als er beide mit entblößtem Busen und bis zu den Hüften hochgeschobenen Röcken im Stroh liegen sah. Sie spielten gegenseitig an dem flaumigen Kräuselhaar, welches ihre intimsten Körperteile überschattete. Johannes erblickte die nackten bloßen Brüste seiner Tochter Anna und die reizenden fraulichen Rundungen von Maries Hinterteil.
Noch nie sah er seine Tochter in einer derartig delikaten Situation. Er war sprachlos, wollte es nicht wahrhaben. Seine kleine Anna zusammen mit Marie im Stroh. Gelähmt wie ein Hase, der von einer Schlange hypnotisiert wurde, beobachtete er das sinnliche Treiben.
Dem Rausch der Lüste ergeben, küssten sich Anna und Marie innig und ignorierten dabei alles, was um sie herum geschah. Liebevoll erkundeten sie sämtliche Körperteile des Partners, streichelten sie mit zärtlichen unsicheren Fingern, küssten sie und umspielten sie hingebungsvoll mit ihrer Zunge. Dabei kicherten beide wie kleine unschuldige Kinder, die zum ersten Mal dabei sind, eine Dummheit zu begehen.
Johannes hörte, wie Anna Marie zuflüsterte: „Das hat Sabine nie mit mir gemacht.“
Marie grinste genüsslich und antwortete ihr: „Da kannst du ja froh sein, dass du mich jetzt als Freundin hast und nicht mehr Sabine. Da kannst du mal sehen, was dir die ganze Zeit entgangen ist.“
„Ich möchte dich nie mehr hergeben.“
Johannes war bestürzt und gleichzeitig tief enttäuscht von den lesbischen Neigungen seiner Tochter. Nicht mal in seinen kühnsten Träumen hätte er bei ihr eine derartige Vorliebe vermutet. Doch er ließ den beiden ihren Spaß, wollte sie nicht stören, keinen Streit vom Zaune brechen. Was hätte es ihm auch gebracht? Anna war achtzehn Jahre alt. Er konnte ihr nichts mehr verbieten. Ansonsten würden sie sich einen andern Platz suchen, es heimlich tun, noch heimlicher als bisher. Anna wäre noch weniger zu Hause, als sie es ohnehin schon ist. Nein, das wollte er wiederum auch nicht.
Johannes schaute den beiden verliebten Mädchen aus sicherer Entfernung eine Weile zu und merkte nicht einmal, dass Lukas für einen winzigen Augenblick mit großen staunenden Augen hinter ihm am Scheunentor stand. Auch er muss wohl die seltsamen Geräusche wahrgenommen haben.
Johannes konnte den Anblick nicht länger ertragen. Schockiert und sprachlos verließ er die Scheune, genau so unbemerkt und leise, wie er sie noch vor wenigen Augenblicken betreten hatte. Anna und Marie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie den kurzen Besuch von Annas Vater bemerkt hätten.
*
„Anna, wie verstehst du dich mit Marie? Kommt ihr gut miteinander aus?“, fragte Johannes seine Tochter mit ernster Mine, während Christin und Karla den Frühstückstisch deckten.
Anna wunderte sich über diese ungewohnten Worte ihres Vaters.
„Warum fragst du, Papi? Ja, prima.“
„Ach, nur so. Ich wollte es nur mal wissen. Marie lässt sich ja bei uns nicht oft sehen. Sabine war damals viel öfter bei uns.“
„Warum interessiert dich das? Das hast du mich doch noch nie gefragt“, fragte Anna etwas energischer.
„Hat sie einen Freund, diese Marie?“
„Nein, sie hat keinen Freund“, antworte Anna ihm trotzig.
„Sie hat ja jetzt dich.“
„Papi, was hast du? Was soll diese Bemerkung? Bist du etwa eifersüchtig?“
Johannes stand auf, ging aus der Küche, ohne zu essen und die Tür krachte hinter ihm ins Schloss. Christin und Alma schauten sich, ob Johannes seltsamen Verhaltens, erstaunt an. Karla fragte Anna: „Was ist mit Papa? Hast du ihn etwa verärgert?“
„Ich weiß nicht, was er hat. Irgendetwas scheint ihm an Marie zu stören.“
*
Nach dem Frühstück ging Karla in den Stall. Johannes war dabei, den Schweinen Futter zu geben.
„Was ist mit dir? Habe ich recht, du magst die Marie nicht?“, fragte Karla.
Johannes unterbrach seine Arbeit und ging zu Karla.
„Die Marie ist nicht der richtige Umgang für Anna.“
Johannes Behauptung überraschte Karla, sie fragte erstaunt: „Wie kommst du da drauf? Ich finde sie ganz sympathisch.“
„Ich habe die beiden beobachtet.“
„Wo?“
„Gestern Abend in der Scheune.“
„Und wobei?“
Johannes Blick war starr nach unten gerichtet.
„Ich wollte gerade in den Stall, da hörte ich Geräusche in der Scheune. Ich schlich mich hinein und sah die beiden in der Ecke im Stroh liegen. Sie waren beide halb nackt und schmusten miteinander.“
Karla reagierte schockiert.
„Oh, mein Gott. Haben sie dich bemerkt? Hast du was gesagt?“
„Nein, ich habe mich gleich wieder raus geschlichen. Ich wollte erst mit dir darüber reden. Was sagst du dazu?“
Karla schwieg einen Moment, überlegte, dann sagte sie: „Ich weiß nicht. Was können wir da tun? Sollen wir so tun, als ob wir nichts davon mitbekommen haben? Oder sollen wir sie ansprechen? Vielleicht sollten wir ihnen ihren Spaß lassen. Ich vermute, dass das nur eine Zeiterscheinung sein wird. Sie wollen ihren Körper kennenlernen. Vermutlich sind sie noch nicht reif genug für einen Freund.“
Johannes war jedoch ganz anderer Meinung.
„Das ist diese Marie. Die ist schon viel reifer als Anna, die beeinflusst sie. Wir sollten mal mit Anna reden. Sie sollte sich lieber wieder mit Sabine vertragen.“
Karla versuchte, zu schlichten.
„Nein, das ist der falsche Weg. Anna muss selbst ihre Erfahrungen sammeln. Warten wir mal ein paar Wochen ab. Vielleicht lernen sie in der Disco bald einen Freund kennen. Dann hat sich das Problem von allein erledigt.“
„Das Problem löst sich erst, wenn Marie verschwindet.“
„Sei nicht so stur. Mädchen sind eben so.“
„Ach was, Mädchen. Marie sucht nur eine lesbische Freundin. Glaubst du etwa, Anna ist lesbisch. Da hätten wir sicher vorher schon mal etwas bemerkt. Sie hat doch schon ein paar Freunde gehabt.“
„Wie willst du denn so etwas merken? Johannes tu mir den Gefallen, lass die Beiden in Ruhe. Die werden sich bald einen Freund suchen und dann ist die Sache vergessen.“
Johannes schaute immer noch mürrisch und ging wieder an seine Arbeit.
*
Den ganzen Tag schon arbeiteten Johannes und Lukas in praller Sonne auf dem Feld. Am späten Abend kamen sie zum Abendbrot nach Hause. Es war Freitag. Ruben kehrte wie immer an diesem Tag vom Studium zurück.
„Hallo Ruben, lange nicht gesehen. Was macht dein Studium? Wann bist du endlich Professor der Biologie?“
Ruben schaute Lukas an und wortlos setzte er sich an den Abendbrottisch, an dem nur noch Lukas, Johannes, Karla, Alma und Jakob saßen.
„Grüßt euch. – Wo ist Anna?“
„Keine Ahnung! Seit sie 18 geworden ist und eine neue Freundin hat, ist sie kaum noch zu Hause“, antwortete ihm Johannes.
„Hat sie einen Freund?“
Lukas reagierte sofort: „Das glaube ich kaum. Da würde wohl ihre lesbische Freundin, wie heißt sie gleich, diese Marie, etwas dagegen haben.“
Ruben blieb der Bissen im Hals stecken. Er musste husten, dann sprang er auf und packte Lukas am Hemd.
„Was redest du da? Wer ist hier lesbisch? Nimm das sofort zurück! Wie kannst du so etwas Absurdes behaupten?“
Alma unterbrach sofort ihr Abendbrot, stand auf und hantierte auf der Arbeitsplatte der Küche herum. Sie fürchtete sich vor einer Eskalation des Streites. Jakob bekam von dem Streit nichts mit.
Johannes schaute den beiden zu, ohne sich einzumischen. Er verzog keine Miene. Schließlich sagte er: „Ruben, lass ihn los. Er hat recht.“
„Seid ihr denn alle bescheuert? Was sagt ihr da? Anna ist nicht lesbisch.“
„Doch Ruben ...“, dann schaute Johannes einen Augenblick Lukas an, „... ich habe sie in der Scheune beobachtet, zusammen mit Marie. Sie haben mich nicht bemerkt und wissen nicht, dass ich es weiß.“
Karla schaute die ganze Zeit auf ihren Abendbrotteller und aß scheinbar ungestört weiter. Sie hielt sich aus dem Dialog heraus.
Ruben setzte sich wieder und sagte leise, mit Tränen in den Augen: „Nein, das kann ich nicht glauben, meine kleine Anna. Warum? Warum?“
„Beruhige dich Ruben. Vielleicht ist das nur eine Modeerscheinung. Vielleicht möchte sie Marie nur imponieren, sich interessant machen “, beruhigte Johannes ihn.
„Sie himmelt sie ja an, als sei sie der Herrgott persönlich“, sagte Lukas.
„Na und, dann ist sie eben lesbisch. Was ist schon dabei? Viele Frauen sind lesbisch. Trotzdem bleibt sie meine kleine Anna und trotzdem habe ich sie lieb“, bemerkte er etwas trotzig.
„Ruben, ich bitte dich. Sag ihr nicht, dass wir es wissen. Ich weiß nicht, wie sie reagieren würde“, bat ihn Johannes.
Ruben stand auf, ohne etwas zu essen, verließ er zielgerichtet die Küche.
*
Als Ruben mit dem Fahrrad von einem Kommilitonen nach Hause zurückkehrte, rauchte Lukas gerade seine allabendliche Zigarette im Garten. Provokativ begrüßte er Ruben: „Guten Abend Herr Professor! Na, so spät noch unterwegs. Du solltest lieber deine lange Nase in die Lehrbücher stecken, anstatt in die Frauen. Warst wohl bei Marie? Bei dieser Lesbe wirst du aber keine Chance haben.“
Das war zu viel für Ruben. Er packte Lukas mit der rechten Hand am Hemd und schrie ihm ins Gesicht: „Halt dein dreckiges Maul, sonst kannst du was erleben? Das geht dich überhaupt nichts an. Ich habe dir schon mal gesagt: Lass Marie aus dem Spiel!“
Lukas wehrte Rubens Arm ab und steigerte sich noch weiter hinein in die Provokationen: „Willst du mir etwa drohen? Du wüsstest doch gar nichts mit einer Frau wie Marie anzufangen. Du kriegst doch keinen hoch, du Weichei.“
Ruben schlug Lukas mit der linken Faust in die Magengrube und mit der rechten ins Gesicht. Alles passierte blitzschnell. Ruben ließ Lukas keine Chance, diesen Angriff abzuwehren. Lukas krümmte sich vor Schmerz. Ruben fasste Lukas mit der rechten Hand am Hemdkragen und sagte: „Noch ein Wort und ich sorge dafür, dass du keinen mehr hochkriegst.“ Dann drehte er sich um und wollte ins Haus gehen.
Lukas, sichtlich gezeichnet von Rubens Faustschlägen, bot seine ganze Kraft auf, richtete sich auf und folgte Ruben. Ruben hörte die Schritte, die immer näher kamen und immer lauter wurden. Zielgerichtet setzte er seinen Weg fort. Kurz vor der Eingangstür stieß ihm Lukas mit beiden Händen zu Boden.
„Ich bring dich um, du Hurensohn“, drohte ihm Lukas mit gequälter Stimme.
Ruben zog ein Messer aus seiner Tasche. Lukas erschrak, damit hätte er wohl nicht gerechnet. Er hob die Hände, wich zurück und sagte provozierend: „Du Schwein, du. Na los, stich zu! Dann bist du mich los und kannst dich ganz alleine an Marie ranmachen. Aber sie wird nichts von dir wissen wollen, diese kleine Hure. Sie will Anna vernaschen, nicht dich, dieses Miststück. Abblitzen wird sie dich lassen, wie einen dummen Jungen.“
Ruben schrie Lukas an: „Schluss jetzt, sei endlich still! Geh ins Haus!“
Ruben und Lukas bemerkten nicht, dass sie von Alma beobachtet wurden, die oben aus dem Fenster schaute. Sie mischte sich jedoch nicht ein, weil sie wusste, dass einzig und allein die beiden diesen Konflikt lösen könnten. Sie sagte zu Jakob: „Das mit Ruben und Lukas wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen. Die werden sich eines Tages noch totschlagen.“
Jakob verstand Alma nicht richtig und fragte:
„Welches Boot willst du jagen?“
„Ach schon gut, Jakob. Ich habe gesagt, schöne Luft draußen.“
„Ja, ja. Dann können wir ja ins Bett gehen.“
Lukas nahm seine Hände wieder runter: „Pass nur auf Ruben, Gott sieht alles, er wird dich bestrafen, Deine ganze schwachsinnige verlogene Familie wird er bestrafen. Es wird sich bald vieles ändern, hier auf dem Hof.“
Ruben steckte das Messer wieder ein und ging ins Haus. Kurze Zeit später folgte ihm Lukas mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen.
*
Der Mond war in seiner ganzen Pracht zu sehen und leuchtete Anna und Maria auf ihrem nächtlichen Heimweg aus der Disco. Alle auf dem Bauernhof schliefen bereits, nur Alma hatte mal wieder ihre Schlafstörungen und sah hinter der Gardine hervor aus dem Fenster. Anna und Marie bemerkten sie nicht.
Als sie aus Maries hellblauem Ford Fiesta gestiegen waren, schlichen sie sich in die Scheune und kletterten die schmale Holzstiege hinauf auf die Tenne. Aus einer Tasche, die sie hier vor Tagen versteckte, packte Marie eine Unmenge von Kerzen aus. Teelichter, normale Kerzen, Zierkerzen und ... ein paar Handschellen.
„Hey, was soll das denn? Willst du mich verhaften? Hab ich was verbrochen?“, fragte Anna.
„Warts ab! Gleich werd ich dich verwöhnen, wie du es noch nie erlebt hast.“
„Oh, da bin ich aber gespannt. Was hast du vor?“, fragte Anna neugierig, jedoch mit einer kleinen Vorahnung. Sie spielte das Spielchen mit, freute sich insgeheim auf das, was da kommen würde.
„Das wirst du gleich sehen. Zieh dich schon mal aus!“
„Wie aus? Ganz nackt, auch den Slip?“, fragte Anna mit einer gespielten infantilen Naivität, indem sie die theatralische Sprache einer Bühnenschauspielerin mimte.
„Ja, auch das Höschen!“, antwortete Marie ihr in der gleichen Art und Weise.
Anna spielte das Spiel weiter: „Igitt, das piekst immer so am Po. Was ist, wenn ich mir einen Splitter einziehe. Nein, das behalte ich lieber an.“
Marie unterbrach diesen kurzen Ausflug in die hohe Schauspielkunst und redete wieder normal auf Anna ein.
„Komm, hab dich nicht so. Du kannst auch was unterlegen. Hier hast du meine Bluse. Die muss sowieso gewaschen werden.“
Marie legte ihre Bluse ab. Sie trug keinen BH.
Anna sagte: „Danke!“ In ihrer Stimme klang etwas Enttäuschung mit. Sie zog sich rasch aus, behielt aber ihren weißen Slip an.
„Komm, setz dich hier hin!“, forderte Marie sie auf, sich vor einen massiven Balken zu platzieren.
Anna säuberte mit ihrer rechten Hand den Platz flüchtig von sporadisch herumliegenden Strohhalmen und platzierte Maries Bluse auf dem Holzfußboden. Wie hypnotisiert befolgte Anna von nun an jede von Maries Anweisungen. Wortlos setzte sie sich und lehnte sich mit dem Rücken an den Balken. Ihr langes blondes Haar lag zu einem dicken Zopf geflochten auf dem Rücken.
Anna war begeistert von Maries perfekter Inszenierung. Nachdem sie mit erhobenen Armen den Balken umfasste, fesselte Marie sie mit den Handschellen. Den Schlüssel legte sie ein paar Schritte entfernt, neben der Stiege ab.
Nun zog sich auch Marie weiter aus. Genau wie Anna, behielt sie jedoch ihr weißes Spitzenhöschen an. Marie zündete einige Teelichter an und verteilte sie in Annas Umgebung. Dazwischen streute sie einige pinkfarbene Rosenblüten. Anschließend entfachte sie eine Handvoll normaler Kerzen. In ein Kofferradio mit CD-Player legte sie eine Scheibe mit Musik von Kate Bush, The Kick Inside.
„Wo hast du auf einmal die ganzen Kerzen her?“, fragte Anna verwundert.
„Die habe ich vor ein paar Tagen hier auf der Tenne versteckt, auch das Kofferradio.“
„Und dich hat keiner gesehen?“
„Nein. Ich hoffe es zumindest.“
Marie nahm eine Kerze und setzte sich auf Annas Oberschenkel. Immer, wenn etwas Wachs in der Kerze geschmolzen war, ließ Marie es auf Annas Körper tropfen. Bei jedem Tropfen fuhr Anna kurz zusammen. Doch der Schmerz war im Nu vorbei. Mit jedem neuen Tropfen des flüssigen heißen Wachses stieg aber auch ihre Leidenschaft.
„Gefällt dir das?“, fragte Marie.
„Ja, es ist geil. Für einen Moment tut es weh. Dann spürt man, wie das Wachs gerinnt und die Haut sich darunter spannt.“
Marie begann, mit der linken Hand sanft die zarten Innenseiten von Annas Schenkeln zu streicheln. Sie spürte ihre Reaktionen beim Berühren von Annas Haut, spürte ihren Atem. Anna genoss es, sie schloss ihre Augen, konzentrierte ihre sämtlichen Empfindungen auf Maries zärtliche Liebkosungen. Marie wagte sich noch weiter. Behutsam lenkte sie einen Finger unter den Gummizug ihres baumwollenen Höschens und massierte die Kräuselhaare, die ihre Scham umspielten.
Plötzlich, mitten im zärtlichen Spiel, beim sechsten Titel Wuthering Heights, fiel hinter ihr eine Kerze um. Das herumliegende Stroh fing sofort Feuer. Im ersten Moment bekamen sie nichts mit von diesem Malheur. Erst, als sich im Handumdrehen Qualm ausbreitete, erkannten sie das Unglück.
Marie bekam Panik, nahm eilig einige von ihren Kleidungsstücken und schlug heftig auf das sich rasch ausbreitende Feuer ein. Aber das Feuer war schneller. Anna schrie: „Hilfe, mach mich los! Schnell! Marie eilte zur Holzstiege, neben der sie vor wenigen Minuten den Schlüssel für die Handschellen abgelegt hatte. Sie konnte ihn nicht finden. Sie suchte hastig, nervös, panisch. Als sie ihn endlich erblickte und ihn greifen wollte, stieß sie versehentlich mit dem Fuß an den Schlüssel und er fiel hinab auf den Boden der Scheune.
„Scheiße, Scheiße“, rief sie erschrocken, „Das hat mir gerade noch gefehlt. Der Schlüssel.“
Anna schrie lauter: „So hilf mir doch endlich! Das Feuer kommt näher.“
Marie versuchte, die Handschellen mit der Hand zu lösen. Vergebens. Das Feuer breitete sich immer schneller aus. Marie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Sie erkannte das ganze schreckliche Ausmaß dieser Katastrophe. Ihr war klar, dass sie es allein nicht schaffen würde, das Feuer zu löschen.
„Oh, mein Gott. Es hat keinen Zweck. Halt aus, Anna, bitte, ich hole schnell Hilfe!“
Voller Verzweiflung lief sie zu der Stiege, kletterte, nur mit ihrem knappen weißen Slip bekleidet, hinab, rannte aus der Scheune und schrie aus voller Kehle und so laut sie nur konnte: „Hilfe, so helft mir doch! Die Scheune brennt. Anna verbrennt. Hilfe!“
Zuerst wurde Johannes durch die lauten Schreie aus dem Schlaf gerissen, dann auch Ruben. Sie sprangen aus ihren Betten. Sofort ahnten sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Durch das Fenster sahen sie, wie bereits Qualm aus der Scheune drang. Hastig streiften sie sich ein paar Sachen über und rannten aus dem Haus. Wertvolle Sekunden verstrichen.
„Was ist passiert? Wie siehst du aus? Wo ist Anna?“, fragte Johannes Marie. Halbnackt mit entblößten Brüsten stand sie im Hof und schrie und weinte verzweifelt. Sie dachte nur an Anna und hoffte darauf, dass sie schnell gerettet werden kann.
„In der Scheune, schnell. Anna. Wir brauchen einen Bolzenschneider, schnell. Sie ist oben am Balken. Gefesselt. Mit Handschellen. Schnell. Sie verbrennt.“
Das Feuer breitete sich rasch weiter aus, fraß sich wie ein überdimensionaler hungriger Holzwurm Zentimeter für Zentimeter in das trockene Holz. Sie konnten keine Zeit mehr verlieren. Jede einzelne Sekunde war kostbar, entschied über Leben und Tod von Anna. Auch der Qualm wurde stärker, undurchdringlicher, heißer, tödlicher. Das Atmen fiel Anna von Zug zu Zug schwerer und die Gefahr an Rauchvergiftung zu sterben wurde größer, als in den Flammen zu verbrennen.
Längst war auch Karla aufgestanden und war voller Sorgen um ihre Tochter. Sie reagierte jedoch bedacht. Augenblicklich telefonierte sie nach der Feuerwehr, doch die wussten längst bescheid. Wenige Minuten vorher hatte bereits jemand den Brand gemeldet. Karla wollte nicht darüber nachdenken, wer es hätte gewesen sein können. Vielleicht war es ein aufmerksamer Nachbar. Sie eilte in das Zimmer von Alma und Jakob. Alma war bereits dabei, Jakob in seine Sachen zu verhelfen.
„Kommt schnell, lasst alles so liegen. Ihr müsst sofort runter kommen. Der Brand könnte übergreifen“, rief Karla aufgeregt.
Karla führte sie in die Küche, dann rannte auch sie zur brennenden Scheune.
Johannes lief mit einem Bolzenschneider, den er zuvor aus der Werkstatt besorgt hatte, zur Scheune. Lukas war bereits vor Ort und kämpfte verzweifelt, fast aussichtslos, gegen die lodernden Flammen. Ruben versuchte vergeblich, mit Wasser aus einem Gartenschlauch das Feuer etwas einzudämmen. Allerdings war es nichts anderes als der verzweifelte Kampf zwischen David und Goliath.
Als Johannes in der Scheune eintraf, hörte Anna mit letzter Kraft um Hilfe schreien. Sie trommelte verzweifelt mit ihren Beinen auf den Boden.
„Anna, mein Schatz, bleib ruhig. Ich komme. Ich hole dich hier raus. Ich bin gleich bei dir, gleich bist du gerettet“, rief Johannes ihr zu.
Anna weinte und schrie vor Schmerzen.
„Papa, komm schnell! Hilf mir! Es tut so weh. Ich verbrenne. Ich halt es nicht mehr aus. Ich ersticke.“
Anna hustete, rang nach Luft, röchelte. Vergebens. Wenige Augenblicke später hörte Johannes sie nicht mehr. Annas Schreie waren verstummt. Nur das Feuer knisterte und breitete seine zerstörerischen Arme immer schneller und vernichtender aus.
Johannes rannte zur Stiege, das Feuer hatte bereits ganze Arbeit geleistet. Unmittelbar über und auf der Holzstiege brannte es lichterloh. Die Situation wurde immer aussichtsloser. Johannes hatte keine andere Wahl. Er musste den Weg in die lodernde Hölle riskieren, auch wenn es für ihn ein Weg in den Tod sein könnte. Für einen Bruchteil einer Sekunde schaute er an der brennenden Stiege nach oben. Nachdem Ruben sich und Johannes noch einmal mit Wasser vollspritzte, bekreuzigte sich Johannes und setzte den ersten Fuß auf die Stiege.
Dann kam es zur Katastrophe: Während Johannes die ersten Stufen der steilen Holzstiege hinaufstieg, löste sich ein brennender Balken von der Tenne. Er konnte es genau beobachten, alles ging jedoch so schnell, dass er keine Chance mehr hatte, darauf zu reagieren. Ihm blieb gerade noch Zeit „Der Balken, so helft mir doch!“ zu rufen, dann fiel der Balken auch schon und traf ihn am Kopf. Johannes stürzte mitsamt der Stiege auf den Boden der Scheune und wurde ohnmächtig. Lukas und Ruben eilten ihm sofort zu Hilfe und zogen den brennenden Balken von ihm weg. Dann schleppten sie Johannes aus der Scheune.
Während sich Lukas um Johannes kümmerte, handelte Ruben schnell und überlegt. Er zog sein nasses Hemd aus und hielt es sich vor die Nase. Dann griff nach einer Aluminiumleiter, hob den Bolzenschneider auf, der neben Johannes lag, stieg auf die Tenne und wollte so schnell er nur konnte zu Anna, um sie endlich aus dem Flammenmeer zu bergen. Vollkommen verzweifelt suchte er nach Anna. Entscheidende Sekunden verstrichen, bis er sie endlich in den dicken Qualmwolken entdecken konnte. Ihr Körper war von lodernden Flammen umgeben und der Qualm machte ein Atmen fast unmöglich. Ruben konnte seine Hand kaum vor Augen sehen und hegte die Befürchtung, dass er es nicht mehr schaffen würde, aus der Scheune zu kommen, bevor sie in sich zusammenfallen würde. Mit dem Bolzenschneider kniff er hastig die Handschellen durch. Er war mit seiner Kraft am Ende, sie reichte gerade noch aus, um Anna aus der lichterloh brennenden Scheune zu bringen. Zu spät. Er ahnte nicht, dass sie bereits tot war, einen qualvollen Erstickungstod gestorben war.
Dies alles geschah innerhalb weniger Minuten, noch bevor die beiden Feuerwehren mit ihren schrillen Martinshörnern und dem pulsierenden Leuchten des Blaulichts an der brennenden Scheune eintrafen und die Aufmerksamkeit sämtlicher Dorfbewohner auf sich zogen.
Augenblicke später kamen drei Krankenwagen. Johannes wurde auf eine Bahre gelegt und medizinisch versorgt. Er bekam eine Sauerstoffmaske und wurde sofort in ein umliegendes Krankenhaus gefahren. Bei Anna, dagegen, kam jede Hilfe zu spät.
Die Ärzte eines weiteren Krankenwagens kümmerten sich um Karla und Marie, die beide einen Schock davontrugen. Sie weinten. Ruben kam und tröstete Marie. Sie setzten sich beide auf einen abgesägten Baumstamm. Ruben hüllte sie in eine Decke, bedeckte ihre bloßen Brüste und nahm sie in den Arm.
Die Feuerwehr benötigte fast eine Stunde, um den Brand in der Scheune zu löschen. Trotz ihres großen Einsatzes gelang es ihr jedoch nicht, die Scheune vor dem Einsturz zu retten, sie mussten sie kontrolliert abbrennen lassen. Wie bei solch großen Bränden mit Todesfällen üblich, verständigte die Polizei automatisch auch die Spurensicherung, die wenig später eintraf und den gesamten Bereich absperrte.
Ruben schüttelte den Kopf. Er konnte das, was eben geschehen war, noch nicht richtig begreifen und fragte Lukas, der etwa fünf Meter entfernt völlig entkräftet auf dem Boden saß, etwas vorwurfsvoll: „Wieso warst du eigentlich vor uns in der Scheune?“
Lukas schaute Ruben nur unverständlich an und schwieg. Er war immer noch außer Atem. Der Schock saß tief und es fiel ihm schwer, zu antworten.
„Anna ist tot, Johannes schwer verletzt, wir alle haben einen Schock. Und du fragst, warum ich als Erster in der Scheune war. Glaubst du vielleicht, ich hätte den Brand gelegt? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“
„Entschuldige! Ich dachte nur, du hättest an diesem Tag gerade wieder deine Runde gemacht und eine Zigarette geraucht.“
„Ach und dann habe ich die Kippe in die Scheune geworfen und gewartet, was passiert? Sag mal, hast du sie noch alle?“
Eine silberne Limousine der Kriminalpolizei traf am Unfallort ein und unterbrach das Gespräch der Beiden. Für Hauptkommissar Schneider war es Routine, obgleich es bereits weit nach Mitternacht war. Er war es seit Jahren gewöhnt, nachts aus dem Bett geklingelt zu werden. Seit Kurzem musste Schneider sogar einige der Vororte kriminalpolizeilich mit betreuen. Der um sich greifende Personalabbau machte auch vor den Beamten der Polizei keinen Halt.
Jürgen Schneider brachte Frank Eller mit. Eller war zum ersten Mal an einem Unglücksort, bei dem es einen Toten zu beklagen gab. Er sollte Schneider ein wenig auf die Finger schauen, sowohl bei der Inspektion der abgebrannten Scheune als auch bei der Vernehmung und sich Notizen machen.
Schneider und Eller schauten zunächst zum Unglücksort, wo die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen bereits dabei waren, Spurenmaterial zu sichern. Da die Brandstelle großräumig abgesperrt war, durften auch sie diese nicht betreten. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Was sollten sie auch dort, außer vielleicht unabsichtlich Spuren oder Hinweise auf die Brandursache zu verwischen. Sie hatten weder einen Schutzanzug, noch einen Mundschutz, Handschuhe oder Überzüge für ihre Schuhe.
Für die Ermittler war es Routine. Ihre Aufgabe war es, die Brandursache festzustellen und zu klären, ob es sich um Mord oder einen Unfall handelte. Sie markierten Spuren und erstellten anschließend mit einer Spezialkamera ein 360-Grad-Foto, um im Nachhinein am Computer jederzeit ein virtuelles Bild der Unglücksstelle simulieren zu können, auch, wenn von der Scheune nicht mehr viel übrig geblieben war.
Schneider hatte während seiner 25jährigen Dienstzeit viel Ungewöhnliches erlebt. Aber, dass eine Scheune abbrannte, während auf der Tenne eine Person mit Handschellen an einem Pfeiler angebunden war und auf so grausame Art sterben musste, an einen derartigen Fall konnte er sich partout nicht erinnern. Schneider blieb gelassen, eben routiniert. Dennoch berührte ihn die tote junge Frau. Er war ja auch nur ein Mensch und ganz tief im Herzen sogar ein ganz sensibler. Jedoch zog er es vor, niemandem seine Gefühle zu offenbaren. Auch Frank Eller nicht. Schneider spielte immer den souveränen Beamten ohne Ressentiments, der jede Situation im Griff zu haben schien, auch seine Gefühle.
„So, Frank, da wollen wir mal mit der Vernehmung beginnen. Merke Dir: Du musst die Personen unmittelbar nach dem Unfall oder nach einer Tat vernehmen, auch wenn sie unter Schock stehen. Wenn sie erst eine Nacht darüber geschlafen haben, kann es schon zu spät sein. Oft kommt es vor, dass sie sich am nächsten Tag nicht mehr so genau an Einzelheiten erinnern können oder auch nicht wollen. Oder sie stellen die Dinge anders dar, als sie in Wirklichkeit waren, weil der Schock manches Detail aus den Erinnerungen verdrängt hat“, sagte Schneider zu Frank Eller.
„Na, das kann ja eine lange Nacht werden“, wusste Frank Eller darauf nur zu antworten. Dann schrieb er in sein mitgebrachtes Notebook: 17. Mai, Scheunenbrand in Hollerfeld, Hof Sandgruber …“
Schneider ging zunächst zu Karla, die das eben Geschehene immer noch gar nicht fassen konnte, und fragte sie: „Sind sie die Frau des Mannes, der soeben mit dem Krankenwagen abtransportiert worden ist?“
„Ja, ich bin Karla Sandgruber. Mein Mann heißt Johannes“, schluchzte sie.
„Mein herzliches Beileid! Es tut mir aufrichtig leid, wegen ihrer Tochter und ihres Mannes. Aber ich muss ihnen ein paar Fragen stellen. Das verlangt nun mal mein Job. Es wird nicht lange dauern. Kommen sie bitte! Wir gehen am besten in ihr Haus.“
Karla ging voran, Schneider folgte ihr in kurzem Abstand. Sie setzten sich auf die Couch des Wohnzimmers.
„Was ist hier genau passiert? Erzählen sie mir bitte alles, was sie wissen. Mich interessiert jede Einzelheit.“
Karla nahm ein frisches Papiertaschentuch, putzte sich die verschnupfte Nase und wischte sich einige Tränen aus den Augen. Sie versuchte sich zu fangen, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Doch es fiel ihr schwer.
„Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Karla schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits geschlafen, da merkte ich wie Johannes plötzlich aus dem Bett sprang und wie verrückt nach mir rief. Eilig zog er sich eine Turnhose und ein T-Shirt an und rannte aus dem Haus.
Ich ahnte sofort, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Dann hörte ich Hilfeschreie auf dem Hof, sah flackernde Lichter durch das Fenster in das Schlafzimmer dringen. Als ich aus dem Fenster schaute, erkannte ich das ganze Unglück. Sofort alarmierte ich die Feuerwehr. Dann warf ich mir den Morgenmantel über, brachte meine Schwiegereltern in die Küche und lief dann ebenfalls aus dem Haus zur Scheune. Dort waren, neben meinem Mann, bereits Lukas und Ruben dabei, Anna zu Hilfe zu eilen.“
Schneider unterbrach Karla.
„Sie wussten also, als sie an der Scheune ankamen, bereits, dass Anna noch darin war? Woher?“
„Mein Gott, alle riefen ihren Namen, ich hörte sie ganz laut schreien. Das war doch nicht zu überhören.“ Karla weinte noch toller. „Dann passierte es, ich konnte es genau beobachten: Johannes wollte die Stiege hinaufklettern, da löste sich ein brennender Holzbalken. Ich wollte ihn noch warnen, schrie. Doch umsonst, der Balken traf ihn am Kopf. Johannes fiel ohnmächtig zu Boden. Ich musste alles mit ansehen. Es war furchtbar.“
Schneider notierte sich jede Einzelheit. Auch Eller tippte alles in sein Notebook. Schneider hielt nicht viel von solchem ‚neumodischen Zeug‘, wie er es immer bezeichnete. Er schwor noch auf Notizbuch und Kugelschreiber. Auch, wenn er letztlich abends dann doch sämtliche Notizen in seinen Computer übertrug.
„Warum eilte keiner Anna schon viel eher zu Hilfe? Warum warteten alle auf Johannes?“
„Ich weiß es nicht. Sie riefen etwas von einem Bolzenschneider und, dass Anna mit Handschellen an einem Balken gefesselt war. Johannes musste erst diesen verdammten Bolzenschneider holen.“
„Warum war sie gefesselt? Wo waren die Schlüssel von den Handschellen?“
„Sie waren weg, verschwunden.“
„Wer hat Anna die Handschellen angelegt und warum?“
„Fragen sie sie doch selbst, die Marie. Sie kann Ihnen sicher alles genau berichten.“
Schneider bedankte sich vorerst und sagte zu Eller, er solle Marie hereinschicken. Marie war noch immer ein wenig traumatisiert, sie weinte. Ruben hielt sie im Arm. Marie erhob sich von dem Baumstamm und langsam ging sie ins Haus zu Schneider. Sie hatte immer noch die Decke um ihren Körper gewickelt.
„Setzen sie sich bitte auf den Stuhl hier! Ich habe ein Tuch übergeworfen, damit er nicht so schmutzig wird. Wie ist ihr Name?“
„Marie Hartmann.“
Schneider notierte alles akribisch in sein Büchlein.
„Sie haben also Anna die Handschellen angelegt. Warum?“
Marie schluchzte: „Meine Anna. Es tut mir ja so leid. Es sollte nur ein Spiel sein. Ich hab das alles nicht gewollt. Glauben sie mir bitte!“
„Ich frage sie ja nur. Sagen sie mir, wie konnte es da oben auf der Tenne zu diesem Feuer kommen?“
„Wir haben Kerzen aufgestellt und angezündet?“
„Was haben sie? Wer wir? Haben sie die Kerzen mitgebracht? Aber die Tenne war doch sicher voller Stroh?“, fragte Schneider als wollte er das Ganze nicht glauben.
„Ja, ich habe die Kerzen einen Tag vorher auf der Tenne deponiert, gewissermaßen als Überraschung. Heute Nacht habe ich sie aus dem Versteck geholt und angezündet. Ich wollte es uns ein wenig romantisch machen, etwas zärtlich zu Anna sein. Ich liebte sie über alles. Wenn sie wissen, was ich meine.“
Schneider schaute Marie an, er begriff sofort.
„Ich verstehe. Und wie ist das Feuer dann ausgebrochen? Was ist passiert?“
Marie griff sich in ihr Haar, wickelte eine Strähne um ihren Zeigefinger und sagte: „Anna stieß mit dem Fuß eine Kerze um, aus Versehen natürlich. Sie hat es sicher nicht bemerkt, war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
„Sie hat es nicht bemerkt?“, fragte Schneider verwundert und setzte dabei seine Lesebrille ab.
„Nein, hat sie nicht. Sie war im siebten Himmel. – Ich habe es zunächst auch nicht wahrgenommen. Es war hinter mir. Erst als ich solche flackernde Schatten beobachtete und mich umdrehte, sah ich, was passiert war. Das trockene Stroh, das überall herumlag, hat sofort Feuer gefangen. Ich habe natürlich gleich versucht das brennende Stroh zu ersticken, doch vergebens. Es brannte bereits zu viel und das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Schnell merkte ich, dass ich ohne fremde Hilfe das Feuer nicht bekämpfen konnte. Anna schrie sofort um Hilfe, schrie mich an, sie loszubinden.“
„Und wo war der Schlüssel von den Handschellen?“
Maries Worte waren schwer verständlich, so sehr schluchzte sie.
„Ich habe die Schlüssel neben der Stiege abgelegt. Als das Feuer ausbrach, lief ich schnell zur Stiege und wollte sie holen. In der Hektik stieß ich mit dem Fuß dran …“
„Aus Versehen?“, unterbrach sie Schneider.
„Natürlich! Die Schlüssel fielen auf den strohbedeckten Scheunenboden. Dann bin ich schnell die Stiege herunter gelaufen und habe um Hilfe geschrien. Was hätte ich denn anders tun sollen? Die Schlüssel hätte ich in der Aufregung sowieso nicht gefunden.“
Schneider setzte seine Brille wieder auf, machte sich einige Notizen und sagte schließlich: „Vielen Dank, Frau Hartmann! Das war‘s fürs Erste. Schicken sie mir bitte den Nächsten rein, diesen ... Lukas.“
Lukas kam völlig rußverschmiert und in zerfetzen Sachen in das Wohnzimmer, er war nicht imstande auch nur ein einziges Wort über seine Lippen zu bringen.
“Sie sind Lukas, der Knecht, nehme ich mal an?“
Lukas nickte.
„Wann haben sie den Brand bemerkt?“
Lukas schwieg.
„Stehen sie noch unter Schock?“
Lukas nickte. Schneider erkannte, dass es keinen Sinn machen würde, Lukas in diesem Zustand zu befragen.
„Dann kommen sie bitte Montag früh aufs Revier. Sagen wir gegen 11:00 Uhr.“
Wieder konnte Lukas seine Zustimmung nur durch ein Kopfnicken deutlich machen.
„Gut, sie können gehen. Da wäre nur noch Ruben draußen?“
Diesmal brachte Lukas ein leises: „Ja“ über seine Lippen.
„Dann schicken sie mir bitte Ruben rein. Warten sie!“ Lukas blieb stehen, drehte sich um. „Lassen sie sich ins Krankenhaus fahren. Sie müssen unbedingt untersucht werden.“
Lukas nickte, und ging. Wenige Augenblicke später kam Ruben. Auch er stand unter Schock, doch im Gegensatz zu Lukas war Ruben imstande, einige Sätze zu formulieren. Er setzte sich auf den abgedeckten Stuhl.
„Sie sind der Sohn von Karla und Johannes?“, versicherte sich Schneider.
„Seit 22 Jahren.“
„Wann kamen sie zur brennenden Scheune.“
„Ich war gleich nach Lukas da.“
„Lukas war also noch vor Ihnen am Brandherd?“
„Ja.“
„Ich konnte ihn leider noch nicht befragen. Wissen sie, wer ihn informiert hat?“, fragte Schneider.
„Keine Ahnung. Er war auf einmal da.“
„Merkwürdig. Na gut, ich werde ihn ja am Montag fragen können. - Warum haben sie nicht schon vorher, vor Johannes, einen Rettungsversuch unternommen?“
„Marie rief immer etwas von Handschellen und Balken, dass wir unbedingt einen Bolzenschneider benötigten. Warum hätte ich auch auf die Tenne steigen sollen, ohne Bolzenschneider. Das wäre viel zu gefährlich gewesen.
Deshalb habe ich zunächst versucht, mithilfe eines Gartenschlauchs zu löschen. Aber das war aussichtslos. Johannes kam dann auch gleich mit einem Bolzenschneider gerannt. Das waren aber nur Minuten, Sekunden. Daran kann es unmöglich gelegen haben, dass Anna sterben musste. Ich denke, wenn wir drei oder zwei Minuten eher bei ihr gewesen wären, das hätte auch nichts mehr gebracht. Wir wären nur unnötig dem stechenden Qualm ausgesetzt gewesen. Außerdem fehlte uns ja dieser Bolzenschneider. Wir hätten sie gar nicht vom Balken befreien können. Die Handschellen hätten wir niemals aufbekommen.“
Schneider reagierte gereizt. Es bereitete ihm nicht gerade Freude, so mitten in der Nacht, Zeugen zu befragen, in einem Fall, der für ihn eindeutig ein Unfall war.
„Hätte, wäre, wer weiß das schon. Zumindest wäre drei Minuten eher die Leiter noch nicht eingestürzt. Na, gut, in dieser Hektik, agiert man manchmal etwas kopflos. – Sie haben Anna auf der Tenne gefunden. Wie ist das abgelaufen?“
„Ich habe eine Aluminiumleiter gegriffen, mir mein nasses Hemd ausgezogen und es vor Mund und Nase gehalten. Dann bin ich rasch auf die Tenne gestiegen. Der Qualm da oben war so dicht, ich habe so gut, wie nichts gesehen. Und diese unerträgliche Hitze, mir hat es fast die Luft genommen.
Endlich sah ich sie, Anna, umgeben von lodernden Flammen. Es war furchtbar. Dann ging alles sehr schnell. Ich habe die Handschellen durchgekniffen und Anna die Leiter heruntergetragen, so schnell ich nur konnte.“
„Wie lange haben sie dazu gebraucht, vom Hochsteigen auf die Tenne, bis sie mit Anna wieder unten ankamen?“
„Schwer zu sagen. Mir fehlte in diesem Augenblick jegliches Zeitgefühl, vielleicht zwei, drei oder vier Minuten. Keine Ahnung.“
„Gut, das reicht mir. Danke! Sie können gehen.“
Als Schneider sein Notizbuch einstecken wollte, fiel ihm noch etwas ein: „Eine Frage noch, Herr Sandgruber, wohnt eigentlich noch jemand hier auf dem Hof?“
„Ja, meine Großeltern, aber die sind schon sehr alt und hören schwer, Opa hat sogar Alzheimer. Mutter hat sie sicherheitshalber geweckt und in der Küche untergebracht.“
„Ach, ja, ihre Mutter erwähnte es bereits. Darf ich mal kurz zu ihnen.“
„Natürlich. Kommen sie!“
Ruben führte Schneider in die Küche. Schneider begrüßte beide mit Handschlag.
„Guten Morgen. Sie sind also Alma und Jakob Sandgruber.“
„Guten Morgen. Ja, Herr Kommissar“, sagte Alma.
„Sie haben sicher geschlafen und sind durch den Lärm der Feuerwehren aufgewacht, oder?“
Alma schüttelte den Kopf: „Nein, Herr Kommissar, ich war schon viel eher wach. Wissen sie, ich habe seit Jahren diese lästigen Schlafstörungen. Manchmal bin ich nachts stundenlang wach und kann ganz schlecht wieder einschlafen. Heute Nacht lag ich auch wach. Ich hörte leise Musik aus der Scheune dringen. Solche Beatmusik wissen sie. Es war nur ein furchtbares Jammern und Pochen. Plötzlich hörte ich Hilferufe. Es war Marie. Ich stand auf, schaute aus dem Fenster und sah das flackernde Licht in der Scheune und den vielen Qualm.“
„Da haben sie aber noch ganz gute Ohren. Und was haben sie dann gemacht?“
„Ich ahnte gleich, was passiert ist und habe sofort die Feuerwehr alarmiert, die 112. Das weiß ich noch, auch wenn ich sonst viel vergesse.“
„Ach sie waren das.“
„Ja, ich war das. Ist das so wichtig?“
Schneider schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Und dann?“
„Ich habe sofort Jakob geweckt. Er schläft immer wie ein Murmeltier. Kurz danach kam auch schon Karla und wir sind schnell in die Küche hinunter gegangen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Kommissar.“
„Danke, das reicht. Ich glaube, sie können sich jetzt wieder hinlegen und noch ein paar Stunden schlafen. Das Feuer ist gelöscht. Die Feuerwehr wird aber noch solange hier bleiben, bis keine Gefahr mehr von der Asche ausgehen kann.“
*
Schneider und Eller verabschiedeten sich bei den Kollegen der Spurensicherung.
„Komm mit Frank! Wir schauen uns noch mal kurz die Scheune an.“
Sie liefen zur Unglücksstelle, von der immer noch vereinzelt Rauch aufstieg. Schneider verschaffte sich einen letzten Überblick, machte sich ein paar Notizen und fertigte eine grobe Lageskizze an; die verbrannte Scheune, die Gebäude des Bauernhofes und einige ausgewachsene Bäume. Eller sagte zu Schneider: „Für mich sieht das Ganze nach fahrlässiger Tötung aus. Für diese Marie wird das wohl noch ein böses Nachspiel haben.“
„Schmarrn! Sie sagte doch, dass Anna selbst die Kerze umgestoßen hat. Selbst, wenn es nicht so war, wer will ihr denn in diesem Fall das Gegenteil beweisen. Einen Mord können wir ausschließen. Aber das ist Gott sei Dank nicht unsere Aufgabe, die Schuldfrage zu klären.“
„Es klingt übrigens göttlich, wenn Du als Norddeutscher ‚Schmarrn‘ sagst.“
Bevor sie den Hof verließen, blieb Schneider für einen Augenblick vor dem blauen Mitsubishi stehen.
Eller fragte: „Was ist? Ist wohl dein Traumauto?“
Schneider schaute Eller an, als ob er nachdachte.
„Ich muss mich ja so langsam mal umschauen, was der Markt so alles bietet, wenn ich in knapp zwei Jahren als Pensionär einen Privatwagen fahren muss. Ich glaube aber, dass dieser Wagen wohl eher nichts für den Geldbeutel eines Beamten ist. Außerdem ist der Spritverbrauch sicher viel zu hoch.“
„Kläre das lieber mit deiner Frau ab! Frauen haben bei Autos so ihre eigenen Vorstellungen“, schlug Eller vor.
„Sei wann weißt du denn, wie Frauen sind. Schaff dir erst mal eine an!“
*
Nachdem sich Karla ein wenig beruhigt hatte, fuhr sie sofort ins Krankenhaus und erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand von Johannes. Der diensthabende Arzt rief Karla in sein Zimmer.
„Guten Morgen Frau Sandgruber. Ihrem Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Er liegt zwar noch im Koma, aber er ist außer Lebensgefahr. Das Schlimmste hat er jedenfalls überstanden.“
Karla war erleichtert, sie lächelte. Aber es war ein sehr verkrampftes Lächeln.
„Oh, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Ich habe mir schon große Sorgen gemacht.“
Der Arzt beruhigte Karla.
„Die brauchen sie sich nicht machen. Körperliche Verletzungen hat er nicht. Wir haben sofort ein MRT veranlasst.“
„Da ist er ja noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen.“
„Wenn sie so wollen, ja. Aber eine Sache ist momentan noch ungewiss.“
„Welche Sache meinen sie, Herr Doktor?“, fragte Karla beunruhigt.
„Da gibt es noch eine kleine Unsicherheit. Wir mussten im MRT eine minimale Gehirnquetschung diagnostizieren. Im Regelfall gibt sich das wieder. Frau Sandgruber, es ist jedoch meine Pflicht, sie darauf hinzuweisen, dass bei dieser Art von Verletzungen Spätfolgen nicht ausgeschlossen sind.“
„Spätfolgen? Was meinen sie damit?“
„Im Einzelfall könnten sogenannte Psychosen oder psychotische Störungen des Patienten auftreten.“
„Psychotische Störungen? Was ist das? Das müssen sie mir etwas genauer erklären.“
„Aber nur kurz, ich habe gleich einen wichtigen Termin. Die Psychose ist ein Sammelbegriff für psychische Krankheiten. In der Regel äußern sie sich in Form von sehr extreme Gefühlsschwankungen, Halluzinationen, Depressionen, Manien, Verhaltensänderungen oder ähnlichen Erscheinungen.
Aber ich will Ihnen noch keine Angst machen. Warten wir erst einmal ab, wie ihr Mann die Verletzung verkraftet. Noch haben wir keine Hinweise für eine derartige Psychose. Wenn es soweit ist, wird der behandelnde Arzt mit Ihnen in allen Einzelheiten darüber reden. So und jetzt entschuldigen sie mich bitte! Ich habe noch mehrere dringende Fälle. Rufen sie mich an, wenn sie noch Fragen haben!“
Karla war etwas vor den Kopf gestoßen und sagte nur: „Auf Wiedersehen Herr Doktor. Vielen Dank!“
Karla fuhr etwas bedrückt wieder nach Hause. Als sie auf dem Hof ankam, war Marie verschwunden. Doch keiner sah sie mit ihrem Ford vom Hof fahren. Wie schaffte sie es, unbemerkt die Polizeisperre zu passieren?
*
Im Büro von Schneider klopfte es am Montagmorgen kurz nach zehn Uhr an die Tür. Traditionell sagte Schneider mit humorvoller Stimme: „Herein, wenn es kein Schneider ist!“
Die Tür öffnete sich. Holger Hartwig von der Spurensicherung trat herein.
„Grüß Gott Jürgen. Ich bringe dir die Ergebnisse von uns.“
Er legte einen blauen Hefter auf Schneiders Tisch.
„Hier bitte.“
„Danke, Holger. Das ging aber schnell. Zuverlässig, wie immer“, freute sich Schneider.
„Dafür haben wir auch den ganzen Sonntag durchgearbeitet, freiwillig“, entgegnete ihm Holger Hartwig scherzhaft beim Hinausgehen.
Schneider nahm den Hefter in die Hand und blätterte planlos darin herum. Eller fragte ihn: „Und, was ist nun herausgekommen? War es ein Unfall, fahrlässige Tötung oder gar Mord?“
„Das hast du aber fein auswendig gelernt“, antwortete ihm Schneider ironisch. „Natürlich war es ein Unfall. Hier kannst du es schwarz auf weiß lesen.“ Er schloss den Hefter und warf ihn Eller auf den Schreibtisch. „Es gibt keine Hinweise auf einen Mord oder auf ein absichtliches Legen des Feuers oder gar auf einen Brandbeschleuniger.
Die beiden jungen Frauen haben auf der Tenne der Scheune heimlich ihre lesbischen Spielchen getrieben. Dabei hat Anna, die Tochter von Johannes, versehentlich eine der brennenden Kerzen umgestoßen. Genau so haben es auch meine Befragungen ergeben. Bis auf die Aussage von Lukas, dem Knecht, er muss aber jeden Augenblick hier aufkreuzen. Wir können also definitiv einen Mord ausschließen. Der Fall ist somit für uns abgeschlossen.“
„Die von der Spurensicherung machen es sich einfach“, schüttelte Eller skeptisch den Kopf und runzelte dabei seine Stirn. „Muss man bei solchen Liebesspielchen den Partner mit Handschellen fesseln und brennende Kerzen aufstellen? Gerade dort, wo alles so schnell wie Zunder brennen kann, in einer Scheune. Das ist mir einfach unverständlich.“
„Du würdest das natürlich nicht machen. Du hast ja auch studiert, Herr Diplom Kriminalist. Das waren eben unerfahrene, unschuldige Mädchen. Die wussten nicht, was sie taten, dachten im Rausch ihrer Verliebtheit nicht daran, was dabei alles passieren kann. Da wollte keine der anderen etwas antun. Warum auch? Sie liebten sich doch.“
Frank Eller schwieg einen Moment und sagte dann: „Sollten wir diese Marie nicht doch noch mal befragen? Ich vermute fasst, dass die uns etwas Wichtiges verschwiegen hat.“
Schneider wiegelte ab: „Schmarrn! Das bringt überhaupt nichts. Der Fall ist eindeutig. Die Spurensicherung hat es uns bestätigt. Hier schau, ich klappe die Akte zu und lege sie beiseite.“
Eller ließ nicht locker.
„Ich weiß nicht. Ich habe ein ganz komisches Gefühl dabei. Nicht, dass wir uns irgendwann einmal Vorwürfe machen müssen.“
„Lass mal! Wenn du erst einmal so lange bei der Kripo bist wie ich, wirst du auch kein komisches Gefühl mehr haben. Das ist alles nur Routine. In solchen Dingen habe ich mich noch nie getäuscht. Ich habe ein Gespür für derartige Situationen. Eine erneute Befragung wäre glatte Zeitverschwendung. Wir haben schließlich noch genügend andere dringende Fälle, die auf Klärung warten.“
„Aber warum fesselte diese Marie ihre Freundin mit Handschellen und legt die Schlüssel nicht an einen sichern Ort?“, setzte Eller noch einmal nach.
„Wo sollte sie ihn auch hinstecken, wenn sie völlig nackt war?“, scherzte Schneider und lachte dabei schelmisch. „Das sind eben noch Kinder.“
„Sie sind eben keine Kinder. Das waren beides erwachsene Menschen“, konterte Eller mit Nachdruck.
Schneider versuchte das Problem herunterzuspielen, indem er Eller eine Gegenfrage stellte: „Hast du in dem Alter immer alle deine Handlungen genau überlegt?“
Eller lachte.
„Wer macht das schon, in dem Alter.“
„Na, siehst du.“
„Aber ich konnte mir zumindest ausrechnen, dass ein Spiel mit offenem Feuer und noch dazu auf der Tenne einer Scheune, tödlich enden könnte. Soweit müsste man in diesem Alter immerhin schon denken können. Das haben mir meine Eltern schon von Kindheit an beigebracht.“
„Im Nachhinein und hier am Schreibtisch, schätzt man die Situation immer anders ein. Aber wenn man spontan in eine derartige Situation gerät, sieht es ganz anders aus. Schließlich waren sie ja auch nicht ganz nüchtern.“
Eller wurde energischer.
„Jürgen, du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass die Mädchen spontan gehandelt haben. Marie hat die Kerzen mitgebracht. Sie musste das alles im Voraus geplant und vorbereitet haben. Oder denkst du etwa, dass diese Marie ständig Kerzen in ihrer Handtasche mitführt? Vielleicht hat sie uns auch angelogen? Vielleicht hat sie die Kerzen selbst umgestoßen. Wer will das jetzt nachprüfen?“
Schneider wollte den Fall endlich abschließen. Ihm war es leid, mit Frank Eller ständig über irgendwelche Motive zu spekulieren. Für ihn war es ein Unfall und daran war nicht zu rütteln. Ellers ständige Gegenrede widerte ihn an und er versuchte, ihm ein für alle Mal seinen Standpunkt klar zu machen.
Genervt stand er auf und sagte mit eindringlicher Stimme: „Was bildest du dir eigentlich ein, Frank? Willst du etwa dieser Marie Hartmann unterstellen, dass sie gelogen hat? Nur weil sie vorher Kerzen auf der Tenne deponiert hat, kann man ihr noch lange keine Tötungsabsicht vorwerfen.“
Schneider machte eine kurze Pause, lief im Büro auf und ab. „Frank Eller, ich weiß, dass du dich gern profilieren willst und dich gern mit einem Erfolgserlebnis in deine Tätigkeit einführen möchtest. Das wollen schließlich alle Hochschulabsolventen. Deshalb brauchst du aber nicht gleich stur solch eine gegenteilige Meinung zu vertreten, die außerdem durch nichts zu beweisen ist. Man könnte den Eindruck gewinnen, als ob du mich ärgern oder gar provozieren möchtest. Profilieren kannst du dich auch anders. Das muss auch nicht gleich in den ersten Wochen sein.“
Schneider fasste sich mit der rechten Hand an seinen Pferdeschwanz. Seine Stimme wurde leiser. „Manchmal dauert es Jahre, bis man mal einen richtig komplizierten Fall gelöst hat. Die Jugend von heute möchte alles sofort haben, Geld, Erfolg und Anerkennung. Das kann schnell mal ins Auge gehen.“
Frank Eller musste diese deutlichen Worte seines Chefs erst einmal verdauen. Er schluckte und schwieg für einen Augenblick, dann sagte er: „Ich hole mir erst einmal einen Kaffee.“
„Tu das. Bring mir bitte einen mit, zwei Stück Zucker und Sahne“ sagte Schneider und schaute Eller dabei bereits wieder versöhnlich in die Augen.
„Ich weiß, Chef“, lächelte Eller und verließ den Raum, um in die Kantine zu gehen.
*
Pünktlich elf Uhr klopfte es erneut an die Tür. Wieder sagte Schneider mit humorvoller Stimme: „Herein, wenn es kein Schneider ist!“ Er wusste, dass es nur Lukas Meier sein konnte.
Lukas öffnete die Tür und trat herein.
„Guten Morgen. Ich komme wegen …“
„Setzen sie sich!“, sagte Schneider, ohne ihn ausreden zu lassen.
„Herr Meier, Lukas Meier, ich hoffe, Sie konnten sich gestern ein wenig von dieser schrecklichen Nacht erholen.“
„Ein wenig.“
„Herr Meier, unsere Ermittlungen haben ergeben, dass es eindeutig ein Unfall war. Aber sagen sie mir bitte, wieso ausgerechnet sie als Erster am Unfallort waren?“
„Ich kam gerade aus dem Wirtshaus. Wissen sie, alle vier Wochen haben wir unseren Doppelkopfabend, meine Kumpels und ich. Sonst bin ich freitags auch meist in der Disco.“
„Und was haben sie gesehen, als sie zuhause ankamen? Erzählen sie weiter!“
„Ich sah Maries Auto, dachte mir aber nichts dabei. Erst als ich in den Garten ging, um noch eine zu rauchen, sah ich, dass in Annas Zimmer die Jalousien noch nicht unten waren. Sie sind nachts immer unten, wenn sie schläft. Das kam mir sehr merkwürdig vor.“
„Und, was haben sie dann getan?“
„Ich erinnerte mich, dass ich Anna und Marie schon mal abends in der Scheune gesehen hatte. Es war noch gar nicht so lange her.
Gerade, als ich zur Scheune gehen wollte, hörte ich auch schon Marie laut rufen und schreien. Ich rannte schnell zu ihr und fragte, was los sei. Sie war so aufgeregt und außer Atem, dass ich nur Wortfetzen und ‚Bolzenschneider‘ verstand.
Ich lief in die Scheune, sah die lichterloh brennende Tenne. Da hörte ich Johannes hinter mir rufen: „Warte Lukas, ich hole erst den Bolzenschneider. Hole du einen Schlauch!“
Johannes hatte gut reden: Einen Schlauch. Ich fand nur einen Gartenschlauch. Ich schloss ihn gleich an.
Dann kam Ruben geeilt. Ich sagte: „Komm, spritz mich nass, ich gehe mit Johannes auf die Tenne.“
Johannes wehrte ab: „Lass mich allein gehen. Zusammen sind wir zu schwer. Das hält der Holzboden nicht aus.“
„Ja, und dann ist es passiert.“
Schneider stutzte einen Augenblick. Alles, was Lukas sagte, klang plausibel.
„Ja, Herr Meier. Was soll ich sie noch fragen? Tut mir leid, dass ich wegen dieser paar Minuten hier her bestellt habe. Aber das konnten wir vor zwei Tagen noch nicht wissen.“
„Kein Problem, Herr Kommissar.“